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Mord geht durch den Magen … In ihrer Plöner Praxis hat Tierärztin Tina Deerten schon einiges gesehen – doch als sie im Magen eines übergewichtigen Beagles einen menschlichen Finger findet, schrillen bei ihr alle Alarmglocken. Woher kommt der Knochen, und vor allem: Was ist mit seinem Besitzer passiert? Gemeinsam mit ihrer exzentrischen Praxishilfe Sanne, ihrem Mischlingsrüden Swatt und Greyhound-Dame Daisy beginnt Tina zu ermitteln – sehr zum Missfallen ihres Freundes Jan, Polizist der Mordkommission. Eine Spur führt das ungleiche Team zu dem Biofutter-Hersteller »Canis et Felis«, wo einiges nicht mit rechten Dingen zugehen zu scheint … Der zweite Band der tierischen Cosy-Crime-Reihe von Cathrin Geissler – für alle Fans von Krischan Koch und Christiane Franke & Cornelia Kuhnert Im dritten Band führt eine tote Schildkröte Tina bald auf die Spur einer kriminellen Tierhändler-Bande.
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Seitenzahl: 521
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
In ihrer Plöner Praxis hat Tierärztin Tina Deerten schon einiges gesehen – doch als sie im Magen eines übergewichtigen Beagles einen menschlichen Finger findet, schrillen bei ihr alle Alarmglocken. Woher kommt der Knochen, und vor allem: Was ist mit seinem Besitzer passiert? Gemeinsam mit ihrer exzentrischen Praxishilfe Sanne, ihrem Mischlingsrüden Swatt und Greyhound-Dame Daisy beginnt Tina zu ermitteln – sehr zum Missfallen ihres Freundes Jan, Polizist der Mordkommission. Eine Spur führt das ungleiche Team zu dem Biofutter-Hersteller »Canis et Felis«, wo einiges nicht mit rechten Dingen zugehen zu scheint …
Über die Autorin:
Cathrin Geissler wurde im Jahr 1967 in Hamburg geboren. Nach dem Abitur studierte sie Tiermedizin an der Freien Universität in Berlin und eröffnete kurze Zeit später eine Kleintierpraxis in Hamburg, in der sie nach wie vor tätig ist. Das Schreiben faszinierte sie schon lange und nachdem sie das Onlinestudium des kreativen Schreibens absolviert hatte, schrieb sie mit »Ein hundsgemeiner Mord« ihren ersten Tierarzt-Krimi. Cathrin Geissler hat einen erwachsenen Sohn und lebt mit ihrem Mann und drei Hunden in der Nähe von Hamburg.
Bei dotbooks erscheinen von Cathrin Geissler ihre Tierarzt-Krimis »Ein hundsgemeiner Mord«, »Ein kaltschnäuziges Verbrechen« und »Ein exotischer Todesfall«.
Die Website der Autorin: autorin-cathrin-geissler.de/
Die Autorin im Internet: instagram.com/autorin_cathrin_geissler/ und instagram.com/tierarztkrimi/
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eBook-Neuausgabe März 2025
Copyright © der Originalausgabe 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Kristin Pang, unter Verwendung von einen Motiven von shutterstock.com und Adobe Stock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)
ISBN 978-3-98952-765-2
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Cathrin Geissler
Ein kaltschnäuziges Verbrechen
Kriminalroman. Ein Fall für Tierärztin Tina Deerten 2
dotbooks.
Für alle meine Eltern. Ihr seid die Besten
»ACHTUNG, ACHTUNG! HIER SPRICHT DIE POLIZEI!«
Die Tierärztin Tina Deerten blickte sich um und sah, dass ein Wasserwerfer der Polizei auf den Marktplatz neben der Kirche in Plön gefahren war. Es war ein herrlicher warmer Tag Mitte September, und die Sonne gab nach einem heißen und langen Sommer noch einmal alles, sodass man fast vergessen konnte, dass der Beginn des Herbstes vor der Tür stand. Möwen kreischten, und ein Schwarm Kraniche flog über die Stadt hinweg in Richtung Süden. Ihre trompetenden Rufe waren noch eine ganze Weile zu hören. Tina blickte dem Schwarm einen Moment lang hinterher, bevor sie sich wieder auf ihre unmittelbare Umgebung konzentrierte. Sie stand inmitten eines Demonstrationszuges, der die Lange Straße an Einheimischen und Touristen vorbei heruntergezogen war und nun am Marktplatz der kleinen Stadt im Herzen der Holsteinischen Schweiz angekommen war. Auf der linken Seite wurde der Platz von historischen, vorwiegend zweistöckigen Backsteinhäusern mit spitzen Dächern gesäumt, rechts ragte die ebenfalls aus rotem Backstein gebaute Nikolaikirche in den wolkenlosen Himmel. Das große weiße Plöner Schloss mit seinen beiden charakteristischen Türmen thronte etwa zweihundert Meter hinter dem Markt auf einem kleinen Hügel über der Stadt und blickte auf den Großen Plöner See.
»Glyphosat verdreckt die Welt, drum gehört es nicht aufs Feld, Glyphosat verdreckt die Welt, drum gehört es nicht aufs Feld!«, skandierten die Demonstranten ungerührt von dem Wasserwerfer weiter. Sie schwenkten Plakate mit Sprüchen wie »Mutter Erde ist Leben, Glyphosat ist ihr Tod«, »Glyphosat macht Bienen tot, das ist das End vom Honigbrot«, »Make the world a better place, ban Glyphosat« und »Grüne gegen Glyphosat«. Letzteres war an dem Lanz-Oldtimer-Traktor von Krischan Klammroth befestigt, der den Demonstrationszug anführte. Klammroth war der Spitzenkandidat der Grünen im Kreis Plön und der dunkelgrüne Oldtimer mit den großen aufgemalten Sonnenblumen sein Markenzeichen. Jetzt, kurz vor der Landtagswahl, war er auf vielen Wahlplakaten zu sehen.
Auf Tinas Schild lag eine Kuh mit seitlich aus dem Maul heraushängender Zunge und mit nach oben gestreckten Beinen auf dem Rücken. Tina hatte das Plakat selbst gemalt. Der Schriftzug »Glyphosat killt Kühe« in Blutrot zog sich über den oberen und unteren Rand. Ihre beiden Hunde, der schwarze Schnauzermischling, den Tina nach dem plattdeutschen Wort für »schwarz« Swatt getauft hatte, und die braungestromte Greyhoundhündin Daisy, trugen ein Halstuch mit einem weißen Totenschädel auf schwarzem Grund, über dem der Schriftzug »Glyphosat« in Rot zu sehen war.
Als ein Pfeifkonzert ertönte, blickte Tina nach rechts. Vor der Sparkasse hatten sich etwa zwanzig Personen versammelt. Sie waren ganz in Schwarz gekleidet und trugen Sturmhauben und schwarze Rucksäcke. Ein paar von ihnen hatten Steine und Flaschen in den Händen und begannen sie auf die Polizisten zu werfen, die sich neben dem Wasserwerfer aufgebaut hatten.
»ACHTUNG, ACHTUNG! Legen Sie die Vermummung ab und verlassen Sie den Marktplatz!«
Eine Flasche zerschellte auf dem Boden direkt vor den Füßen eines Polizisten, und die Beamten rückten auf die schwarz gekleideten Personen vor.
»Diese blöden Idioten!«, sagte Caroline, die neben Tina stand und ihr Plakat mit einem Foto von toten Bienen hoch in die Luft hielt. »Die machen uns die ganze Demo kaputt«, fuhr sie mit einem quengelnden Unterton fort. Sie hatte ihre blonden Dreadlocks zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und trug eine weite Bluse von undefinierbarer dunkler Farbe und einen weiten Rock mit Blumenmuster.
»Die wollen nur Randale; um das Thema geht es denen gar nicht«, erwiderte Tina.
»Aber was soll denn das? Warum machen die das bloß?«
»Weil das geistig minderbemittelte Idioten sind.«
»Des sind damische Saubuam«, sagte eine zierliche rothaarige Frau, die mit Caro gekommen war und die Tina nicht kannte.
»Aber warum stören sie die Demo? Glyphosat ist doch ein wichtiges Thema, ich versteh das nicht.«
Tina reagierte nicht. Caro war von einer unerschütterlichen Naivität und in manchen Dingen wie ein quengelndes Kind. Damit konnte Tina, je nach Tagesform, mal besser und mal schlechter umgehen. Schon damals in der Mittelstufe, als sie mit Caro in eine Klasse gegangen war, hatte diese bei jedem Furz die Dramaqueen gegeben. Danach hatte Tina erst in der Oberstufe wieder mit ihr zu tun gehabt, als sie gemeinsam bei einer Pelztierbefreiungsaktion – auf die Tina heute nicht mehr besonders stolz war – mitgemacht hatten.
Tina wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Vermummten zu. Sie beobachtete, wie weitere Flaschen und Steine flogen und wie die Polizisten auf die Vermummten vorrückten.
»Ihr Bullenschweine!«, schrie einer der Vermummten, der sehr groß war, fast zwei Meter, schätzte Tina, und der jetzt eine Rauchbombe auf die Polizisten warf.
»Tina, lass uns abhauen, die bringen den Wasserwerfer in Stellung«, sagte Caro.
Tina nickte und wollte sich abwenden, als die rothaarige Frau schnell auf die Vermummten zuging und vor ihnen stehen blieb.
