Ein kleiner Held & Onkelchens Traum - Zwei Novellen - Fjodor M Dostojewski - E-Book

Ein kleiner Held & Onkelchens Traum - Zwei Novellen E-Book

Fjodor M. Dostojewski

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Beschreibung

In dieser Novellensammlung zeigt Dostojewski sich von seiner humoristisch-satirischen Seite und das, obwohl er auch hier die vorherrschende gesellschaftliche Situation in Russland kritisiert. So beschreibt er in "Onkelchens Traum" die Verwicklungen einer Kleinstadt, die intriganten Machenschaften Einzelner und die Verführung eines reichen senilen Mannes. In "Der kleine Held" begibt sich der Autor stattdessen in den Kopf eines 11-jährigen Jungen, der versucht seine erste Liebe durch Heldenmut zu beeindrucken und dabei mehr als einmal zum Gespött der gehobenen Gesellschaft wird.-

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Fjodor M Dostojewski

Ein kleiner Held & Onkelchens Traum - Zwei Novellen

Übersezt von Hermann Röhl

Saga

Ein kleiner Held & Onkelchens Traum - Zwei Novellen

 

Übersezt von Hermann Röhl

 

Titel der Originalausgabe: Malen’kij geroj/Djaduškin son

 

Originalsprache: Russisch

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1922, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726981391

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Ein kleiner Held

(Aus unbekannten Memoiren)

Ich war damals noch nicht ganz elf Jahre alt. Im Juli wurde ich nach einem in der Nähe von Moskau gelegenen Gute zum Besuche bei einem Verwandten von mir, Herrn I***w, geschickt, bei dem zu jener Zeit etwa fünfzig Gäste versammelt waren; vielleicht waren es auch noch mehr, ich erinnere mich nicht, gezählt habe ich sie nicht. Es ging lärmend und lustig her. Es machte den Eindruck, als würde ein Fest gefeiert, das dort begonnen hätte, um niemals zu enden. Unser Wirt hatte sich, wie es schien, vorgenommen, sein ganzes riesiges Vermögen so schnell wie möglich alle zu machen, und es ist ihm auch vor kurzem gelungen, diese Vermutung zu bestätigen, das heisst alles, aber auch absolut alles, bis auf die letzte Kopeke durchzubringen. Alle Augenblicke kamen neue Gäste angefahren; Moskau war ja nur einen Katzensprung weit entfernt; so machten denn die Wegfahrenden nur anderen Gästen Platz, und das Fest nahm seinen Fortgang. Eine Belustigung löste die andere ab, und von den Amüsements war kein Ende abzusehen. Bald wurden in ganzen Trupps Spazierritte in der Umgegend unternommen, bald Spaziergänge im Tannenwalde oder Kahnfahrten auf dem Flusse; es wurden Picknicks und Diners auf freiem Felde und Soupers auf der grossen Terrasse am Hause veranstaltet. Diese Terrasse war ringsum mit drei Reihen kostbarer Blumen besetzt, die die frische Nachtluft mit ihren Düften erfüllten; dazu kam eine strahlende Beleuchtung, die unsere Damen, welche auch ohnedies fast sämtlich hübsch waren, noch reizender erscheinen liess mit ihren von den Erlebnissen des Tages freudig erregten Gesichtern, mit ihren blitzenden Augen, mit dem Kreuzfeuer ihrer mutwilligen, von glockenhellem Lachen fortwährend unterbrochenen Reden. Da wurde getanzt, musiziert und gesungen; und wenn der Himmel ein finsteres Gesicht machte, wurden lebende Bilder gestellt und Scharaden und Sprichwörter aufgeführt; auch Theater wurde im Hause gespielt. Es fanden sich geistvolle Köpfe, die hübsche Reden, Erzählungen und Bonmots zum besten gaben.

Einige Personen standen, sich von den andern scharf abhebend, im Vordergrunde. Natürlich war auch üble Nachrede und Klatscherei im Gange, da ohne solche die Welt nun einmal nicht bestehen kann und Millionen von Menschen vor Langerweile wie die Fliegen sterben würden. Aber da ich erst elf Jahre alt war, so bemerkte ich damals, von ganz anderen Dingen in Anspruch genommen, diese Personen gar nicht, und selbst wenn ich etwas bemerkte, so bemerkte ich doch nicht alles. Erst später erinnerte ich mich an einiges. Bei meinem kindlichen Alter konnte mir nur die glänzende Seite des Bildes in die Augen fallen, und dieser allgemeine Rausch, Glanz und Lärm, dieses ganze Treiben, wie ich es bis dahin nie gesehen oder gehört hatte, machte auf mich einen so starken Eindruck, dass ich in den ersten Tagen vollständig die Fassung verlor und mein kleiner Kopf ganz wirblig wurde.

Aber ich rede immer von meinen elf Jahren, und allerdings, ich war noch ein Kind, nicht mehr als ein Kind. Viele dieser schönen Frauen liebkosten mich, ohne sich über mein Lebensalter Gedanken zu machen. Aber seltsam: ein mir selbst unverständliches Gefühl hatte sich meiner bereits bemächtigt, und es regte sich in meinem Herzen schon eine mir bisher unbekannte Empfindung von der mein Herz manchmal zu brennen und, wie erschrocken, heftig zu schlagen begann und mein Gesicht sich oft mit einer plötzlichen Röte überzog. Mitunter schämte ich mich gewissermassen und fühlte mich ordentlich gekränkt dadurch, dass man mir als einem Kinde allerlei Privilegien einräumte. Ein andermal ergriff mich eine Art von Staunen, und ich ging irgendwohin, wo mich niemand sehen konnte, gleichsam um Atem zu holen und mich auf etwas zu besinnen, was ich, wie mir schien, bis dahin sehr gut im Gedächtnisse gehabt und jetzt auf einmal vergessen hatte, woran ich mich aber notwendig erinnern musste, weil ich mich sonst nirgends zeigen und überhaupt nicht existieren konnte.

