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Um ihre Ehe mit Simon wieder auf Kurs zu bringen, bucht Laura ein Krimiwochenende. Ein Rollenspiel mit fiktiver Leiche, acht Ermittlern und einem Mörder, ganz in der Nähe der Ostsee. Während Simon das Wochenende in vollen Zügen genießt, entwickelt es sich für Laura mehr und mehr zu einem Alptraum. Da ist die attraktive Irin, die Simon schöne Augen macht. Da ist der verknackste Knöchel, der Laura ans Haus fesselt. Da ist Lauras Rolle, die sie nicht spielen will. Während alle mit Eifer einen 'Mörder' suchen, beginnt für Laura eine Erinnerungsreise durch das zurückliegende Jahr. Hin- und hergeworfen zwischen den Ereignissen vor Ort und den Erlebnissen der letzten Monate, beginnt Laura zu kämpfen. Um Simon. Um ihre Ehe. Gegen die Last von Schuldgefühlen.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Yvonne Kaeding
Text
copyright © 2014 Yvonne Kaeding
Alle Rechte liegen bei der Autorin.
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copyright © 2014 Yvonne Kaeding
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Yvonne Kaeding
c/o Andreas Dietrich
Am Schloßhof 8
12683 Berlin
»Wer zur Hölle ist Tante Martha?«, fragte Simon.
»Tante Martha ist eine Leiche«, antwortete Laura.
»Eine Leiche?«
»Was sonst.«
»Aber hier steht: Einladung zum 70. Geburtstag von Tante Martha.« Simon hielt den Briefumschlag hoch und unterstrich mit dem Finger die Aufschrift.
»Ich weiß. Ich habe es ja selbst hingeschrieben«, sagte Laura und freute sich über das kleine Chaos, das sie in Simons Kopf angerichtet hatte. Sie goss Wein nach und schob sich eine Gabel Käsespätzle in den Mund. Einen Monat lang hatte sie ihr Geheimnis vor Simon hüten müssen und jetzt, da sie es endlich mit ihm teilen konnte, öffnete er den verdammten Umschlag nicht.
»Du schenkst mir eine Leiche zum Hochzeitstag?«
»Ja. Und nun lies endlich und bring mich nicht dazu, alles auszuplappern.«
Eigentlich hatte Laura sich den Abend ganz anders vorgestellt: irgendwo schick essen gehen und danach vielleicht ins Kino oder in einen Club. Aber als sie von der Frühschicht aus dem Altersheim nach Hause gekommen war, wollte sie nur noch ins Bett. Ein Todesfall, ein Neuzugang, ein Oberschenkelhalsbruch und eine Kollegin mit Liebeskummerheulattacken - zu viel für Lauras momentane Energiereserven. Schlafen. Eine Stunde, maximal, hatte sie gedacht und sich die Decke über den Kopf gezogen. Drei Stunden später wurde sie von Simon geweckt. Der Tisch war gedeckt, Kerzen brannten, Käsespätzle à la Simon dampften und der Rotwein atmete im Dekantierer. Damit hatte er sie wirklich überrascht, und so war es viel schöner als alles, was sie sich für den Abend zurechtgelegt hatte. Laura genoss es, so von ihm umsorgt zu werden. Simons Abend war das perfekte Geschenk für sie.
Sie beobachtete ihn, während er las. Je weiter er den Zeilen des Briefinhaltes folgte, desto mehr wich seine Verwirrung einem zufriedenen Lächeln.
Es gefällt ihm, dachte Laura, und die Vorfreude kribbelte in ihr. Es wird schön. Ganz bestimmt.
Mehr durch Zufall war Laura über eine kleine Annonce in der Wochenendbeilage gestolpert: »Krimiwochenende in Ostseenähe« stand unscheinbar zwischen all den Anzeigen für Ferienwohnungen, Hotels und Pauschalreisen. Kein weiterer Text, kein Bildchen, keine auffallende Schrift. Nur diese drei Worte und eine Telefonnummer. Laura rief an und unterhielt sich fast eine halbe Stunde lang mit einer älteren Frau namens Zischak. Was diese erzählte, hörte sich nicht nach Schickimickiwochenende mit großem Tamtam und Aufgebot an. Es klang einfach und bescheiden, familiär und tatsächlich ein wenig romantisch. Frau Zischak hatte ihre ganz eigene Definition eines Krimispiels und lebte ihr Hobby mit diesen Wochenenden aus. Am Ende des Telefonats buchte Laura zwei Plätze. Für ihren krimiliebenden Ehemann das Spiel und für sich die Aussicht auf ein romantisches Wochenende in einem alten Forsthaus mitten in der Pampa, inklusive eines Ausflugs an die Ostsee.
Noch im Schlafzimmer entwarf Simon Morde und Motive, Alibis und Ausreden. Laura rückte an ihn heran und gab ihm einen Kuss. »Columbo, halten Sie endlich die Klappe!«
»Oh, Miss Marple, ich bin so aufgeregt«, flüsterte er.
»Aber Sie müssen sich bremsen, Sir. Sonst quatschen Sie mich zu Tode.«
»Und wie sieht das genau aus, jemanden zu Tode quatschen?« Simon strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht.
