Ein klarer Tag - Carys Davies - E-Book

Ein klarer Tag E-Book

Carys Davies

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine einsame Shetlandinsel. Zwei Männer aus unterschiedlichen Welten. Eine zerbrechliche Freundschaft. Dies ist eines der Bücher, die man unmöglich vergisst.

Es ist ein kalter Sommertag 1843, als John Ferguson nach einer stürmischen Überfahrt die kleine, karge Insel im Nordmeer erreicht. Für einen Monat ist der verarmte Pfarrer von der schottischen Freikirche hierhergeschickt worden, um Ivar, den letzten verbliebenen Bewohner, von der Insel wegzuschaffen. Im Auftrag des Gutsbesitzers soll er den großen, stillen Mann samt seinen wenigen Habseligkeiten mit dem nächsten Schiff nach Aberdeen bringen, von seinem Zuhause verjagen. So wie all die Schafbauern in den Highlands, die im Zuge der »Clearances« bereits alles verloren haben. Trotz moralischer Bedenken hat der idealistische Ferguson diesen Auftrag angenommen. Seine Frau Mary indes befürchtet, dass ihr Mann nicht von dieser Reise zurückkehren könnte. Zu naiv, zu weltfremd, zu gutgläubig ist er. Und tatsächlich stürzt Ferguson schon kurz nach seiner Ankunft von einer Klippe und verletzt sich schwer. Er ist dem Mann ausgeliefert, den er von dem Eiland vertreiben soll. Und dessen Güte Fergusons Gewissen vor eine schwierige Entscheidung stellt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 167

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Der gefeierte neue Roman von Carys Davies über eine einsame Shetlandinsel und eine Begegnung, die das Leben dreier Menschen für immer verändert. »Die schiere Schönheit dieses Romans hat etwas Zeitloses.« Hernán Díaz

Es ist ein kalter Sommertag 1843, als John Ferguson nach einer stürmischen Überfahrt die kleine, karge Insel im Nordmeer erreicht. Für einen Monat ist der verarmte Pfarrer von der schottischen Freikirche hierhergeschickt worden, um Ivar, den letzten verbliebenen Bewohner, von der Insel wegzuschaffen. Im Auftrag des Gutsbesitzers soll er den großen, stillen Mann samt seinen wenigen Habseligkeiten mit dem nächsten Schiff nach Aberdeen bringen, von seinem Zuhause verjagen. So wie all die Schafbauern in den Highlands, die im Zuge der »Clearances« bereits alles verloren haben. Trotz moralischer Bedenken hat der idealistische Ferguson diesen Auftrag angenommen. Seine Frau Mary indes befürchtet, dass ihr Mann nicht von dieser Reise zurückkehren könnte. Zu naiv, zu weltfremd, zu gutgläubig ist er. Und tatsächlich stürzt Ferguson schon kurz nach seiner Ankunft von einer Klippe und verletzt sich schwer. Er ist dem Mann ausgeliefert, den er von dem Eiland vertreiben soll. Und dessen Güte Fergusons Gewissen vor eine schwierige Entscheidung stellt.

Zur Autorin

Carys Davies stammt aus Wales und lebt heute – nach vielen Jahren in Chicago und New York – in Edinburgh. Sie gilt als »überragendes Erzähltalent« (Colm Tóibín). Bei Luchterhand ist zuvor ihr Roman WEST erschienen. Für ihre Romane und Kurzgeschichtensammlungen wurde Carys Davies mehrfach mit Preisen ausgezeichnet.

Eva Bonné übersetzt Literatur aus dem Englischen, u. a. von Rachel Cusk, Anne Enright, Michael Cunningham, Claire-Louise Bennett und Abdulrazak Gurnah. Sie wurde mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.

Carys Davies

Ein klarer Tag

Roman

Aus dem Englischen von Eva Bonné

Luchterhand

Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »CLEAR« bei Scribner, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Verlag bedankt sich für die freundliche Förderung durch Wales Literature Exchange.

Luchterhand Literaturverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2024 Carys Davies

Translation rights arranged by The Clegg Agency, Inc., USA.