»Ihr damischen Sauhund, ihr! Lassts uns doch in Ruah demonstriern und geht’s hoam, Kruzitürken no amoi!«
»Merle! Ist die wahnsinnig!«, rief Caro. Die Vermummten grölten und lachten, und einer von ihnen zog Merle am Arm zu sich heran.
»Diese bayrische Schlampe meint, sie kann uns was erzählen!«, schrie er.
Seine Kumpel lachten, und er zog Merle vor sich und legte den Arm um ihren Bauch.
»Ich habe eine Geisel! Benutzt doch euren Wasserwerfer, wenn ihr euch traut!«
»Loss mi los!«, rief Merle und versuchte sich aus dem Griff des Mannes zu winden. Tina blickte zu den Polizisten, aber die standen nur abwartend zwischen dem Wasserwerfer und den Vermummten.
»LASSEN SIE DIE FRAU LOS!«, rief einer der Polizisten in das Megafon.
»Zwingt mich doch!«
»Loss mi endlich los, du damischer Saupreiß! Du tuast mir weh!«
Grölendes Gelächter folgte. Tina hielt es nicht mehr auf ihrem Platz. Sie drückte Caro ihr Plakat in die Hand und ging mit ihren beiden Hunden an der Seite schnellen Schrittes auf die Vermummten zu. Vor dem Anführer blieb sie stehen. Daisy und Swatt bauten sich an ihrer Seite auf, Swatt stellte sein Nackenfell auf und begann zu knurren. Tina blickte den Anführer an.
»Ich kenn dich doch. Du bist doch der Bruder von ...«
»Halt die Fresse, Alte!« Seine graublauen Augen blitzten Tina wütend an.
»Lass sie los.«
»Und wenn nicht?«
Tina trat einen Schritt zurück, sodass Swatt vor ihr stand.
»Dann musst du die Sache mit meinem Hund diskutieren. Aber ich warne dich«, sagte sie, während Swatt einen Schritt auf den Mann zu machte. »Mein Hund ist idiotischen Argumenten gegenüber nicht besonders aufgeschlossen.«
Swatt starrte dem Anführer ins Gesicht und knurrte weiter. Etwas Speichel tropfte ihm aus dem Maul und traf auf dem Kopfsteinpflaster auf. Die Blicke des Mannes zuckten von Swatt zu Tina und wieder zurück auf den Hund.
»Wir wollen uns doch alle wieder beruhigen!«, erklang plötzlich eine Stimme hinter Tina. Sie schaute sich um und sah Krischan Klammroth auf sich zukommen. Er sah ein wenig älter aus als auf den Wahlplakaten, doch er war auch in natura durchaus gutaussehend, fand sie. Er trug ein schwarzes, offenstehendes Jackett zu einem schwarzen T-Shirt und dunkler Jeans.
»Und wer bist du?«, fragte der Anführer.
»Ich bin Krischan Klammroth. Vielleicht habt ihr mich schon auf dem ein oder anderen Wahlplakat gesehen.«
»Ich wähle nicht.«
»Schade, schade, das solltest du dir noch einmal überlegen. Jede Stimme zählt, stimmt’s?«
»Leck mich.«
»So, Junge, und jetzt lass die Frau los«, sagte Klammroth. Er fasste nach Merle, doch der Anführer hielt sie weiterhin fest.
»Hör zu, wenn du sie gehen lässt, kannst du auch nach Hause gehen, und alle sind zufrieden. Aber wenn du sie weiterhin festhältst, wirst du richtig Ärger bekommen. Willst du das?«
»Ärger ist mein zweiter Vorname, Mann«, sagte der Anführer. Seine Kumpel johlten und stießen die Fäuste gegeneinander. Der Anführer schob seinen Arm nach oben, sodass er um Merles Hals lag, und spannte seine beachtlichen Oberarmmuskeln an.
»Wie wär’s denn mit uns beiden, Süße?«
»Sie da mit den Hunden und Herr Klammroth, treten Sie zurück«, rief der Polizist mit dem Megafon.
Klammroth winkte in Richtung der Polizisten. »Ich habe das hier im Griff.«
»Sie treten sofort zurück, das ist eine polizeiliche Anordnung!«
Der Anführer grinste und zwinkerte Tina zu. »Hast du nicht gehört, du sollst die Biege machen, und nimm deine Köter mit.«
Tina straffte sich und atmete tief ein. Dann holte sie mit dem rechten Bein schwungvoll aus und trat dem jungen Mann mit Wucht gegen das Schienbein. Dieser stöhnte auf und lockerte den Griff um Merle. Schnell zog Tina die junge Frau aus seinem Arm und schob sie hinter sich und Swatt.
»Bin schon weg, Timo«, sagte sie. »Weiß dein Bruder eigentlich von deinen Aktivitäten hier?«
»Halt meinen Bruder da raus«, quetschte Timo zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Dann werd endlich erwachsen, Mensch«, erwiderte Tina und wandte sich zum Gehen. Swatt knurrte noch einmal kräftig, dann lief er hinter Tina her.
»I dank dir«, sagte Merle und streckte die Hand aus. »I bin die Merle Johansson.«
»Tina Deerten.« Die beiden Frauen grinsten sich an.
»Mit Ihnen möchte ich mich aber nicht anlegen«, sagte Krischan Klammroth und trat an Tinas Seite.
»Sie waren aber auch nicht schlecht«, antwortete Tina.
Er lächelte. »Ich bin Krischan. Krischan Klammroth. Aber das wissen Sie ja mittlerweile.« Er strich sich durch seine dunkelblonden Haare, die zu einem kurzen Zopf zusammengefasst waren.
»Meine Stimme haben Sie auf alle Fälle«, sagte Tina.
»Der schwarze Block macht sich gerade aus dem Staub. Kann ich Sie nach meiner Abschlussrede noch auf einen Kaffee einladen?«, fragte Klammroth.
»Danke, ich muss gleich wieder in die Praxis«, erwiderte Tina.
»I muss a los. Mei Schicht im Restaurant fangt glei an. Danke no amoi.«
Merle winkte und drehte sich um.
»In welchem Restaurant arbeiten Sie denn?«, rief Krischan Klammroth ihr hinterher.
»Im Selenter Dorfkrug.«
»Das ist bei mir in der Gegend. Vielleicht sehen wir uns da mal.«
»I tat mi g’frein«, antwortete Merle und verschwand in einer schmalen Gasse in Richtung des großen Parkplatzes an der Stadtgrabenstraße.
»Sie sind Ärztin?«, wandte sich Klammroth an Tina.
»Tierärztin. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg für die Wahl.«
Tina drehte sich um und schaute sich nach Caro um. Endlich entdeckte sie sie an einem Tisch vor dem Bäckerladen. Schnell ging sie die kurze Strecke und warf einen Blick auf ihre Uhr. Sie hatte leider keine Zeit mehr, sich die Rede von Klammroth anzuhören.
»Tina! Das war sensationell, wie du den Kerl getreten hast. Ich hätte aber höher gezielt.«
Ja klar, so schnell, wie du weg warst, Caro.
»Warum hast dus dann nicht gemacht?«
»In Flip-Flops? Dann hätte ich jetzt einen Zehenbruch, mindestens.«
Caro hob ihren rechten Fuß, damit Tina ihre türkisfarbenen Flip-Flops mit dem Muster aus dunkelgrünen Farnwedeln besser sehen konnte. »Der schwarze Block hat sich ganz schön schnell vom Acker gemacht«, sagte sie.
»Schwarzer Block! Dass ich nicht lache. Das sind Kinder, die schwarzer Block spielen. Den Anführer kenne ich, der war bis vor ein paar Jahren ein echt süßer Kerl, aufgeweckt und immer freundlich.«
»Die Hormone machen seltsame Dinge. Plötzlich haben alle Pickel und sind ätzend drauf.«
Tina lachte. »Ich muss los, die Sprechstunde fängt gleich an. Wo ist mein Plakat?«
Caro zeigte zum Fahrradständer, an den sie die beiden Plakate gelehnt hatte.
»Mach’s gut!« Tina schnappte sich ihr Plakat und ging zügig, dicht gefolgt von ihren Hunden, die Lange Straße entlang. In der Einkaufsstraße roch es nach frisch gebackenem Brot, gebratenem Fleisch und, als sie am Blumenladen vorbeikam, leicht nach Rosen und Nelken. Es waren immer noch recht viele Touristen unterwegs, vor allem aus Dänemark und Süddeutschland, wie Tina dem Stimmgewirr entnehmen konnte, doch im Vergleich zur Hochsaison von Mai bis August waren es schon deutlich weniger geworden. Tinas Handy klingelte; sie zog es im Gehen aus ihrer Jeanstasche. Sie blickte auf das Foto der Anruferkennung. Ein braun gebrannter Mann mit Dreitagebart lachte sie mit funkelnden graublauen Augen an. Dadurch wurden seine Grübchen sichtbar, in die Tina sich als Erstes verliebt hatte.
Lächelnd nahm sie das Gespräch an. »Jan! Schön, dass du anrufst.«
»Moin, Tina. Ich hatte gerade einen Anruf von Dirk. Der hat den Einsatz auf der Demo geleitet. Musstest du dich unbedingt mit dem schwarzen Block anlegen?«
Bevor Tina antworten konnte, fuhr Jan schon fort. »Diese Kerle sind gefährlich, Tina! Halt dich aus der Arbeit der Polizei raus, wie oft muss ich dir das noch sagen?«
Tina wurde wütend. Was glaubte er eigentlich, mit wem er redete?