Und endlich schien es mir auch manchmal, als ob ich etwas vor aller Augen verbärge und um keinen Preis zu jemandem etwas davon sagen würde, weil ich kleiner Knabe mich darüber bis zu Tränen hätte schämen müssen. Bald kam es dahin, dass ich mitten in dem Wirbel, der mich umgab, mich gewissermassen vereinsamt fühlte. Es waren zwar auch andere Kinder da; aber diese waren sämtlich entweder sehr viel jünger oder sehr viel älter als ich; übrigens fühlte ich mich auch nicht zu ihnen hingezogen. Allerdings hätte sich mit mir auch nichts zugetragen, wenn ich mich nicht in einer isolierten Stellung befunden hätte. In den Augen aller dieser schönen Damen war ich immer noch ein kleines, unentwickeltes Wesen, das zu liebkosen ihnen manchmal Vergnügen machte, und mit dem sie wie mit einer kleinen Puppe spielen konnten. Besonders eine von ihnen, eine entzückende Blondine mit so üppigem, dichtem Haar, wie ich es nach her nie wieder gesehen habe und wahrscheinlich nie wieder zu sehen bekommen werde, hatte sich, wie es schien, vorgenommen, mir keine Ruhe zu gönnen. Das um uns herum erschallende Gelächter, welches sie alle Augenblicke durch die ausgelassenen, mutwilligen Streiche hervorrief, die sie mit mir angab, setzte mich in Verwirrung und erheiterte sie; dieses Treiben bereitete ihr offenbar ein riesiges Vergnügen. In einem Pensionate hätte sie unter ihren Freundinnen gewiss den Beinamen „die Range“ bekommen. Sie war, wunderbar schön, und es lag in ihrer Schönheit etwas, was einem gleich beim ersten Blick in die Augen sprang. Allerdings hatte sie keine Ähnlichkeit mit jenen kleinen, schüchternen Blondinen, die so weiss sind wie Flaumfedern und so sanft wie weisse Mäuschen oder Pastorentöchter. Sie war von kleiner Statur und ein wenig voll, aber mit zarten, feinen, wundervoll gezeichneten Gesichtszügen. In diesem Gesichte leuchtete es manchmal blitzartig auf, und in ihrem ganzen Wesen hatte sie mit dem Feuer Ähnlichkeit: so lebhaft, schnell und leicht war sie. Aus ihren grossen, weit geöffneten Augen schienen Funken zu sprühen; diese Augen blitzten wie Diamanten, und niemals würde ich solche blauen funkensprühenden Augen hingeben, um irgendwelche schwarzen dafür einzutauschen, selbst wenn sie schwarzer wären als die schwärzesten Augen, die man bei den Andalusierinnen findet; ja, meine Blondine gab wahrlich jener berühmten Brünette nichts nach, die ein bekannter, vortrefflicher Dichter besungen hat, der in so herrlichen Versen vor ganz Kastilien geschworen hat, er sei bereit, sich den Hals zu brechen, wenn ihm erlaubt würde, auch nur mit einer Fingerspitze die Mantille seiner Schönen zu berühren. Man nehme noch hinzu, dass meine Schöne die lustigste von allen Schönen der Welt, von einer ausgelassenen Lachlust und mutwillig wie ein Kind war, und das alles, trotzdem sie schon seit fünf Jahren einen Mann hatte. Das Lachen wich nie von ihren Lippen, die frisch waren wie eine Rose am Morgen, welche soeben beim ersten Sonnenstrahle ihren purpurroten, duftenden Kelch erschlossen hat, an dem die kalten, dicken Tautropfen noch nicht weggetrocknet sind.

Ich erinnere mich, dass am Tage nach meiner Ankunft eine Theateraufführung im Hause stattfand. Der Saal war gedrängt voll; kein einziger freier Platz war vorhanden, und da ich mich aus irgendwelchem Grunde verspätet hatte, so sah ich mich genötigt, die Vorstellung stehend zu geniessen. Aber das lustige Spiel zog mich immer mehr nach vorn, und ich arbeitete mich uns vermerkt zu den vorbersten Reihen hindurch, wo ich endlich stehen blieb, mich mit den Armen auf die Lehne eines Sessels stützend, auf dem eine Dame sass. Es war meine Blondine; aber wir kannten und noch nicht. Und da versenkte ich mich von ungefähr in die Betrachtung ihrer wundervoll gerundeten, verführerischen Schultern, welche voll und weiss wie Milchschaum waren, obgleich es mir im Grunde ganz gleich war, was ich betrachtete: ein Paar wundervolle Frauenschultern oder die mit feuerroten Bändern verzierte Haube, die das graue Haar einer würdigen Matrone in der ersten Reihe bedeckte. Neben der Blondine sass eine alte Jungfer, eine von denen, die, wie ich später Gelegenheit gehabt habe zu beobachten, sich immer gern in möglichster Nähe junger, hübscher Frauen halten, wobei sie sich solche aussuchen, die die junge Männerwelt nicht von sich scheuchen. Indeshandelt es sich jetzt nicht darum; aber kaum hatte diese alte Jungfer bemerkt, worauf meine Augen gerichtet waren, als sie sich zu ihrer Nachbarin hinbeugte und ihr kichernd etwas ins Ohr flüsterte. Die Nachbarin wendete sich auf einmal um, und ich erinnere mich noch ganz deutlich: ihre feurigen Augen blitzten mich im Halbdunkel dermassen an, dass ich, auf diese Begegnung nicht vorbereitet, zusammenfuhr, als ob ich mich verbrannt hätte. Die schöne Frau lächelte.

„Gefällt Ihnen das Stück, das gespielt wird?“ fragte sie, indem sie mir schelmisch und spöttisch in die Augen sah.

„Ja,“ antwortete ich und blickte sie dabei immer noch mit einer Bewunderung an, die ihr offenbar gefiel.

„Aber warum stehen Sie denn? Sie werden müde werden; haben Sie denn keinen Sitzplatz?“

„Das ist es ja eben, dass keiner da ist,“ erwiderte ich, in diesem Augenblicke mehr mit meiner Sorge als mit den funkensprühenden Blicken der schönen Frau beschäftigt und aufrichtig darüber erfreut, dass ich endlich ein gutes Herz gefunden hatte, dem ich meinen Kummer, mitteilen konnte. „Ich habe schon gesucht; aber alle Stühle sind besetzt,“ fügte ich hinzu, als wenn ich ihr mein Leid klagen wollte, dass alle Stühle besetzt seien.

„Komm hierher,“ sagte sie schnell; denn sie war rasch in der Ausführung jeder tollen Idee, die in ihrem mutwilligen Kopfe aufblitzte. „Komm hierher, zu mir, und setze dich auf meinen Schoss.“

„Auf Ihren Schoss?“ erwiderte ich ganz betroffen.

Ich habe schon gesagt, dass ich mich über meine Privilegien ernstlich zu ärgern und zu schämen anfing. Diese Blondine aber trieb es damit zum Spass und Spott doch gar zu arg. Zudem begann ich, der ich ohnehin schon immer ein schüchterner, verschämter Knabe gewesen war, mich zu jener Zeit ganz besonders vor Frauen zu genieren, und daher wurde ich furchtbar verlegen.

