Ein Kuss kommt selten allein - Leylah Attar - E-Book

Ein Kuss kommt selten allein E-Book

Leylah Attar

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Beschreibung

Perfekte Sommerlektüre für alle, die das Mittelmeer und gutes Essen lieben Moti ist fest davon überzeugt: Nikos ist vom Schicksal für sie bestimmt! Nur er kann sie aus den Fängen ihrer exzentrischen Mutter befreien und endlich für ihre Freiheit sorgen. Die perfekte Gelegenheit, um Nikos zu verführen, bietet sich auf der Verlobungsfeier ihrer Cousine, einer zweiwöchigen Luxuskreuzfahrt in der Ägäis. Leider hat Moti panische Angst vor Wasser, und ihre verrückte Familie sorgt selbst auf einer Luxusjacht für jede Menge Chaos und Streit. Doch was tut man nicht alles für die Liebe? Tatsächlich scheint auch Nikos gar nicht so abgeneigt zu sein. Dumm nur, dass Motis Herz ganz andere Pläne zu haben scheint und jedesmal höher schlägt, sobald Chefkoch Alex in ihrer Nähe ist. Denn Alex ist nicht nur unverschämt attraktiv, er rettet Moti auch aus so manch brenzliger Situation. Und in der Küche kann er geradezu zaubern: Unter seinen Händen schmecken Zwiebeln süß wie Schokolade, und jedes seiner Gerichte weckt die wunderbarsten Erinnerungen. Ob Alex und sie das Schicksal überzeugen können, für ihr Glück einen kleinen Haken zu schlagen? Mit der romantischen Komödie "Ein Kuss kommt selten allein" zeigt Bestseller-Autorin Leylah Attar ihre umwerfend witzige Seite und lässt uns von Sommer, Sonne, Strand träumen.

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Seitenzahl: 416

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Leylah Attar

Ein Kuss kommt selten allein

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Elisa Valérie Thieme

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Moti ist fest davon überzeugt: Nikos ist vom Schicksal für sie bestimmt! Nur er kann sie aus den Fängen ihrer exzentrischen Mutter befreien und endlich für ihre Freiheit sorgen. Die perfekte Gelegenheit, um Nikos zu verführen, bietet sich auf der Verlobungsfeier ihrer Cousine, einer Luxuskreuzfahrt in der Ägäis. Leider hat Moti panische Angst vor Wasser, und ihre verrückte Familie sorgt wie üblich für Chaos und Streit. Doch was tut man nicht alles für die Liebe? Dumm nur, dass Motis Herz ganz andere Pläne zu haben scheint und jedesmal höher schlägt, sobald Chefkoch Alex in ihrer Nähe ist …

Inhaltsübersicht

Moti

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Alex

Kapitel 27

Moti

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Moti

Kapitel 1

Eines Freitagnachts deaktivierte mein Leben kurzerhand den generellen persönlichen Sachverstand (besser bekannt als GPS) und verließ die vorgegebene Spur – mit mir im Fahrzeug. Mit passendem Soundtrack dazu hätte ich vielleicht geahnt, was anschließend passierte. Aber wie der ahnungslose Trottel im Horrorfilm – der für einen späten Snack in die Küche spaziert und keinen Schimmer hat, dass er gleich aufgeschlitzt, elektrogeschockt oder vom Teufel übernommen wird – knibbelte ich fröhlich »Made in China«-Sticker von den kleinen Platzkartenhaltern für die Verlobungsparty meiner Cousine. Kurz zuvor hatte ich noch Isabelles voluminösen Chiffonrock über einem Toilettensitz hochgehalten. Also ja, ich war vergleichsweise glücklich mit dem Sticker-Job.

Bei den Platzkartenhaltern handelte es sich um kleine Holzrahmen mit herzförmigem Bildausschnitt. Auf der einen Seite stand die jeweilige Tischnummer, und auf der anderen sah man ein Foto von Isabelle und Thomas mitsamt eines »Sie hat Ja gesagt!«-Banners. Ihre überglücklichen Gesichter wurden von verschwommenem Herbstlaub umrahmt, was dem Bild einen zusätzlichen Touch Romantik verlieh. Es war eine wunderschöne Aufnahme. Ich war wahrscheinlich die Einzige, die sie gruselig fand. Das Foto wirkte, als wäre es von einem Käfer auf einem Ast geschossen worden, der vorsichtig auf seinen kleinen Stativ-Beinchen balancierte und –

»Moti.«

Als Rachel Auntie näher kam, zuckte ich zusammen. In einer indischen Familie aufzuwachsen bedeutete, dass alle, die sich annähernd im Alter der eigenen Eltern befanden, als »Auntie« oder »Uncle« angesprochen wurden. Man klatschte die Anrede einfach an den eigentlichen Namen, ganz gleich, ob man nun tatsächlich miteinander verwandt war oder nicht. Wenn man den Vornamen nicht kannte, sprach man sein Gegenüber als »Aunti-ji« oder »Uncle-ji« an.

Kinder aus Einwandererfamilien lernen recht früh, dass es Ausnahmen für die Regeln ihrer Eltern gibt. Ein Bespiel: Wenn du das Namensschild einer Kassiererin gelesen und dich daraufhin mit »Vielen Dank, Mildred Auntie« verabschiedest hast, erntest du entsetzte Blicke sowohl von deiner Mutter als auch von der Dame an der Kasse. Wenn du klug bist, kapierst du, dass einige Regeln nur für Menschen gelten, die dein kulturelles Erbe teilen. Falls nicht, wird es durch heftiges Ziehen am Ohr verdeutlicht. Der vermachte Dualismus folgt dir – genau wie deine Hautfarbe und das Geräusch von Senfkörnen, die im heißen Fett aufplatzen – durchs Leben. Deine Eltern kommen von dort, leben jedoch hier. Du wurdest hier geboren, und doch befindest du dich im ewigen Spagat zwischen dort und hier.

Rachel Auntie war wirklich meine Tante – die jüngere Schwester meiner Mom und die Mutter meiner Cousine Isabelle. Daher wusste sie über bestimmte Dinge bestens Bescheid.

»Moti, solltest du nicht bei Dolly sein?«

»Ich komme, sobald ich mit denen hier fertig bin.« Ich lächelte und versteckte einen der Tischkartenhalter hinter meinem Rücken. Hoffentlich hatte sie nicht gesehen, dass ich Konfetti darauf geklebt hatte. Es war nicht möglich, die Sticker zu entfernen, sie waren mit industriellem Superkleber daran befestigt. Daher prangten jetzt auf sämtlichen Rahmen Reste von »Made in China«-Stickern, was noch schlimmer war als vorher. Nun würde nicht nur jeder wissen, dass wir billige Rahmen gekauft hatten, sondern auch, dass wir versucht hatten, es zu verheimlichen. Es lag auf der Hand, dass das einzige Vernünftige war, die Vertuschungsaktion zu vertuschen und Tischkonfetti auf die Klebreste zu drücken.

»Moti, das ist ein großer Tag für Isabelle. Wie du weißt, können wir nicht riskieren, dass Dolly eine Szene macht. Lass das Gefummel, und sieh nach deiner Mutter.«

»Ja, Rachel Auntie.« Ich stellte den Tischkartenhalter ab und folgte ihr.

