Ein Hund unterm Weihnachtsbaum - Greg Kincaid - E-Book

Ein Hund unterm Weihnachtsbaum E-Book

Greg Kincaid

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Beschreibung

Crossing Trails, Kansas, kurz vor Weihnachten: Bei Mary Ann McCray will einfach keine besinnliche Stimmung aufkommen. Als erster weiblicher Weihnachtsmann hat sie in der traditionsbewussten Gemeinde unbeabsichtigt einen regelrechten Skandal ausgelöst. Als nächstes erreicht sie die betrübliche Nachricht, dass die netten Nachbarn sich scheiden lassen. Und zu guter Letzt bekommt auch noch Mary Anns Sohn Todd Ärger mit seiner Freundin. Doch Rettung naht: Auftritt Noelle, eine überaus quirlige Mischlingshündin, die sich zwar jeder Erziehung verweigert, aber für extrem gute Laune sorgt. Und die ihre ganz eigene Vorstellung von einem gelungenen Weihnachtsfest hat …

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Buch

Crossing Trails, Kansas, kurz vor Weihnachten: Bei Mary Ann McCray will einfach keine besinnliche Stimmung aufkommen. Als erster weiblicher Weihnachtsmann hat sie in der traditionsbewussten Gemeinde völlig unbeabsichtigt einen regelrechten Skandal ausgelöst. Dann muss sie ausgerechnet jetzt erfahren, dass die netten Nachbarn sich scheiden lassen. Und zu guter Letzt bekommt auch noch Mary Anns Sohn Todd Ärger mit seiner Freundin. Doch Rettung naht: Auftritt Noelle, eine überaus quirlige Mischlingshündin, die sich zwar jeder Erziehung verweigert, aber für extrem gute Laune sorgt. Und die ihre ganz eigene Vorstellung von einem gelungenen Weihnachtsfest hat …

Autor

Greg Kincaid arbeitet im Hauptberuf als Rechtsanwalt. Der fünffache Vater lebt zusammen mit seiner Frau und zwei Hunden auf einer Farm in Kansas und engagiert sich bei verschiedenen sozialen Projekten und in der Tierhilfe. »Ein Hund unterm Weihnachtsbaum« ist bereits der vierte Roman über die Familie McCray und ihre Hunde.

Greg Kincaid

EIN HUND UNTERM WEIHNACHTSBAUM

Roman

Deutsch von Angela Schumitz

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Noelle« bei Convergent Books, an imprint of the Crown Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstveröffentlichung November 2018

Copyright © der Originalausgabe 2017 by Greg D. Kincaid

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

This translantion published by arrangement with Convergent Books, an imprint of the Crown Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München

Umschlagfoto: © FinePic®, München

Redaktion: Christiane Mühlfeld

BH · Herstellung: Han

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-22800-2V002

www.goldmann-verlag.de

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Für meine Eltern, Rod und Darlene Kincaid

PROLOG

Es war Lulus vierzehnter Wurf. Und so klein, wie er geraten war, würde es wohl auch ihr letzter sein. Sie war eine gute Hündin gewesen, aber nun wirkte sie müde und ausgelaugt. Lulu hatte als Lesters Goldgrube in neun langen Jahren Welpen im Wert von rund zwanzigtausend Dollar zur Welt gebracht. Mit dem, was seine Farm abwarf, schaffte er es kaum, über die Runden zu kommen; das Welpengeschäft war also ein äußerst willkommenes Zubrot.

Lulus große, gleichförmige Würfe hatten ihm bislang zufriedene Kunden und einen guten Profit beschert, vor allem um Weihnachten herum, wenn das Geschäft mit den niedlichen Hundekindern zuverlässig boomte. Ein mickriger Wurf von vier, wie diese Brut, lohnte die ganze Mühe dagegen kaum. Nächstes Jahr würde Lulu durch eine jüngere Hündin ersetzt werden müssen.

Der Markt für Sojabohnen, Mais, Hafer, Hirse, Rinder und Schweine schwankte ständig. Deshalb verließ sich Lester Donaldson gerade im Winter, wenn sonst nichts auf seiner einhundertsechzig Morgen umfassenden Farm im Norden von Zentral-Kansas wuchs, auf die Kleinen. Jetzt war es erst Anfang November, doch in fünf Wochen würde Lulus letzter Wurf so weit sein, dass er verkauft werden konnte.

Lester besaß sieben Hündinnen: vier Golden Retriever, zwei Labradore und einen Pudel. Staatliche Vorschriften, an die sich gewerbliche Hundezüchter halten mussten, galten nur, wenn man mehr als vier Hündinnen auf seinem Grundstück hielt. Um Überprüfungen vorzubeugen, hielt Lester drei der Tiere auf seinem eigenen Grund und pachtete bei Nachbarn Flächen für behelfsmäßige Zwinger, in denen er die anderen Muttertiere und deren Junge unterbrachte. Er suchte sich verschwiegene Partner wie seinen klammen Nachbarn Ralph Williams. Diese Leute wussten, dass es besser war, nicht zu viele Fragen zu stellen, und begnügten sich damit wegzuschauen, die Hunde in Ruhe zu lassen und Lesters Pacht einzustecken.

Mit der Zeit wurde Lester immer gieriger. Gerade war er auf der Suche nach weiteren Nachbarn und errichtete weitere Zwinger, damit er sein Geschäft mit den Hunden in der nächsten Saison ausbauen konnte. Im Moment wuchs die Nachfrage nach großen Rassen – Mastiffs, Dänische Doggen und Irische Wolfshunde –, und das wollte er sich nicht entgehen lassen.

Die gewerblichen Züchter mit weit über hundert Hunden waren wie Fabriken. Lester freute sich über das Geld, aber er unterhielt einen Kleinbetrieb und wollte es auch so belassen, um nicht aufzufallen. Er brauchte keine Leute von der Regierung, die ihm Hygienevorschriften machten oder sagten, wann er den Tierarzt rufen sollte. Ohne Überprüfungen lief alles bestens. Er verkaufte seine Ware übers Internet und durch Kleinanzeigen. Er kam der Nachfrage kaum nach. Auf einer Website präsentierte er Fotos von Frühlingswiesen, auf denen die Hunde und ihr knuddeliger Nachwuchs sorglos miteinander herumtollten. Für hundert Dollar, online bezahlt mit einer Kreditkarte, konnte man sich schon etliche Monate vor dem Feiertagsansturm einen Welpen reservieren lassen. Lester hatte sein Geschäft »Traumhunde« genannt. Wenn er Bilder von seinen Hunden einstellte, fügte er Beschreibungen hinzu, die er von anderen Webseiten und Tierheimen geklaut hatte: »Wir haben diesen kleinen Burschen Zorro getauft. Wenn die Rasselbande sich zu heftig balgt, kommt er und rettet seine kleine Schwester. So lieb mit Kindern. Beeilt euch, dieser kleine Kerl wird schnell weg sein.«