»Die Polizei hätte bestimmt Tränengas und den Wasserwerfer eingesetzt und wer weiß, was noch alles. Da mit ’nem Wasserwerfer aufzufahren fand ich sowieso reichlich übertrieben für die paar Leute.«
»Dirk hat mir erzählt, dass sie mit mindestens fünfzig Leuten vom schwarzen Block gerechnet haben.«
»Da hat er sich aber schwer verrechnet. Da waren nur Timo und seine Kumpels. Timo ist fast noch ein Kind, Mensch! Er macht gerade eine schwierige Phase durch, nachdem seine Eltern innerhalb von zwei Jahren an Krebs gestorben sind. Jetzt hat er nur noch seinen älteren Bruder, der sich um ihn kümmert. Ich weiß auch gar nicht, was du hast, es ist doch alles gut ausgegangen.«
»Zum Glück! Du musst auch mal an deine eigene Sicherheit denken und nicht immer nur an andere.«
»Krischan Klammroth war auch da. Wir hatten alles im Griff, Jan.«
»Dieser Grüne?« Tina hörte, wie Jan schnaubte.
»Hast du was gegen ihn?«
»Der ist mir zu glatt. Erinnert mich an Berlusconi.«
»Du spinnst doch. Du willst ihm doch wohl nicht ernsthaft unterstellen, dass er wilde Sexpartys feiert, Leute verschwinden lässt und Steuern hinterzieht?«
»Das meine ich doch gar nicht. Ich finde nur, dass sein Auftreten an Berlusconi erinnert. Ein bisschen schleimig irgendwie. Und dann dieser peinliche Pferdeschwanz.«
»Ich finde ihn nett. Er ist engagiert, und ich werde ihn auf jeden Fall wählen.«
»Tu, was du nicht lassen kannst. Sehen wir uns heute Abend?«
Dankbar ging Tina auf den Themenwechsel ein. Politische Diskussionen fand sie immer recht anstrengend, und sie waren meistens für die Katz, weil niemand seine Ansichten ändern wollte.
»Um acht bei mir?«
»Ich bring Pizza mit.«
Zehn Tage später
Tina starrte auf das Röntgenbild. Im Magen des Beagles war ein Knochen zu sehen. Dieser war relativ kurz, vielleicht zwei Zentimeter lang und etwa halb so dick.
»Was, sagten Sie, hat Johann gefressen?«
»Der Arme bekommt überhaupt nichts Leckeres mehr, nur noch die Hundewurst aus Rindfleisch und Gemüse, seit Sie gesagt haben, dass er Diät machen soll«, antwortete Johanns Besitzerin Sibylle Hoffmann mit einem vorwurfsvollen Unterton. Sie stand so dicht neben Tina, dass diese ihr schweres Parfüm riechen konnte, das den leichten Schweißgeruch der korpulenten Frau nicht ganz überdecken konnte. Tina trat einen Schritt zur Seite.
»Das sieht aber nicht aus wie ein Rinderknochen. Dafür ist er viel zu klein.«
»Geflügel vielleicht?«, fragte Sanne. Tinas Angestellte hob den übergewichtigen schwarz-weiß-braunen Beagle vom Röntgentisch und setzte ihn auf den Boden.
»Also, hören Sie mal! Ich weiß doch, dass Hunde keine Geflügelknochen haben dürfen«, sagte Frau Hoffmann. »Nicht wahr, mein Schnuckel, Hühnerknochen darfst du nicht. Davon gibt es Aua im Bäuchi.«
Sie bückte sich und strich Johann über den Kopf. Johann wedelte kurz und begann die Praxis nach etwas Fressbarem abzusuchen. Vor dem Kühlschrank blieb er stehen und setzte sich hin.
Er fixierte das Glas mit den Hirschfleischleckerli, das auf dem Kühlschrank stand, mit festem Blick. Sabber tropfte ihm aus der Schnauze und fiel auf den dunklen Fliesenboden. Sanne lachte.
»Na gut, ausnahmsweise darfst du einen halben Streifen haben, bevor du hier die ganze Praxis flutest.«
Sie riss einen der Streifen in der Mitte durch und hielt ihn Johann hin, der ihn verschlang, ohne sich mit Kauen aufzuhalten. Sofort starrte er wieder auf das Glas mit den Leckerlis. »Mehr gibt es nicht, Junge«, sagte Sanne mit fester Stimme.
»Vielleicht hat er den Knochen draußen gefressen«, sagte Tina. »So schnell, wie er das Futter hinunterschlingt, haben Sie es vielleicht gar nicht mitbekommen.«
»Das ist völlig unmöglich. Erstens habe ich ihn die ganze Zeit im Blick. Und zweitens trägt er jetzt immer einen Maulkorb, wenn wir Gassi gehen, damit so was nicht passieren kann. Ich kenne doch meinen Johann, nicht wahr, du Racker, du hast immer Hunger.«
Tina blickte wieder auf das Röntgenbild, auf dem sich der Knochen als heller, fast weißer Fleck im Dunkelgrau des Magens abzeichnete. »Der Knochen sieht wirklich komisch aus. Aber es ist kein Geflügelknochen, dafür ist er zu massiv. Lamm kann es auch nicht sein, zu klein. Hmmm ...«
Irgendwo hatte Tina so einen Knochen schon einmal gesehen, sie kam aber nicht drauf, bei welcher Gelegenheit. Irgendwann im Studium?
»Und was jetzt?«, unterbrach Frau Hoffmann Tinas Überlegungen und strich Johann immer wieder über die langen seidigen Ohren.
»Ach, mein armer Schatz. Bist du mein süßer Schatzi-Spatzi, ja, bist du mein Süßer?«
Tina sah, wie Sanne sich ein Grinsen verkneifen musste.
»Er muss doch wohl nicht operiert werden, oder?« Sybille Hoffmann sah Tina mit weit aufgerissenen Augen an.
»Wir versuchen erst einmal, den Knochen auf natürlichem Weg wieder herauszubekommen.«
»Was meinen Sie damit?«
»Sie fahren jetzt mit Johann nach Hause. Unterwegs besorgen Sie eine Dose Sauerkraut und mischen ihm eine ordentliche Portion davon unter sein Futter. Nach einer Stunde kommen Sie wieder her, und ich spritze ihm ein Brechmittel. Mit etwas Glück kommt der Knochen dann raus.«
Zwischen Frau Hoffmanns Augenbrauen bildete sich eine steile Falte, als sie über Tinas Worte nachdachte. »Aber er hat sich heute doch schon fünf Mal übergeben, und da ist der Knochen auch nicht rausgekommen.«
»Deswegen sollen Sie ihm ja das Sauerkraut geben. Es wickelt den Knochen ein, und die Chance steigt, dass er ihn rausbringen kann.«
»Und wenn der Knochen im Hals stecken bleibt und er erstickt? Ist es da nicht besser, gleich zu operieren? Ich will nicht, dass meinem Süßen etwas passiert. Nein, das wollen wir nicht, nicht wahr, mein Schatzi?«
Johann wedelte kurz, behielt aber das Leckerli-Glas gut im Auge. Er war es anscheinend gewohnt, wie ein minderbemitteltes Kleinkind behandelt zu werden.
»Frau Hoffmann, der Knochen ist nicht besonders groß, und er ist ja auch in den Magen hineingekommen. Ich glaube nicht, dass er stecken bleiben wird. Außerdem ist so eine Fremdkörperoperation nicht ohne. Ich müsste die Bauchhöhle aufschneiden, den Magen eröffnen, den Knochen finden und alles wieder zunähen. Das dauert eine Weile. Schon normalerweise ist die OP nicht ohne Risiko, doch bei Johann mit seinem Herzfehler und seinem Übergewicht ist das Risiko, dass etwas schiefgeht, deutlich erhöht.«
»Vielleicht sollte ich in die Klinik nach Kiel fahren. Die schaffen das dort bestimmt. Ja, das wird besser sein.«
Tina holte tief Luft und zählte im Stillen bis zehn, um keine unbedachte Äußerung zu machen.
»Sie können sicher sein, dass Johann bei uns bestens versorgt werden wird, sollte eine OP nötig sein. Auch in Kiel würde er heute nicht mehr operiert werden, weil er nicht nüchtern ist. Wir vergeben uns doch nichts, wenn wir es erst mal mit dem Brechmittel probieren. Wenn es nicht funktionieren sollte, operiere ich Johann gleich morgen früh. Er kann dann heute und morgen ein weiteres Herzmedikament bekommen, um das Risiko eines Narkosezwischenfalls zu senken, und wir machen heute noch ein Blutbild.«
Frau Hoffmann sah nicht ganz überzeugt aus. »Und wenn Johann das Sauerkraut nicht mag?«
»Er ist ein Beagle, er frisst es bestimmt.«
»Na gut. Wenn Sie meinen ...«
Tina nickte und hob Johann auf die Waage.
»Siebzehneinhalb Kilo!«
Sie ging zu ihrem PC und schaute in die Kartei.
»Er hat von Mai bis jetzt schon wieder fast ein Kilo zugenommen! Dabei hatte ich doch gesagt, dass Sie ihn auf Diät setzen sollen!«
Frau Hoffmann seufzte. »Das habe ich doch gemacht! Er bekommt nur noch die Rinderwurst von dem Biohundefutterladen.«
»Wirklich?«
Tina sah Frau Hoffmann direkt in die Augen, bis diese den Kopf abwandte.