Umschlaggestaltung: buxdesign | München

unter Verwendung eines Motivs von © Christie’s Images / Bridgeman Images

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-31878-9V001 

www.luchterhand-literaturverlag.de

facebook.com/luchterhandverlag

für Michael

Er wünschte, er könnte schwimmen. Der Schwimmgürtel fühlte sich viel zu leicht und lose an. Dass man ihm versichert hatte, er brauche sich keine Sorgen zu machen, schließlich könnten die anderen Männer auch nicht schwimmen, war ihm kein Trost.

Jedes Mal, wenn sie in die Höhe gehoben wurden, erhaschte er einen Blick auf die Klippen und das felsige Ufer, wo es scheinbar nirgendwo eine Stelle zum Anlanden gab; sobald es wieder abwärts ging, verschwanden die Felsen hinter einer flüssigen grauen Wand.

Er schloss die Augen.

Fump.

Lieber Gott.

Als das kleine Boot emporstieg, klammerte er sich ans Dollbord und entdeckte tausend Vögel, die hoch über den Felsen kreisten. Als es in Schräglage geriet und er an die gegenüberliegende Bordwand geschleudert wurde, war er fest überzeugt, das Ende sei nah.

Doch nach einer Stunde auf rauer See – die einer der Männer später nur als »kabbelig« bezeichnete – wurde John Ferguson sicher abgesetzt und fand sich wohlbehalten und samt Reisetasche und Holzkiste auf einem schmalen Streifen Sandstrand wieder, der sich entgegen aller Vermutungen im Schatten der monströsen Klippen dahinzog.

Oh, was für eine Erleichterung, festen Boden unter den nassen Füßen zu spüren!

Welche Erleichterung zu sehen, wie das Wasser von seinem Mantel auf den festen Sand tropfte und wie in der Ferne das Verwalterhaus aufragte, genau so, wie Strachan es beschrieben hatte, hell und beinahe leuchtend im silbrig trüben Nachmittagslicht.

Mit vor Kälte steifen Fingern löste er den Schwimmgürtel und warf ihn fröhlich ins Ruderboot. Er zog sich die Krawatte vom Hals, wrang sie aus und legte sie wieder an. Er drückte sich das Meerwasser aus den Ärmeln und Taschen seines Mantels und sprang ein paarmal in den nassen Schuhen auf und ab, um sich aufzuwärmen. Er dankte Gott für die Rettung.

Bevor die Männer über das aufgewühlte Meer zur Lily Rose zurückkehrten, hatten sie eine letzte Aufgabe zu erledigen. Einer trug die Kiste zum Haus hinauf, während John Ferguson mit der Reisetasche folgte. Er stieg über die Steine wie ein großer, abgezehrter Watvogel. Während der stürmische Wind ihm das dünne schwarze Haar senkrecht in die Höhe blies, sagte er zu seiner abwesenden Frau:

»Siehst du, Mary, alles ist in Ordnung. Ich bin da. Ich bin angekommen und in Sicherheit. Du hast keinen Grund mehr, dir Sorgen zu machen. Ich werde tun, was ich tun muss, und ehe du dichs versiehst, bin ich wieder zu Hause.«

Das Wetter war ruhig, der Regen sanft.

Ivar arbeitete den ganzen Vormittag. Er verteilte überall dort, wo der Sturm Löcher ins Dach gerissen hatte, frisches Stroh und Grassoden, sicherte es mit struppigen Seilen und beschwerte es mit Steinen. Die Arbeit war schön und beruhigend. Er kletterte unzählige Male hinauf und wieder herunter, stiefelte durch den Morast und legte immer wieder Pausen ein, um das Messer nachzuschärfen.

Als es Abend wurde, kauerte er sich ans Feuer und kochte sich etwas zu essen. Die Milch ließ er köcheln, bis sie so dunkel und bitter war, wie er sie am liebsten mochte. Nach dem Essen kratzte er den Topf aus, wischte den Ruß von der Unterseite, setzte sich in seinen Sessel und nahm den Topf auf den Schoß; es war die Jahreszeit der langen Tage und kurzen Nächte, in der Ivar sich kaum die Mühe machte, sich zum Schlafen hinzulegen.