»Ganz einfach, Sir. In meinen Kopf passt nichts mehr rein. Er ist zu klein. Noch ein möglicher Tathergang oder Motiv, und er platzt.«
Simons Finger gruben sich in Lauras Haar. »Ihr kluger Kopf explodiert? Einfach so? Wie Popcorn?«
»Peng!«
»Und dann schmiert Ihr schlaues Hirn das Bettzeug voll?«
»Genau. Zuerst segelt meine Schädeldecke wie ein Frisbee durchs Zimmer, und dann …«
»Muss ich die ganze Sauerei hier wegmachen«, fiel Simon ihr ins Wort. Er schob den Träger des Nachthemdes von Lauras Schulter, roch an ihrem Hals, an ihrem Haar.
»Ganz genau.«
»Aber man wird mir nichts nachweisen können, Miss Marple. Es fehlt die Mordwaffe. Worte hinterlassen keine Spuren«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Nun, dann werde ich zuvor dafür sorgen müssen, dass Sie Spuren hinterlassen, Sir.«
»Und wie gedenken Sie das anzustellen?«
»Sie könnten Ihre Hände etwas tiefer führen, Sir.«
Simon fuhr mit dem Daumen über Lauras Brüste, kaum spürbar, mehr Hauch als Berührung. »Sie meinen so?«
»Sie machen das sehr gut, Sir. Und jetzt küssen Sie mich!«
Er küsste sie. Einmal. Zweimal. »Sie riechen nach Wein, Miss«, sagte er, während sein Zeigefinger ihren Slip zur Seite schob.
»Daran ist mein Mann schuld. Aber lassen Sie sich davon nicht stören.«
»Davon, dass Sie verheiratet sind oder vom Weingeruch?«
»Von beidem.«
*
Laura betrachtete Simon. Er schlief. Acht Monate. Weißt du das eigentlich? Acht Monate haben wir nicht miteinander geschlafen, sprach sie schweigend zu ihm. Es hat einfach nie gepasst. Einer Spät-, einer Frühschicht … die Eltern zu Besuch … Kopfschmerzen, Zahnschmerzen, Bauchschmerzen, Rückenschmerzen … das Buch so spannend … der Film noch nicht zu Ende … zu viel gegessen … zu betrunken … zu müde. Lächerlich. Als hätte uns das früher abgehalten.
Laura erinnerte sich an ihre ersten gemeinsamen Monate, als sie nicht voneinander lassen konnten, als jede Stunde, die sie nicht miteinander verbrachten, länger dauerte als sechzig Minuten und jeder Blick auf die Uhr in eine Geduldsprobe ausartete. Sie dachte an ihre erste Wohnung - ein Zimmer, Küche, Bad, im dritten Stock. An das knarrende Bett, das sie gebraucht gekauft und in dem sie zusammen geträumt hatten. Von einer größeren Wohnung mit Dachterrasse. Von einer Badewanne. Von einer Reise zum Nordkap. Von Kindern.
Andere Wohnung: ja. Dachterrasse: nein. Badewanne: ja. Nordkap: nein. Kinder: eine Totgeburt.
Laura strich Simon über die Stirn, die Nase, den Mund. Das letzte Jahr hatte ihn altern lassen. Vereinzelt zeigten sich die ersten grauen Haare. Die Trefferquote beim Alterschätzen hatte erheblich zugenommen. Kaum noch einer, der ihn jünger schätzte. Simon war dreißig. So stand es im Ausweis und in seinem Gesicht.
Ihre Finger tippelten sanft über sein Kinn zur Schulter, über die Muskeln seines Oberarmes hinab zur kleinen Narbe auf seinem Unterarm, über seinen Handrücken zum Daumen. Kurz tippte sie jeden Finger an und zum Abschluss noch einmal die Nasenspitze. Danach setzte Laura sich auf und begann zu lesen. Knapp siebzig Seiten »Schuld und Sühne«, bis ihr die Augen zufielen und sie das Licht löschte. Vor dem Einschlafen dachte sie an ihre Liebeskummerkollegin, die allein in einem zu großem Bett lag. Laura schob ein Bein zu Simon, berührte mit ihrem Fuß den seinen. Der Abend war schön. Wir hatten Sex. Wir fahren an die Ostsee. Alles wird gut werden.
Laut GPS waren es noch fünfzig Kilometer bis zu Tante Marthas Landhaus. Im Radio spielten sie The Hooters, und als der Refrain einsetzte:
Straight ahead, a green light turns to red,
Oh why can‘t you see, oh Johnny B -
schaltete Laura genervt ab. »Ich ertrage den Song einfach nicht mehr.«
Simon setzte den Blinker, schaute in den Rückspiegel und trat das Gaspedal durch.
»Der vor uns blinkt. Pass auf, der zieht rüber!«, rief Laura. Ihre rechte Hand klammerte sich an den Türgriff, die linke drückte ins Sitzpolster.
»Sehe ich doch«, sagte Simon und erhöhte das Tempo.
Laura spürte ihren Puls bis in den Hals. Sie schloss die Augen, zählte acht, neun, zehn. Simon sagte etwas, aber sie hörte nicht zu. Konzentrierte sich. Elf, zwölf, dreizehn.
Sie spürte seine Hand auf dem Oberschenkel.
»Wir sind vorbei. Alles gut«, sagte er.
Laura entspannte sich, starrte aus dem Fenster und versuchte, ihren Puls unter Kontrolle zu bringen. »Und wenn uns mal jemand nicht sieht und rüberzieht? In uns rein?«
»Willst du fahren?«
Laura schüttelte den Kopf.