Ich war vierundzwanzig, aber wenn dich ein älteres Familienmitglied um etwas bittet, lässt du alles stehen und liegen und kümmerst dich darum. Dieses Pflichtbewusstsein war tief in meine DNA gedrillt. Es war meine Aufgabe, mich um meine Mutter zu kümmern. Bei genauem Hinsehen ließ sich erkennen, dass jeder in der Familie seine konkreten Aufgaben hatte. Es gab die Tonangeber und die Tonempfänger. Bandenführer und Teigrührer. Versprechenhalter und Versprechenbrecher. Wenn man etwas oft genug wiederholte, bekam man ein entsprechendes Label verpasst, und alle wussten, womit sie es zu tun hatten.

»O Gott, Moti, bei dem kannst du kein Geld für dein Auto leihen. Das ist ein Pfennigfuchser« oder »O Gott, Moti, frag die bloß nicht um Hilfe. Sie ist der Beistands-Bumerang. Erst steht sie dir bei, und dann kommt sie immer darauf zurück – wie ein Bumerang«.

Labels machten es für alle einfacher. Ich war voll dabei, und auf meinem Etikett stand »Muttersitter«, was hieß, dass ich bei Familienfesten auf meine Mutter aufpasste. Denn Dolly liebte es, sich tot zu stellen, und fand immer die schlechtesten Momente dafür.

Es begann eigentlich recht unschuldig, als unsere Nachbarin Tschüss-Lin mich eines Nachmittags bei der Arbeit anrief. Eigentlich hieß sie Shu-Lin oder vielleicht auch Sue-Lin, aber ich nannte sie in Gedanken nur Tschüss-Lin, da Dolly immer versuchte, sich so schnell wie möglich von ihr zu verabschieden. An jenem Tag gab meine Mutter vor, eingeschlafen zu sein, damit Tschüss-Lin endlich die Wohnung verließ. Es war Zeit für ihre indische Lieblingssoap, und sie hatte keine Lust auf Tee und Small Talk. Tschüss-Lin wurde angesichts Dollys Bewusstlosigkeit panisch und rief mich an.

»Moti, du musst schnell nach Hause kommen. Deine Mutter … sie ist nicht mehr unter uns.«

Damit wollte sie sagen, dass meine Mutter bewusstlos war, aber irgendwie kam die Sprachbarriere dazwischen … nun, so was passiert. Ich ließ alles stehen und liegen und kam in Rekordzeit zu Hause an, gemeinsam mit den Sanitätern und den Rentnern, die auf der gleichen Etage lebten.

Ich will ehrlich sein. Meine erste Reaktion auf den vermeintlichen Tod meiner Mutter war Erleichterung. Es war, als hätte man einem Kanarienvogel verkündet, die Katze sei tot.

Halleluja.

Direkt gefolgt von einer Woge aus Schuldgefühlen.

Doch dann begann Dolly zu husten, und zwar genau in dem Augenblick, als die Sanitäter mit den Wiederbelebungsmaßnahmen beginnen wollten.

Plötzlich hielt sie Hof und schlug alle Anwesenden mit Geschichten über ihre »Nahtoderfahrung« in den Bann. In den folgenden Wochen wurde sie überall eingeladen, um ihren persönlichen Aufstieg ins Himmelreich zu schildern, was sie mit großer Detailliebe und voll Nachdruck tat. Der Vorfall hat ihre Liebe zum Theatralischen befeuert, und ab da folgten regelmäßige »Beinahepassagen« ins Jenseits. Dolly liebte die Aufregung, die Aufmerksamkeit und die plötzliche hektische Betriebsamkeit. Niemand wusste, wie viele Flugmeilen sie schon bei ihren Reisen ins Nachleben gesammelte hatte – außer Rachel Auntie und ich. Wobei ich glaube, dass Rachel Auntie ihren Mann eingeweiht hat.

Joseph Uncle wirkte erleichtert, als er uns kommen sah. »Ah, Moti. Bleibst du bei Dolly und Naani? Die ersten Gäste sind schon da. Deine Tante und ich müssen sie begrüßen.«

»Natürlich.« Ich ließ mich auf dem frei gewordenen Platz zwischen meiner Mutter und Großmutter fallen.

»Hast du die Torte gesehen?« Dolly nickte in Richtung einer mehrstöckigen Konstruktion aus lilafarbenem und weißem Zuckerguss. »Als ob sie schon heiraten würden. Niemand bei klarem Menschenverstand –«

»Ma.« Ich warf ihr einen warnenden Blick zu.

»Pah!« Dolly winkte meine Bedenken beiseite. »Deine Naani hört doch gar nicht zu. Seit du das Facebook-Profil für sie angelegt hast, bekommt sie nichts mehr mit. Sieh nur. Schon wieder am Handy. Die ist genauso gelangweilt wie ich. Ich verstehe wirklich nicht, warum sie so einen Aufwand –«

»Du weißt, warum.«

»Na und? Dann bezahlt halt die Familie des Bräutigams für die Hochzeit. Das sind Millionäre. Milliardäre. Joseph und Rachel hätten trotzdem nicht so ein Affentheater aus der Verlobungsfeier machen müssen.«

»Das ist eine Frage des Stolzes. Sie können sich die Art von Hochzeit, die Isabelle und Thomas vorschwebt, nicht leisten, möchten aber etwas beisteuern.«

Meine Cousine und ihr Verlobter hatten eine Hochzeit in Griechenland geplant, wo Thomas’ Familie lebte. Ein Großteil der Festgesellschaft war zu einer zweiwöchigen Kreuzfahrt entlang der griechischen Inseln eingeladen, gesponsert von Thomas und seiner Familie.

»Das ist prollig. Alles daran ist prollig.« Dolly strich ihre Haare glatt. »Wenn überhaupt, werden die Unterschiede zwischen denen und uns so noch deutlicher. Hochzeiten sind zu einer Show verkommen, Moti. Es geht nur noch ums Angeben. Gott sei Dank muss ich mir deinetwegen in nächster Zeit keine Sorgen machen.«

Die meisten indischen Mütter geben keine Ruhe, bis ihre Töchter einen netten Jungen kennengelernt haben. Meine Mom hingegen wäre vollkommen einverstanden damit gewesen, wenn ich niemals geheiratet hätte. Sie hatte ein konkretes Szenario im Sinn – inklusive klarer Randmarken, die es nicht zu überschreiten galt. Allerdings durfte man eigentlich nicht ihr die Schuld daran geben. Höchstens eine Teilschuld. Nach meiner Geburt konsultierte sie die Frau, die sie geschwängert hatte – nicht im wörtlichen Sinne, das war immer noch mein Dad –, aber die Frau, die ihr einen Fruchtbarkeitstrunk verkauft hatte, dank dem sie endlich ein Kind empfangen hatte. Eine Hellseherin namens Ma Anga. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen und in den tiefsten Winkeln des Herzens nachhallen lassen: Ma Anga. Klingt das nicht schaurig? Maaaah Angaaaaah. Meine Nemesis. Wahrscheinlich war sie inzwischen eine zahnlose Mittachtzigjährige … Ich hatte sie noch nie getroffen, da sie in einem abgeschiedenen Dorf im indischen Goa lebte.