„Nun ja, auf meinen Schoss! Warum willst du nicht auf meinem Schosse sitzen?“ antwortete sie, auf ihrer Einladung beharrend, und sicherte immer stärker und stärker, so dass schliesslich ein lautes Gelächter daraus wurde; weiss der Himmel, worüber sie eigentlich lachte, vielleicht über ihren eigenen Einfall oder vor Freude darüber, dass ich so verlegen geworden war. Aber eben das hatte sie gewollt.

Ich errötete und sah mich in meiner Verwirrung rings um, wohin ich mich wohl davonmachen könnte; aber sie kam mir zuvor, indem sie flink meine Hand ergriff, eben zu dem Zwecke, damit ich nicht davonginge, sie zu sich hinzog, und sie, für mich ganz unerwartet, zu meinem grössten Erstaunen schmerzhaft in ihren mutwilligen, heissen Fingerchen drückte; sie quetschte mir die Finger so heftig zusammen, dass ich alle Anstrengungen machen musste, um nicht aufzuschreien, und dabei die komischsten Grimassen schnitt. Ausserdem war ich im höchsten Grade verwundert, erstaunt, ja erschrocken zu sehen, dass es solche komischen, boshaften Damen gibt, die mit Knaben solche Torheiten reden und sie dabei, Gott weiss weshalb, so schmerzhaft kneifen, noch dazu in aller Leute Gegenwart. Wahrscheinlich spiegelte sich auf meinem unglücklichen Gesichte mein ganzes verständnisloses Erstaunen wieder; denn die Schelmin lachte mich unverhohlen an wie eine Verrückte und kniff und quetschte unterdessen meine armen Finger immer stärker und stärker. Sie war ausser sich vor Entzücken, dass es ihr gelungen war, einen solchen Streich auszuführen und einen armen Jungen verlegen zu machen und in so arge Not zu bringen. Meine Lage war eine verzweifelte. Erstens brannte ich vor Scham, weil fast alle um uns herum sich zu uns hinwandten, die einen verwundert, die andern, welche sogleich merkten, dass die Schöne irgendwelchen Unfug trieb, lachend. Ausserdem hatte ich die grösste Lust, aufzuschreien, weil sie meine Finger gerade in der Absicht, mich zum Schreien zu bringen, auf das grausamste misshandelte; aber ich nahm mir wie ein Spartaner vor, den Schmerz auszuhalten; denn ich fürchtete durch einen Schrei einen Aufruhr hervorzurufen, und was wäre dann aus mir geworden! In einem Anfalle völliger Verzweiflung begann ich endlich einen Kampf und bemühte mich aus aller Kraft, meine Hand an mich zu ziehen; aber meine Tyrannin war weit stärker als ich. Zuletzt konnte ich es nicht mehr ertragen und schrie auf; darauf hatte sie nur gewartet! Augenblicklich liess sie mich los und wandte sich von mir ab, als ob nichts geschehen wäre, oder als ob nicht sie, sondern irgendein anderer einen tollen Streich begangen hätte, akkurat wie ein Schulknabe, der, sobald der Lehrer sich umgedreht hat, flink einem seiner Nachbarn einen Possen spielt, etwa einen kleinen, schwächlichen Jungen kneift, ihm ein paar Nasenstüber oder Fusstritte versetzt, ihm den Ellbogen auf den Tisch stösst, und sich sofort wieder wegwendet, sich ordentlich hinsetzt, die Nase ins Buch steckt, seine Aufgabe zu lernen anfängt und auf diese Weise den erzürnten Herrn Lehrer, der auf den Lärm hin wie ein Habicht herbeigestürzt kommt, in Ratlosigkeit versetzt, so dass er mit langer Nase wieder abziehen muss.

Aber zu meinem Glücke war die allgemeine Aufmerksamkeit in diesem Augenblicke durch das meisterhafte Spiel unseres Wirtes gefesselt, der in dem aufgeführten Stücke, einem Scribeschen Lustspiel, die Hauptrolle übernommen hatte. Alle klatschten Beifall; während des Lärms glitt ich aus den Stuhlreihen hinaus und lief ganz an das Ende des Saales, in die entgegengesetzte Ecke, von wo ich, hinter einer Säule verborgen, angstvoll dahin zurückblickte, wo die hinterlistige Schöne sass. Sie lachte immer noch, indem sie ihre Lippen mit dem Taschentuche bedeckte. Und noch lange drehte sie sich um und suchte in allen Ecken nach mir mit den Augen; wahrscheinlich tat es ihr sehr leid, dass unser unsinniger Kampf so schnell ein Ende gefunden hatte, und sie überlegte nun, wie sie noch etwas Tolles angeben könne.

Damit hatte unsere Bekanntschaft begonnen, und seit diesem Abend wich sie nicht mehr von meiner Seite. Sie verfolgte mich in einer ganz masslosen, gewissenlosen Weise und wurde mein Plagegeist, meine Tyrannin. Die ganze Komik ihres Verhaltens zu mir bestand darin, dass sie tat, als sei sie bis über die Ohren in mich verliebt, und mich vor allen Leuten blamierte. Natürlich war mir, einem blöden, scheuen Jungen, das alles so peinlich und ärgerlich, dass ich fast weinte; ja, manchmal war meine Lage so ernst und kritisch, dass ich nahe daran war, mich mit meiner heimtückischen Verehrerin zu prügeln. Meine naive Verlegenheit, mein verzweifelter Kummer manterten sie, wie es schien, dazu auf, ihre Verfolgungen immer weiter fortzusetzen. Sie kannte kein Erbarmen, und ich wusste nicht, wo ich vor ihr bleiben sollte. Das um uns herum ertönende Gelächter, welches sie so geschickt hervorzurufen verstand, spornte sie nur noch zu i neuen Streichen an. Aber ihre Scherze gingen schliesslich denn doch etwas gar zu weit. Wie ich mich jetzt erinnere, erlaubte sie sich mit einem solchen Kinde, wie ich es war, wirklich gar zu viel.

Aber das lag nun einmal in ihrem Charakter; sie war eben ein verwöhntes Wesen, wie es im Buche steht. Ich habe später gehört, dass ihr eigener Mann derjenige war, der sie am meisten verwöhnte, ein sehr dicker Herr von sehr kleiner Statur, mit sehr rotem Gesichte, sehr reich und sehr geschäftstüchtig; wenigstens machte er diesen Eindruck: bei seiner Beweglichkeit und Geschäftigkeit konnte er nicht zwei Stunden lang an einem Ortebleiben. Täglich fuhr er von uns nach Moskau, mitunter zweimal, und immer, wie er selbst versicherte, in geschäftlichen Angelegenheiten. Etwas Lustigeres und Gutmütigeres als diese komische und dabei doch immer wohlanständige Physiognomie wäre schwer zu finden gewesen. Er liebte seine Frau nicht nur vermassen, dass es schon eine Schwäche zu nennen war, sondern betete sie geradezu wie einen Abgott an.