»Er isst doch so gern Käse«, murmelte sie. »Und wenn er mich mit diesen treuen braunen Augen anschaut, kann ich nicht widerstehen. Er tut mir dann immer so leid. Ich esse, und er bekommt nichts ab. Das geht doch nicht.«
Sie bückte sich und strich Johann über den Kopf. »Das geht doch nicht, dass mein Bärchen hungern muss, nicht wahr, mein Schnuckelchen?«
»Er muss mindestens vier Kilo abnehmen, sonst wird er nicht so alt werden, wie er es rassebedingt werden könnte«, sagte Tina.
Frau Hoffmann hielt Johann die Ohren zu. »Hör gar nicht hin, was die böse Frau Doktor sagt, hör nicht hin, mein Purzelbär.«
Tina hatte genug. »Gut, Sie füttern Johann das Sauerkraut, und wir sehen uns in einer Stunde wieder hier.«
»Na gut, wenn Sie meinen, dass das ausreicht. Aber wenn meinem Bärchen etwas passiert, sage ich meinem Mann Bescheid. Wie Sie vielleicht wissen, ist er ...«
»Anwalt und Notar, ich weiß, Frau Hoffmann. Sie werden nicht müde, mich jedes Mal wieder darauf hinzuweisen.«
Tina öffnete die Tür zum Wartezimmer. »Bis später. Und bringen Sie den Rest von der Hundewurst mit!«
Frau Hoffmann trat ins Wartezimmer, und Sanne schloss die Tür etwas energischer als nötig.
»Das ist aber auch eine alte Schabracke! Immer droht mit sie mit ihrem blöden Mann!«
»Und zahlen tut sie auch immer nur extrem schlecht. Na, was solls, Sanne-Bärchen, da müssen wir durch.«
Sanne fing an zu lachen, und Tina fiel mit ihrer röhrenden Lache ein. Jemand hatte ihr mal gesagt, dass sie klang wie eine Mischung aus dem Wiehern eines bekifften Pferdes und dem Schrei von Winnetou auf dem Kriegspfad. Mit dem Effekt, dass sie noch mehr hatte lachen müssen.
»Apropos zahlen, hat die Förster eigentlich mal überwiesen?«, fragte Sanne, als sie sich wieder beruhigt hatte.
»Ich habe ihr gestern die zweite Mahnung geschickt.«
»Echt dreist. Zehn Welpen impfen, bei jedem einen Chip setzen, mit Hausbesuch, und für alle Hunde natürlich auch noch einen EU-Pass, und dann löhnt die Alte nicht. Das muss doch locker eine Rechnung von achthundert Euro sein, oder?«
»Neunhundert. Dabei sollte sie genug Geld bekommen haben, wenn sie jeden Welpen für tausendvierhundert verkauft hat.«
Geld, das Tina gut gebrauchen könnte, um dem Tiefstand auf ihrem Konto entgegenzuwirken.
»Hammer!«
Tina nickte und blickte auf die Uhr. »Schon Viertel nach zwölf. Geh du mal in die Mittagspause, ich hol mir nur schnell beim Fischer ein Brötchen, damit ich in einer Stunde wieder hier bin.«
»Soll ich auch kommen?«, fragte Sanne. Sie zog ihren Kittel aus und präsentierte ein hautenges weißes T-Shirt mit einer rosa-gelben Torte und dem rosafarbenen Schriftzug »Bitches love cakes« auf der Vorderseite. Tina grinste. Typisch Sanne. Wenn man sie sah, würde man nie vermuten, dass sie die Mutter von vierjährigen Zwillingen war.
»Nee, lass mal. Das krieg ich auch alleine hin.«
»Wenn du sicher bist. Passt mir aber ganz gut. Ich muss Finn und Leon heute aus der Kita abholen, weil meine Mutter beim Friseur ist.«
»Hau ruhig ab. Wir sehen uns heute Nachmittag.«
Tina sah zu, wie sich Sanne in eine enge, löchrige hellblaue Jeans zwängte. Hinter den Löchern war weiße Spitze eingenäht, was der Hose ein fast elegantes Aussehen gab.
»Der Knochen sieht wirklich ungewöhnlich aus. Ich frage mich, wie er in die Wurst gekommen ist«, sagte Tina.
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich ist es doch Geflügel, und Frau Hoffmann hat vergessen, dem Hund den Maulkorb aufzusetzen.«
»Aber er sieht auf dem Röntgenbild nicht nach Geflügel aus ...«
Tina durchfuhr es wie ein Blitz. »Das Ding sieht aus wie ein Fingerknochen!«, rief sie.
»Was?«
Sanne sah Tina mit geweiteten Augen an. »Du meinst, wie ein Finger vom Menschen? Das wäre ja megagruselig! Aber das kann doch gar nicht sein!«
»Nee, du hast recht. Andererseits ...«
»Tina, es kann nicht sein. Wie soll ein verdammter Finger in die Wurst gekommen sein?« Sanne schüttelte sich. »Nee, da will ich gar nicht weiter drüber nachdenken, sonst hab ich heute Nacht Albträume von Fingern, die ihren Menschen suchen!«
Sie streckte die Arme aus, wackelte mit den Fingern und ging torkelnd durch das Behandlungszimmer.
»Oh, mein Mensch, wo bist du? Uhuhuhuu!«
Tina lachte. »Du bist so eine Spinnerin, Sanne!«
Sanne grinste. »Mit Glück reihert Johann den Knochen gleich raus. Dann können wir ihn uns genauer angucken. Gut, ich bin weg!«
Sie zog ihre kurze hellrosafarbene Jeansjacke an und wandte sich zum Gehen.
»Bis später!«
Die Glocke über der Eingangstür bimmelte, als Sanne die Praxis verließ. Tina ging in ihr Büro, in dem Swatt und Daisy dösten. Tina hatte Daisy erst vor ein paar Wochen bekommen, nachdem sie eine Mordserie auf Gut Finkenstein aufgeklärt hatte, bei der die Windhunde der Gräfin und des Grafen von Finkenstein im Mittelpunkt gestanden hatten. Daisy war dabei eine Schlüsselrolle zugefallen, und nachdem die Windhundzucht aufgelöst worden war, hatte Tina Daisy übernehmen können.
Die Hunde sprangen auf und wedelten heftig, als sie Tina sahen. Swatt drängte sich dicht an ihr Bein und schubste sie gegen den Schreibtisch.
»Ruhig, Großer. Wir machen jetzt einen kleinen Spaziergang zum Fischladen, nach Hause schaffen wir es heute nicht. Und dann hoffen wir mal, dass Johann um eine OP herumkommt.«
Mit schnellen Schritten ging Tina über den Marktplatz und bog in Richtung des Strandwegs ab. Vom Wasser her wehte ein heftiger Wind, und die Regentropfen, die von einer Bö über den See gepeitscht wurden, trafen Tina direkt ins Gesicht. Sie zog ihre schwarze Kappe mit der weißen Aufschrift »Packleader« tiefer ins Gesicht und stellte den Kragen ihrer Wachsjacke auf. Swatt und Daisy trabten neben ihr her. Daisy hielt den Kopf gesenkt; ihr Schwanz verschwand fast ganz unter ihrem Bauch. Swatt hingegen machte das Wetter nicht das Geringste aus. Er zog Tina ruckartig an der Leine hinter sich her, als er eine Ente sah, die in Richtung des Wassers watschelte. Diese quakte empört und flog auf.
»Swatt, was soll das?«
Swatt blickte sich um und wedelte. Die Zunge hing ihm seitlich aus dem Maul, und es sah aus, als würde er lachen.
Als sie am menschenleeren Strandweg ankam, leinte Tina die Hunde ab. Daisy trottete auf den Rasenstreifen und hockte sich zum Pinkeln hin, Swatt raste den Sandweg entlang, hielt kurz inne, um an einem Grasbüschel zu schnuppern und das Bein zu heben, und galoppierte wieder zurück zu Tina.
»Du bist so ein Verrückter«, sagte sie lachend. Sie zog Swatts orange-blauen Lieblingsball aus ihrer Jackentasche und warf ihn weit ins Wasser. Mit einem Riesensatz sprang Swatt hinterher, schnappte sich gekonnt den Ball und paddelte zurück ans Ufer. Er spuckte Tina den Ball vor die Füße und schüttelte sich, dass die Tropfen flogen und Tinas Hosenbeine nass wurden.
»Danke, Swatt. Na, ist eh egal, bei dem Regen hätte ich besser eine Regenhose angezogen.«
Während sie Swatt noch ein paar Mal den Ball warf, ging Tina langsam in Richtung des kleinen Segelhafens weiter und überlegte. Wie kam der Knochen in die Wurst? Und war es tatsächlich ein menschlicher Fingerknochen? Hatte jemand bei der Arbeit mit dem Fleischwolf aus Versehen seinen Finger in das Gerät gesteckt? Aber warum war das Gerät nicht angehalten und die Fingerspitze herausgeholt worden? Heutzutage konnte man einen abgeschnittenen Finger wieder annähen, das war doch mittlerweile ein Routineeingriff! Oder – Tina mochte den Gedanken gar nicht weiterdenken, aber natürlich tat sie es doch – hatte jemand den Finger absichtlich in den Fleischwolf getan? Aber wieso sollte jemand das tun? Ihr kamen Sannes Worte in den Sinn: »Das ist megagruselig.« Ja, so konnte man es durchaus ausdrücken.
Tina war beim Fischladen angekommen und band Swatt und Daisy vor dem Laden an einen Fahrradständer.
»Bleibt, ich komm gleich wieder.« Sie zeigte mit dem Zeigefinger auf die Hunde, die das Kommando kannten und sich neben den Fahrradständer setzten. Tina betrat den Laden, wo ihr der Geruch von Räuchermaräne, frischen Schollen und gebratenem Lachs in die Nase stieg. Prompt begann ihr Magen zu knurren.