Simon wechselte auf die rechte Spur und drosselte das Tempo. »Besser so?«, fragte er.
Sie nickte. Diese panische Angst vor Unfällen hatte sich seit ihrem eigenen tief eingebrannt. Laura wollte das nicht. Sie wollte nicht ständig irgendwelche Vielleichtunfälle vorhersehen, die allesamt mit viel Blechschaden endeten, wo Feuerwehrleute mit Schweißgeräten hantierten und Sanitäter wie Ameisen herumliefen.
Als ihr Herz wieder im Normaltempo schlug, holte Laura eine Kekspackung aus dem Handschuhfach und hielt sie Simon hin. »Willst du?«
Auf den letzten zwei Kilometern streifte die Straße vier Häuser, eine Kuh- und eine Pferdeweide und endete direkt an der Zufahrt zum alten Forsthaus, mitten im Nirgendwo.
Laura stieg aus, drückte sich die Hände ins Kreuz und schaute sich um. »Schön hier, oder?«
»So ein Haus, das wär‘s. Da passt locker ein Snookertisch rein. Und hier draußen ein Monstergrill«, sagte Simon.
Das Haus wirkte riesig inmitten der kargen Feld- und Weidelandschaft. Den Forst hatte wohl die Zeit geschluckt, das Haus hatte sie stehen gelassen. Altes Fachwerk, roter Klinker, braune Balken, grüne Fensterrahmen - und an allem nagte die Zeit.
»Du würdest hier wohnen wollen?«, fragte Laura.
»Klar, warum nicht?«
»Wäre dir das nicht zu einsam?«
»Mit ‘nem Snookertisch und ‘nem Monstergrill? Nö.«
»Weiß nicht. So auf Dauer ist das wenig.«
»Wieso? Für dich gibt es Yoga, einen Gemüsegarten, einen Blumengarten und Bücher. Ich bau ‘nen Swimmingpool und einen Hühnerstall.«
»Danke für den Swimmingpool. Aber was soll ich mit einem Hühnerstall?«
»Frische Eier zum Frühstück«, sagte Simon und verschwand hinter der Kofferraumklappe.
»Ah. Und wer von uns beiden schlachtet die Hühner, wenn sie alt sind?«
»Ich kann Frikassee und Broiler nicht köpfen.« Simon reichte Laura ihren Rucksack.
»So heißen die Hühner, oder was?«
»Wie sonst?«
»Ich werde die sicher auch nicht schlachten.«
»Dann werden sie eben steinalt, sterben von allein, und wir legen einen Hühnerfriedhof an. Platz dafür hätten wir ja.« Simon verschloss den Wagen. »Und natürlich brauchen wir einen Spielplatz für unsere sieben Zwerge.«
Laura schluckte und sah Simon direkt an.
»Was ist? Man wird doch wohl noch träumen dürfen«, sagte er.
Rasch wandte sie ihren Blick ab, nickte und biss sich auf die Unterlippe.
Niemand reagierte auf ihr Klopfen.
»Geht man da einfach rein?«, fragte Simon.
»Wenn offen ist.«
Simon drückte die Klinke. Tatsächlich war die Tür nicht verschlossen. Sie betraten einen kleinen Vorraum, in dem nur ein leeres Schuhregal und eine Schneeschaufel standen. Leise Stimmen drangen durch die Tür. Simon klopfte erneut.
»Einfach reinkommen!«, rief jemand.
Er öffnete. Der Raum, der vor ihnen lag, war riesig, aber ebenfalls spärlich möbliert. Im vorderen Bereich eine gemauerte Feuerstelle, darüber eine Abzugshaube. Braune Bodenfliesen davor, weiter hinten Dielen. Grüne Stofftapete mit Flecken und Rissen bedeckte die Wände, ein Hirschgeweih thronte über einer Stereoanlage. Mehrere Türen gingen von diesem Raum ab. Durch ihre Ritzen pfiff der Wind.
Ein älteres Paar saß am Feuer. Mann und Frau trugen identische Norwegerpullover. Laura schätzte ihr Alter auf ungefähr siebzig.
»Guten Tag«, grüßte sie und stellte ihren Rucksack auf einer der Bänke ab, während sie sich im Raum umschaute. Instinktiv suchte sie nach einer Rezeption, nach etwas, zu dem man hingehen und sagen konnte: »Wir haben auf den Namen ‘Herbst’ reserviert.«
»Ist anders als erwartet, oder?«, fragte der alte Mann.
Laura nickte. Simon ebenfalls.
»Aber wenn Sie zu Marthas Geburtstagsfeier wollen, dann sind Sie hier richtig.« Er legte das Buch zur Seite, das er in den Händen hielt, nahm die Brille ab und wandte sich an seine Frau. »Erinnerst du dich, Rosa, wie seltsam damals alles auf uns wirkte?«
»Aber natürlich. Du fandest es scheußlich.«
»Nein.«
»Aber doch! ‘Guck dir all den Sperrmüll an’, das waren deine ersten Worte.«
Laura musste grinsen. Etwas Ähnliches hatte sie auch gedacht.
Simon gab den beiden die Hand: »Simon Herbst.«
»Angenehm. Wilhelm Breitkreuz.«
»Rosa Breitkreuz.«
Auch Laura reichte ihnen die Hand und stellte sich vor.
»Setzen Sie sich doch«, bat Wilhelm die beiden. Laura schüttelte den Kopf, aber Simon zögerte keine Sekunde und ließ sich in einen der Sessel fallen.