Für Lester war die Hundezucht ein ehrbares Geschäft. Welpen machen die Leute glücklich und verleihen dem Bild einer perfekten Familie den letzten Schliff. Natürlich wusste er, dass sich einigen Leuten mächtig die Nackenhaare sträuben würden, wenn sie die Wahrheit über die Lebensbedingungen seiner Hunde wüssten. Aber Hundebabys werden wie Hamburger oder Milch als Ware verkauft. Bald kam der Weihnachtsmann, und davor kümmerte es keinen, wie seine Tiere aufwuchsen oder wie sauber ihre Zwinger waren. Jetzt interessierten nur Aussehen, Preis und Verfügbarkeit. Wenn eine Mom oder ein Dad sich mit Lester an der vereinbarten Stelle auf halber Strecke traf, hielt er oder sie den ausgesuchten Welpen freudig erregt hoch, sagte irgendwas Vorhersehbares, etwa: »Er ist echt süß«, wandte sich an Lester und fragte: »Wären Sie mit vierhundertfünfzig Dollar zufrieden?«

Dann kratzte sich Lester am Kinn und erwiderte: »Er ist seine sechshundert wirklich wert.« Danach legte er eine kurze Pause ein, bevor er fragte: »Bar?« Und wenn der Käufer nickte, sagte er: »Mir ist es wichtiger, dass der kleine Zorro ein gutes Zuhause findet, als dass ich jeden Dollar für ihn bekomme, den er wert ist. Wie wär’s mit fünfhundert?« Sie schüttelten sich die Hände, und damit war das Geschäft besiegelt. Für ein frohes Weihnachtsfest scheute man keine Kosten, und Lester fuhr mit einem dicken Bündel knisternder Zwanziger, frisch gezogen aus dem nächstgelegenen Geldautomaten, nach Hause.

Lester gab die Zahlen für die winzigen Welpen aus Lulus letztem Wurf in die Liste auf seinem iPad ein: Nr. 4118 bis 4120, mit einer Abweichung, Nr. 4121. Er wog jeden Welpen auf einer kleinen Waage und trug die Daten in die Spalte rechts neben jeder Nummer ein. Die Abweichung wog fünfundachtzig Gramm weniger. So etwas konnte schon mal vorkommen. Die Natur bietet nicht durchweg die Gleichförmigkeit, die man sich als Züchter wünscht. Es war ganz einfach: Golden Retriever haben ein bestimmtes Aussehen. Dasselbe galt für Ford Mustangs und BMW 325i. Ohne dieses Aussehen – na ja, dann adieu, du schöner Traum!

Das erklärte er auch seinem Nachbarn Ralph Williams – in gewisser Weise seinem Vermieter, was die Hunde anging – und dessen zwölfjähriger Tochter Samantha, als diese an jenem Morgen durch den Maschendrahtzaun den neuen Wurf betrachteten. »Wenn sie nicht so aussehen, wie ein Golden Retriever aussehen soll, kann man sie einfach nicht verkaufen.« In diesem besonderen Fall, dachte Lester, ging die Abweichung über das Gewicht hinaus. Der Welpe hatte nicht einmal den Körperbau eines Golden Retriever. Die Farbe der Kleinen wich zwar nicht allzu weit von der Norm ab, aber ihre winzigen, viel zu kurzen Beine wiesen darauf hin, dass die Proportionen einfach nicht stimmten.

Lester hegte einen gewissen Verdacht, der das Aussehen des Winzlings erklären würde. Als er bemerkte, wie ruhig Ralphs normalerweise sehr gesprächige Tochter war, wusste er ziemlich sicher: Samantha musste Lulu aus dem Zwinger gelassen haben – etwas, das Lester ihr ausdrücklich verboten hatte –, sodass die Hündin unbeaufsichtigt herumgestreunt war. Er war selbst daran schuld. Er hätte die Zwingertür mit einem Vorhängeschloss versehen müssen. Die kleine Außenseiterin sah ganz anders aus als ihre Geschwister, und selbst in diesem frühen Stadium konnte Lester erkennen, dass ihr die eleganten Proportionen ihrer Mutter fehlen würden, wenn sie ausgewachsen war, und dass sie wohl eher ihrem Vater ähneln würde. Während seiner Zeit als Züchter war Lester das nicht zum ersten Mal passiert – derselbe Wurf, verschiedene Väter. Irgendein Köter war auf Williams’ Grundstück herumgestreunt, als Lulu läufig gewesen war, und Samantha hatte Lulu aus dem Zwinger gelassen oder zumindest versäumt, die Tür ordentlich zu schließen. Anders konnte er sich das nicht erklären.

Er hielt den seltsam aussehenden Welpen hoch und inspizierte ihn näher, dann fragte er Samantha: »Du hast Lulu doch nicht etwa frei herumlaufen lassen?«

Samanthas Vater betrachtete seine Tochter nachdenklich. Ihm kam das zusätzliche Einkommen, das er sich mit der Unterbringung von Lesters Hunden verdiente, sehr gelegen, aber es gefiel ihm nicht, dass das Mädchen mit den Schattenseiten des Geschäfts konfrontiert wurde. Er hatte ihr gesagt, dass sie sich von den Zwingern fernhalten sollte. Um ehrlich zu sein, taten auch ihm die Hunde leid, und deshalb mied er sie selbst. Das Ganze war Lesters Unternehmen und nicht seines, und ganz bestimmt nicht Samanthas.

Samantha selbst ahnte nicht, wie Lester hinter ihr Geheimnis gekommen war. Sie war immer davon überzeugt gewesen, bestens aufgepasst zu haben. Nun schüttelte sie heftig den Kopf und erwiderte: »Nein, Sir. Vielleicht ist sie selber ausgebrochen.«

Lester wusste, dass die Kleine schwindelte, aber es änderte nichts an den Tatsachen. Was passiert war, war passiert.