Draußen, vor den dicken Steinmauern seines Hauses, verschwanden die Umrisse der Insel kurzzeitig in der Dunkelheit, ohne sich jedoch ganz aufzulösen, und kurz darauf schob sich durch die Dachöffnung über der Feuerstelle eine Lichtsäule herein, in der sich Spreu, Fischschuppen und Wollflaum langsam drehten.

Das Licht wanderte über den festgestampften Lehmboden, die niedrige Tischkante und den Topf auf Ivars Schoß, erhellte sein Gesicht – er schlief – und ließ es aus dem dunklen Raum hervortreten wie in einem Gemälde – faltig und wettergegerbt, schwer, wie gemeißelt; nicht alt, aber auch nicht mehr jung.

Seine Haare hatten die Farbe von dreckigem Stroh, der volle Bart war dunkler, fast braun, und vielleicht tatsächlich dreckig. Links vom Kinn leuchtete ein hellgrauer Fleck wie der Handabdruck eines Kindes. Weil Ivar keinen Spiegel besaß, reichte seine Vorstellung von seinem Aussehen nicht über das vage Bild hinaus, das er manchmal in den Tümpeln und Pfützen der Insel erblickte. Er nahm sich fast nur in Bezug auf seine Umgebung wahr – er war so groß, dass er in dem kleinen Haus mit der niedrigen Decke den Kopf einziehen musste; er war so breit, dass er den Türrahmen mühelos ausfüllte; er war trotz der langen Krankheit im letzten Winter stark genug, um seine Aufgaben zu erfüllen.

In der Morgendämmerung trat er hinaus.

Der Bach unterhalb des Hauses war im Regen angeschwollen, der Boden aufgeweicht. An der Quelle schwappte der Schlamm über Ivars Stiefel.

Er gab der alten Kuh Wasser zu trinken, überprüfte den Knoten an ihrem Strick und machte sich dann auf die Suche nach Pegi. Sie stand draußen auf der Weide. Er plauderte eine Weile mit ihr, nannte sie einen alten Kohlkopf und ein dummes Ding und gab ihr viele andere Kosenamen, die er in seiner Sprache für sie hatte. Im frühen Morgenlicht wirkte ihr graues Fell mit dem bläulich gelben Stich stumpf und verstaubt.

»Prus!«, sagte er schließlich. Mit dem Wort teilte er ihr mit, dass sie viel Arbeit vor sich hatten. Es war an der Zeit, in die Hufe zu kommen.

John Ferguson hatte die Tür aufgeschlossen und das Verwalterhaus betreten. Nun kippte er den Inhalt seiner Reisetasche auf das schmale Bett: ein Ersatzhemd und eine zweite Garnitur Unterwäsche, Kamm und Seife, ein Kassenbuch in einem blauen Leineneinband und andere Unterlagen, seine Schreibutensilien und Marys Foto im geprägten Lederrahmen, Pistole, Schwarzpulver, Munition.

Das Haus war weniger einladend, als Strachan angekündigt hatte. Früher mochte es hier gemütlich gewesen sein, aber diese Zeiten waren lange vorbei.

Auf dem schmalen, eisernen Bettgestell lag eine Matratze, aber keine Decke, und die einzigen anderen Möbelstücke waren ein niedriger dreibeiniger Tisch und ein Hocker. Er fragte sich, ob er in der Kirche womöglich besser aufgehoben wäre, aber als er, sobald der Himmel aufgeklart war, hinlief, um sich dort umzusehen, fand er nur ein kleines graues Gemäuer mit Ecken voller Heu und eingestürztem Dach vor.

Nun ja.

Immerhin stand in der Feuerstelle ein Kochtopf, und auf einem Sims an der Rückseite des Hauses entdeckte er ein kleines Torflager. Außerdem hatte er noch die Kiste mit Marys Früchtebrot und den anderen Vorräten. Alle diese Dinge waren ein Segen, und er murmelte für jeden davon ein kleines Dankgebet.

Er erinnerte sich daran, dass er die lange, furchtbare Überfahrt überstanden hatte und endlich nicht mehr seekrank war. Auch dafür bedankte er sich, und dann ließ er sich auf den Hocker sinken und machte sich bewusst, dass er für die Reise bezahlt wurde.

Also.