Am Tag meiner Geburt stellte Ma Anga eine Astrokarte zusammen. Anhand der Planetenkonstellation prophezeite sie, dass mein Seelenverwandter zwei Daumen an einer Hand haben würde (was einen überschaubaren Dating-Pool noch mehr einschränkte). Ich würde diesen dreidaumigen Typen am Wasser kennenlernen (Gott sei Dank lag Chicago am Meer), doch ich sollte keine Zeit in Wassernähe verbringen, da ich einen Tod durch Ertrinken sterben würde (hoffentlich erst, nachdem ich meinen Seelenverwandten kennengelernt hatte, alles andere wäre richtig scheiße). Wenn Ma Angas Prophezeiung hier geendet hätte, wäre alles in Ordnung gewesen, doch sie bewahrte das Beste für den Schluss auf: Falls ich jemand anderen als meinen Seelenverwandten heiraten würde, würde meine Mutter binnen sieben Tagen versterben.

Nun, rein theoretisch wäre es natürlich möglich, auf eine Ehe zu verzichten, mit einem klassischen Nichtseelenverwandten zusammenzuziehen und mehr oder weniger glücklich bis ans Ende aller Tage zu leben – doch damit war meine Mutter auch nicht einverstanden. Ein gutes indisches Mädchen zieht direkt vom Elternhaus ins Heim des Ehemanns.

Wäre mein Leben ein Monopoly-Spiel, würden die Regeln wie folgt lauten: Gehe nicht über Los. Ziehe nicht zweihundert Dollar ein. Und ziehe nicht bei deinem Freund ein. Und erst recht nicht erst bei dem einen, dann bei dem anderen. Oder bei drei unterschiedlichen Typen, du Flittchen.

Wie dem auch sei. Das Konzept der Seelenverwandten leuchtete mir nicht recht ein. Die Vorstellung von einem Universum, das den einen perfekten Partner für mich bereithielt, der mich bedingungslos liebte, mir irre Orgasmen bescherte, niemals an Zähnen, Haaren und Erektionen einbüßte und auch noch jeden Abschnitt des Lebens mitsamt meiner Marotten durchstand – das war doch eine heftige Bürde für jedermann. Verdammt, ich würde schreiend davonrennen, wenn jemand dermaßen viel von mir erwarten würde. Aber ich war keine komplette Zynikerin, der Grundgedanke gefiel mir durchaus. Allerdings war ich an den meisten Tagen schon froh, wenn ich ein Haargummi fand, das meine üppige Lockenmähne bändigen konnte. Also nein, ich glaubte nicht an die Sterne, Schicksalsmächte oder all den anderen Kram, den meine Mutter mir eintrichtern wollte. Ich dachte einfach, dass ich mich damit erst auseinandersetzen würde, wenn ich jemanden gefunden hatte, für den sich der Kampf lohnte (wobei der Teil mit Moms Ableben wie ein grimmig dreinblickender Wasserspeier auf dem Regal hockte und mich böse anfunkelte, sobald ich auch nur mit einem Typen Nachrichten austauschte). Ich wollte einfach nur mein Leben leben und keine Dolly, die jedes Mal einen Märtyrertod vortäuschte, wenn ich mit einem Normalo ausging (also einem Kerl mit einer geraden Anzahl von Fingern). Oft gab sie vor, sie würde an ihrem Chai ersticken und kollabieren, noch bevor ich neben meinem Date im Auto saß.

Ein Teil von mir glaubte, dass Dolly in ihrem tiefsten Inneren einfach einsam war und das ihre Art war, mich an sich zu ketten. Meine Eltern hatten in Goa geheiratet und waren noch vor meiner Geburt nach Chicago gezogen. Die Scheidung kam, als ich zwei war. Mein Vater hat vor langer Zeit wieder geheiratet. Seit er mit seiner neuen Familie nach Atlanta gezogen war, hatte ich ihn nicht mehr oft gesehen, doch er rief regelmäßig an und erkundigte sich nach mir. Ich nahm an, dass Dolly ihn durch mich halten wollte. Offensichtlich hat das nicht wirklich funktioniert. Ich fragte mich, warum Ma Anga das nicht vorhergesagt hat, als sie Giftpilze für Dollys Fruchtbarkeitstrunk einweichte.

Ma Anga war auch diejenige, die mir den Namen Moti verpasst hat. Das bedeutet Perle auf Hindi, aber nur wenn man das T weich ausspricht – mit der Zunge zwischen den Zähnen: Mo-Di. Wenn man es mit einem harten T, Mo-Ti, sagt, so wie die meisten, heißt es fett oder moppelig. Dieser kleine Aussprachefehler hat meine Kindheit ruiniert. Nicht nur meine Mitschüler zogen mich damit auf, sondern auch meine Familie – Tanten, Onkel, Cousins, Großcousins und ein älterer Herr, der bei jeder Hochzeit aufkreuzte, auch wenn keiner wusste, wer er war. Die Sache wurde natürlich nicht besser dadurch, dass ich weich und teigig war und alles an mir wabbelte, wenn ich rannte – was regelmäßig vorkam, weil ich oft Reißaus nahm.

Meinen Babyspeck war ich größtenteils losgeworden, und ich hatte mich zudem von dem Gedanken verabschiedet, eine Namensänderung zu beantragen, doch als ich zwischen meiner Mutter und Großmutter saß – Dolly und Naani –, verspürte ich das Bedürfnis, mich dafür zu entschuldigen, wie viel Raum ich einnahm. Zu viel Luft, zu viel Essen, zu viel Wasser. Wäre mein Name Isabelle gewesen, hätten die Dinge vielleicht anders ausgesehen. Vielleicht hätte ich dann bauschende Chiffonröcke getragen und kein Problem damit gehabt, vor anderen zu pinkeln. Mal im Ernst: Der Name Isabelle ist echt ein Statement für sich, die Trägerin »is a belle« – ist eine Hübsche. Versteh mich nicht falsch. Ich war schon irgendwie heiß – auf eine Adele-mäßige Art. Ich hätte den Regen entflammen können. Ja. Ja, so war es wirklich. Ich setzte mich gerader hin und drückte die Schultern nach hinten.

Meine Großmutter tätschelte unter dem Tisch meine Hand. Vielleicht war ihr aufgefallen, wie ich Isabelle beobachtet hatte. Vielleicht hatte sie die vielen Male aufgeschnappt, wenn Mum gesagt hatte: »Kannst du nicht mehr so sein wie deine Cousine Isabelle? Oder wie Monica oder Rupa oder [beliebigen Namen eines fröhlicheren, hübscheren Alphamädchens einfügen]?«

»Tumhari baari bhi aayengi. Aur tabh, tum sirf apni dil ki hi soon na,« sagte Naani. Du bist auch irgendwann an der Reihe. Und wenn es so weit ist, solltest du nur auf dein Herz hören.

Sie sprach fließend Englisch, verfiel bei Ratschlägen aber jedes Mal in Hindi. Mein Gehirn war darauf geeicht, ihre Aussagen entsprechend einzuordnen. Alle englischen Beiträge wurden im vorübergehenden Datenspeicher abgelegt. Alles auf Hindi grub sich tief in mein Unterbewusstsein ein.

Naani lehnte sich vor und zwinkerte mir zu. »Khaas kar ke, uski baaton me mat aana.« Aber vor allem, hör nicht auf die.

Ich lachte. Sie meinte meine Mutter.

»Was hast du gesagt?«, fragte Dolly, doch Naani hatte sich schon wieder ihrem Handy zugewandt.

»Oh, sieh mal. Sie sind da! Komm, Naani.« Ich half ihr auf. »Rachel Auntie möchte, dass wir Thomas und seine Eltern gemeinsam in Empfang nehmen.«

Dolly, Naani und ich gingen zum Eingang des Festsaals. Joseph Uncle drückte Thomas so fest, dass er nach Luft schnappte. Du bist hier und wirst meine Tochter heiraten! Aus der Nummer kommst du nicht mehr heraus.