Williams dachte an den Traktor, der vor dem Frühjahr repariert werden musste, die Einbußen, die seine Ernte durch die letzte Dürre erlitten hatte, und die üblichen Rechnungen, die sich stapelten. Es lastete viel auf ihm, doch auch wenn er auf Samanthas Seite war, musste er Lester zeigen, dass ihm ihre Partnerschaft nach wie vor wichtig war. Deshalb sagte er jetzt: »Samantha, du musst die Hunde in Ruhe lassen. Sie sind Mr Donaldsons Geschäft, nicht unseres.«

Samanthas Miene verriet ihr schlechtes Gewissen. »Ja, Dad.«

Lester lächelte zufrieden. Er hatte sich durchgesetzt. »Wir machen uns jetzt mal keine Sorgen und warten ab, wie sie wächst. Man kann nie wissen – vielleicht findet sich ja ein Käufer, wenn ich einen gewissen Nachlass einräume.« Er klopfte Ralph auf die Schulter, dann wandte er sich ab und ging. »Kinder!«, murmelte er halblaut.

Samantha bemühte sich, die Welpen, wie ihr aufgetragen worden war, zu ignorieren, doch als sie nach ein paar Tagen die Augen aufschlugen und agiler wurden, fiel ihr das zunehmend schwerer. Immer wieder beugte sie sich am Rand des Zwingers nach unten, und die Welpen stürzten sich auf sie, winselten aufgeregt und schleckten und bissen in ihre Finger, wenn sie sie durch den Maschendrahtzaun steckte. Dem hätte sie widerstehen können, aber das kalte Wetter und der sich häufende Dreck im Zwinger waren wirklich kaum zu ertragen. Die armen Welpen drängten sich an die bedauernswerte alte Lulu. Der Winter brach mit aller Macht herein, aber in dem offenen Zwinger gab es kaum Schutz vor dem Wind und der Kälte. Das Elend der Tiere traf Samantha mitten ins Herz, aber ihr war klar, dass sie lieber nichts dazu sagen und auch nichts dagegen unternehmen sollte. Ihr Vater hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass die Hunde sie nichts angingen.

Doch als es Anfang Dezember immer kälter wurde, konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. Einer der Welpen, die kleine Außenseiterin, wirkte richtig krank. In den letzten Tagen hatte sich die Kleine kaum noch von ihrer Mutter fortbewegt. Auch Lulu regte sich kaum. Meistens lag sie auf der Seite, während ihre Jungen sich an sie drängten, um sich zu wärmen und zu trinken. Lester hielt es nicht wirklich mit der Wahrheit, wenn er im Internet verkündete, die Welpen seien komplett entwöhnt.

Es war Samstag. Samanthas Vater war in den Ort gefahren, um einiges zu erledigen und um sich anschließend mit den Nachbarn zum Kaffee zu treffen. Samantha war also allein. Sie machte sich auf zum Zwinger, öffnete die Tür vorsichtig und trat hinein. Lester hatte mit der Auslieferung von Welpen anderer Würfe viel zu tun, sodass er manch anderen Zwinger schlichtweg vernachlässigte. Samantha musste aufpassen, wo sie hintrat. Die Zustände waren grauenhaft. Der Lehmboden war völlig verdreckt, die Welpen kotverschmiert. Lester schien seine »Ware« nur dann zu säubern, wenn er einen Käufer hatte. Was also sollte falsch daran sein, wenn sie sich um die Hunde kümmerte? Wer sollte sich beklagen? Im Grunde half sie ihrem Dad und Lester doch, und sie wollte kein Geld dafür, ja nicht einmal Dank.

Als Erstes hob sie den kleinen Kümmerling hoch und versuchte, seinen Körper zu wärmen. Der Welpe wand sich ein wenig, und es beruhigte Samantha, dass er übehaupt noch lebte. Aber mit dem rechten Auge der Kleinen stimmte etwas nicht. Sie konnte kaum sehen, so geschwollen war es. Samantha setzte sie wieder bei ihrer Mutter ab und machte sich an die Arbeit. Mit einer alten Schaufel, die Lester für diesen Zweck an den Zwinger gestellt hatte, versuchte sie, den Schmutz zu beseitigen. Dann verteilte sie den Rest des sauberen Strohs und richtete ein frisches Lager her.

Lulu schien Samantha nicht zu bemerken und tat auch nicht das, was Hundemütter normalerweise tun, wenn sich jemand ihnen und ihrem Wurf nähert – knurren, die Zähne fletschen, bellen. Stattdessen lag sie apathisch da, während Samantha weiter sauber machte, und ließ es sogar zu, dass das Mädchen ihre Welpen aufhob. Die Tiere waren so dreckig, dass Samantha sie kaum anfassen wollte. Sie rannte ins Haus, füllte einen Eimer mit warmem Wasser und kehrte zurück, um ein Kleines nach dem anderen zu säubern. Zum Schluss kam Lulu an die Reihe. Samantha rubbelte die Hunde sorgfältig mit einem alten Handtuch trocken. Als alle sauber waren, setzte sie sich zu ihnen auf den kalten Dezemberboden. Die Kleinen kletterten auf ihr herum und bettelten um Aufmerksamkeit. Lulu beobachtete das Geschehen und schien zufrieden, eine junge Babysitterin zu haben. Die erschöpfte Hündin lag einfach nur da und ruhte sich aus.

Samantha gefiel es, wie sich der kleine Kümmerling an ihren Hals kuschelte und sanft dabei fiepte. Sie befreite sein Gesicht vorsichtig von den gelben Krusten. »Geht es dir heute gut, du kleiner Zwerg?«, fragte sie und drückte ihn liebevoll an sich.

Nach einer knappen Stunde taten Samantha vor Kälte die Finger weh. Sie verabschiedete sich von den Hunden und schloss die Tür des Zwingers. Sie hoffte inständig, dass niemand von ihrer Säuberungsaktion Wind bekam.

Falls Lester es bemerkt hatte, verlor er kein Wort darüber, aber er bot Ralph die kleine Außenseiterin an. »Vielleicht freut sich deine Tochter ja über einen eigenen Hund.«

Doch Ralph befürchtete, dass dies einen gefährlichen Trend einleiten könnte, und lehnte das Angebot ab. In der darauffolgenden Woche lieferte Lester drei von Lulus Welpen an Käufer aus, sodass nur noch sie selbst und der kleine Kümmerling übrig blieben. Danach erklärte er Ralph, dass der Zwinger im Winter geschlossen werden würde.

»Lulu war eine gute Hündin, aber jetzt ist sie so gut wie unfruchtbar«, waren seine abschließenden Worte.

Samantha war auf einer Farm aufgewachsen und wusste, was das zu bedeuten hatte. Für Lulu und den letzten Welpen.

Als ihr Vater sich an sie wandte und sagte: »Samantha, Schätzchen, wir müssen uns wohl verabschieden«, hätte sie am liebsten losgeheult.

Doch stattdessen wandte sie sich von ihm ab und ging davon. Die glauben, ich bin blöd und kapier nicht, was da abgeht, dachte sie grimmig.