Er würde ein Feuer machen, seine Kleidung trocknen und sich etwas zu essen kochen, und dann würde er ausschlafen und am nächsten Morgen die kleine Insel erkunden. Er würde sich einen Tag gönnen, um sich zu sammeln, und dann würde er losgehen und mit dem Mann reden.

Ivar führte Pegi an der Quelle vorbei und um den spitzen Hügel herum. Die leeren Weidenkörbe auf ihrem Rücken knarzten bei jedem Schritt.

Sie trotteten weiter, bis unterhalb des weißen Hügels eine Landzunge in Sicht kam. Bei Hochwasser war sie überflutet, bei Ebbe lag sie frei.

Jetzt war sie trocken, ein lang gezogener Erdwall, der wie ein Steg aufs Wasser hinausragte. Ivar ließ Pegi grasen und marschierte geradewegs auf die Landzunge zu, unterm Arm die Holzkiste, in der er seine Köder sammelte und aufbewahrte.

Der Wind hatte sich gelegt. Vom Meer kam nur noch eine laue Brise herüber, die sanft und stetig seinen Körper und sein Gesicht streichelte. Er blieb kurz stehen, um sich von der Luft das Haar zerzausen zu lassen. Im letzten Frühjahr war er nur selten draußen gewesen, zum einen wegen seiner Krankheit und zum anderen wegen des schlechten Wetters. Es war zu stürmisch für irgendwelche Arbeiten unter freiem Himmel gewesen, geschweige denn für einen Angelausflug an den Strand. Das Meer hatte wild getobt und schwere Brecher auf den Sand geworfen, und die Gischt hatte einen dichten Dunstschleier über die Küste gezogen. Ivar hatte die meiste Zeit strickend im Sessel an der Feuerstelle verbracht oder auf einem Hocker in Pegis Stall. Hin und wieder hatte er mit ihr geredet, aber eigentlich nur ihre Gesellschaft genossen und sich mit einer Socke oder einer Mütze beschäftigt, mit was immer er gerade strickte. Daran erinnerte er sich, als er nun bei leichtem Wind über den Erdwall zwischen den beiden Wasserflächen lief – an das Vergnügen, still neben Pegi zu sitzen und zu stricken. Die Nadeln in seinen Händen hatten sich kaum bewegt, nichts im Stall hatte sich gerührt außer einem Spinnennetz, das knapp über dem Boden in der Luft gezittert hatte.

Im Gehen beugte er sich über Pfützen, pflückte Napfschnecken von den Felsen und warf sie in die Köderkiste, und dann lief er zurück zur grasenden Pegi. Zusammen umrundeten sie den weißen Hügel und stiegen zu den Klippen hinauf, vorbei an der Kirche, die ihm als Heuschober diente, und an der Mauer entlang, die den Friedhof vom Grasland trennte. Sie passierten das Verwalterhaus und den Teich, in dem seine Mutter und seine Großmutter die Welpen ertränkt hatten. Dort überlegte er sich, bis zur Bucht weiterzugehen und etwas Gras für die Abendfütterung der Kuh zu holen. Aber er hatte Hunger und seit der Milch am Vorabend nichts zu sich genommen, außerdem war er von der kurzen Nacht in dem großen Sessel immer noch müde. »Ivar, du solltest nach Hause gehen«, sagte er zu sich selbst. »Nach dem Frühstück wird es dir besser gehen.«

Daran wird er sich natürlich erinnern – an den Moment, als er oberhalb des Verwalterhauses stand und nicht entscheiden konnte, ob er nach Hause zurückkehren oder zur Bucht weitergehen und Gras holen sollte; er wird sich daran erinnern, dass er hinunterblickte und nichts Ungewöhnliches entdecken konnte, weder Rauch noch eine geöffnete Tür; nichts, was er nicht erwartet hätte.

Im Verwalterhaus hatte John Ferguson es nicht geschafft, ein Feuer zu entfachen, folglich konnte er weder seine Kleidung trocknen noch eine Mahlzeit zubereiten.