»Sie waren also schon mal hier?«, fragte er.
»Nicht nur einmal«, sagte Rosa. »Dieses Jahr kommen wir zum vierten Mal.« Mit einem Zwinkern fügte sie hinzu: »Es ist unser Lieblingswochenende unter den Krimispielen.«
»Lieblingswochenende? Heißt das, Sie machen das öfter? Also nicht nur hier?«, fragte Simon mit wachsendem Interesse.
Rosa bückte sich, nahm ein Holzscheit auf und warf es ins Feuer. »Aber ja doch. Und glauben Sie mir, hier ist es wirklich etwas Besonderes.«
»Die Atmosphäre ist viel familiärer als in einem dieser Hotels«, ergänzte Wilhelm. »Und lassen wir doch das alberne ‘Sie’ weg. Es macht uns nur alt und seriös.«
Laura musste lachen. Dieser Wilhelm gefiel ihr.
»Gern«, sagte Simon.
»Ich bin alt und seriös«, protestierte Rosa. »Trotzdem habe ich nichts gegen das ‘Du’.«
»Aber das Beste ist«, nahm Wilhelm Simons Frage wieder auf, »dass der Mörder hier von einem der Teilnehmer und nicht von einem Schauspieler gespielt wird.«
»Ist das so besonders?«, fragte Laura, die noch immer mitten im Raum stand, weil sie sich irgendwo anmelden wollte.
»Aber ja!«, sagte Rosa. »Wilhelm hatte letztes Jahr das Glück. Und es war das einzige Mal, dass ich am Ende danebenlag.« Sie lächelte. »Meinem Wilhelm konnte ich einfach keinen Mord anhängen. Er kann ja noch nicht mal einen Fisch ausnehmen.«
»Gib es ruhig zu. Ich war zu gut für dich«, sagte Wilhelm.
»Ich hoffe natürlich, es ihm dieses Jahr heimzahlen zu können.« Rosa spitzte die Lippen, zog die Augenbrauen zusammen und schaute ihren Mann an. »Dann wirst du auch versagen.«
Schön, dachte Laura, einhundert Jahre verheiratet und turteln wie zwei Tauben. Sie räusperte sich. »Sollten wir uns nicht irgendwo anmelden?«
»Frau Zischak besorgt noch etwas in der Stadt. Das hat Zeit«, sagte Rosa.
»Sucht euch ein Zimmer aus. Die Treppe hoch. Und wenn ihr eins gefunden habt, schließt die Tür ab. Verschlossene Tür heißt: Zimmer belegt«, erklärte Wilhelm.
»Okay, danke. Machen wir dann mal«, sagte Laura und schulterte ihren Rucksack.
»Ich komme gleich nach«, sagte Simon und rückte mit seinem Sessel näher an Rosa und Wilhelm. »Wie lief das so ab in den letzten Jahren?«
Na prima. So gleich wird es wohl nicht, dachte Laura.
Oben angekommen stand sie in einem langen Gang, von dem die Zimmer abgingen. Alle Türen waren geöffnet. Die Zimmer waren in verschiedenen Farben gestrichen, ihre Einrichtung spärlich und zusammengewürfelt. Keine Toiletten, keine Duschen. Laura entschied sich für das weiße Zimmer, das einzige, in dem es ein Waschbecken gab.
Wo schlafen eigentlich Rosa und Wilhelm? Alle Zimmer sind offen, also frei. Waren unten auch Schlafräume? Vielleicht sind Wilhelm und Rosa doch Schauspieler und haben deswegen ein besseres Zimmer? Immerhin sind da unten ja auch die Klos und die Duschen.
Laura stellte ihr Gepäck auf einem Stuhl ab und sprang aufs Bett. Die Matratzen sind auch noch von ganz früher, dachte sie und roch am Laken. Simons Rücken wird das nicht gefallen, aber wenigstens müffeln sie nicht. Sie konnte die Stimmen von unten hören, aber nicht verstehen, was gesprochen wurde. Ziemlich hellhörig. Sex ade. Oder wie früher, als man noch bei den Eltern gewohnt und ins Kopfkissen gebissen hat. Der Gedanke brachte sie zum Schmunzeln.
Neben der Tür hing eine Zeichnung. Vereinzelte Buntstiftstriche konnte Laura erkennen und einen gelben Fleck in der rechten oberen Ecke - wahrscheinlich das Bild eines Kindes, und der Fleck war die Sonne. Sie stand auf und ging zum Fenster. An dieser Seite lagen mindestens einhundert Meter zwischen Haus und Zaun. Es gab viel Wiese und ein paar uralte Bäume. Eine Wäscheleine. Eine Pumpe. Einen Geräteschuppen, besser ein Gerätehaus, so groß, dass man darin bequem eine komplette Ferienwohnung einrichten hätte können. Ein gemauerter Brotbackofen und Simons Monstergrill. Den gab es hier also schon. Hinter dem Zaun floss ein Bach. Sie bekam Lust auf einen Spaziergang. Sie wollte das Wasser rauschen hören, den Brotofen berühren, seine Luke öffnen und hineinschauen, die Januarsonne im Gesicht spüren und den kalten Wind an den Ohren.