Ihr Kummer wich Zorn, und auf dem Weg ins Haus fühlte sie sich hilflos und klein.

Lester senkte die Stimme. »Ich komm dann morgen Abend vorbei, wenn sie im Bett ist.«

»Das ist wohl besser«, stimmte Ralph zu.

Während Samantha den Kopf ins Kissen vergrub und weinte, redeten die Männer noch ein Weilchen über ihre Zukunft mit Rottweilern, Wolfshunden und Mastiffs, bevor Lester zu seiner Farm zurückkehrte, um eine letzte Lieferung – einen Labradorwelpen – auszufahren. Die Fahrt nach Abilene dauerte zwei Stunden.

Den nächsten Tag verbrachte er überwiegend damit, seine Zucht für den Winter zu schließen. Am Abend stand nur noch eine letzte Aufgabe an. Eine unangenehme Aufgabe, aber er konnte sie nicht länger aufschieben. Eine seiner Cousinen, Hayley Donaldson, hatte früher mal ein Tierheim in Crossing Trails geleitet, knapp zwei Stunden entfernt. Doch sie hatten aus Geldmangel schließen müssen. Es gab einfach keinen Platz, wohin er eine alte Hündin und ihren unverkäuflichen Welpen hätte bringen können. So wenig ihm dieser Teil seines Jobs gefiel, er musste erledigt werden. Schließlich war er Geschäftsmann, kein Wohltätigkeitsverein.

Etwa um zehn Uhr abends bog er auf die Zufahrt zum Haus der Williams ein, parkte den Truck, stieg aus und ging entschlossen zum Zwinger, einen Maulkorb, eine Leine und eine Taschenlampe in der Hand. Die alte Lulu war so entkräftet, dass er sie wahrscheinlich auf die Ladefläche des Trucks würde hieven müssen, bevor er schließlich auf seiner Farm tun konnte, was getan werden musste.

Er ließ die Scheinwerfer brennen und richtete seine Taschenlampe auf den Weg. Weil der Wind heftig blies, wickelte er sich fest in seinen Mantel ein und versuchte, sich warm zu halten. Er ging um die Scheune herum und richtete den Schein der Lampe auf den Zwinger. Die Tür stand weit offen, Lulu und der Winzling waren verschwunden. Steckte das Mädchen dahinter? Vermutlich. Lester zuckte gleichmütig mit den Schultern und kehrte zu seinem Wagen zurück.

Für ihn gab es nun nichts mehr zu tun. Bei diesem Wetter würde die Natur den Rest erledigen. Es war das Ende einer weiteren profitablen Saison.

Als am nächsten Morgen um sieben das Telefon läutete, war Dr. Welch, der stämmige Chef der Tierklinik an der Kansas State University, gerade beim Frühstück. Gut, dass ich Frühaufsteher bin, dachte er und hob den Hörer ab.

»Welch«, meldete er sich mit seiner angenehm sonoren Stimme.

Die Stimme am anderen Ende der Leitung hingegen klang erregt. »Dr. Welch«, legte der Mann gleich los, »es ist ihr Auge, und sie atmet …« Er hielt auf der Suche nach dem richtigen Wort für einen Augenblick inne. »Sie atmet flach. Dr. Welch, was soll ich denn nur machen?«

»Nun mal ganz langsam. Wer sind Sie denn überhaupt?«, versuchte der Arzt den Mann fürs Erste zu beruhigen.

»Ich bin’s, Todd. Todd McCray.«

Der Arzt kannte Todd, doch so atemlos wie der junge Mann geklungen hatte, war seine Stimme nicht zu erkennen gewesen. Todd war eine Art Legende an der Universität. Über zehn Jahre hatte er Dr. Welch und die anderen Tierärzte an der Universität immer wieder um Rat gefragt. Schon als Junge hatte er sich aller möglichen verletzten oder bedürftigen Tiere angenommen – egal, ob es ein Falke mit einem gebrochenen Flügel war, ein Wurf verlassener Kojote-Welpen oder ein Waschbär, der sich auf eine viel befahrene Straße verirrt hatte. Er hatte ein Händchen für alle Tiere, aber mit Hunden kannte sich Todd McCray besonders gut aus.

Dr. Welch kannte den erwachsenen Todd als verantwortungsbewussten, fast schon irritierend sorgsamen und extrem gründlichen Hundetrainer, der an einer der beeindruckendsten Ausbildungsstätten des ganzen Landes, der Heartland School for Dogs in Washington, Kansas, arbeitete. Mittlerweile rief Todd mindestens einmal im Monat an, weil er Fragen zu seinen Hunden hatte. Er legte sich in seiner Arbeit schwer ins Zeug und war fast über Nacht zum Chefausbilder aufgestiegen. Dr. Welch war immer wieder zu Ohren gekommen, wie erfolgreich Todd bei der Hundeausbildung war und dass er eine wahre Gabe besaß, den richtigen Hund dem richtigen Menschen zur Seite zu stellen. Todd verlangte viel von einem Assistenzhund, aber wenn es mal nicht klappte, dann gab er sich die Schuld und nicht dem Tier.

»Todd, erzähl bitte der Reihe nach und langsam. Es ist ziemlich früh, ich habe noch nicht mal einen Kaffee getrunken.«

Todd begann, nun ruhiger geworden, zu erzählen, und Dr. Welch hörte aufmerksam zu. Ein Farmer, den Todd kannte, hatte einen leblosen Hund am Straßenrand bemerkt. Das Tier schien überfahren worden zu sein, oder es war erfroren. Der Mann stieg aus seinem Wagen und suchte das Tier gerade mit einer Taschenlampe nach einer Hundemarke ab, als er plötzlich ein leises Winseln aus einem Abflusskanal in der Nähe vernahm. Er bückte sich vor der großen Aluminiumröhre, die unter der Straße hindurchführte, und sah einen kleinen Welpen auf sich zu taumeln. Das Tier blutete und hatte ein verletztes Auge. Der Farmer holte das Kleine heraus und versuchte, es zu wärmen, erkannte aber sofort, dass es fachmännische Hilfe brauchte. Rasch beschloss er, nach Washington zu fahren, in der Hoffnung, Todd dort aufzufinden, und hatte Glück.

Todd untersuchte den Welpen, dann wählte er unverzüglich Dr. Welchs Nummer.

»Ich bin in zwei Stunden in der Praxis«, erklärte Dr. Welch, als Todd zu Ende erzählt hatte. »Bring den Welpen vorbei, aber fahr nicht zu schnell.«

Todd zog seinen Mantel an, kletterte in seinen alten Pick-up und fuhr in zwei Stunden zur Kansas State University. Den kleinen Hund hatte er sich unters Hemd gesteckt, sodass er sich an seinem Bauch wärmen konnte.