Er legte ihr in keiner Hinsicht irgendwelche Beschränkungen auf. Sie hatte eine Menge Freunde und Freundinnen. Erstens gab es wenige Leute, die sie nicht liebten, und zweitens war sie bei ihrem Leichtsinn selbst nicht besonders bedenklich in der Auswahl ihrer Freunde, obgleich ihr Charakter im Grunde ein viel ernsterer war, als man es nach dem von mir jetzt Erzählten vielleicht annimmt. Aber von allen ihren Freundinnen war ihr die liebste und werteste eine junge Frau, die mit ihr entfernt verwandt war und jetzt ebenfalls zu unserer Gesellschaft gehörte. Es bestand zwischen ihnen ein zartes, feines Verhältnis, eines jener Verhältnisse, wie sie sich manchmal bei der Begegnung zweier Charaktere herausbilden, die oft einander völlig entgegengesetzt sind, von denen aber der eine ernster, tiefer und reiner ist als der andere, während dieser im Gefühl der ganzen moralischen Überlegenheit des ersteren sich ihm mit grösster Demut und edler Selbsterkenntnis willig unterordnet und die Freundschaft mit ihm im Herzen als ein Glück empfindet. Dann aber beginnen jene zarten, edlen, feinen Wechselbeziehungen solcher Charaktere: Liebe und Nachsicht auf der einen Seite, Liebe und Hochschätzung auf der andern, eine Hochschätzung, die bis zu einer Art von Furcht und Angst geht, man könne in den Augen dessen, den man so hoch schätzt, gar zu viel verlieren, und die den eifersüchtigen, Heissen Wunsch hervorruft, mit jedem Schritte im Leben dem Herzen des andern immer näher und näher zu kommen. Die beiden Freundinnen standen im gleichen Lebensalter; aber zwischen ihnen bestand ein unermesslicher Unterschied in allen Dingen, von der Art der Schönheit angefangen. Frau M*** war ebenfalls sehr schön; aber in ihrer Schönheit lag etwas Besonderes, wodurch sie sich scharf aus der Menge von hübschen Frauen abhob; in ihrem Gesichte war etwas, was ihr sogleich alle Herzen gewann, oder, richtiger gesagt, etwas, was bei jedem, der mit ihr zusammenkam, eine schöne, edle Sympathie erweckte. Es gibt solche glücklichen Gesichter. In ihrer Nähe wurde einem jeden wohler, freier, wärmer ums Herz, und doch blickten ihre grossen, traurigen Augen, die voll Feuer und Kraft waren, zaghaft und unruhig wie in steter Furcht vor, etwas Feindlichem, Drohendem; und diese seltsame Zaghaftigkeit überzog ihre stillen, sanften, an die klaren Gesichter italienischer Madonnen erinnernden Züge manchmal mit solcher Wehmut, dass dem, der sie ansah, bald ebenso trüb zumute wurde wie bei einem eigenen, persönlichen Kummer. Dieses blasse, magere Gesicht, auf welchem durch die tadellose Schönheit der reinen, regelmässigen Linien und den wehmütigen Ernst des stummen, verborgenen Grames hindurch noch so oft der ursprüngliche kindlich-klare Ausdruck hervorschimmerte, der Abglanz eines noch nicht weit zurückliegenden vertrauensvollen Lebensalters und vielleicht eines naiven Glückes, und dieses stille, schüchterne, unsichere Lächeln: alles dies erweckte eine so innige Teilnahme für diese Frau, bass in dem Herzen eines jeden unwillkürlich ein süsses, heisses Mitgefühl rege wurde, welches schon von ferne laut zu ihren Gunsten sprach und selbst einen Fremden gleichsam zu ihrem Verwandten machte. Aber diese Schöne machte den Eindruck der Schweigsamkeit und Verschlossenheit, obgleich es doch kein sorglicheres, liebevolleres Wesen als sie geben konnte, wenn jemand der Teilnahme bedurfte. Es gibt Frauen, die im Leben gewissermassen den Beruf barmherziger Schwestern ausüben. Man braucht ihnen nichts zu verbergen, wenigstens nichts, was es in der Seele Krankes und Wundes gibt. Wer da leidet, der möge dreist und hoffnungsvoll zu ihnen gehen, ohne Furcht, ihnen lästig zu fallen; denn nur wenige von uns wissen, wieviel unendlich geduldige Liebe, tiefes Mitleid und alles verzeihende Güte in manchem Frauenherzen wohnt. Ganze Schätze von Mitgefühl, Trost und Hoffnung ruhen in diesen reinen Herzen, die so oft ebenfalls verwundet werden (denn ein Herz, das viel liebt, leidet viel), wo aber die Wunde vor neugierigen Blicken sorgfältig versteckt gehalten wird, da tiefes Leid meist schweigt und sich verbirgt. Diese Frauen schreckt weder die Liefe einer Wunde zurück, noch ihr garstiger Eiter, noch ihr widriger Geruch: wer sich vertrauensvoll an sie wendet, der ist dadurch schon ihrer würdig; sie aber sind gewissermassen dazu geboren, grosse, edle Laten zu verrichten ... Frau M*** war von hohem Wuchse, geschmeidig und schlank, aber etwas mager. Alle ihre Bewegungen hatten etwas Ungleichmässiges: bald waren sie langsam, weich und gewissermassen würdevoll, bald in kindlicher Art rasch und hastig; zugleich aber sprach aus ihren Gebärden eine Art von schüchterner Demut, eine ängstliche Wehrlosigkeit, die aber von niemandem Schutz erbat und erflehte.