Laura stopfte sich die Handschuhe in die Jackentaschen, schaute sich noch einmal im Zimmer um, lauschte den Stimmen von unten. Es schien nicht so, als hätte Simon vor, gleich nach oben zu kommen, er redete viel. Kurz warf sie noch einen Blick auf das Kinderbild. Sonne, Wolken, das Haus. Davor eine Familie. Mutter, Vater, zwei Kinder. Alle vier hatten lachende Münder, so breit wie ihre Gesichter, und hielten sich an den Händen. Der Vater hatte etwas in der Hand, das Laura nicht deuten konnte, vielleicht einen Blumenstrauß. Und die Mutter hatte einen sehr dicken Bauch, wahrscheinlich Kind Nummer drei. Laura löste die Reißzwecken, die das Bild an der Wand hielten, drehte es um und zweckte die blanke Seite nach vorne. Jetzt grinste die Familie die Wand an.
Sie sperrte die Tür ab, und als sie den Schlüssel abzog, beäugte sie ihn misstrauisch. Da hätte man auch gleich ein Fischstäbchen ins Schloss stecken können. Noch einmal ging sie hinein, um Geld und Handy einzustecken.
Eine Neue saß bei den dreien am Feuer. Ihr Gepäck stand auf dem Boden, den Mantel hielt sie auf dem Schoß. Zierlich, aber mit üppigem Busen, das rote Haar zu einem dicken Zopf geflochten. Sehr attraktiv, fand Laura und reichte der Unbekannten die Hand. »Hallo«, sagte sie.
»Sarah Callahan.« Die Stimme der Frau klang rauchig und mild.
»Laura Herbst.«
»Sie kommt aus Irland«, sagte Simon, dessen Blick an der Frau klebte wie Lakritze an den Zähnen.
Laura setzte sich zu ihm und warf einen zweiten Blick auf Sarah. Die Nase ist vielleicht doch ein wenig groß. Zu spitz auch. Und die Oberschenkel ein wenig zu prall für die Hose.
»In der Küche gibt es Kaffee. Küche ist da lang.« Simon zeigte auf eine der Türen.
Laura nickte. »Mir kam gerade die Idee, ein bisschen rauszugehen. Ein Stück laufen nach der Fahrt. Die Gegend ist schön. Und das Wetter auch.«
Simon gab ein kurzes »Ah« von sich. Laura wartete darauf, dass noch etwas hinterherkam, etwa: »ich komme mit« oder »ich bleibe hier«. Aber Simon schwieg.
»Ja, das Wetter ist fantastisch. Vielleicht sollten wir alle eine Runde drehen. Was denkst du, Wilhelm?«, kam unerwartete Hilfe von Rosa.
»Klingt gut. Wenn die Sonne sich schon mal zeigt, sollten wir das nutzen.« Wilhelm erhob sich. »Ich hole unsere Mäntel.«
»Vergiss nicht die Handschuhe. Die liegen …«, Rosa unterbrach kurz, um nachzudenken. Dann lachte sie und sagte: »Ich weiß nicht wo.«
»Ich werde sie finden.« Wilhelm hatte schon die Tür geöffnet, als Rosa doch aufstand. »Besser ich geh mit.«
Sie haben ihr Zimmer also tatsächlich irgendwo hier unten, dachte Laura.
»Also, wenn jetzt alle gehen … wir gehen doch alle?«, fragte Simon und schaute Sarah an.
»Oh, ich nicht«, sagte sie und hob abwehrend die Hände. »Ich muss erst mal ankommen.«
Laura erahnte seine Enttäuschung. Wahrscheinlich spielte er kurz mit dem Gedanken, doch hierzubleiben.
»Okay.« Simon räusperte sich und griff zögernd nach seiner Tasche. »Welches Zimmer?«, fragte er.
»Das hinterste. Ganz am Ende vom Gang«, sagte Laura und erspähte unter dem Hirschgeweih ein weiteres Kinderbild. Es war praktisch eine Kopie des Bildes aus ihrem Zimmer, nur dass es diesmal keine Sonne gab. Es regnete, und der Vater hielt einen Schirm.
Schweigend saßen die beiden Frauen nebeneinander. Sarahs Blicke waren Laura unangenehm, sie fühlten sich wie eine Bestandsaufnahme an.
»Sie nehmen so weite Reisen auf sich, um an einem Krimiwochenende teilzunehmen?«, fragte Laura schließlich, weil die Stille das unangenehme Gefühl verstärkte.
»Klingt verrückt, ich weiß. Aber wer hat nicht einen, wie sagt man, Spleen? Ich gestehe, ich bin süchtig.«
»Nach diesen Spielen?«
»Nach Krimis in jeder Form. Literatur, Film, Rollenspiele. Aber ich bin nicht ausschließlich wegen des Wochenendes in Deutschland. Ich bin für zwei Wochen dienstlich hier, und das Spiel ist der Luxus, den ich mir neben meiner Arbeit gönne.«
»Verstehe«, sagte Laura und überlegte, ob sie es an Sarahs Stelle auch getan hätte. Allein zu so einem Wochenende? Wohl eher nicht. Aber sie war ja auch kein Krimijunkie.
Sarah entschuldigte sich, sie wolle sich ebenfalls ein Zimmer suchen, um sich ein wenig hinzulegen. Die letzte Nacht sei sehr kurz gewesen.
»Kein Problem«, sagte Laura und atmete auf.
Wenn die mal nicht gebrochene Männerherzen in ihrem irischen Cottage sammelt, dachte sie. Als Sarah die Treppe so weit hinaufgestiegen war, dass Laura sie nicht mehr sehen konnte, ging sie zu dem Hirschgeweih, löste die Reißzwecken des Bildes und drehte es um.