Nachdem er geparkt hatte, stürmte er sofort in die Praxis. Er hatte es sogar so eilig, dass er vergaß, die Fahrertür zu schließen. »Dr. Welch!«

Er zog das Hündchen unter seinem Hemd hervor und reichte es dem Tierarzt. Das Tier rang so angestrengt nach Luft, dass zu befürchten war, jeder Atemzug könne der letzte sein. Todd war sich darüber im Klaren, dass Tränen bei Männern nicht sonderlich angebracht waren, aber als er sah, in welchem Tempo Dr. Welch zu seinem Untersuchungstisch schritt und Vorkehrungen traf, konnte er sich nicht zurückhalten und weinte.

1. KAPITEL

Mary Ann McCray war ihrer Meinung nach schon viel zu lange im Vorstand der Stadtbibliothek von Crossing Trails. Wie in den meisten Kleinstädten in Kansas schrumpfte auch hier die Bevölkerung stetig. Aufgrund sinkender Steuereinnahmen litt die Bücherei an chronischem Geldmangel. Mary Ann war sich nicht sicher, ob sie die anderen Vorstandsmitglieder überhaupt noch verstand. Sie schienen sich nicht besonders für ihre Kernaufgaben zu interessieren: Nämlich das Lesen zu fördern, aber auch Geldquellen und ehrenamtliche Mitarbeiter zu finden. Das Problem war: das Geld reichte hinten und vorne nicht, und außerdem lasen die Leute nicht mehr so viel wie früher.

Auch die Nutzung der Bibliothek änderte sich. Das konnte man allein schon daran ermessen, dass kaum noch Bücher ausgeliehen wurden, dafür umso mehr CDs, DVDs und Videospiele. Die klassischen Besucher der Bücherei waren überwiegend älter, eher im Alter von Mary Ann, die jüngeren Leute kamen, wenn überhaupt, hauptsächlich wegen des freien Internetzugangs. Mary Anns Meinung zufolge sollte man Kinder dringend für Bücher begeistern.

Aber der Vorstand schien sich ständig mit anderen Themen zu befassen, wie es sich auch bei der gegenwärtigen Sitzung wieder zeigte. Mary Ann hatte versucht, sich zurückzuhalten und ruhig zu bleiben, doch diese Diskussion regte sie tatsächlich sehr auf, vor allem, weil es dabei um einen ihrer ältesten und engsten Freunde ging. Sie beugte sich vor und hob die Hand wie ein Verkehrspolizist. »Da bin ich völlig anderer Meinung. Es besteht keinerlei Notwendigkeit, das zu tun.«

»Warum nicht?« Carol Sampson klang aufrichtig überrascht.Wie konnte etwas so Simples, wie einen neuen Santa Claus für das Weihnachtsprogramm der Bücherei aufzutreiben, eine derartige Reaktion auslösen?

»Hier geht es um Loyalität. Hank Fisher hat vierzig Jahre lang den Santa für uns gespielt. Wir haben ihm nie auch nur einen Cent dafür bezahlt, er hat nie eine Gegenleistung verlangt. Er ist ein wichtiger Teil dessen, wer wir sind – ein Teil unserer Tradition.« Mary Ann bemühte sich, ihre Empörung zu zügeln, bevor sie hinzufügte: »Ich kann mir Weihnachten oder Crossing Trails einfach nicht ohne Hank als Santa vorstellen.« Sie kannte Hank schon seit ihrer Kindheit. Er war zwar schon über achtzig, doch ihn aufzufordern, sein Santa-Kostüm nach all den Jahren an den Nagel zu hängen – das erschien ihr einfach nicht richtig.

»Ich bin anderer Meinung«, konterte Marsha Thompson, das jüngste Vorstandsmitglied. »Wir sind der Bücherei und den Kindern dieses Ortes verpflichtet, nicht Hank Fisher. Ich drücke mich nur ungern so drastisch aus, aber die Kinder sollten Santa nicht in einem Rollstuhl und mit Sauerstoffschläuchen in der Nase sehen. Sie würden sich bestimmt Sorgen machen, ob Santa es denn bis Weihnachten schafft.«

Ein weiteres Mitglied, Catherine Evans, meldete sich zu Wort. »Marsha übertreibt. Hank braucht weder ständig Sauerstoff, noch sitzt er ständig im Rollstuhl. Aber ich denke, der Punkt ist doch: Nicht Hank, sondern Santa ist die Tradition. Früher oder später muss Hank in den Ruhestand gehen, und vielleicht ist es jetzt an der Zeit.«

»Dieser Meinung bin ich auch«, warf Tammy Larson, die Chefin der Bücherei, freundlich ein. »Aber bevor wir Hank bitten zurückzutreten, sollten wir vielleicht einen anderen finden, der die Aufgabe übernehmen möchte.«

»Das könnten viele.« Marsha wandte sich wieder an Mary Ann. »Wie wär’s denn mit deinem Sohn Todd? Er ist doch wieder in der Stadt, oder? Wir sollten Santa mit einem frischen Gesicht versehen. Todd wäre ein großartiger Santa. Oder dein Mann George? Auch er könnte es machen.«

»Todd steckt mitten in seinem Umzug, und all seine Freizeit verbringt er im neuen Tierheim. Und was George angeht … Na ja, so frisch ist der auch nicht mehr.« Die Vorstandsmitglieder kicherten ein bisschen, doch Mary Ann schüttelte ernst den Kopf. »Außerdem würde George seinem Freund Hank diesen Job nicht wegnehmen wollen.«

»Ich habe Hank wirklich sehr gern«, sagte Louisa Perkins, eine langjährige Freundin von Mary Ann. »Das tun wir alle, aber er ist so gebrechlich. Wenn wir keinen Freiwilligen finden, dann wäre es vielleicht das Beste, wenn wir uns an eine Santa-Claus-Vermittlung wenden würden. Dann sind wir sicher, dass Santa eine professionelle Ausbildung hat und überprüft wurde. Heutzutage kann man gar nicht vorsichtig genug sein.«

Mary Ann weigerte sich, von Hank abzurücken. »Ich glaube nicht, dass es etwas mit Hanks Gesundheitszustand zu tun hat oder damit, wie sich ein alter Claus auf unsere Kinder auswirken würde. Ein hagerer alter Mann in einem roten Kostüm passt vielmehr nicht in unser Bild von dem, wie Santa aussehen sollte. Den Kindern wird das völlig egal sein. Wir sollten einfach darüber hinwegsehen und Hank seinen Job machen lassen, solange er ihn machen will.«