Wie sich herausstellte, war der Torf, den er auf dem geschützten Mauervorsprung hinter dem Haus gefunden hatte, von Lehm durchzogen und praktisch unbrennbar. Am Ende hatte er ein Stück von Marys Früchtebrot gegessen und sich dann in seiner feuchten Kleidung für ein paar unbequeme Stunden auf dem kalten Eisenbett ausgestreckt.

Sobald es draußen hell wurde, stand er auf und sagte sich, dass er sich immerhin waschen und die Haare kämmen konnte. Strachan hatte ihm erzählt, die nächste Quelle sei nur einen kurzen Fußmarsch vom Haus entfernt. Vielleicht würde der Tag warm werden, in dem Fall könnte er seine Kleidung auf dem Heidekraut ausbreiten, und während er darauf wartete, dass sie trocknete, könnte er sich vielleicht ein paar Notizen und Gedanken machen und sich auf das Gespräch mit dem Mann vorbereiten.

Das Wichtigste war jetzt, nicht den Mut zu verlieren. Sich daran zu erinnern, dass er eine Aufgabe zu erledigen hatte und dass der Zweck die Mittel heiligte.

John Ferguson betete hastig, schob die Füße in die nassen Schuhe, griff zu der Pistole auf dem Bett und legte sie zusammen mit dem Pulver und der Munition in die Kiste zurück.

Die restlichen Sachen steckte er in seine Reisetasche – den Kamm und die Seife, die Büchse mit den Schreibutensilien, Marys Bild und Lowries Hauptbuch, die saubere Unterwäsche und das Ersatzhemd, das nach der wilden Überfahrt von der Lily Rose ebenso nass war wie die Kleidung, die er am Leib trug. Dann verließ er das Haus und zog die wuchtige, schwergängige Tür von außen zu.

Der Tag war klar, nur über dem fernen Horizont stand ein dünnes Wolkenband. Hätte man an jenem Morgen hoch über der Insel geschwebt, an der Seite von Tölpeln und Gänsen, Papageientauchern, Kormoranen und Austernfischern, wäre John Ferguson als winzig kleiner schwarzer Fleck erschienen, der sich vom Verwalterhaus durch rosa Grasnelken und üppiges grünes Gras bewegte. Man hätte gesehen, wie er am Rand der Heide stehen blieb, sich auszog und seine Kleidung samt der Sachen aus seiner Reisetasche am Boden ausbreitete. Wie der Fleck (inzwischen elfenbeinweiß statt schwarz) durch das Schilf an der Quelle planschte, sich ein paar Notizen in einem dunkelblauen Buch machte und dann seinen Weg fortsetzte, kurioserweise mit nichts am Leib als der Tasche und den halb getrockneten Schuhe. Er bewegte sich auf die Klippenkante zu und betrat einen steilen, felsigen Pfad. Man hätte sehen können, wie er, einem ungeschickten Eiskunstläufer gleich, auf dem rutschigen Gestein mit den Armen ruderte, und zuletzt hätte man gesehen, dass der Fleck verschwand; und die Tasche segelte in hohem Bogen durch die Luft und wurde vom kalten Nordwind davongetragen wie ein unbeholfener brauner Vogel.

An der Bucht entschied Ivar sich gegen ein Frühstück und machte sich an die Arbeit. Er bückte sich und riss das saftige Gras in großen Büscheln aus den Lücken zwischen den Steinen. Er rupfte es im Vorbeigehen ab, und am Ende der Bucht blieb er stehen, richtete sich auf und sah aufs Wasser hinaus.

Als er krank gewesen war, hatten sich oft dunkle, bewegliche Flecken in sein Sichtfeld geschoben, schwarze Schemen, die bei jeder Bewegung vor seinen Augen tanzten, also hatte er sich eine Zeit lang gar nicht mehr bewegt. In seiner Sprache gab es ein Wort für Wasser, das einen Felsen bedeckt und dann wieder freigibt, und genau dieses Wort hätte auf perfekte Weise das dunkle, unförmige Objekt beschrieben, das zwischen den flachen Wellen verschwand und dann wieder erschien. Ivar blinzelte, und als der dunkle Fleck sich nicht auflöste, ließ er das Gras fallen und watete hinaus. Im selben Moment hob der Wind an, die Böen wurden stärker; sobald Ivar die Arme nach der dunklen Masse ausstreckte, wurde sie außer Reichweite getragen. Pegi stand mit gesenktem Kopf am Ufer, der Wind peitschte Sand gegen ihre Flanken und in ihre Augen. Ivar langte wieder nach dem Treibgut, und diesmal erwischte er eine Ecke davon und zog es an sich.