»Hallo, Nora. Ein Fischbrötchen mit Räuchermaräne, bitte«, sagte sie zu der Verkäuferin. Die Spezialität aus den Seen der Holsteinischen Schweiz gehörte zu Tinas Lieblingsfischsorten.
»Kann ich dich nicht mal für was anderes begeistern? Räuchermakrele oder Aal? Immer nur Maräne ist doch langweilig.«
»Mir schmeckt s.«
»Oder Bückling? Ist ganz frisch aus dem Rauch gekommen.« »Welchen Teil von ›Maräne‹ hast du nicht verstanden, Nora?« »Der erste Teil klang irgendwie wie ›Aal‹.«
Tina grinste und wartete, bis Nora das üppig mit dem Räucherfisch belegte Brötchen auf eine Serviette gelegt hatte und es über den Tresen reichte. Tina zahlte und nahm einen großen Bissen. »Lecker!«
Nora lachte. »Vielleicht bist du nächstes Mal ja mal ganz abenteuerlustig und nimmst Backfisch oder ein Krabbenbrötchen.«
Kauend winkte Tina ihr zum Abschied zu und trat zu ihren Hunden unter die blau-weiß gestreifte Markise, die im Wind flatterte. Swatt starrte ihr ins Gesicht, während ihm ein dünner Speichelfaden die Lefze hinunterlief. »Vergiss es, das ist mein Brötchen.«
»Hallo Tina! Schön, dich zu sehen!«
Tina drehte sich um und sah Caro auf sich zukommen. Diese hatte eine bunte Beaniemütze über ihre blonden Dreadlocks gestülpt. Ihr weiter, völlig durchnässter Poncho hing ihr wie ein ertrunkenes Alpaka um die Schultern, und ihre dünnen Leinenschuhe waren komplett durchweicht. Sie schob ihr altes Hollandfahrrad, mit dem sie in Ermangelung eines Autos überallhin fuhr, neben sich her.
»Ist das ein Sauwetter heute«, sagte sie und versuchte, ihren Poncho auszuwringen.
»Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung«, erwiderte Tina und grinste.
»Witzig.« Caro gab den Versuch auf, den Poncho trockener zu bekommen, und blickte auf Tinas Brötchen. »Räuchermaräne?«
Tina nickte.
»Sag mal, du erinnerst dich doch bestimmt an Merle, oder?«
Tina überlegte, während sie kaute und schluckte.
»Das war doch die kleine Rothaarige, die sich mit Timo und seinen Kumpels angelegt hat.«
»Sie ist verschwunden.«
»Wie, verschwunden?«
»War weg von einem Tag auf den anderen. Seit der Demo hier in Plön habe ich nichts mehr von ihr gehört.«
»Sie kam doch irgendwo aus Bayern. Vielleicht ist sie nach Hause gefahren?«
»Nee, bestimmt nicht. Sie wollte unbedingt auf die große Anti-Genmais-Demo in Kiel. Da hatte sie sich schon total drauf gefreut, Genmais ist nämlich ihr Spezialthema. Ihr ist bestimmt was passiert!«
Tina schluckte den letzten Bissen hinunter und warf die Serviette in den Mülleimer neben der Eingangstür.
»Vielleicht ein Notfall in der Familie, oder sie hat ihre große Liebe getroffen und ist mit ihr in den Urlaub gefahren?«
»Das hätte sie mir gesagt. Außerdem geht sie nicht ans Handy und antwortet nicht auf meine WhatsApps.«
Tina blickte auf die Uhr. »Du, ich muss los. Wenn du meinst, dass da was faul ist, musst du zur Polizei gehen. Aber es gibt bestimmt eine ganz harmlose Erklärung. Vielleicht ist ihr Handy kaputt oder ist geklaut worden oder sie hat es verloren.«
»Hmm ...« Caro sah Tina mit gerunzelten Augenbrauen an. »Ich weiß nicht. Und wenn doch was passiert ist?«
Tina seufzte. »Die meisten Vermissten sind gar nicht verschwunden, sondern wollen bloß nicht gefunden werden, hab ich mal irgendwo gelesen.« Sie band Swatt und Daisy los und wandte sich zum Gehen. »Die taucht schon wieder auf, glaub mir.«
Dem Beagle tropfte der Sabber in Sturzbächen aus dem Maul und floss in den Abfluss auf dem Boden in der Mitte des Käfigraums. Hier wurden die Tiere nach einer Operation untergebracht oder wenn sie tagsüber, zum Beispiel für wiederholte Infusionen, in der Praxis bleiben mussten.
»Was hast du denn, mein Bärchen? Ist das normal? Er soll sich doch übergeben und nicht sabbern.«
Tina lehnte an einem großen Faltkäfig, der ausgeklappt in der hinteren Ecke des kleinen Raumes stand.
»Ihm ist übel, deshalb speichelt er so. Er wird sich gleich übergeben.«
Als hätte der Beagle sie gehört, begann er zu würgen. Sein Körper zog sich ruckartig zusammen, und er öffnete das Maul.
Ein Schwall von bereits in Verdauung befindlichem flüssigem Futter, vermischt mit Sauerkraut, schoss heraus. Johann starrte ins Leere, während ihm Speichel und Reste des Erbrochenen aus dem Maul tropften. Er würgte erneut und gab eine weitere Ladung Mageninhalt von sich. Anschließend legte er sich auf den Boden und fing an zu hecheln.
»War es das?«, fragte Frau Hoffmann. »Mein armer, armer Schatzi! Was hat die böse Frau Doktor mit dir gemacht?«
Tina verdrehte die Augen. »Er wird sich noch ein paar Mal übergeben müssen, aber der Großteil sollte rausgekommen sein.«
Sie holte einen Holzspatel aus dem Behandlungszimmer und rührte damit in dem Erbrochenen herum. Bei dem säuerlichen Gestank, der ihr in die Nase stieg, verzog sie das Gesicht. Und dafür hatte sie fast sechs Jahre studiert, dass sie jetzt in Hundekotze rühren durfte!
Da, da war etwas. »Wir haben Glück. Da ist der Knochen.« Tina zeigte mit dem Spatel auf den kleinen Knochen, der inmitten des Erbrochenen lag.
»Was ist es denn nun für einer?«
Tina zog sich einen Einmalhandschuh an, griff nach dem Knochen und ging damit in den OP. Dort spülte sie ihn im Waschbecken ab und trocknete ihn mit einem Küchentuch. Sie drehte und wendete ihn. Der Knochen verjüngte sich von der Gelenkfläche nach oben, um dann in einen halbkreisförmigen Teil überzugehen. An dem Knochen waren tiefe Kratzer zu sehen, und die linke untere Ecke fehlte. Es war kein Geflügelknochen und auf gar keinen Fall ein Knochen vom Rind. Als sie erneute Würgegeräusche hörte, kehrte sie schnell in den Käfigraum zurück, wo Johann gerade eine weitere, kleinere Ladung Futterbrei von sich gab.
»Und?«, erkundigte sich Frau Hoffmann.
»Wie ich schon vermutet hatte. Es ist weder ein Geflügel-, noch ein Rinderknochen. Johann hat draußen wirklich nichts gefressen?«
»Ich habe Ihnen doch vorhin schon gesagt, er hat jetzt immer einen Maulkorb um.«
»Dann kann der Knochen nur in seinem Futter gewesen sein. Wenn er im Käse gewesen wäre, hätten Sie ihn bestimmt entdeckt.«
Frau Hoffmann wurde blass. »Den Käse habe ich auch gegessen. Ich kaufe den immer bei Edeka. Da wird er doch wohl nicht drin gewesen sein?«
»Ich habe doch gerade gesagt, dass der Knochen in der Wurst gesteckt haben muss.«
Johann erbrach sich erneut, und Tina beugte sich zu ihm hinunter und wischte ihm das Maul mit einem Küchentuch ab. »Du hast es gleich geschafft, mein Kleiner.«
Johann ließ sich auf die Fliesen fallen, legte den Kopf mit den langen Ohren auf die dicken Vorderpfoten und schloss die Augen.
»Was hast du denn, mein Schnuckelchen? Geht es dir nicht gut?«
Frau Hoffmann bückte sich und streichelte Johann über den Kopf.
»Von dem Brechmittel wird er müde. Das kann ein paar Stunden anhalten, ist aber kein Grund zur Sorge«, sagte Tina.
»Ein paar Stunden! Davon haben Sie vorhin aber nichts gesagt. Mein armer kleiner Schatz!« Frau Hoffmann blickte Tina an. »Sie müssen Ihre Kunden aber besser aufklären! Ich muss gleich zur Fußpflege. Wenn ich gewusst hätte, dass Johann so schlapp sein würde, hätte ich den Termin abgesagt. Jetzt ist es zu spät, da muss ich die Behandlung bezahlen, auch wenn ich nicht kommen kann. Zahlen Sie mir das jetzt? Mein Mann ...«
»Frau Hoffmann!« Tina ballte die Hände zu Fäusten, dann entspannte sie sich mühsam wieder etwas. »Ist Ihr Mann nicht zu Hause? Er kann doch bei Johann bleiben.«
Frau Hoffmann blickte auf ihre Armbanduhr. »Er kommt erst in einer halben Stunde. Ich muss aber schon in einer Stunde bei der Fußpflege sein. Ich habe einen entzündeten Zehennagel.«
Tina verzog das Gesicht. Viel zu viele Informationen!