»Ich bin mir sicher, dass wir alle ziemlich flexibel sind, was Santas äußere Erscheinung angeht«, widersprach Catherine Evans. »Ich glaube wirklich nicht, dass es hier ums Aussehen geht.«

»Ach ja?«, fragte Mary Ann ungläubig. »Bist du dir da so sicher?«

»Ja, das bin ich«, erwiderte Catherine. »Es hat absolut nichts damit zu tun.«

Mary Ann hatte die letzten dreißig Jahre als Vertrauenslehrerin an der Highschool von Crossing Trails gearbeitet und Musik unterrichtet, doch am liebsten leitete sie den Debattierclub. Im Argumentieren hatte sie es zur wahren Meisterschaft gebracht. »Ich habe das Gefühl, dass ich in diesem Punkt recht habe. Ich sage dir, es geht ausschließlich ums Aussehen.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Catherine. Sie befürchtete, dass dieses jetzt schon ziemlich unangenehme Gespräch noch hitziger werden könnte.

Mary Ann legte den Kuli auf ihren Notizblock. »Ich erkläre mich bereit, Hank zu sagen, dass seine vierzigjährige Dienstzeit als Santa Claus in Crossing Trails zu Ende gegangen ist, und zwar nicht, weil er zu alt und zu schwach wirkt; denn wie wir alle wissen, spielt das Aussehen keine Rolle. Nein, deshalb, weil wir beschlossen haben, dieses Jahr eine andere Richtung einzuschlagen.«

»Ach ja?«, spornte Arthur Lee sie an. Arthur war das einzige männliche Vorstandsmitglied und auch der Vorsitzende. Bislang hatte er nichts gesagt. Er wollte sich gern anhören, was Mary Ann noch vorzubringen hatte, denn ihm selbst war schleierhaft, wie man hier eine Kompromisslösung finden sollte. Der schlichte Vorgang – die Wahl eines neuen Santa – wirkte plötzlich unendlich schwierig.

Nun war sich Mary Ann der Aufmerksamkeit aller Anwesenden sicher. »Anstelle von Hank …«, fing sie an und kramte die sogenannte reductio ad absurdum, den Widerspruchsbeweis, aus ihrem inneren Debattierhandbuch hervor und legte der besseren Wirkung halber noch eine kunstvolle Pause ein, bevor sie verkündete:: »… mach ich es.«

Es kehrte tiefe Stille ein. Die Vorstandsmitglieder fragten sich, ob Mary Ann McCray diesen Vorschlag ernst gemeint hatte oder einfach nur provozieren wollte. Alle waren sich zwar einig, dass sie im Vorstand wertvolle Arbeit leistete, doch gelegentlich stellte sie ihre Stacheln auf.

Mary Ann fuhr fort: »Denkt doch mal darüber nach. Mr Claus ist müde. Er muss dieses Jahr eine Pause einlegen. Santa hat keine Rentenvorsorge getroffen, er kann also nie in den Ruhestand gehen. Seit fast zweihundert Jahren macht er seinen Job. Nie klagt er über Rückenschmerzen oder über Gicht in seinen Fingern. Der Mann braucht wirklich eine Pause. Dieses Jahr hat er Mrs Claus nach Crossing Trails geschickt. Frauen erledigen den Einkauf, wickeln die Geschenke ein und dekorieren das Haus. Sie können die Rotznasen ihrer Kinder putzen, Windeln wechseln und so weiter. Deshalb gehe ich davon aus, dass sie auch Wünsche von Kindern annehmen können, die sie verehren. Was soll daran so schwer sein? Ich mach es. Wollt ihr, dass ich anstelle von Hank Santa Claus spiele? Schließlich geht es ja nicht ums Aussehen, stimmt’s?«

Wieder trat Stille ein. Alle im Raum versuchten, ihrem Argument zu folgen. Arthur Lee war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Die Idee klang irgendwie reizvoll, aber würde sie auch funktionieren? »Nun, das würde mit Sicherheit in eine andere Richtung gehen. Aber glaubst du denn nicht, dass die Kinder an Santa als eine großväterliche Gestalt gewöhnt sind? Wären sie nicht enttäuscht?«

Mary Ann legte die Hände flach auf den Konferenztisch und beugte sich vor. »Crossing Trails, der einzige Ort in Amerika, der Mrs Claus so wichtig ist, dass sie ihn besucht. Es ist ihr nicht leicht gefallen, aber sie hat ihre Schürze ausgezogen, ihre gemütliche Küche am Nordpol verlassen und uns besucht. Was für ein Glück wir doch haben!«

Marsha Thompson wollte die Spannung ein wenig lockern. »Die Elfen werden einen Aufstand machen – wer wäscht jetzt die Wäsche?«, fragte sie scherzhaft.

Catherine lachte, doch dann sagte sie: »Ich dachte, es sollte Santa Claus sein, nicht … Anna Claus.«

Jetzt konnte Mary Ann nicht umhin aufzutrumpfen. »Siehst du, genau das wollte ich damit sagen. Es geht sehr wohl ums Aussehen. Es fällt uns schwer, uns Santa als irgendetwas anderes als einen kräftigen alten Mann mit funkelnden Augen vorzustellen. Was soll’s, wenn er älter wird – welchen Unterschied macht das denn? Werden wir nicht alle älter, genau wie Hank Fisher älter geworden ist? Es geht nicht darum, wie Santa aussieht, sondern darum, was er tut. Und Hank ist ein fantastischer Santa.«

Als Arthur Lee sich räusperte, wandten sich alle ihm zu. Mary Ann war sich ihres Sieges sicher. Arthur würde sich auf ihre Seite schlagen, und Hank konnte seinen Job behalten – zumindest einstweilen. Sie hatte Arthur immer für sehr vernünftig gehalten und sah keinen Grund zu glauben, dass das heute anders sein würde.

»Ich habe eine zwölfjährige Tochter«, fing er an. »Die meisten von euch kennen Lilly. Ich halte sie für etwas ganz Besonderes.« Bei der Erwähnung seiner Tochter schien sein Gesicht aufzuleuchten. »Ich möchte, dass Lilly glaubt, dass sie alles sein kann, was sie sein will«, fuhr er fort. »Irgendwo hab ich mal gelesen, dass Traditionen gar nicht bewusst aufgegeben, sondern vielmehr einfach fallen gelassen werden, weil sie nicht mit der Zeit gehen. Denkt nur mal an das Apfelschnappen. Mary Ann, ich finde, du hast recht. Wir haben die andere Hälfte der Familie Claus zu lange ignoriert. Ich denke, du bist über eine neue, faszinierende Idee gestolpert, deren Zeit gekommen ist. Warum sollen wir nicht Anna Claus einladen, an Weihnachten in Crossing Trails vorbeizuschauen? Machen wir uns einen Spaß daraus! Informieren wir die Presse, rücken wir Crossing Trails und Mrs Claus dieses Jahr ins Scheinwerferlicht. Nach all den undankbaren Jahrhunderten hat sie wahrhaftig ein wenig Anerkennung verdient.«

Eine gewisse Aufregung kam auf. Die Vorstandsmitglieder sahen sich an und lächelten. Offenbar gab es einen Konsens: Das konnte lustig werden.