Isabelle begrüßte ihre zukünftigen Schwiegereltern – George und Kassia – mit Wangenküsschen, und Rachel Auntie strahlte mit den glitzernden Steinchen auf ihrem Sari um die Wette.

In unserer Kindheit hieß es ständig: »Ihr müsst einen Inder heiraten. Eine Ehe ist schon schwierig genug, ohne dass man kulturelle Differenzen zu überbrücken hat. Das macht euer Leben unkomplizierter und unseres auch. Heiratet einen Inder.«

Einen Inder.

Einen Inder.

Was sie vergessen hatten, war die Fußnote, das Hintertürchen, das Sternchen am Text: »Heiratet einen Inder – es sei denn, ihr findet einen Milliardär. Dann heiratet den.« Geld überwand so manche Hürde – Meinungen, Traditionen, kulturelle Unterschiede. Natürlich durfte der Milliardär kein totales Arschloch sein. Und er musste Masala Chai lieben, denn man kann kein Band schmieden, ohne einen brühend heißen Masala Chai von der Tasse auf die Untertasse gegossen, ihn mit eingeübter Handdrehung aufgewirbelt und gemeinsam geschlürft zu haben. So war meine Familie.

»Himmel, sieht der gut aus«, murmelte Dolly, nachdem Isabelle uns Thomas und seine Eltern vorgestellt hatte.

Ich war mir nicht sicher, ob sie damit Thomas oder seinen Vater meinte, der sich entschuldigt hatte, um einen Anruf entgegenzunehmen.

Naani hingegen hatte Wichtigeres im Sinn. Sie wackelte schon wieder in Richtung unseres Tischs zurück. Mit dem Gehen an sich hatte sie keine Probleme, aber ihr Gleichgewichtssinn war nicht mehr intakt, und sie weigerte sich, einen Gehstock zu Hilfe zu nehmen.

»Ist schon gut. Geh nur.« Rachel Auntie nahm meinen Platz ein, direkt hinter meiner Mutter. Ich pass auf deine Mutter auf. Sieh du nach deiner Großmutter.

Das war ein krasser Rollentausch, doch sie schien auf Nummer sicher gehen zu wollen. Bei einer tot spielenden Mutter und einer Großmutter, die womöglich den Schokobrunnen umwarf, war Letztere eindeutig das größere Problem. Es wäre leichter, Dolly vom Boden hochzuhieven, als eine klebrige Katastrophe beseitigen zu müssen.K.o. durch Kakao.

»Beta, kannst du mir ein Glas Wasser holen?«, fragte Naani und ließ sich auf ihren Stuhl plumpsen.

»Ja, klar.« Ich ließ meinen Blick durch den Saal schweifen und entdeckte im hinteren Teil einige Wasserkrüge, die auf einem Tisch aufgereiht standen. Nachdem ich die Schleppe meines Lehenga eingesammelt hatte, machte ich mich auf den Weg. Die Verkäuferin in der Boutique hatte mir geholfen, einen langen bestickten Rock mit passendem Choli herauszusuchen. Das Ensemble war smaragdgrün, am Rand goldfarben bestickt und mit zahlreichen kleinen Steinchen übersät, die das Licht reflektierten.

»Das sieht wundervoll zu deinem herrlichen dunklen Haar aus«, hatte sie gesagt. »Mal ordentlich Kajal um deine Augen, und dir liegen alle zu Füßen.«

»Was ist hiermit?« Ich deutete auf die nackte Haut zwischen Oberteil und Rock.

»So gehört sich das. Bauchfrei ist sexy! Du kannst das immer noch mit deinem Dupatta kaschieren.« Sie schlang einen langen, transparenten Schal um mich.

Ich beäugte mein Spiegelbild. »Können wir das ändern lassen? Das Oberteil etwas länger machen?«

Sie nahm an, dass ich aus Schüchternheit weniger Haut zeigen wollte. In Wahrheit wollte ich jedoch nur formende Wäsche darunter tragen. Nichts hält dich so gut vom dritten Nachschlag Chicken Samosa ab wie ein wurstpellenstrammes Korsett.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ein Kellner, der gerade die Küche verließ.

»Ich wollte nur ein Glas Wasser holen.« Ich lächelte, nahm ein Glas und griff nach dem Wasserkrug.

Okay. Halten wir den Moment kurz an.

Den Moment, ja, genau den, in dem ich nach dem Wasserkrug griff.

Weil das der Moment ist, in dem das Chaos einsetzt.

Bist du so weit?

Okay, weiter.

Meine Finger berührten den Krug im gleichen Augenblick, in dem jemand anders danach griff. So was kommt vor. Bei der Arbeit fasste auch immer mal jemand nach dem gleichen Donut wie ich. Kein Ding.

Aber es war ein Ding – was meinen Kiefer nach unten sacken ließ und das Drücken der Stopptaste verlangte, war ein kleiner Knubbel, der aus dem Daumen der anderen Person herausragte. Ein zwergenhafter Daumen, komplett mit winzigem Fingernagel, so wie eine eigenwillige Abzweigung an einer Ingwerwurzel.

Polydaktylie.

Ein zusätzlicher Finger oder Zeh.

Um genau zu sein, präaxiale Polydaktylie.

So nennt man es, wenn der Zusatzfinger ein Daumen ist.

Die Wahrscheinlichkeit, dass man so jemand trifft, liegt bei 1 zu 1000. Oder war es 1 zu 10000? Das sollte ich wissen. Ich hatte es oft genug gegoogelt, doch die einzigen Zahlen, die ich in diesem Moment im Kopf hatte, waren 1 und 2.

1: Heilige.

2: Scheiße.

Und so stand ich da … wie vom Daumen gerührt … äh … wie vom Donner gerührt. Es kommt nicht oft vor, dass man einen Extradaumen in freier Wildbahn sieht. Glaub mir. Ich hatte schon auf viele Hände geschielt – im Bus, im Supermarkt, auf Parkbänken und – dafür schäme ich mich ein bisschen – im Spielbereich bei McDonald’s (da waren hauptsächlich Väter, die ihren Kindern hinterhergejagt haben, aber verzweifelte Situationen rufen nach verzweifelten Maßnahmen … und wer weiß – Singlevater, Doppeldaumen?).

Irgendwo zwischen Heilige und Scheiße führte mein Gehirn eine eilige Bestandsaufnahme durch.

Männliche Hand: Check.

Passende Altersgruppe: Check.

Kein Ehering: Check.

DING, DING, DING!

Nein. Moment. De-Check. Der Ehering würde an der anderen Hand stecken.

Sollte ich den Blick nach oben wagen? Ich hatte noch nie weiter als bis zu diesem Punkt gedacht, aber nun, da mein achtes Weltwunder, mein fabelhaftes Einhorn vor mir stand, wollte ich, dass es attraktiv war. Zum Teufel mit »Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul«! Falls auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit bestand, dass ich ebendiesen Mund küssen würde, wollte ich verdammt noch mal wissen, wie er aussah.

Ich sah hoch.

Mein Magen machte einen Hüpfer.

Kein normales kleines Hüpferchen, sondern eine olympische Turmsprung-Choreo: zweieinhalb Salti, gefolgt von zweieinhalb Schrauben, und das Ganze in zweieinhalb Sekunden. Dann verschwand mein Magen irgendwo in der Gegend meiner Eierstöcke, die Punktekarten für die erstaunliche Sequenz menschlicher DNA vor mir in die Höhe reckten.