*
»Diese Zottelkühe mag ich gern«, sagte Rosa und zeigte auf die Weide hinüber.
»Hochlandrinder. Nicht Zottelkühe«, verbesserte Wilhelm.
»Das sagst du jedes Jahr. Aber ich mag ihr langes Fell und sehe hier kein Hochland, also sind und bleiben das Zottelkühe.«
»Denen geht es hier gut«, sagte Laura mit Blick auf die Weidefläche, deren Ende man nur erahnen konnte.
Rosa schlug vor, den Weg zwischen den Feldern zu nehmen, weil man dort mehr von der Sonne abbekäme als im Wald. Ein Argument, dem niemand etwas entgegensetzen konnte.
»Findest du sie attraktiv?«, fragte Laura.
»Wen?« Simon schraubte den Polfilter auf das Objektiv des Fotoapparats, für die perfekten Wolkenbilder.
»Die Irin.«
»Was soll die Frage?«
»Nur so. Ich finde sie ausgesprochen gut aussehend für ihr Alter.«
»Wie alt ist sie denn?«, fragte er, während er durch den Sucher die Gegend betrachtete.
»Keine Ahnung. Ende vierzig, Anfang fünfzig.«
»So alt denkst du?«
»Schon.«
Simon fotografierte, dann schaute er sich die Bilder auf dem Display an. Er nickte zufrieden, setzte die Verschlusskappe auf und verstaute die Kamera in seiner Umhängetasche.
»Und?«, setzte Laura nach, »Gefällt sie dir?«
»Ich bin verheiratet. Schon vergessen?« Simon klang genervt.
»Deshalb kann man doch andere Frauen schön finden.«
»Das ist eine von diesen Frauenfragen, auf die Männer nur falsch antworten können. Ich finde dich schön.«
»Küss mich!«
»Wieso?«
»Weil ich deine schöne Frau bin.«
Simon lächelte, schüttelte den Kopf und gab Laura einen Kuss. Schweigend setzten sie ihren Spaziergang fort, die Hände zum Schutz vor der Kälte tief in den Taschen. An einer Weggabelung stießen sie auf eine improvisierte Bank, zwei Baumstümpfe, über die ein Brett genagelt war. Laura balancierte mit übertriebenen Seiltanzbewegungen von einem zum anderen, sprang ab und verknackste sich bei der Landung den Fuß.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!« Sie hielt den Knöchel fest umschlossen und zog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein.
»Was ist?«, fragte Simon.
»Umgeknickt.« Laura hätte am liebsten losgeheult vor Schmerz. Und vor Wut. Auf sich, auf die alberne Bank, auf den pochenden Fuß. Bitte kein Bruch! Oder Bänderriss, flehte sie innerlich.
Simon hockte sich neben sie, Wilhelm und Rosa eilten auf sie zu.
»Kannst du den Fuß bewegen?«, fragte Rosa.
»Weiß ich nicht. Ich will nicht.«
»Probier‘s. Da unten kannst du nicht ewig sitzen bleiben.«
Laura versuchte, mit dem Fuß auf- und abzuwippen, stützte dabei den Knöchel mit den Händen, bewegte ihn minimal und nickte.
»Gut. Und jetzt hoch mit dir. Sonst hast du morgen eine schöne Blasenentzündung.«
Der Weg zurück war eine einzige Qual. Als das Haus in Sichtweite kam, atmete Laura auf. Hatte sie es bei der Anreise schon gemocht, so war es jetzt das schönste Haus der Welt.
»Das wird dick. Und blau. Du solltest damit zu einem Arzt«, sagte Rosa, als sie Lauras Knöchel betrachtete.
Vielleicht später, dachte Laura. Sie wollte nicht wieder in die Schuhe, wollte nicht laufen müssen, wollte nicht zu irgendwelchen Ärzten fahren. Einfach nur hier zu sitzen gefiel ihr ganz gut für den Moment. Am Freitagnachmittag hatte sowieso kein Arzt mehr Sprechstunde, also blieb nur ein Krankenhaus mit Notaufnahme. Das Wort »Notaufnahme« löste in Laura etwa die gleiche Abneigung aus wie der Vorschlag, mit bloßer Hand in einen Bienenstock zu fassen.
»Und bis dahin kühl den Knöchel.« Rosas Worte klangen nicht wie ein gut gemeinter Ratschlag, sondern wie ein Befehl. Mit einem Blick schickte sie Simon in die Küche, Eis besorgen.
Frau Zischak war im selben Alter wie Rosa und Wilhelm und hatte den Charme der Gouvernanten aus alten Filmen. Sie trug ein eng anliegendes Kostüm, Halbschuhe mit niedrigen Absätzen und eine Bluse mit Stickereien. Ganz wie eine englische Lady. Ihr fehlten nur der üppige Schmuck und die Teetasse. Sie war ganz anders, als Laura sie sich am Telefon vorgestellt hatte.
Ein rundliches Ehepaar mit schlaksigem Teenagersohn schob sich durch die Eingangstür ins Zimmer. Mit ihnen strömte kalte Luft herein und Laura fröstelte. Kann der Typ endlich mal die Tür zumachen, fluchte sie still, als Frau Zischak auf die beiden Älteren zuflog und sie herzlich in den Arm nahm.