Ich habe bereits gesagt, dass die wenig löblichen Attacken der hinterlistigen Blondine mir peinlich waren, mich verletzten, mich bis aufs Blut kränkten. Aber es steckte noch ein geheimer, sonderbarer, dummer Grund dahinter. Diesen Grund verbarg ich; ich zitterte davor, dass er bekannt werden könnte; ja, bei dem blossen Gedanken an ihn, wenn ich ganz allein mit niedergebeugtem Kopfe irgendwo in einem versteckten, dunklen Winkel sass, wohin kein forschender, spöttischer Blick einer blauäugigen Schelmin drang, bei dem blossen Gedanken daran stockte mir fast der Atem vor Verwirrung, Scham und Furcht, — kurz, ich war verliebt; das heisst, ich gebe zu, dass ich da einen Unsinn gesagt habe: das war ja ein Ding der Unmöglichkeit; aber warum fesselte von allen Personen, die mich umgaben, nur diese eine meine Aufmerksamkeit? Warum war sie die einzige, die ich gern mit meinem Blicke verfolgte, obgleich mir damals entschieden nichts daran gelegen war, Damen anzuschauen und mit ihnen bekannt zu werden? Am häufigsten geschah das abends, wenn schlechtes Wetter alle in die Zimmer bannte, und wenn ich, einsam in einem Winkel des Saales versteckt, ziellos um mich sah; denn ich fand absolut keine andere Beschäftigung, da mit Ausnahme meiner Verfolgerinnen selten jemand mit mir sprach; so langweilte ich mich denn an solchen Abenden in einer unerträglichen Weise. Zu solchen Zeiten betrachtete ich die Personen, die mich umgaben, und hörte die von ihnen geführten Gespräche mit an, von denen ich oft kein Wort verstand, und siehe da, da waren es die stillen Blicke, das sanfte Lächeln und das schöne Gesicht der Frau. M*** (denn sie war es), die, Gott weiss warum, meine Aufmerksamkeit erregten und mich bezauberten, und dieses mein seltsames, undefinierbares aber unbegreiflich süsses Gefühl haftete dann unauslöschbar in meinem Herzen. Oft konnte ich mich ganze Stunden lang nicht von ihr losreissen; ich studierte jede ihrer Gebärden, jede ihrer Bewegungen, horchte auf jeden Klang ihrer vollen, silberhellen, aber etwas gedämpften Stimme, und seltsam: aus allen meinen Beobachtungen resultierte bei mir neben jener zaghaften, süssen Empfindung eine Art von unbegreiflicher Neugier. Ich befand mich in einer ähnlichen Stimmung, wie wenn ich einem Geheimnisse nachspürte.

Am unangenehmsten waren mir jene Spöttereien, wenn Frau M*** zugegen war. Diese Spottereien und komischen Angriffe hatten nach meiner Auffassung für mich sogar etwas Entwürdigendes. Und wenn dann manchmal ein allgemeines Gelächter auf meine Kosten erscholl, an welchem sogar Frau M*** sich mitunter unwillkürlich beteiligte, dann riss ich mich, ganz verzweifelt und ausser mir vor Gram, von meinen Tyranninnen los und lief nach oben auf mein Zimmer, wo ich den übrigen Teil des Tages einsam verbrachte, da ich es nicht wagte, mich nochmals im Saale blicken zu lassen. Übrigens verstand ich den Grund meiner Scham und meiner Aufregung selbst noch nicht; dieser ganze Prozess vollzog sich in meinem Innern unbewusst. Mit Frau M*** hatte ich bisher kaum ein paar Worte gesprochen und hätte es natürlich meinerseits auch nicht gewagt. Aber eines Abends, nach einem für mich unerträglichen Tage, war ich auf einem Spaziergange hinter den andern zurückgeblieben; ich war furchtbar müde geworden und wanderte langsam durch den Garten nach dem Hause hin. Da erblickte ich in einer einsamen Allee auf einer Bank Frau M***. Sie sass dort ganz allein, wie wenn sie sich diesen einsamen Ort absichtlich ausgesucht hätte, hielt den Kopf auf die Brust herabgeneigt und drehte mechanisch ihr Taschentuch in den Händen hin und her. Sie war so in ihre Gedanken versunken, dass sie mein Herankommen gar nicht hörte.

Als sie mich bemerkte, stand sie schnell von der Bank auf, wandte sich ab, und ich sah, dass sie sich schnell die Augen mit dem Taschentuche trocknete. Sie hatte geweint. Nachdem sie sich die Augen getrocknet hatte, lächelte sie mir zu und schlug mit mir zusammen die Richtung nach dem Hause ein. Ich erinnere mich nicht mehr, worüber wir miteinander sprachen; aber sie schickte mich alle Augenblicke unter verschiedenen Vorwänden von sich weg: bald bat sie mich, ihr eine Blume zu pflücken, bald zuzusehen, wer da in der benachbarten Allee reite. Und wenn ich von ihr fortging, führte sie sofort wieder das Tuch an die Augen und wischte sich die ungehorsamen Tränen weg, die sich gar nicht stillen lassen wollten, sondern immer von neuem aus ihrem Herzen aufstiegen und aus ihren armen Augen flossen. Ich begriff, dass ich ihr offenbar sehr zur Last war, da sie mich so häufig wegschickte; und sie selbst sah bereits, dass ich alles bemerkt hatte, aber sie konnte sich nicht beherrschen, und dadurch wurde mein Mitleid mit ihr noch mehr gesteigert. Ich ärgerte mich in diesem Augenblicke über mich selbst beinahe bis zur Verzweiflung, verfluchte mich wegen meines hölzernen Wesens und meiner geistigen Unbeholfenheit und wusste doch nicht, wie ich sie in geschickter Weise verlassen könnte, ohne zum Ausdruck zu bringen, dass ich ihren Kummer bemerkt hatte; ich ging in traurigem Staunen, ja tief erschrocken neben ihr her; ich war ganz fassungslos und fand schlechterdings auch nicht ein einziges Wort, um unser versiegendes Gespräch im Gang zu halten.

Diese Begegnung hatte auf mich einen so tiefen Eindruck gemacht, dass ich den ganzen Abend über mit gespannter Neugier Frau M*** heimlich beobachtete und kein Auge von ihr verwandte. Aber es traf sich, dass sie mich zweimal unvermutet bei meinen Beobachtungen ertappte; als sie es das zweitemal bemerkte, lächelte sie. Das war ihr einziges Lächeln an dem ganzen Abend. Die Traurigkeit war noch nicht von ihrem Gesichte gewichen, das jetzt sehr blass aussah. Die ganze Zeit über führte sie ein leises Gespräch mit einer boshaften und zänkischen alten Dame, die niemand wegen ihres Umherspionierens und ihrer Klatschsucht leiden konnte; aber alle hatten vor ihr Furcht und sahen sich deswegen genötigt, sich mit ihr auf guten Fuss zu stellen, mochten sie es nun wollen oder nicht.