Eierstock 1: »10.«

Eierstock 2: »01.«

Eierstock 1: »Ernsthaft?«

Eierstock 2: »Scheiße, ja! Nein, Moment.« (Dreht Punktekarte um.) »10!«

Da begann Mister 10-von-10-Punkten zu sprechen.

»Hier.« Er hob den Wasserkrug an und schenkte mir ein.

Meine Hand löste sich von seiner. Ich warf einen kurzen Blick auf seine andere Hand. Kein Ehering.

Juhu!

»Ich bin Nikos«, sagte er, füllte Wasser in sein eigenes Glas und sah mich an.

Seine Augen waren weintraubengrün. Ich weiß, dass das platt und langweilig klingt. Du würdest jetzt wahrscheinlich lieber hören, sie seien jadegrün oder piniengrün – die Farbe des Waldes nach dem Regen, die Farbe von Frühlingsfarn. Aber du musst wissen, dass ich Essen sehr liebe, also sprach ich ihm damit das höchste Lob aus. Klar, ich hätte auch etwas Poetischeres nehmen können, wie zum Beispiel frische Spargelspitzen, aber von Spargel riecht das Pipi immer so komisch.

»Hi, ich bin Mo-Ti.«

Was zur Hölle? Habe ich gerade meinen eigenen Namen mit einem harten T ausgesprochen? Hallo, ich bin Fetti.

»Mo-Ti?«, wiederholte er.

»Mo-Di. Mit ’nem weichen T.«

»Mo-Ti Mitnem-Weichentee?«

Das klang nach einem Charakter aus Downton Abbey, aber ich machte mir nicht die Mühe, ihn zu korrigieren. Wenn es so weit war, würde ich ohnehin seinen Nachnamen annehmen. Mit einem Mal war ich überzeugt von den Sternen. Und Schicksalsmächten. Und Seelenverwandten. Und all dem anderen Scheiß, an den ich vorher nicht geglaubt hatte.

Nikos Augen wanderten über meinen Körper.

Heilige Scheiße, es war so weit. Die Planeten standen in der richtigen Konstellation. Himmlische Engelswesen sangen HALLELUJA.

Danke, ihr Mieder- und Figurenformergötter, und danke an die drei Sit-ups, die ich vor zwei Tagen gemacht habe.

Danke, Reiswaffeln.

Danke, gedünstetes Gemüse.

»Prost.« Nikos hielt sein Glas hoch und leerte es in einem Zug.

Ich fragte mich, ob er im Bett genauso gierig war wie beim Trinken. Sicher hätte er lieber etwas Härteres als Wasser zu sich genommen, aber Joseph Uncle war nicht bereit, die Rechnung für eine offene Bar zu stemmen. Wasser, Saft, Softdrinks und Masala Chai. Wenn du was anderes willst, musst du dich selbst drum kümmern, Kumpel.

Nikos trug ein blaues Hemd, enge Hosen und einen schwarzen Ledergürtel, der um schmale Hüften geschlungen war. Kein Gramm Fett zu viel war an ihm – alles kompakt, durchtrainiert und wohldefiniert. Sein Haar war gestylt und glänzte, er hatte es mit Gel und Geschick nach hinten gelegt. Ein Dreieck sonnengeküsster Haut lugte aus seinem Hemdkragen hervor. Es war Februar in Chicago. Er gehörte offensichtlich zu Thomas’ Familienseite. Ich sah, wie sich seine Kehle beim Trinken spannte und entspannte. Es stellte komische Dinge mit meinem inneren Getriebe an.

Ich trank einen Schluck Wasser zur Abkühlung und verschluckte mich prompt. Warum? Weil mir in diesem Moment klar wurde, dass ich ihn am Wasser getroffen hatte. Krüge voll Wasser. Genau wie von Ma Anga vorhergesagt. Und nun würde ich ertrinken. Oder zumindest an einem Schluck Wasser ersticken.

O Himmel, nein. Bitte nicht.

»Alles okay?«, fragte Nikos.

Falls du dich noch nie in aller Öffentlichkeit verschluckt hast, lass dir eins gesagt sein: Es ist das Schlimmste überhaupt.

Nein, das nehme ich zurück. Sich vor jemandem zu verschlucken, auf den man unbedingt einen guten Eindruck machen möchte, ist das Schlimmste überhaupt. Die Augen tränen, das Gesicht wird rot. Du machst auf cool, während du heftig zuckst.

Ich hob einen Finger und nickte. »Entschuldige mich«, krächzte ich und stolperte davon.

Ich schaffte es, mich ein paar Schritte zu entfernen, dann schüttelte es mich, und eine Reihe kurzer, lauter Huster bahnte sich nach draußen. Wasser hüpfte aus meinem Glas, ich rang nach Luft, hustete und rang dann noch ein bisschen weiter nach Luft. Als mein Atem sich wieder beruhigt hatte, gab ich mir ein mentales High-Five und straffte mich. Ich hatte es überlebt.

Nimm das, Ma Anga.

Ich widerstand dem Drang, per Schulterblick zu checken, ob Nikos gesehen hatte, dass ich einem Schluck Wasser in der Luftröhre Paroli bieten konnte, und machte mich stattdessen auf den Rückweg zum Tisch.

»Bitte schön.« Ich stellte das Glas von Naani ab, die hoffentlich nicht merken würde, dass es nur noch zur Hälfte gefüllt war. »Naani, siehst du den Typen dahinten? Bei den Wasserkrügen?«

»Wen?« Sie drehte sich um und nickte dann. »Achha, der da?«

»Nicht so offensichtlich«, zischte ich ihr zu. »Was macht er? Sieht er in unsere Richtung?«

Es ist deprimierend, wenn man nur die Großmutter als Kuppelhilfe in petto hat, aber ich musste einfach mehr über Nikos herausfinden, bevor der Abend vorbei war. Verabredete er sich mit jemandem? Einer Freundin? Einem Freund? Einem Bewährungshelfer?

»Er wischt den Tisch ab, Moti.«

»Was?« Ich drehte mich um und sah einen der Kellner dort, wo ich gerade noch mit Nikos gestanden hatte.

»He?« Naani knuffte mich mit dem Ellbogen. »Gefällt er dir?«

»Ja. Ich meine, nein. Nicht der.« Mein Blick scannte den Saal ab, suchte nach dem sonnengeküssten griechischen Gott. »Du wirst es nicht glauben. Ich habe gerade einen Typen mit drei –«

»Da bist du ja.«

Ich fühlte einen groben Klaps an meiner Schulter. Es war Isabelle. Sie lehnte sich vor und senkte die Stimme. »Du solltest dich um mich kümmern. Dafür sind Brautjungfern schließlich da.«

»Sorry, ich hab nur –«

»Schon gut. Ist ja nur ein Probedurchlauf. Aber mal im Ernst, Moti. Bei der Hochzeit kannst du mich nicht einfach so im Stich lassen. Komm. Wir müssen zu unseren Plätzen.« Sie zog mich hoch und schleifte mich in Richtung Saaleingang. Auf halber Strecke rutschte sie aus, stolperte und wäre beinah auf dem Arsch gelandet. »Was zur Hölle? Der ganze Boden ist nass.«

Ich brummte und schüttelte den Kopf. »Unfassbar. Ich werde mir sofort den Eventplaner vorknöpfen.«