Mary Ann hob die Hand und stammelte: »Nein, nein. Ihr habt mich nicht verstanden. Ich will wirklich nicht …«

Louisa, die ihrer alten Freundin einen Gefallen erweisen wollte, rief laut: »Also, ich finde diese Idee wirklich sehr reizvoll!«

»Wer dafür ist, hebt die Hand«, sagte Arthur.

Mary Ann verschränkte die Arme vor der Brust, alle anderen, die natürlich dachten, Mary Ann wollte aus Höflichkeit nicht für ihre eigene Idee stimmen, hoben die Hände. Doch Mary Ann machte sich im Geiste eine Notiz für ihren Debattierclub: »Der Widerspruchsbeweis – schön und gut, aber Leute, merkt euch: der Schuss kann nach hinten losgehen.«

Am liebsten wäre sie auf ihrem Stuhl zusammengesunken. Sie würde in Crossing Trails zur Lachnummer werden. Warum hatte sie nicht ihren Mund halten und Hank Fisher dem Ruhestand überlassen können? Jetzt war noch nicht mal Thanksgiving, doch ihr Mann George würde bestimmt noch an Silvester über sie, seine Frau im Santakostüm, lachen. Immer wieder würde er ihr das aufs Butterbrot schmieren.

»Mary Ann«, meinte Carol Sampson freundlich, »du wirst eine wunderbare Anna Claus werden. Vielen Dank, dass du dich für diesen Job gemeldet hast.«

Der Vorsitzende lächelte und stimmte ein altbekanntes Lied an, wobei er den Text ein wenig abwandelte: »Anna Claus is coming to town.«

Mit einem Seufzen legte Mary Ann nicht viel später ihre Handtasche auf den Küchentisch. Im Fernsehen liefen die Abendnachrichten. Sie hängte ihren Mantel in den Dielenschrank und ging ins Wohnzimmer. Wie erwartet war George eingenickt. Sein Bein, das in Vietnam verwundet worden war und noch immer schmerzte, hatte er weit von sich gestreckt; so schien es erträglicher zu sein. Seine linke Hand ruhte auf dem Kopf des alten Labradors, den ihr Sohn Todd vor vielen Jahren »Christmas« getauft hatte. Der alte Hund betrachtete Mary Ann hingebungsvoll. Sein dichter Schwanz strich langsam auf dem Fußboden hin und her. Sie begrüßte ihn mit einem Tätscheln, dann rüttelte sie ihren Mann sanft an der Schulter. »George.« Er schreckte hoch und raschelte verlegen mit der Zeitung auf seinem Schoß. »Oh, ich bin wohl eingeschlafen.«

»Ja, den Eindruck habe ich auch«, neckte Mary Ann ihn zärtlich. »Haben du und Christmas Todd beim Umzug geholfen? Ich kann es kaum glauben, dass er wieder in Crossing Trails ist. Seine Zeit bei Heartland ist wie im Flug vergangen«, sagte sie. »Sie werden ihn dort bestimmt sehr vermissen.«

»Ich habe ihn angerufen. Er hat gesagt, dass er schon eingezogen ist.«

»Allein?«

»Vermutlich. Ich glaube kaum, dass seine komische kleine Hündin eine große Hilfe war. Wie heißt sie gleich nochmal? Elle?« George streckte sich. »Wie lief deine Vorstandssitzung?«

»Nicht sehr gut.« Mary Ann legte eine nachdenkliche Pause ein. »Um ehrlich zu sein – es war schrecklich.«

George sah überrascht hoch. Seine Frau hatte die Vorstandssitzungen der Bücherei im Lauf der Jahre sehr unterschiedlich beschrieben, aber noch nie so drastisch. »Warum? Was ist denn passiert?«

»Versprichst du mir, die Sache für mich nicht noch schlimmer zu machen, als sie schon ist?«

Nun war George hellwach. Er richtete sich auf. Wenn Mary Ann erwartete, dass er sie kritisieren würde, konnte er sich ziemlich gut vorstellen, was passiert war. Ihre gekränkte Miene verstärkte seinen Verdacht. »Hast du dich mit jemandem gestritten, und sie haben dich rausgeworfen? Oder du bist zurückgetreten?«

»Nein!«, entgegnete Mary Ann entrüstet. »Wie kommst du denn darauf?«

George legte den Kopf schräg, als würde ihn diese Frage überraschen. »Na ja – mal sehen.« Er reckte seine rechte Faust und streckte einen Finger nach dem anderen aus, während er seine Gründe vorbrachte. »Erstens, du nimmst kein Blatt vor den Mund. Zweitens, du bist schlau, aber du streitest gern. Drittens, du vertrittst deine Prinzipien vehement gegen die anderer Leute. Trifft irgendwas davon zu? Komme ich der Sache näher?«

»Bin ich deiner Meinung nach denn wirklich so böse?«

George zog sie näher. Als sie nah genug war, gab er ihr einen kleinen Schubs, sodass sie auf seinen Schoß plumpste, dann flüsterte er ihr ins Ohr: »Köstlich böse. Genau so, wie ich es mag.«

»George, ich war wirklich blöd, und jetzt stecke ich in der Klemme.«

»Okay – was ist passiert?«

Sie legte den Kopf auf seine Brust. »Sie wollten Hank den Job als Santa Claus von Crossing Trails wegnehmen. Nach all den Jahren! Kannst du dir das vorstellen?«

»Das wundert mich nicht.«

»Sie meinten, er sei zu alt, und seine Sauerstoffschläuche würden den Kindern Angst machen.«

»Vielleicht haben sie recht. Es ist an der Zeit, dass Hank die Zügel des Rentierschlittens weiterreicht. Aber das hätten sie niemals dir sagen sollen.«

Mary Ann rückte von George ab. »Wie meinst du das?«

»Sie haben jemanden, den du liebst, geringschätzig behandelt.« Seine Augen funkelten. »So etwas kann den Angriff der Leichten Brigade provozieren, mit dir an der Spitze reitend. Du wirst mit den Säbeln rasseln und weder Gefangene noch Rat akzeptieren, unter der Devise: erst handeln, dann reden.«