Um zehn Uhr traf Frau M****s Mann ein. Bis dahin hatte ich sie sehr aufmerksam beobachtet, ohne die Augen von ihrem traurigen Gesichte wegzuwenden; jetzt aber, bei dem unerwarteten Eintritte ihres Mannes sah ich, wie sie am ganzen Leibe zu zittern anfing und ihr ohnehin schon blasses Gesicht auf einmal weiss wie Leinwand wurde. Das war so auffällig, dass auch andere es bemerkten: ich hörte abseits das Bruchstück eines Gespräches mit an, aus dem ich mit einiger Mühe entnahm, dass die arme Frau M*** es nicht besonders gut habe. Es wurde gesagt, ihr Mann sei eifersüchtig wie ein Mohr, nicht aus Liebe, sondern aus Selbstsucht. Vor allen Dingen war er ein Verehrer westeuropäischen Wesens, ein moderner Mensch, mit einer Musterkarte von neuen Ideen, auf die er sehr eitel war. Was sein Äusseres anlangt, so war er ein schwarzhaariger, hochgewachsener, sehr kräftig gebauter Herr, mit einem Backenbarte nach westeuropäischer Fasson, mit selbstzufriedenem Gesichte, gesundem Teint, zuckerweissen Zähnen und dem tadellosen Benehmen eines Gentleman. Man nannte ihn einen „klugen Kopf“. So nennt man in manchen Kreisen eine besondere Gattung von Menschen, die auf fremde Kosten dick und fett geworden sind, absolut nichts tun, absolut nichts tun wollen, und bei denen infolge der lebenslänglichen Trägheit und Nichtstuerei sich das Herz in ein Stück Fett verwandelt hat. Man kann aus ihrem Munde alle Augenblicke die Bemerkung hören, ihre Untätigkeit sei die Folge irgendwelcher verwickelter feindlicher Umstände, die „ihr Genie lähmten“, und sie böten daher „einen traurigen Anblick“. Das ist nun einmal so eine hochmütige Phrase bei ihnen, ihr mot d‘ordre, ihre Parole und Losung, eine Phrase, mit der diese feisten Dickbäuche überall und fortwährend um sich werfen, und man ist dessen als offenbarer Heuchelei und leeren Geredes längst überdrüssig geworden. Manche dieser komischen Käuze, die gar keine Beschäftigung für sich finden können (übrigens haben sie niemals nach einer solchen gesucht), beabsichtigen geradezu alle zu dem Glauben zu bringen dass sie statt des Herzens nicht etwa ein Stück Fett, sondern im Gegenteil, allgemein ausgedrückt, etwas „sehr Tiefes“ haben, was aber eigentlich, darüber würde sich selbst der allererste Chirurg in Schweigen hüllen, allerdings aus Höflichkeit. Das ganze Streben dieser Herren in der Welt ist darauf gerichtet, alles in grober Weise zu verspotten und kurzsichtig zu verurteilen, und sie bekunden dabei einen masslosen Hochmut. Da sie nichts weiter zu tun haben als fremde Fehler und Schwächen herauszufinden und laut zu verkünden, und da sie genau soviel Gutherzigkeit besitzen, wie davon der Auster zuteil geworden ist, so wird es ihnen nicht schwer, unter Anwendung der notwendigen Vorsichtsmassregeln ohne Anstoss in der Welt zu leben. Darauf sind sie ausserordentlich stolz. Sie sind zum Beispiel beinahe davon überzeugt, dass nahezu die ganze Welt ihnen abgabenpflichtig ist; dass alle Menschen ausser ihnen Dummköpfe sind; dass jeder ihrer Mitmenschen dazu da ist, von ihnen wie eine Zitrone oder wie ein Schwamm nach Bedürfnis ausgepresst zu werden; dass sie die Herren über alles sind, und dass diese ganze löbliche Ordnung der Dinge nur davon herrührt, dass sie selbst eine solche Klugheit und einen so festen Charakter besitzen. In ihrem masslosen Stolze räumen sie nicht ein, dass auch sie Mängel hätten. Sie gleichen jener Sorte von Gaunern, den geborenen Tartüffs und Falstaffs, die dermassen zu Gaunern geworden sind, dass sie schliesslich sich selbst die Überzeugung zu eigen gemacht haben, es müsse eben so sein, das heisst, sie müssten leben und Gaunereien ausführen; sie haben allen so oft versichert, sie seien ehrliche Leute, dass sie zuletzt selbst zu dem Glauben gelangt sind, sie seien tatsächlich ehrliche Leute und ihre Gaunerei sei eine ehrliche Handlungsweise. Innerlich über sich selbst Gericht zu halten und eine unbefangene Selbstkritik zu üben, dahin bringen sie es niemals; für manche Dinge sind sie eben gar zu dick und fett. In erster Linie steht bei ihnen immer und in jeder Hinsicht ihre eigene kostbare Persönlichkeit, ihr Moloch und Baal, ihr vortreffliches Ich. Die ganze Natur, die ganze Welt ist für sie nichts anderes als ein einziger prächtiger Spiegel, der dazu geschaffen ist, dass unser Götze sich ununterbrochen in ihm bewundern könne, ohne ausser sich sonst jemand oder sonst etwas zu sehen; unter solchen Umständen ist es nicht zu verwundern, dass ihm alles auf der Welt so hässlich vorkommt. Für alles hat er eine Phrase in Bereitschaft und (was bei ihnen der Gipfel der Geschicklichkeit ist) die allermodernste Phrase. Sie befördern sogar selbst diese Mode, indem sie einen Gedanken, von dem sie wittern, dass er Erfolg haben werde, ohne Beweis auf allen Gassen verbreiten. Sie besitzen einen besonderen Instinkt, um eine solche Modephrase aufzuspüren und sie sich früher als andere Leute anzueignen, so dass der Anschein erweckt wird, als stamme sie von ihnen her. Namentlich versorgen sie sich mit einem Vorrat von Phrasen, um ihre tiefste Sympathie mit der Menschheit zum Ausdruck zu bringen, und um klarzumachen, worin die korrekteste von der Vernunft gebilligte Philanthropie. bestehe, und endlich, um unaufhörlich auf die Romantik zu schelten, das heisst oft auf alles Schöne und Wahre, wovon jedes Atom wertvoller ist als ihre ganze molluskenartige Sippschaft. Aber mit ihren stumpfen Organen erkennen sie die Wahrheit nicht in einer abweichenden, unfertigen Übergangsform und stossen alles von sich, was noch nicht ausgereift ist, sich noch nicht geklärt hat und noch gärt. So ein wohlgenährter Mensch hat sein ganzes Leben in Freuden verbracht, alles in Hülle und Fülle gehabt, selbst nichts getan und weiss gar nicht, wie schwer die Verrichtung jeder Arbeit ist; und daher wehe dem, der irgendwie mit rauher Hand seine fetten Gefühle verletzt: das verzeiht er niemals; das trägt er dem Betreffenden immer nach und rächt sich dafür mit Genuss. Um alles zusammenzufassen: ein solcher Held ist nicht mehr und nicht weniger als ein riesiger, zum Platzen aufgeblasener Sack voll Sentenzen, Modephrasen und Schlagwörtern aller Art.