»Später. Jetzt müssen wir erst mal auf die Bühne.«

Die Bühne war ein kleines Podest, das man auf Isabelles Wunsch hin aufgestellt hatte. Sie wollte, dass ihr Tisch höher als die der Gäste war. Ich half ihr das provisorische Treppchen herauf und hielt ihren Rock, damit die Schleppe sich nicht an ihren Absätzen verfing. Gott sei Dank war sie nicht wirklich hingefallen, weil ich mich nie zusammenreißen kann, wenn es jemanden erwischt. Das ist ein Reflex, und es tut mir im Nachhinein immer total leid – die baldige Braut auszulachen hätte mich sicher den Posten als Brautjungfer gekostet. Nicht dass ich mich je für die Stelle beworben hätte. Isabelle hatte nicht viele Freundinnen, und die, die sie hatte, konnte sie nicht wie gewohnt herumkommandieren. Also wurde ich mit der Ehre betraut. Blut ist dicker als Wasser und lässt sich außerdem besser herumkommandieren, denn es dauert länger, bis das Blut sagt: »Scheiß drauf. Ich hau ab.«

Thomas lächelte freundlich, als ich Isabelles Rock in Form brachte und um ihren Stuhl drapierte. Er war charmant und locker und hatte dichtes schwarzes Haar, die gleiche Farbe wie seine Augen. Seine Eltern saßen am ersten Tisch, gemeinsam mit Rachel Auntie und Joseph Uncle. Durch die Stützbalken der mehrstöckigen Torte vor mir fing ich Rachel Aunties Blick auf. Sie deutete einen erhobenen Daumen an, wahrscheinlich um zu sagen, dass Dolly sich benahm.

Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück und setzte mich gleich darauf ruckartig auf. Nikos schlängelte sich durch die Tischreihen, er kam geradewegs auf mich zu.

Heilige Scheiße.

Hatte er eine Verbindung gespürt? Wurde er von geheimnisvollen Kräften gezwungen, mich aufzusuchen? War er hilflos gegenüber der Anziehung, die ihn näher und näher brachte?

Gott, war er heiß. Kräftige Schenkel, feste Brust. Schnittig, sexy und hoffentlich Single.

Hatte ich Ma Anga als meine Nemesis bezeichnet? Sie war eine verdammte Göttin. Gedanklich reservierte ich bereits Flugtickets für Nikos, mich und unsere zukünftigen Kinder, damit wir eine Pilgerreise nach Indien unternehmen und ihre Füße küssen konnten.

Mein Herz pochte so wild, als Nikos bei mir ankam, dass ich schon befürchtete, einen auf Dolly machen zu müssen und ihm ohnmächtig auf die Füße zu fallen. Er erklomm die Treppe zum Podium, immer zwei Stufen auf einmal … dann zwängte er sich an mir vorbei und setzte sich auf den Stuhl neben Thomas.

»Hast du Nikos schon kennengelernt?«, fragte Isabelle. »Er wird Thomas’ Trauzeuge bei der Hochzeit sein.«

Mein Mund verzog sich zu einem stummen O. Ich fühlte mich zugleich ernüchtert und verschüchtert – die Enttäuschung, dass er nicht extra zu mir gekommen war, stand der Erkenntnis gegenüber, dass er der Trauzeuge und ich die Trauzeugin war. Konnten die Zeichen noch eindeutiger werden?

»Ist er mit Thomas verwandt?«, flüsterte ich.

»Sandkastenfreunde.« Isabelle lehnte sich in Thomas’ Richtung und setzte ein strahlendes Lächeln auf, als der Fotograf ein paar Aufnahmen von ihnen machte. Nikos saß hinter einem gigantischen Blumenarrangement, und ich war von der Torte verborgen. Isabelle wollte es sich augenscheinlich ersparen, uns nachher aus den Fotos herausschneiden lassen zu müssen.

Eine kleine Fotografentruppe arbeitete sich durch die Tischreihen. Joseph Uncle und Rachel Auntie hatten sich mächtig ins Zeug gelegt. Die meisten Angehörigen der Braut würden nicht an der Hochzeitszeremonie in Griechenland teilnehmen können, daher war die Verlobungsfeier als Ersatzparty gedacht.

»Sehr verehrte Damen und Herren, wenn ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte.« Nikos stand auf und klopfte mit einer Gabel gegen sein Glas. »Im Namen von Thomas, Isabelle und ihren Familien möchte ich Sie heute Abend herzlich willkommen heißen …«

Er hatte einen köstlichen Englisch-ist-nicht-meine-Muttersprache-Akzent, der mir verriet, wie er seine Zunge um Worte legen und sie auf eine Art streicheln konnte, die –

»Moti«, zischte Isabelle. »Hörst du mir zu?«

»Sorry, was hast du gesagt?« Ich rutschte näher zu ihr.

»Meine Blume rutscht.«

Ich steckte sie wieder in ihrem Haar fest. »Also … kommt Nikos mit auf die Kreuzfahrt?«

»Selbstverständlich. Er gehört schließlich zum engsten Kreis der Hochzeitsgesellschaft.«

»Nur er? Keine Ehefrau, keine Freundin?«

»Er ist nicht verheiratet. Und soweit ich weiß, bringt er auch niemanden zur Hochzeit mit.« Isabelle warf mir einen ungeduldigen Blick zu. Sie war zu sehr mit Verlobungsstress vollgedröhnt, als dass sie eins und eins hätte zusammenzählen können. Vielleicht hatte sie auch nie seine Daumen gesehen und konnte daher keine passenden Rückschlüsse ziehen.

»Sorry. Ich habe nur …« Ich verstummte. Das war Isabelles großer Tag. Es war nicht der rechte Zeitpunkt, um den zusätzlichen Finger des Trauzeugen aufs Tapet zu bringen.

Nikos sprach einen Toast auf das Brautpaar. Wir erhoben unsere Gläser. Ich erhaschte einen kurzen Blick auf seinen Arsch, doch dann wurde die Sicht durch Isabelles Hochsteckfrisur behindert. Wie jede rechtschaffene Frau rückte ich meinen Stuhl ein wenig beiseite, um besser gucken zu können. Doch nun war Thomas’ Hinterkopf im Weg.

Verdammt noch mal. Wie weit muss eine Brautjungfer eigentlich gehen, um den Hintern des Trauzeugen abchecken zu können?

Ich lehnte mich ein paar Zentimeter auf dem Stuhl nach hinten.

Im nächsten Moment krachte er vom Podest herunter, mit mir obendrauf. Als ich auf den Boden prallte, keuchte ich auf. Die Traubenschorle, mit der ich eben noch auf Isabelle und Thomas hatte anstoßen wollen, schoss mir ins Gesicht wie eine eiskalte Ohrfeige. Überraschenderweise schien niemand etwas bemerkt zu haben, vermutlich, weil ich größtenteils von der Torte verborgen wurde. Ich hätte mich von der Peinlichkeit vielleicht erholen, aufstehen, den Stuhl aufheben und ein lockeres »Neue Runde, neues Glück« murmeln können. Aber nein, ich hing fest, mein Stuhl war zwischen dem Podest und der dahinterliegenden Wand eingekeilt. Ich war in einem komischen Winkel gefangen, starrte der Decke entgegen, während meine Beine ebenfalls nach oben zeigten und mein Hintern auf der Sitzlehne festklebte. Eine klassische Sportpose – das sogenannte Pilates-V. Na los. Schau es nach. Ich warte so lange. Wäre ja nicht so, als könnte ich weg.