»Noch mehr Wiederholungstäter. Die kennen sich hier scheinbar alle«, flüsterte Laura Simon zu.
Bevor Frau Zischak sich dem Jungen zuwenden konnte, war der schon über die Treppe nach oben geflüchtet. Man hörte seine Schritte und dann das Knallen einer Tür.
»Kann mal bitte jemand die Tür schließen?«, rief Laura den Eltern zu, die die Treppe hinaufstarrten.
»Oh, natürlich. Verzeihung«, sagte der Mann und schloss die Tür. Kaum war sie zu, wurde sie erneut geöffnet, und ein weiterer Mann trat ein. Er hatte etwas von einem Anwalt: Tasche, Sakko, Krawatte, Hemd. Den Mantel trug er über dem Arm. Laura war dankbar, dass er die Tür sofort hinter sich schloss.
Simon zeigte Laura die Fotos vom Spaziergang. Er wechselte das Handtuch, wenn es vom Eiswasser zu feucht wurde, und die Leute schienen alle nett zu sein. Alles war gemütlich, bis Rosa kam, um noch einmal einen Blick auf Lauras Knöchel zu werfen.
»Du solltest wirklich zu einem Arzt fahren. Der Bluterguss ist hübsch groß. Und geröntgt sollte es auch werden.«
Laura schüttelte den Kopf.
Rosa stöhnte. »Ich war zwar nur Zahnärztin, aber glaub mir, Blutergüsse in dieser Größe, damit geht man besser zum Arzt.«
»Und wenn wir gleich morgen früh …«
»Sie fahren jetzt nach Güstrow! Dort lassen Sie es untersuchen, bekommen eine Salbe, ein paar Tabletten gegen die Schmerzen und wissen, dass es nichts Schlimmeres ist.« Frau Zischak sah nicht nur aus wie eine englische Gouvernante, sie benahm sich auch so.
Simon stand auf. »Ich hole unsere Jacken. Wir fahren. Jetzt.«
Als sie ins Auto stiegen, parkte neben ihnen Sarah ein.
»Ihr fahrt noch einmal weg?«, fragte sie.
»Nur kurz nach Güstrow, ins Krankenhaus. Laura hat sich den Knöchel verknackst«, erklärte Simon.
»Oh. Das tut mir leid. Ist es schlimm?«
»Wir hoffen nicht. Aber sicher ist sicher.«
»Dann bis gleich.« Sarah verschloss ihren Wagen und ging, hofiert von Simons Blick, zum Haus.
*
Simon und Laura saßen allein im Speisezimmer und löffelten hungrig die Gulaschsuppe, die ihnen die Köchin zurückgestellt hatte. Kein Bruch, die Bänder waren okay und den Bluterguss sollte Laura weiter beobachten. Die junge Assistenzärztin hatte ihr Salbe, eine Schiene und Ruhe verordnet.
Laura deutete auf eine Tür am Ende des Raumes. »Dahinter sind bestimmt die Zimmer von Wilhelm, Rosa und Frau Zischak.«
»Gut möglich.«
»Ich habe heute kurz dran gedacht, dass Wilhelm und Rosa vielleicht doch gekauft sind.«
»Wie kommst du darauf?«
»Die beiden schlafen nicht oben wie alle anderen. Die haben ein Extrazimmer. Irgendwo hier unten. Wie die Zischak auch. Und sie sind jedes Jahr dabei.«
»Weiß nicht. Glaub nicht. Das wäre doch zu einfach irgendwie. Außerdem soll es doch das Besondere an dem Spiel von der Zischak sein, dass ein Teilnehmer den Mörder spielt.«
»Vielleicht ist ja genau das der Plan. Man schließt die beiden aus, weil es so naheliegt.«
»Vielleicht hast du Recht. Aber mein Bauchgefühl sagt mir, die beiden sind echt.«
Die Luft im Kaminzimmer war jetzt stickig und warm. Die Autofahrt, die frische Luft, die Aufregung wegen des Krankenhauses, die neuen Leute, der volle Bauch und all die Eindrücke, Laura war hundemüde. Es fiel ihr schwer, sich auf Frau Zischaks Worte zu konzentrieren, die Augen offen zu halten. Sie hörte das Feuer neben sich knistern und Frau Zischaks monotone Stimme. Ihre Worte nahm Laura zwar auf, versuchte aber nicht, deren Sinn zu erfassen, sondern schob sie zur Seite, wo sie sich zu einem Wortberg häuften. Einem Wortkomposthaufen.
Simon stieß ihr den Ellenbogen in die Rippen. Laura war tatsächlich weggenickt. Vor ihr stand Frau Zischak mit einem Briefumschlag. Fragend schaute Laura Simon an.
»Da sind deine Informationen drin. Deine Rolle und so«, flüsterte er.
Sie nahm den Umschlag und betrachtete ihn. Weiß. Simons auch. Die der anderen waren farbig.
»Warum sind die Umschläge in unterschiedlichen Farben?«
»Die sind in den Zimmerfarben.«
»Ach so«, sagte Laura und war enttäuscht über die simple Erklärung.