»Wo ist denn die Fußpflege? In Hamburg?«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Ich dachte, wenn Sie eine Stunde brauchen, um dorthin zu kommen ...«
Frau Hoffmann verzog missbilligend das Gesicht. »Sie brauchen hier gar nicht komisch zu werden. Ich kann beim nächsten Mal auch woanders hingehen. Zu dem Tierarzt am Bahnhof zum Beispiel, der soll ja sehr nett und sehr kompetent sein, habe ich gehört.«
»Und ich habe gehört, dass man bei dem Kollegen immer sofort bezahlen muss.«
Frau Hoffmann schnaubte. »Mein Mann hat unsere Rechnungen immer prompt bezahlt.«
Ja, sofort nach der ersten Mahnung.
»Haben Sie den Rest der Wurst mitgebracht?«, wechselte Tina das Thema.
Frau Hoffmann wühlte in ihrer überdimensionierten Handtasche aus schwarzem Kunstleder.
»Da war doch kein Rest mehr. Aber das hier ist die gleiche, die habe ich auch im Zooladen hier in der Langen Straße gekauft.«
Sie reichte Tina die Wurst, die in einem Frischhaltebeutel verpackt war. Tina holte die Wurst heraus und las das Etikett.
»Die Wurst wird von ›Canis et Felis‹ in Tramm hergestellt. Den Betrieb kenne ich, die benutzen nur Biozutaten. In deren Werksladen habe ich neulich mal eingekauft.«
»Na, denen wird mein Mann aber einen geharnischten Brief schreiben! Mein armer Johann hätte an dem Knochen ersticken können!«
Frau Hoffmann hockte sich mit einem Ächzen neben ihren Hund. Ihr dunkelgrüner, wadenlanger Rock spannte bedenklich über ihrem voluminösen Hintern. Sie strich dem Beagle über den Kopf. Johann fing an zu wedeln, ohne den Kopf zu heben.
»Ja, bist du mein armer Schatzi-Spatzi, ja, bist du mein Schatz?«
»Gut, Sie können jetzt los. Ich helfe Ihnen, Johann zum Auto zu bringen, denn er wird noch etwas wackelig auf den Beinen sein.«
Nachdem sie sich die Rechnung hatte ausdrucken lassen, verließ Frau Hoffmann die Praxis. Johann war noch etwas schlapp und schlurfte über das Pflaster. Tina brachte Hund und Frauchen zu deren Auto, einem uralten weinroten Opel Vectra.
»Na, das ist ja schon fast ein Oldtimer«, sagte sie.
»Mein Mann sagt immer, Sibylle, sagt er, solange der Wagen noch fährt, brauchst du keinen neuen. Und der Hund bringt ja auch so viel Dreck rein, da bin ich mit dem alten Auto besser bedient.«
Tina nickte, dachte aber, dass der alte Knauser ruhig mal ein neues Auto springen lassen könnte. Als Anwalt und Notar nagte er bestimmt nicht am Hungertuch.
Sie hob Johann in den Kofferraum, winkte Frau Hoffmann zu und kehrte in die Praxis zurück.
Ihr Blick fiel auf die große Funkuhr, die im OP hing. Sie hatte noch eine gute Stunde Zeit, bis die Nachmittagssprechstunde anfing. Da konnte sie im Internet nach dem Aussehen von menschlichen Fingerknochen recherchieren. Denn sie fand, dass der Knochen aussah wie ein distaler Phalanxknochen vom Menschen.
Nachdem Tina die Sauerei im Käfigraum beseitigt hatte, setzte sie sich also vor ihren Rechner und googelte nach menschlichen Fingerknochen. Sie klickte auf den ersten Link, und das Foto des Skelettes einer menschlichen Hand erschien. Der Knochen, der die Fingerspitze formte, sah genauso aus wie der Knochen, der neben der Tastatur auf dem Schreibtisch lag.
Als das »Dingdong« der sich öffnenden Eingangstür ertönte, blickte Tina auf. Sanne betrat das Behandlungszimmer und warf ihre aus bunten Stoffstücken zusammengenähte Tasche auf den Behandlungstisch.
»Na, ist der Knochen rausgekommen?«, fragte sie.
Tina nickte und zeigte auf das Knochenstück. »Und guck mal, was ich gefunden habe.«
Sie rückte ein Stück zur Seite, sodass Sanne auf den Bildschirm blicken konnte. Sannes Augen weiteten sich. »Nee, ne! Das ist tatsächlich ein Menschenknochen!«
Sie sah den Knochen an und schaute wieder auf das Foto im PC. »Das ist ja voll gruselig! Ich krieg eine Gänsehaut, guck mal!«
Sannes Arme waren tatsächlich von einer Gänsehaut überzogen, stellte Tina nach einem kurzen Blick fest.
»Die Wurst kommt von ›Canis et Felis‹ in Tramm«, sagte Tina.
»Das gibt’s doch gar nicht! Das ist der Betrieb von Toni und Felix«, rief Sanne.
»Woher kennst du die denn?«
»Toni hat mit seiner Mutter jahrelang neben uns in Appelwarder gewohnt, ich bin praktisch mit ihm aufgewachsen. Er ist allerdings fast sechs Jahre älter als ich, und vor ungefähr sieben Jahren sind die beiden dann zu dem neuen Lover seiner Mutter irgendwo in die Pampa auf einen Bauernhof gezogen. In der Zeit habe ich ihn nicht mehr gesehen, aber meine Mutter hat ihn ab und zu in der Stadt getroffen und manchmal mit ihm telefoniert. Irgendwann vor zwei Jahren hat er mir ein Hochzeitsfoto und eine WhatsApp geschickt, dass er geheiratet hat und wieder nach Plön gezogen ist.«
»Und, kennst du seine Frau?«
Sanne lachte. »Toni ist schwul. Er hat Felix geheiratet, und dann haben die beiden den Futterbetrieb übernommen.«
»Nur bestes Fleisch in Bioqualität für Ihre Lieblinge«, zitierte Tina den Werbeslogan des Hunde- und Katzenfutterherstellers. »Ruf Toni doch mal an und frag, ob wir den Laden besichtigen können.«
»Warum das denn?«
»Vielleicht finden wir einen Hinweis, wie der Knochen in die Wurst gekommen ist.«
»Du meinst, dass da irgendeiner mit ’nem blutigen Stumpen rumläuft?« Sanne verzog das Gesicht und sah Tina an. »Na toll, jetzt habe ich allerfiesestes Kopfkino.«
»Das mit dem Stumpen hast du gesagt, nicht ich.«
»Toni und Felix haben nichts damit zu tun. Der Knochen muss schon vorher im Fleisch gewesen sein«, sagte Sanne mit fester Stimme.
»Wir können doch trotzdem mal vorbeifahren. Ist bestimmt interessant. Oder warst du schon mal da?«
»Nee, auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen.«
Sanne kaute auf ihrem Kaugummi, während sie nachdachte.
»Aber nur wenn du Toni nichts von dem Knochen sagst.«
»Wenn wir was rauskriegen wollen, muss ich ihn aber darauf ansprechen.«
»Toni hat nicht das Geringste damit zu tun, klar?«, erwiderte Sanne mit blitzenden Augen.
»Menschen verändern sich. Und wenn du ihn so lange nicht mehr gesehen hast ...«
»Auf gar keinen Fall!« Sanne schrie jetzt. »Toni ist megasensibel, der würde in Ohnmacht fallen, wenn ein herrenloser Finger in seinem Betrieb auftauchen würde.«
Sannes Gesicht war rot angelaufen, und sie starrte Tina wütend an. Diese hob die Hände.
»Okay, okay. Ich sage ja gar nicht, dass Toni etwas mit dem Finger zu tun hat. Aber offensichtlich kam die Wurst mit dem Knochen aus seinem Betrieb. Wenn du nicht mitkommen willst, geh ich allein.«
Sanne kaute so heftig auf ihrem Kaugummi, dass Tina schon Angst bekam, sie würde sich die Zunge durchbeißen. Schließlich kam sie zu einer Entscheidung.
»Ich komme auf jeden Fall mit. Wäre auch schön, Toni mal wiederzusehen. Und bestimmt stellt sich raus, dass der Knochen schon vorher in dem Fleisch war.« Sannes Stimme klang zuversichtlich. »Ich guck mal, wann ich Zeit habe.«
Sie wühlte in ihrer Tasche nach ihrem Handy.
»Sagst du Jan Bescheid, dass wir einen Menschenknochen gefunden haben?« Sanne hatte ihr Handy gefunden und wischte auf dem Display herum.
»Erst mal bringe ich den Knochen zu Onkel Lorenz in die Rechtsmedizin. Er kann bestimmt bestätigen, dass es ein Menschenknochen ist, und dann ist es offiziell. Ich habe keine Lust, mir irgendwelche blöden Sprüche von Jan anhören zu müssen, und dann ist es doch nur ein Affenknochen oder so.«
Sanne hob den Kopf und sah Tina an. »Glaubst du, dass das sein kann? Ein Affenknochen? Aber wo soll der hergekommen sein?«
»Keine Ahnung. Aber Onkel Lorenz wird es wissen. Und bis dahin gucken wir uns den Betrieb schon mal an.«
»Morgen Mittag ginge bei mir«, sagte Sanne. »Ich rufe Toni gleich mal an.«
Tina saß auf ihrem gemütlichen Sofa und blickte aus dem Wohnzimmerfenster. Das graue Wasser des Plöner Sees war aufgewühlt, und es waren Schaumkronen zu sehen. Der Regen fiel fast waagerecht und prasselte gegen die Sprossenscheiben. Von der Stadt Plön auf der anderen Seeseite konnte sie fast nichts erkennen, nur das Schloss war als ein weißer Schemen zu erahnen.