Isabelle fuhr beim polternden Fünfundsechzig-Grad-Aufprall meiner fünfundsechzig Kilo herum. Auch Thomas wandte sich in meine Richtung. Er wirkte überrascht, meine Lehenga auf Ohrenhöhe zu sehen, doch Isabelle verhinderte, dass er aufstand. Sie lächelte wegen irgendetwas, das Nikos gesagt hatte. Der arme Thomas schaute verwirrt drein.

Willkommen in der Familie, Buddy, dachte ich. Der äußere Schein ist alles. Die Show muss weitergehen. Ich bleibe einfach hier liegen und denke darüber nach, was mich zuerst umbringt. Tod durch Unterwäsche (dieses Mieder killt mich) oder Tod durch Schamgefühl (bitte mach, dass Nikos sich nicht umdreht und mich so sieht).

Dann traf mich eine Erkenntnis. Ich hatte Rachel Auntie enttäuscht. Die ganze Zeit war sie besorgt gewesen, dass Dolly eine Szene machen könnte, und nun lag ich hier, Frau Super-GAU.

Ich blinzelte die Decke an. Warum bist du nur so ein hoffnungsloser Fall, Moti?

Nachdem Nikos seine Rede beschlossen hatte, funkte Isabelle den Eventplaner an und bat ihn, mir aufzuhelfen. Diskret. Galant. So, dass Mission Moti unauffällig während des Serviervorgangs vollzogen wurde.

»Danke.« Als mir von dem Stuhl geholfen wurde, seufzte ich erleichtert auf. Ein großer nasser Fleck prangte auf meiner Kleidung, und mein Haar war vom Traubensaft klebrig, aber immerhin hielt ich noch mein Glas in der Hand. Ich hatte es zwar ordentlich vermasselt, aber immerhin war dabei nichts zu Bruch gegangen.

»Tut mir echt leid«, flüsterte ich Isabelle zu.

»Den brauchen wir nicht mehr«, sagte sie und winkte ab, als der Eventplaner meinen Stuhl erneut auf das Podest stellen wollte. »Ich glaube, du setzt dich lieber zu Naani und Dolly Auntie, Moti.«

»Ich … äh … okay.« Ich schnappte mir eine Serviette, um die nasse Stelle auf meinem Kleid zu verbergen.

Da begriff ich, dass Isabelle mich als Brautjungfer gefeuert hatte.

Ich hätte erleichtert sein müssen. Nun musste ich nicht mehr den perfekten Junggesellinnenabschied für Isabelle organisieren. Oder Tütchen mit Luffaschwämmen, Cremes und Duftkugeln, von denen ich Ausschlag bekam, für die Gäste zusammenstellen. Mir keine Sorgen wegen der Kosten für das pfirsichfarbene Monsterkleid machen, das die Brautjungfer tragen sollte. Doch ich verspürte genau das Gegenteil. Ich hatte wieder einmal versagt.

Da ich die neugierigen Blicke der anderen wahrnahm, setzte ich ein Lächeln auf, während ich mich durch die Gästetische schlängelte.

»Warum ist dein Rock nass?«, fragte Dolly. »Was ist passiert? Warum sitzt du nicht bei Isabelle?«

»Sie will mich nicht mehr dort haben.«

»Du hast es versaut, oder, Moti? Ich wusste es. Ich wusste, dass du irgendetwas Dummes anstellen würdest. Himmelherrgott, wisch dir das dämliche Grinsen vom Gesicht. Wie beschämend. Entwürdigend. Ich kann mich doch nie wieder blicken lassen.«

»Alles in Ordnung, beta?«, fragte Naani, während Dolly mit ihrer Tirade fortfuhr.

Ich drückte ihre Hand und nickte.

»Also. Was hast du gemacht?«, wollte Dolly wissen.

»Ich … äh …« Ich öffnete meine Abendhandtasche und tat so, als würde ich nach etwas suchen. Meine Finger schlossen sich um ein dünnes, eingewickeltes Seifenstück, das ich von der Damentoilette entwendet hatte. Ich ließ es mehrfach über meine Handfläche gleiten.

»Dolly. Lass sie.« Naani hatte ihr Mahl beendet und schob den Teller von sich. »Hattest du etwas zu essen, Moti?«

»Ja, Naani.« Was sollte ich darauf auch antworten? Dass meine Portion noch auf Isabelles Tisch stand? Dass ich es nicht verdiente, etwas zu essen?

Ich wandte mich um und erhaschte einen Blick auf Nikos, der mir durch die Wedel des Farns hindurch zulächelte. Vielleicht amüsierte er sich über das, was gerade geschehen war, aber das wäre in Ordnung. Ich musste ja auch immer lachen, wenn Leute hinfielen. Und ich hatte nach dem Wasser gegriffen, als er nach dem Wasser gegriffen hatte. Mein Gesicht war hinter einer gigantischen Tischdeko verborgen gewesen. Sein Gesicht war hinter einer gigantischen Tischdeko verborgen gewesen. Mein Gott, wir hatten so viel gemeinsam. Wir waren wie füreinander gemacht, oder?

Ich spürte, wie mir leichter zumute wurde. Mir war soeben aus der Klemme geholfen worden – im übertragenen wie wörtlichen Sinn. Hintenüberzufallen war womöglich das Beste, was mir je passiert war. Und die Zukunft sah sogar noch rosiger aus. Nikos könnte Gefallen an mir finden und sich in mich verlieben. Nur weil ich nicht mehr die Brautjungfer war, musste das nicht bedeuten, dass ich mich nicht an den Trauzeugen ranmachen durfte.

Vor meinem geistigen Auge spulte sich auf einmal ein Film ab – ich, wie ich barfuß über einen griechischen Strand eilte. Ein weißes Kleid, ein Lasso in der Hand, ein traumhafter Sonnenuntergang im Hintergrund. Nikos rannte voraus. Ich warf das Seil, riss es fest und zog die Schlinge zu. ZACK. Nikos lag mir zu Füßen.

Zugegebenermaßen ist ein eingewickelter Kerl nicht unbedingt die Idealvorstellung eines Happy Ends, aber manchmal muss frau einfach alles geben und auf das Beste hoffen – insbesondere, wenn es das Einzige ist, was sie im Meer der sinkenden Träume über Wasser hält.

Mir blieben drei Monate, um das Maximum aus mir herauszukitzeln.

Drei Monate bis zu Isabellas Hochzeit.

Zwei Wochen Familienkreuzfahrt, um den einzigen Mann, den meine Mutter je akzeptieren würde, für mich zu gewinnen.

Eine einmalige Gelegenheit, um mich freizumachen.

Ich war bereit. Ich war so was von bereit.

Ich legte meine Abendhandtasche beiseite und erwiderte Drei-Daumen-Nikos’ Lächeln.

Darling, eines Tages werden wir unseren Kindern davon erzählen.

Kapitel 2

Der erste Eindruck ist wichtig, insbesondere beim zweiten Mal.

Ich hatte mich minutiös auf das nächste Aufeinandertreffen mit Nikos vorbereitet und sogar Windstärke und -richtung berechnet, um genau zu wissen, wie ich mich bewegen musste, um diesen sexy, windkanalmäßigen Beyoncé-Bühnenlook hinzubekommen. Vielleicht überkompensierte ich auch, dass ich mein Diätziel nicht erreicht hatte. Meine Klamotten waren nach dem langen Flug nach Athen zerknautscht, aber ich hatte die Windsituation unter Kontrolle. Was ich allerdings nicht in Betracht gezogen hatte, war die Jacht.