Indessen hatte Herr M*** auch seine Besonderheit und war ein beachtenswerter Mensch: er war witzig, verstand ein Gespräch geschickt zu führen und erzählte interessant, und in den Salons sammelte sich immer um ihn ein Kreis von Zuhörern. An jenem Abend gelang es ihm besonders, Sensation zu erregen. Er beherrschte die Konversation; er war gut disponiert, heiter, über irgend etwas vergnügt und zog die Blicke aller auf sich. Aber Frau M*** war die ganze Zeit über wie eine Kranke; ihr Gesicht war so traurig, dass ich alle Augenblicke glaubte, es würden gleich wieder wie kurz vorher die Tränen an ihren langen Wimpern zittern. Alles dies machte auf mich, wie schon gesagt, einen starken Eindruck und versetzte mich in das grösste Erstaunen. Ich ging mit dem Gefühle einer seltsamen Neugier fort und träumte die ganze Nacht von Herrn M***, während ich doch bisher nur selten hässliche Träume gehabt hatte.

Am andern Tage wurde ich früh morgens zu einer Probe lebender Bilder gerufen, bei denen auch ich eine Rolle hatte. Lebende Bilder, eine Theateraufführung und ein Ball, diese Vergnügungen sollten, alle an einem einzigen Abend, in kurzer Zeit, schon in fünf Tagen, aus Anlass eines häuslichen Festes stattfinden, nämlich des Geburtstages der jüngsten Tochter unseres Wirtes. Zu diesem beinahe improvisierten Feste waren aus Moskau und den umliegenden Landhäusern noch etwa hundert Gäste eingeladen, so dass es viel Geschäftigkeit, Unruhe und Wirrwarr gab. Die Probe oder, richtiger gesagt, die Besichtigung der Kostüme war auf eine ungewöhnlich frühe Stunde angesetzt, weil unser Regisseur, der namhafte Künstler R***, ein Freund und Gast unseres Wirtes, der sich aus Freundschaft hatte bereit finden lassen, die Komposition und das Stellen der lebenden Bilder und zugleich die Unterweisung der Mitwirkenden zu übernehmen, es jetzt eilig hatte, nach der Stadt zu fahren, um die erforderlichen Requisiten einzukaufen und die definitiven Vorbereitungen zu dem Feste zu treffen, so dass keine Zeit zu verlieren war. Ich war bei einem Bilde mit Frau M*** zusammen beteiligt. Das Bild stellte eine Szene aus dem Leben des Mittelalters vor und hiess: „Die Burgherrin und ihr Page.“

Ich war unsäglich befangen, als ich mit Frau M*** bei der Probe zusammenkam. Es kam mir so vor, als werde sie sofort aus meinen Augen alle die Gedanken, Zweifel und Vermutungen lesen, die sich seit dem vorhergehenden Tage in meinem Kopfe gebildet hatten. Ausserdem hatte ich immer die Empfindung, als hätte ich mir ihr gegenüber dadurch etwas zuschulden kommen lassen, dass ich sie tags zuvor in Tränen getroffen und sie in ihrem Kummer gestört hatte; ich meinte, sie müsse mich als einen unerwünschten Zeugen und ungebetenen Mitwisser ihres Geheimnisses unwillkürlich mit feindlichen Blicken betrachten. Aber Gott sei Dank, die Sache ging ohne grössere Schwierigkeiten ab; sie beachtete mich einfach gar nicht. Sie schien überhaupt mit ihren Gedanken weder bei mir noch bei der Probe zu sein: sie war zerstreut, traurig und in ein trübes Nachdenken versunken; es war augenscheinlich, dass eine grosse Sorge sie quälte. Als ich mit meiner Rolle fertig war, lief ich weg, um mich umzukleiden, und trat zehn Minuten darauf auf die Terrasse hinaus, die nach dem Garten zu lag. Fast gleichzeitig trat aus einer andern Tür auch Frau M*** hinaus, und uns gegenüber erschien gerade ihr selbstgefälliger Gatte, der aus dem Garten zurückkehrte, nachdem er soeben einen ganzen Schwarm von Damen dorthin begleitet und sie dort der Obhut eines gewandten cavalier servant übergeben hatte. Das Zusammentreffen von Mann und Frau war offenbar ein unerwartetes. Frau M*** wurde aus einem mir unbekannten Grunde auf einmal verlegen, und in ihren hastigen Bewegungen kam ein leichter Ärger zum Ausdruck. Der Gatte, der sorglos eine Arie gepfiffen und auf dem ganzen Wege mit tiefsinniger Miene seinem Backenbarte eine schönere Form verliehen hatte, machte jetzt, bei der Begegnung mit seiner Frau, ein finsteres Gesicht und sah sie, wie ich mich jetzt erinnere, mit einem entschieden inquisitorischen Blicke an.

„Sie gehen in den Garten?“ fragte er, als er den Sonnenschirm und das Buch in den Händen seiner Frau bemerkte.

„Nein, in das Wäldchen,“ antwortete sie und errötete ein wenig.

„Allein?“

„Mit ihm...“ erwiderte Frau M***, auf mich zeigend. „Ich pflege morgens allein spazieren zu gehen;“ fügte sie mit unsicherer Stimme hinzu, so wie wenn jemand zum erstenmal in seinem Leben lügt.

„Hm... Ich meinerseits habe soeben eine ganze Gesellschaft dorthin begleitet. Es versammeln sich da alle bei der Blumenlaube, um Herrn N***oi das Geleit zu geben. Er reist ab, wie Sie wissen ... Es ist da bei ihm ein Malheur passiert, in Odessa ... Ihre Kusine“ (er sprach von der Blondine) ,,lacht und weint beinah, alles zugleich; man wird nicht aus ihr klug. Sie hat mir übrigens gesagt, Sie seien aus irgendwelchem Grunde über Herrn N***oi aufgebracht und wollten ihm darum nicht das Geleit geben. Es ist doch gewiss Unsinn?“

„Sie macht sich lustig,“ antwortete Frau M*** und stieg die Stufen der Terrasse hinab.

„Also das ist Ihr cavalier servant?“ fügte Herr M*** hinzu, indem er den Mund schief zog und seine Lorgnette auf mich richtete.

„Page!“ rief ich, ärgerlich über die Lorgnette und den spöttischen Ton, und ihm gerade ins Gesicht lachend, sprang ich mit einem Satze die drei Stufen der Terrasse hinunter.

,,Viel Vergnügen!“ brummte Herr M*** und ging seines Weges weiter.