Danach stand er lange Zeit auf dem Strand und sah dem abebbenden Wasser nach. Der Wind trieb Nebel und einen feinen Nieselregen vor sich her. Hinter Ivar rann das Regenwasser glucksend an den Felsen abwärts. Er sah Papageientaucher, Robben und Kormorane, aber das war alles; über eine Stunde stand er da, ohne irgendwas oder irgendwen zu entdecken, weder ein großes Schiff noch ein kleines Boot. Schließlich stopfte er das Gras in Pegis Körbe, schulterte die fremde Tasche, kehrte dem Strand den Rücken und ging nach Hause.

*

In der Tasche fand er einen Stapel nasses, in blauen Stoff eingebundenes Papier; einen Kamm, wie Hanus ihn damals aus Bergen mitgebracht hatte, nur kleiner und mit glatteren Zinken; ein Stück hafergelbe Seife, weich und glitschig vom Meerwasser; eine Büchse mit einem Klappmesser und anderen Instrumenten, vermutlich Schreibgeräte; und ganz am Boden, unter den Papieren, fand er eine dunkelhaarige Frau in einem Lederrahmen, die ihn durch das gesprungene Glas hindurch schüchtern und geheimnisvoll anlächelte.

Der bräunliche Hintergrund war verschwommen. Anscheinend stand die Frau in der körnigen Dämmerung eines frühen Winternachmittags. Sie selbst wirkte vollkommen lebendig, sehr viel lebendiger noch als die Frauen in seiner Erinnerung – Jenny, seine Mutter, seine Großmutter. So etwas wie diese Frau hatte er noch nie gesehen. Er berührte sie mit Fingerspitzen und erwartete fast, dass sie sich bewegte. Er kniete eine ganze Weile vor dem Feuer und betrachtete sie.

Als er sich schließlich erhob und sie auf dem Regal über der Feuerstelle an die Wand lehnte, war es schon spät. Er trennte die durchweichten Blätter voneinander und breitete sie vor dem Feuer zum Trocknen aus. Falls sie beschrieben gewesen waren – mit Wörtern in Englisch, Schottisch, Dänisch, Norwegisch oder irgendeiner anderen Sprache, die er weder verstehen noch lesen konnte –, hatte das Wasser sie fortgespült. Er wrang den blauen Stoffeinband aus und legte ihn dazu. Er schnüffelte an der Seife, die aber nur nach dem Meer roch. Er legte sie neben den Kamm, und obwohl das Feuer alles beleuchtete, zündete er die Lampe an und betrachtete noch einmal den trüben, verschwommenen Hintergrund und die lächelnde dunkelhaarige Frau, die unter dem Glas so lebendig wirkte.

Bei Mary Fergusons Bild im geprägten Lederrahmen handelte es sich um eine Kalotypie von Robert Adamson.

Das Porträt war in Edinburgh entstanden, eine Woche nach der Heirat und einen Monat, bevor Reverend John Ferguson sein Amt im nördlichen Stadtbezirk Broughton aufgab, sich der Schottischen Freikirche anschloss und damit bettelarm wurde.

»Ein Bild? O nein, John! Doch nicht von mir! Bitte nicht.«

Aber John Ferguson wollte sich in seiner Begeisterung nicht abwimmeln lassen. »Kein Bild, Mary. Eine Kalotypie. Sie bietet uns die Möglichkeit, ein lebensechtes Porträt zu schaffen. Abgeleitet aus dem Griechischen kalos. Das bedeutet schön.«

John war selbst schon bei Adamson gewesen, einem jungen Fotografen, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, möglichst viele Pfarrer der neuen Freikirche in seinem Atelier am Fuß des Calton Hill zu versammeln. Sein Freund, der Maler David Octavius Hill, würde die Porträts auf eine riesige Leinwand kopieren, zum Gedenken an die historische Abspaltung der neuen Kirche von der alten.