»Das gelbe Zimmer werde ich heute Nacht zum Tatort umgestalten. Ab morgen früh steht es dann Ihren Ermittlungen zur Verfügung«, sagte Frau Zischak und schaute in die Runde. »Jetzt haben Sie Zeit, sich besser kennen zu lernen, sich in ihre Rollen einzufinden und das Kaminfeuer zu genießen. In der Küche stehen Getränke und etwas Knabberzeug bereit.« Frau Zischak holte Luft und klatschte einmal in die Hände. »Bleibt mir nur noch, Ihnen viel Vergnügen und Erfolg zu wünschen. Ich freue mich auf ein spannendes Wochenende mit Ihnen.«
Gleich verbeugt sie sich, dachte Laura, was Frau Zischak jedoch nicht tat. Trotzdem applaudierten alle.
»Soll ich dir was zu trinken mitbringen?«, fragte Simon.
»Weiß nicht. Was trinkst du?«
»Bier.«
»Bring mir eins mit.«
Bis Simon zurückkam, hatte sich der Raum geleert. Alle waren irgendwohin verschwunden. Auf ihre Zimmer, vor die Tür, in die Küche.
»Ich werde heute nicht mehr alt«, sagte Laura, als Simon ihr das Bier reichte.
»Bist du eben echt eingepennt?«
»Scheint so. Hab ich was verpasst?«
Kurz fasste Simon für Laura die Regeln und den Ablauf zusammen. Im Spielverlauf durften nur die Informationen preisgegeben werden, auf die im Brief verwiesen wurde. In offiziellen Spielpausen dürfen keine Fragen gestellt werden. Keine Hinweise, Tipps und so weiter. Time out.
»Also nichts Aufregendes«, beendete er die Kurzversion.
»Ja, überschaubar. Bist du neugierig, was in deinem Brief steht?«
»Klar. Du nicht?«
»Weiß nicht. Ist mir seltsam egal.«
»Wow. Du bist echt durch.«
»Bin ich. Vielleicht sollte ich einfach ins Bett gehen.«
»Jetzt schon?«
»Ich schlafe hier sonst nur wieder ein.«
»Wenn du meinst.«
»Kannst mein Bier haben.« Laura reichte ihm die Flasche und stützte sich beim Aufstehen an der Wand ab. Das erste Auftreten war die Hölle.
»Soll ich dir helfen?«, fragte Simon.
»Geht schon. Ich bin ein großes Mädchen.« Laura biss die Zähne zusammen.
Ein müdes Lächeln huschte über Simons Gesicht. Lauras Standardspruch. So hatten sie sich kennen gelernt.
*
Laura war damals zwanzig gewesen, Simon zweiundzwanzig. Die Band von Simons Cousin spielte in einem Club, in dem Laura regelmäßig ihre Wochenenden verbrachte.
Laura hatte an der Bar fünf Bier und sechs Kurze bestellt, aber der Barmann wollte ihr kein Tablett geben. Den Typen neben sich hatte sie noch nicht einmal angeschaut, bis er sie fragte: »Kann ich dir helfen?«
»Danke. Ich schaff das schon. Ich bin ein großes Mädchen«, sagte Laura.
Simon schnappte sich die fünf Flaschen und fragte: »Wohin?«
»Ich hab gesagt, ich schaff das.«
»Mann, ich will dir nur helfen. Also, wohin?«
»Dahin.« Laura deute mit einer Kopfbewegung zu ihrem Tisch, und das war es für den Abend. Simon stellte die Biere ab, ging zurück an die Bar, kippte einen doppelten Wodka und verließ den Club.
So richtig angefangen hatte es erst drei Wochen später, als die beiden sich zufällig an einer Poolbar an der Costa del Sol wiedertrafen. Laura hatte Simon bereits aus ihrer Erinnerung gestrichen, er dagegen hatte das große Mädchen mit den zu vielen Flaschen sofort wiedererkannt.
*
Oben verfluchte Laura sich dafür, das hinterste Zimmer gewählt zu haben. So was passierte auch immer nur ihr. Da freute sie sich seit Wochen auf die Ostsee, und dann Hausarrest statt Strandspaziergang, Wellenrauschen und Möwenkreischen.
Aus dem gelben Zimmer drangen Geräusche: Frau Zischak richtete anscheinend ihren Tatort her.
Laura versuchte, ihre Jeans auszuziehen, möglichst ohne dabei den Fuß zu bewegen. Zähneputzen fällt aus, keine weiteren Strapazen, beschloss sie. Erschöpft fiel sie ins Bett, kroch unter die Decke und bibberte, bis ihre Körperwärme langsam die Kälte vertrieb. Erst als es im Bett kuschlig wurde, öffnete sie ihren Brief und las.
~
Ich war noch nie in deinem Zimmer, Tante Martha. Hübsch hast du es hier. Das auf den Fotos bist du, ja? Die Tänzerin? Dein Körper wirkt so zerbrechlich wie ein Engel aus Glas. Du hattest sicher Mühe, die Männer loszuwerden, die am Bühneneingang auf dich warteten, dir Blumen schenkten und nach Autogrammen fragten. Wirklich, sehr schön die Bilder.
Und heute liegen deine Zähne im Wasserglas. Macht man das eigentlich noch? Du machst es. Du bist so altmodisch. Schau dir doch nur mal die Vorhänge an.
Keine Angst, Tante Martha, ich werde mich bemühen, dass es schnell geht. Dein rechter Fuß lugt unter der Decke hervor. Du trägst Wollsocken, wie niedlich. Hättest nur deine Nase nicht in fremde Angelegenheiten stecken müssen, dann wäre ich jetzt nicht hier, sondern würde nebenan friedlich schlafen.