Natürlich war ich sofort zu Frau M*** hingetreten, als sie im Gespräch mit ihrem Manne auf mich zeigte, und hatte so getan, als ob sie mich schon eine ganze Stunde vorher aufgefordert hätte, und als ob ich schon einen ganzen Monat lang mit ihr morgens spazieren gegangen wäre. Aber ich konnte gar nicht daraus klug werden: warum war sie in solche Verwirrung geraten, so verlegen geworden, und in welcher Absicht hatte sie sich entschlossen, zu dieser kleinen Lüge zu greifen? Warum hatte sie nicht einfach gesagt, dass sie allein gehe? Jetzt wusste ich nicht, wie ich sie ansehen sollte; aber in meiner Verwunderung fing ich doch allmählich höchst naiv an, ihr ins Gesicht zu sehen; indes bemerkte sie ebenso wie eine Stunde vorher bei der Probe weder meine heimlich forschenden Blicke noch meine stummen Fragen. Auf ihrem Gesichte, in ihrer Erregung, in ihrem Gange prägte sich immer noch ebendieselbe quälende Sorge aus, nur noch deutlicher, noch stärker als damals. Sie hatte es eilig, irgendwohin zu kommen, beschleunigte ihren Schritt immer mehr und blickte, sich am Rande des Gartens haltend, in jede Allee, in jede Schneise des Wäldchens hinein. Auch ich erwartete etwas. Auf einmal erscholl hinter uns Pferdegetrappel. Es war eine ganze Kavalkade von Reitern und Reiterinnen, die jenem Herrn N***oi das Geleite gaben, der unsere Gesellschaft so plötzlich verliess.

Unter den Damen befand sich auch meine Blondine, von der Herr M*** gesprochen hatte, indem er von ihren Tränen erzählte. Aber nach ihrer Gewohnheit lachte sie wie ein Kind und sprengte rasch auf einem schönen Braunen einher. Als sie uns eingeholt hatten, nahm Herr N***oi den Hut ab, hielt aber nicht an und sagte zu Frau M*** kein Wort. Bald war der ganze Schwarm unseren Blicken entschwunden. Ich sah Frau M*** an und hätte beinah laut aufgeschrien vor Erstaunen: sie stand da; blass wie Leinwand, und grosse Tränen drangen aus ihren Augen. Zufällig begegneten sich unsere Blicke: Frau M*** errötete plötzlich, wandte sich einen Augenblick ab, und ein deutlicher Ausdruck von Beunruhigung und Verdruss huschte über ihr Gesicht. Ich war hier überflussig, in noch höherem Grade als tags zuvor; das war sonnenklar, aber wo sollte ich hin?

Auf einmal schlug Frau M***, wie wenn sie meinen Wunsch erraten hätte, das Buch auf, das sie in der Hand trug; und indem sie errötete und sich offenbar Mühe gab, mich nicht anzusehen, sagte sie, wie wenn sie dessen eben erst inne würde:

„Ach! Das ist der zweite Band; ich habe mich vergriffen; bitte, hole mir doch den ersten!“

Wie hätte ich das nicht verstehen sollen! Meine Rolle war zu Ende, und es war nicht möglich, mich auf einfachere Weise fortzujagen.

Ich lief mit ihrem Buche fort und kehrte nicht wieder zurück. Der erste Band blieb an diesem Morgen ruhig auf dem Tische liegen.

Aber ich war ganz verstört; das Herz klopfte mir heftig wie in beständiger Angst. Ich vermied es aus aller Macht, mit Frau M*** irgendwie zusammenzutreffen. Dafür betrachtete ich mit scheuer Neugier die selbstgefällige Person des Herrn M***, als ob an ihm jetzt unbedingt etwas Besonderes zu sehen sein müsse: Ich begreife absolut nicht, welchen Grund diese komische Neugier hatte; ich erinnere mich nur, dass ich in einem sonderbaren Erstaunen über all das befangen war, was ich an diesem Morgen zu sehen bekam. Aber dieser Tag hatte eben erst begonnen und war für mich überreich an Erlebnissen.

Das Mittagessen fand diesmal sehr früh statt. Für den Abend war eine gemeinsame Vergnügungspartie nach einem benachbarten Dorfe geplant, zu einem ländlichen Feste, das dort gerade begangen wurde, und daher musste nach dem Mittagessen noch Zeit bleiben, um alles dazu vorzubereiten. Ich hatte mir schon seit drei Tagen von dieser Partie etwas vorphantasiert, von der ich mir ausserordentlich viel Vergnügen versprach. Zum Kaffeetrinken versammelten sich fast alle auf der Terrasse. Ich schlich vorsichtig hinter den andern her und verbarg mich hinter der dreifachen Reihe von Lehnstühlen. Es zog mich die Neugier hin, und doch wollte ich um keinen Preis Frau M*** unter die Augen kommen. Aber der Zufall wollte, dass ich nicht weit von meiner Verfolgerin, der Blondine, zu sitzen kam. Diesmal war mit ihr ein Wunder geschehen, etwas Unmögliches hatte sich ereignet: sie war noch einmal so schön geworden wie sonst. Ich weiss nicht, wie das geschieht, und woher es kommt; aber mit Frauen begeben sich solche Wunder gar nicht so selten. Es befand sich in jenem Augenblicke ein neuer Gast unter uns, ein• hochgewachsener junger Mann mit blassem Gesichte, ein ausgesprochener Verehrer unserer Blondine; er war soeben erst aus Moskau zu uns gekommen, gleichsam express um den abreisenden Herrn N***oi zu ersetzen, über den das Gerücht ging, dass er in unsere Schöne sterblich verliebt sei. Was den Ankömmling anlangt, so stand er schon lange mit ihr in denselben Beziehungen wie Benedikt mit Beatrice in Shakespeares „Viel Lärm um nichts“. Kurz, unsere Schöne feierte an diesem Tage einen grossartigen Triumph. Ihre Scherze und ihr Geplauder waren so anmutig, von einer solchen zutraulichen Naivität, von einer solchen verzeihlichen Unvorsichtigkeit, und sie war mit einer so anmutigen Zuversicht davon überzeugt, der Gegenstand des allgemeinen Entzückens zu sein, dass ihr tatsächlich die ganze Zeit über eine Art von besonderer Verehrung dargebracht wurde. Um sie herum drängte sich ununterbrochen ein dichter Kreis erstaunter, bewundernder Zuhörer, und noch nie war sie so reizend gewesen. Jedes Wort von ihr war verführerisch und interessant, wurde begierig aufgenommen und in die Runde weitergegeben, und kein einziger ihrer Scherze, keine einzige ihrer mutwilligen Äusserungen fiel ins Wasser. Niemand hatte, wie es schien, von ihr soviel Geschmack, Witz und Geist erwartet. Alle ihre guten Eigenschaften lagen für gewöhnlich in dem ausgelassensten Unsinn, in dem eigensinnigsten Übermute vergraben, der beinah bis zur Possenreisserei ging; selten bemerkte jemand diese guten Eigenschaften, und wenn er sie bemerkte, so glaubte er nicht an sie, so dass jetzt ihr ungewöhnlicher Erfolg mit einem allgemeinen begeisterten Flüstern aufgenommen wurde.