Tina hatte den Kaminofen angemacht, und das Feuer hatte den Raum auf eine angenehme Temperatur aufgeheizt. Daisy lag sehr nah vor dem Ofen. Es sah so aus, als wäre sie am liebsten hineingekrochen, während Swatt es sich in der am weitesten vom Ofen entfernten Ecke auf dem Sofa bequem gemacht hatte. Er lag mit angezogenen Beinen auf dem Rücken und grunzte leise.
Tina trank einen Schluck von dem heißen Rooibostee, den sie sich nach dem Abendbrot gekocht hatte, und schaute nachdenklich auf den Knochen, der vor ihr auf dem Couchtisch lag. Dann griff sie nach ihrem Handy und scrollte durch ihre Kontakte, bis sie die Nummer ihres Onkels fand. Sie wählte und wartete, dass die Verbindung zustande kam.
»Tina! Wie schön, dass du anrufst. Wie geht es dir?«
»Könnte nicht besser sein, Onkel Lorenz.«
Eine Windbö heulte um das Haus, und Tina trank einen weiteren Schluck Tee. »Das Wetter lässt allerdings zu wünschen übrig.«
Ihr Onkel lachte. »Kann ich nicht bestätigen. Hier in Sydney haben wir fast dreißig Grad. Du hast Glück, dass ich schon wach bin. Ich reise heute Vormittag ab.«
»Ach, stimmt ja, du bist in Australien. Du warst bestimmt schon in der Oper, oder?«
Vor seiner Karriere als Pathologe war ihr Onkel Opernsänger gewesen, die Krönung seiner Karriere war der Part des Papageno in Mozarts Zauberflöte gewesen, den er in Eutin gesungen hatte.
»Gestern habe ich Falstaff gehört. Der Sopran war hervorragend, der Bariton hatte allerdings noch Luft nach oben.«
»Hast du den Falstaff nicht auch mal gesungen?«
»In Bremen, das war ... ja, das muss neunzig oder einundneunzig gewesen sein.«
»Und, wie ist der Kongress so?«
»Höchst interessant. Gestern habe ich mir just for fun einen Vortrag über die hiesigen Gifttiere und die Vergiftungen angehört. Hier kannst du auf so viele Arten an Gift zu Tode kommen, da wundert es einen, dass die Australier noch nicht ausgestorben sind.«
Tina lachte.
»Ich wäre gern noch länger geblieben, aber ich muss zurück. Am Donnerstag hat der Alltag mich wieder. Hast du einen bestimmten Grund, mich anzurufen, oder wolltest du nur mal wieder meine Stimme hören?«
»Ich habe im Magen eines Beagles einen Knochen gefunden, und ich finde, der sieht aus wie die Phalanx distalis eines Menschen. Es wäre toll, wenn du ihn dir mal ansehen könntest.«
»Na, das ist ja mal was Neues. Hat der Hund seinem Herrchen den Finger abgebissen, und der hat es noch gar nicht gemerkt?«
Onkel Lorenz lachte dröhnend über seinen Witz.
»Der Knochen muss in der Hundewurst gewesen sein.«
»Interessant. Pass auf, bring den Knochen in der Gerichtsmedizin vorbei, und ich schaue ihn mir gleich am Donnerstag an. Das wird allerdings vor Mittag nichts, weil ich den Vormittag noch freihabe.«
»Super, mach ich. Dann einen guten Flug.«
»Danke. Übrigens, kennst du den? ›Jetzt sag ich ’s Ihnen zum letzten Mal‹, schreit der Arzt die Krankenschwester an. ›Wenn Sie das nächste Mal einen Totenschein ausstellen, dann schreiben Sie unter Todesursache den Namen der Krankheit und nicht den des behandelnden Arztes.‹«
Tina grinste, während ihr Onkel so laut lachte, dass sie das Telefon von ihrem Ohr weghalten musste. Onkel Lorenz und seine Arztwitze. Früher hatte er nur Pathologenwitze erzählt, aber da es davon nicht so viele gab und alle in seiner Umgebung die wenigen schon zum wiederholten Male gehört hatten, war er auf Arztwitze umgestiegen.
»Tschüss, Onkel Lorenz!«
Tina drückte auf den roten Hörer und legte das Handy auf den Couchtisch. Morgen oder übermorgen würde sie den Knochen nach Kiel bringen. Zu blöd, dass ihr Onkel noch im Urlaub war. Sie hasste es, warten zu müssen.
Frauchen hat dieses komische Teil in der Hand und redet. Früher dachte ich natürlich immer, sie redet mit mir, bis mir auffiel, dass sie anscheinend mit diesem kleinen Kasten spricht. Menschen machen wirklich viele seltsame Dinge. Ich stehe auf, drehe mich ein paar Mal um mich selbst und lasse mich wieder auf das Sofa fallen. Als mir gerade die Augen zufallen, rieche ich es. Ich schnuppere. Ah, das riecht nach dieser leckeren Hundewurst. Ich reiße die Augen auf und schnuppere noch mal. Die mit Rind. Die mag ich am liebsten. Aber die mit Lamm ist auch nicht schlecht! Und die mit Huhn erst. Ich merke, wie mir der Sabber aus dem Maul tropft, und schlucke. Der Geruch ist nicht besonders stark, so, als würde die Wurst noch in der Verpackung liegen. Das wäre natürlich kein Problem für mich: Die Verpackung, die ich nicht ratzfatz aufgerissen bekomme, muss erst noch erfunden werden. Ich setze mich hin und schnüffle erneut. Ein kleiner Hauch Hundekotze ist auch auszumachen, aber hey, wer bin ich, dass mich das abschrecken würde? Damals, als Straßenhund in Ungarn, habe ich noch ganz andere Sachen gefressen. Der Geruch kommt eindeutig vom Couchtisch und wird ein wenig stärker, als ich auf dem Sofa nach vorn rutsche und den Kopf auf den Tisch lege. Klar darf ich das eigentlich nicht, aber ich finde, man darf sich bloß nicht erwischen lassen. Ein Blick zu Tina – sie quasselt immer noch in diesen kleinen Kasten und beachtet mich gar nicht. Hmm, wo ist die Wurst denn bloß? Ich sehe sie nicht, aber dafür liegt ein Knochen auf dem Tisch. Ein kleiner zwar nur, aber ich bin nicht wählerisch. Einen kleinen Snack zwischendurch kann ich immer vertragen. Gaaanz langsam steige ich von der Couch, so, als hätte ich das sowieso vorgehabt, strecke mich ausgiebig und pirsche mich an den Knochen ran. Natürlich weiß ich, dass ich nichts vom Tisch nehmen darf, aber wenn den Menschen das so wichtig ist, warum sind ihre Tische dann nicht höher? Jetzt bin ich auf gleicher Höhe mit dem Knochen, ein schneller Schlenker mit dem Kopf, kurz zugepackt, und ich habe ihn! Ich renne zur Terrassentür und lege mich auf den Fußabtreter, dann fange ich an zu kauen. Der Knochen ist so winzig, dass es schwierig ist, ihn zwischen die Zähne zu bekommen. Ich könnte ihn natürlich in einem Stück runterschlucken, aber da ich eigentlich nicht hungrig bin, lasse ich mir Zeit. Ich puhle mit der Zunge an meinem Reißzahn herum, denn irgendwie ist der Knochen dahinter gerutscht und klebt jetzt zwischen Zahn und Lefze. Ich kaue, doch ich bekomme ihn nicht zu packen. Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ich werde doch wohl noch so einen mickrigen Knochen, der übrigens einen komisch süßlichen Beigeschmack hat, auffressen können! Ich nehme die Pfote und versuche, den Knochen aus der Lücke zu kratzen. Er lockert sich ein wenig und rutscht mir direkt vor den Reißzahn. Ich öffne das Maul, um kräftig zuzubeißen und ...
»SWATT! AUS! SOFORT!«
Tina sprang vom Sofa auf und rannte zu ihrem Hund, der sie mit großen Augen ansah. »AUS!« Swatt spuckte ihr den Knochen vor die Füße und sah sie vorwurfsvoll an.
»Guck nicht so, der war nicht für dich!« Tina bückte sich und hob den Knochen auf. Er war voller Speichel, aber offensichtlich nicht angeknabbert.
»Du bist ein Chaot, Swatt, wirklich. Das hätte noch gefehlt, dass du den gefressen hättest. Dann hättest du auch eine Runde Brechmittel bekommen müssen.«
Swatt wedelte und blickte in die Küche, wo neben der Spüle ein Glas mit Hundeleckerlis auf der Arbeitsplatte stand.
»Vergiss es. Dafür gibt es nicht auch noch eine Belohnung.« Tina wischte den Knochen mit einem Küchentuch trocken und steckte ihn in eine kleine Plastiktüte. Die Tüte legte sie ins oberste Regal ihres Wohnzimmerschranks.
Danach ließ sie sich wieder auf das Sofa fallen und griff nach ihrer Tasse. Von wem stammte der Finger bloß? Wenn es wirklich ein Menschenknochen war, würde sie Jan einschalten, und wenn nicht, war es eh egal. Aber was sollte es sonst sein?