»Bin ich wirklich so schlimm?« Als George bloß grinste und ihr eine Antwort schuldig blieb, legte sie den Kopf wieder auf seine Brust. »Trotzdem kann ich mir Weihnachten ohne Hank nicht vorstellen.«

»Hank weiß, dass er das rote Kostüm an den Nagel hängen muss. Er hat Angst, dass er ein Kind von seinem Schoß fallen lässt.«

»Hat er dir das gesagt?«

»Jawohl, letzte Woche.«

Überrascht musterte Mary Ann ihren Mann. »Hättest du mir das bloß erzählt, bevor ich bei diesem Treffen den Mund aufgerissen habe! Und was will Hank jetzt tun?«

»Er hat mich gebeten, Santas Schlitten zu übernehmen. Ich habe ihm gesagt, dass ich darüber nachdenken werde. Weißt du noch, wie ich in der sechsten Klasse den Santa Claus gespielt habe?«

»Ja, George, das weiß ich noch«, sagte Mary Ann, und sie erinnerte sich wirklich noch sehr gut daran. Sie waren von klein auf gut befreundet gewesen, eine richtige Sandkastenliebe, und es fiel ihr nicht schwer, das Bild eines sehr jungen George McCray mit spitzbübisch funkelndem Schalk in den Augen heraufzubeschwören. Wenn es darauf ankam, leuchtete er heute noch darin. »Du warst ein sehr süßer Santa.«

George zog Mary Ann fester an sich. »Hank und ich haben darüber geredet. Vielleicht könntest du mein altes Santa-Kostüm ein bisschen ändern? Hanks Kostüm ist etwas zu groß für mich.«

Mary Ann löste sich aus Georges Griff und stand auf. Ungläubig starrte sie ihren Mann an, stemmte die Hände auf die Hüften und fragte: »Ändern?«

»Na ja, du weißt schon – es richten, damit ich es wieder tragen kann.«

»Ich soll ein fünfzig Jahre altes Kostüm, das du als Junge getragen hast, so ändern, dass du jetzt den Santa spielen kannst?«

»Ja, genau. Hast du etwas dagegen?«

»Jawohl, das habe ich.« Sie hielt drei Finger in die Höhe und ahmte Georges frühere Bemühungen nach, seine Argumente zu unterstreichen. »Erstens: Ich kann aus einem Kinderkostüm Größe 34 kein Männerkostüm Größe 46 machen. Zweitens: Ich muss die Wäsche der Elfen waschen. Drittens: Du kannst nicht der Santa von Crossing Trails sein.«

»Warum nicht?«, fragte George. »Ho, ho, ho! Siehst du, das kann ich sehr wohl.«

Mary Ann legte die Hände vors Gesicht, dann sprudelte sie los: »Du kannst es nicht, weil ich es sein werde. Der Büchereivorstand möchte, dass ich Santa bin.« Sie floh in die Küche.

»Wessen verrückte Idee war das denn?«, rief George ihr nach.

»Egal.«

George erhob sich schwungvoller, als er das in letzter Zeit geschafft hatte, und folgte ihr in die Küche. »Du kannst nicht Santa sein.«

Mary Ann drehte sich zu ihm um. »Selbstverständlich kann ich Santa sein. Jeder kann Santa sein.«

»Soll das ein Witz sein?«

»Ho, ho, ho!«

George war nicht wirklich versessen darauf, Santa Claus zu spielen, weshalb es ihm keine Mühe bereitete, die Idee schnell wieder fallen zu lassen. Trotzdem erstaunte ihn diese Wendung. »Mary Ann, wenn du gern Santa sein willst – nur zu.« Er konnte sich ein verschmitztes Grinsen nicht verbeißen. »Kann ich der Erste sein, der auf deinem Schoß sitzt?«

»Wolltest du je auf Hank Fishers Schoß sitzen?«

George starrte auf die Decke, als ob er über diese Frage gründlich nachdenken müsste. »Tja, mal sehen … Nein, ich glaube nicht; zumindest nicht in den letzten Jahren. Nein. Je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass ich vermutlich nie auf Hank Fishers Schoß sitzen wollte. Als er der Santa von Crossing Trails wurde, habe ich versucht, dich dazu zu bringen, mich zu heiraten.«

»Na gut. Warum soll das jetzt bei Mrs Claus anders sein?«

»Weil du besser aussiehst als Hank Fisher?«

»Schon gut. Wenn du dich jetzt über mich lustig machen willst, wie es vermutlich alle anderen auch tun werden, dann bist eben du Santa.«

George packte Mary Ann an den Handgelenken und zog sie wieder zu sich. »O nein, so leicht kommst du aus der Nummer nicht wieder raus. Du wolltest den Job. Gib’s zu: Du hast dich freiwillig gemeldet. Du konntest den Büchereivorstand nicht enttäuschen, und du kannst auch Crossing Trails nicht enttäuschen.«

Mary Ann musste lachen, ob sie wollte oder nicht. »Nur um eines klarzustellen: Ich wollte den Job nicht. Aber vermutlich hast du recht – jemand muss es machen. Und was dich angeht: Anna Claus glaubt, dass du ein böser Bube gewesen bist, und deshalb wirst du dieses Jahr an Weihnachten leer ausgehen.«

»Ich bin mit mehreren Elfen per Du.«

»Schön. Dann hast du ja jemanden, mit dem du spät abends noch plaudern kannst.«

»Was soll das heißen?«

»Weil du es dir mit Mrs Claus verscherzt hast, wirst du die Nächte in den Feiertagen auf dem Sofa verbringen müssen. Mitten im Winter kann das ziemlich ungemütlich werden. Du wirst schon sehen.«

»Kann ich Kekse und Milch für dich rausstellen?«

»Wie ich dich kenne, würdest du sie alle selber futtern.«

Er stupste sie spielerisch in die Rippen. »Weißt du, Mary Ann, in unserem Alter tut man sich ein bisschen schwerer, durch den Kamin zu passen.«

Mary Ann tat, als würde sie einen Notizblock aus ihrer Gesäßtasche ziehen, ihn aufschlagen und etwas aufschreiben. Ans Ende der imaginären Liste setzte sie ein großes Ausrufezeichen, dann strich sie sich die Haare aus dem Gesicht. »George McCray: definitiv ausgesprochen frech.«

»Vielleicht«, gab George zu.

Sie stupste mit dem Finger auf seine Brust und fing an zu singen: »O Tannenbaum, o Tannenbaum, der Weihnachtsmann geht Äpfel klaun …«

2. KAPITEL

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