Am nächsten Tag machten sich Tina und Sanne nach der Vormittagssprechstunde auf den kurzen Weg nach Tramm. Sanne hatte mit Toni ausgemacht, dass sie den Futterbetrieb in der Mittagspause besichtigen konnten. Sie fuhren in Tinas Isuzu Pick-up in den kleinen Ort am Trammer See, der nur aus einem Bauernhof und einer Handvoll Häusern bestand, und bogen auf den kleinen Parkplatz des Betriebes ab, der Platz für vier Kunden und drei Angestellte bot. Es stand kein anderes Auto auf dem Kundenparkplatz, aber die drei Parkplätze daneben waren belegt. Eine schwarze Harley stand etwas abseits unter einem Vordach.
»Die Harley gehört bestimmt Toni. Er hat immer erzählt, dass er irgendwann mal so ein Teil haben würde«, sagte Sanne.
»Der Betrieb scheint ja gut was abzuwerfen.« Tina wählte einen Parkplatz unter einem Ahornbaum, dessen Blätter bereits anfingen, sich gelb zu verfärben, und stieg aus. Swatt wollte sich an ihr vorbeidrängeln, doch sie schob ihn zurück.
»Ihr bleibt drin. Für euch wäre es das Paradies auf Erden, aber leider ist es für Hunde verboten.«
Langsam ließ Swatt sich auf sein Hinterteil sinken und sah Tina mit einem so ungläubigen Blick an, dass sie lachen musste.
»Wir kommen gleich wieder. Nimm dir ein Beispiel an Daisy, die hat es sich schon wieder gemütlich gemacht.«
Tina schlug die Tür zu und verriegelte sie mit der Fernbedienung. »Dann wollen wir mal.«
Sie betrachtete das Gebäude, in dem der Tierfutterbetrieb untergebracht war. Es war ein zweigeschossiges Backsteingebäude mit einem anscheinend neu gedeckten Ziegeldach. Links befand sich eine Tür, über der das Logo des Betriebes prangte. Es zeigte einen Fressnapf, auf dessen linker Seite ein Hund und rechts eine Katze standen, die aus dem Napf fraßen. Darunter stand in geschwungenen grünen Buchstaben »Canis et Felis«. Unter dem Logo stand »Futterstübchen, Verkauf ab Werk«. Rechts war eine Laderampe zu sehen mit einem geschlossenen Rolltor dahinter. Tina ging zur Eingangstür, öffnete sie und hielt Sanne die Tür auf. Die beiden Frauen betraten einen Vorraum, in dem ein dunkelhaariger, etwa eins fünfundachtzig großer, muskulöser Mann stand und sich mit einer blonden, zierlichen Frau um die Vierzig unterhielt, die in einem winzigen Büro hinter einem etwas angeschlagen aussehenden Schreibtisch aus Kiefernholz saß. Bei ihrem Eintreten blickte der Mann auf.
»Sanne, Schatz!«, rief er und kam auf sie zu. Er umarmte Sanne und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Dann streckte er Tina die rechte Hand hin. Tina sah ein Tattoo von einem Schlangenkopf unter dem Ärmel seines weißen Kittels hervorblitzen.
»Moin. Ich bin Anton, und du musst Tina sein.«
»Freut mich«, erwiderte Tina und schüttelte Antons Hand. »Ist Felix auch da?«, fragte Sanne.
Anton leckte sich über die Oberlippe, und Tina fiel auf, dass er Sanne nicht ansah, als er antwortete. »Felix ist ... ein paar Tage weggefahren.«
»Ach. Wohin denn?«
»Er kommt bald wieder«, erwiderte Anton. »So, und ihr wollt unseren kleinen Betrieb besichtigen. Das finde ich echt toll. Die meisten unserer Freunde waren noch nie hier. Es ist ihnen zu eklig. Dabei ist es nicht viel anders als in einer Wurstfabrik, in der Würstchen für Menschen hergestellt werden.«
»Das ist typisch. Fleisch und Wurst essen sie alle, aber keiner will sich bewusst machen, dass die süßen Kälbchen oder Ferkel irgendwann zerstückelt in der Fleischtheke liegen«, sagte Tina.
»Dass du immer gleich so drastisch sein musst, Tina«, sagte Sanne.
»Ist doch aber wahr.«
»Mir würde echt was fehlen ohne Fleisch und vor allem ohne Wurst. Beim Schlachter im Edeka haben sie eine irre leckere Bratwurst.« Sanne sah so aus, als würde ihr gleich der Speichel aus dem Mund tropfen. »Und erst diese leckere grobe Leberwurst. Und die Mettwurst mit den ganzen Senfkörnern!«
»Sanne, wir wollen hier mal so langsam anfangen. Meinst du, du hältst es noch ein Stündchen ohne Wurst aus?«, fragte Tina.
»Ich werde mich bemühen. Auf dem Rückweg muss ich aber auf jeden Fall bei Edeka vorbeifahren.«
»Unsere Hundewurst hat Lebensmittelqualität. Die könntest du auch essen, Sanne.«
Sanne zog die Nase kraus. »Öch nö, lass mal stecken, Toni. So hungrig kann ich gar nicht werden, dass ich freiwillig Hundewurst essen würde. Vor allem, wenn da wieder ein ...«
Sanne unterbrach sich und sah Tina erschrocken an.
»Wenn da wieder was?«, fragte Anton.
»Wenn da wieder Pansen drin ist. Pansen finde ich echt voll eklig«, erwiderte Sanne schnell.
»In der Wurst ist kein Pansen, nur Muskelfleisch und Gemüse. Und Euter natürlich.«
»Ich glaube, ich warte draußen«, sagte Sanne, die ein wenig blass um die Nase wurde.
»Ach komm, das ist alles total hygienisch und gar nicht eklig oder so«, sagte Anton.
Sanne atmete tief durch. »Na gut.«
»Wenn ihr eure Kittel angezogen habt, kann es losgehen.« Anton reichte den beiden Frauen zwei weiße, wadenlange Kittel mit langen Ärmeln. »Diese Hauben müsst ihr auch noch aufsetzen. Wir nehmen es mit der Hygiene sehr genau, eben weil das Futter Lebensmittelqualität hat.«
Sanne zog den Kittel über und setzte die Haube auf ihre rot gefärbten, kurzen, zu Stacheln hochgegelten Haare. »Okay, Frau Doktor, wir können operieren.«
Tina grinste und kleidete sich ebenfalls schnell an.
Auch Anton setzte eine Haube auf seine offenbar erst kürzlich geschnittenen, streichholzkurzen Haare und öffnete eine schwere Edelstahltür, die sich gegenüber dem Büro der Sekretärin befand.
»Hier ist die Hygieneschleuse«, sagte er und trat als Erster in ein Gerät, das die Schuhe desinfizierte und das außerdem über ein Waschbecken, einen Händetrockner und eine Handdesinfektionsstation verfügte. Nachdem auch Tina und Sanne die Hygieneschleuse passiert hatten, führte Anton sie in die Halle, deren Boden und Wände weiß gefliest waren. Es roch intensiv nach rohem Fleisch, nach Blut und nach etwas anderem, Durchdringendem. Tina brauchte einen Moment, bis sie es als den Geruch von grünem Pansen identifiziert hatte. Dieser lag in einem großen weißen Plastikbehälter, der in der rechten vorderen Ecke des Raumes auf einem Hubwagen stand. Tina sah, dass Sanne versuchte, möglichst flach zu atmen. Es waren mehrere Geräte aus Edelstahl zu sehen, an denen drei Leute beschäftigt waren. Die lauten Geräusche der verschiedenen Maschinen machten es schwierig, Antons Erklärungen zu verstehen.
»Das ist unser neuer Cutter«, sagte er mit leuchtenden Augen und trat an ein etwa brusthohes Gerät heran, das aussah wie eine überdimensionierte Küchenmaschine. »Dreißig-Liter-Schüssel, komplett aus Edelstahl, maximal viertausendfünfhundert Umdrehungen, stufenlos einstellbar, Digitalanzeige und richtig leise. Den haben wir echt günstig bei eBay geschossen.«
Das Gerät bestand aus einer großen, sich drehenden Schüssel, die aus einem Edelstahlgehäuse hervorragte. Verschiedene Knöpfe und drei Anzeigen waren zu sehen. Tina beugte sich vor, um sich die Anzeigen genauer anzusehen.
»Messerdrehzahl, Gang und Temperatur«, las sie vor.
»Praktisch, oder? Unser alter Cutter musste noch mit Eiswasser gekühlt werden, bei dem hier wird die Schüssel automatisch kühl gehalten.«
Ein ebenfalls in einen weißen Kittel gekleideter Mann, unter dessen Haube einige Strähnen hellblonder Haare hervorragten, war dabei, große Fleischstücke aus einem Plastikkorb in den Cutter zu legen. Das Messer in der Mitte der Schüssel zerkleinerte das Fleisch mühelos. Als der Korb leer war, ging der Mann zu einem Plastiknapf und streute ein braunes Pulver über die Fleischmasse.
»Vitamin-Mineralstoff-Mischung«, erklärte Anton. »Die Leber und das Euter sind schon drin. Später kommen noch die Kartoffeln, die Möhren und die Pastinaken dazu.«
Tina beobachtete, wie das Pulver unter das Fleisch gemischt wurde. Im Verlauf ihrer Unterhaltung war es schon viel feiner zerkleinert worden und hatte eine einheitliche rosabraune Farbe angenommen.
»Und jetzt zeige ich euch, wo wir die getrockneten Ohren, die Trockenlunge und das andere Dörrfleisch herstellen«, sagte Anton.
Sanne war auffällig ruhig geworden. Tina blickte zu ihr hinüber und sah, dass sie blass aussah und heftige Schluckbewegungen machte.