Heilige Mutter des Jetset-Luxus.

Ich schirmte meine Augen vor der ägäischen Sonne ab und sah hoch. Es war nicht nur ein privates, exklusiv für uns gemietetes Schiff, sondern eine irrsinnig extravagante Megajacht mit glänzendem, goldumfasstem Oberdeck. Eine Reihe ausladender Bullaugen verhieß gleichsam eindrucksvolles Interieur. Isabelle und Thomas hatten das Traumschiff gechartert, so viel stand fest. Diese Jacht hob sich majestätisch von allen anderen Booten ab, die im Hafen vertäut waren. Dort würde ich nun für zwei Wochen Quartier beziehen. Mit Drei-Daumen-Nikos.

Ich hatte buchstäblich den Hafen der Liebe gefunden. Natürlich hätte ich sofort das Oberdeck unsicher machen sollen, aber ich zögerte für einen kurzen Moment – Panik klopfte an. Womöglich lag das an Ma Angas Warnung, ich würde einen Tod durch Ertrinken sterben. Oder ein Teil meines Gehirns erlitt einen Wutanfall, weil ich nicht schwimmen konnte. Oder es lag am Gewicht der Erwartungen, die ich an diese Reise geknüpft hatte und die mir das Atmen schwer machten. Oder vielleicht hatte ich auch einfach nur Dollys unheimliche Fähigkeit geerbt, Probleme zu wittern, wo keine waren.

»Komm schon, Ma.« Ich holte tief Luft und schleifte Dolly die Treppe hinauf, die die Jacht mit dem Dock verband. Ja, eine richtige Treppe aus Teakholz. Keine Landungsbrücken oder Stege, um dieses Baby zu borden. Ich hatte mich noch nie so cool gegeben und war gleichzeitig dermaßen am Durchdrehen gewesen.

Eine in weißem Poloshirt und Kakishorts uniformierte Blondine nahm uns in Empfang. »Willkommen auf der Abigail Rose II. Sie müssen Moti und Dolly sein. Ich bin Hannah, Ihre Chief Stewardess. Falls Sie irgendetwas benötigen, bin ich jederzeit für Sie da.« Sie sprach meinen Namen perfekt aus. Außerdem wirkte sie kompetent und selbstbewusst, wie die Art von Frau, die sich eigens für über Bord gegangene Passagiere in die Fluten wirft und gleichzeitig Make-up-Tipps verteilt. Ich mochte sie auf Anhieb.

»Auf der Jacht gilt Barfußpflicht, also muss ich Sie bitten, Ihre Schuhe auszuziehen und hier zu deponieren.« Hannah deutete auf einen Jutekorb, in dem schon ein Stapel Schuhe lag. »Absätze können das Deck beschädigen, und schmutzige Sohlen hinterlassen oftmals Schmierspuren. Sie können jedoch saubere Socken oder dünnsohlige Schuhe, die speziell für den Innengebrauch vorgesehen sind, tragen.«

Ich zog meine Schuhe aus und nahm ein kühles Handtuch und einen Willkommensdrink von Hannah entgegen. Dolly schnupperte am leicht parfümierten Handtuch, bevor sie ihr Gesicht damit abtupfte, und warf es dann aufs Tablett zurück. Sie war angesäuert, weil wir die offizielle Begrüßung von der Schiffscrew sowie drei Nächte in Athen, derentwegen die anderen Gäste eher angereist waren, verpasst hatten. Aber da ich für Joseph Uncle arbeitete und wir beide an der Kreuzfahrt teilnahmen, waren zwei Wochen Urlaub das Äußerste gewesen, was mir möglich war.

Wenn Dolly mies drauf war, legte sie es immer darauf an, ihr gesamtes Umfeld mit herunterzuziehen. Gemeinsames Schäumen war bedeutsam befriedigender, als wutschnaubend allein in der Ecke zu sitzen. Auf dem Flug nach Athen stichelte sie, ich müsse an einem chemischen Ungleichgewicht leiden, anders ließe sich nicht erklären, weshalb es mich nicht mehr störte, dass Isabelle mich als Brautjungfer entlassen hatte. Als wir auf der Höhe von England waren, lautete die Diagnose Idiota Maxima, weil es mich nicht auf die Palme brachte, durch eine Professionelle ersetzt worden zu sein. (Ja, es gibt buchbare Brautjungfern, die garantiert nicht im ungünstigsten Moment von der Bühne purzeln oder sich an Wasser verschlucken.) Als die erwünschte Reaktion ausblieb, brummelte Dolly etwas über genetisches Erbe und vertauschte Babys. Dann fiel sie in einen tiefen, wohligen Schlaf (wohlig für mich).

Wir folgten Hannah durch das Onyx-geflieste Foyer zum Fahrstuhl; die opulente Umgebung schien Dolly zu gefallen.

»Die anderen sind beim Sicherheitstraining«, erklärte Hannah. »Ich zeige Ihnen die Kabine, und nachdem Sie sich frisch gemacht haben, bringe ich Sie auf den gleichen Stand.«

»Darf ich mal sehen?« Dolly deutete auf das Clipboard in Hannahs Hand. Eine Liste aller Passagiere und ihrer Unterbringungen war daran befestigt.

 

Achterdeck:

Kabine 1, Mastersuite: Kassia und George

 

Thomas’ Eltern.

Da sie die Jacht gebucht hatten, war es nur gerecht, dass sie auch die größte Suite bekamen.

 

Unterdeck:

Kabine 2, VIP-Suite: Nikos und Thomas

 

Der Trauzeuge, aka mein zukünftiger Ehemann.

Und der Bräutigam.

 

Kabine 3: Rachel und Joseph

 

Meine Tante und mein Onkel.

 

Kabine 4: Naani und Isabelle

 

Meine Großmutter und meine Cousine, die Braut.

Obwohl Isabelle und Thomas bald heirateten, galt es als fettes Tabu, vor der Eheschließung ein Zimmer zu teilen. Beide Elternpaare taten so, als hätten ihre Kinder noch nie miteinander geschlafen. Ich denke, das ist okay. Wir wollen uns ja auch nicht vorstellen, wie unsere Eltern Sex haben. Niemals.

 

Kabine 5: Dolly und Moti (mit weichem »t«)

 

Ich lächelte über Rachel Aunties handschriftliche Anmerkung, jetzt war klar, warum Hannah meinen Namen richtig ausgesprochen hatte.

 

Kabine 6: Teri und Sofia

 

Teri war die gemietete Brautjungfer. Ich hatte sie bei Isabelles Junggesellinnenabschied kennengelernt. Sie war außerdem gelernte Friseurin und Make-up-Stylistin, was ein Glücksfall für Isabelle war. Sofia war mir nicht bekannt, sie musste der Überraschungsgast sein, von dem Isabelle gesprochen hatte.

 

Sechs Kabinen, zwölf Passagiere, alle verpartnert und bereit, es krachen zu lassen (hoffentlich nicht im Titanic-Stil). Die Raumaufteilung machte einen angemessen symbolischen Eindruck – zwei Kabinen für die Angehörigen des Bräutigams, vier für die der Braut. Mit anderen Worten: Isabelle hatte sich den doppelten Anteil gesichert. Thomas würde sich darauf einstellen müssen, dass sich dieses Verhältnis auch auf alles andere übertragen würde – überproportionale Anspruchshaltung, überproportionales Drama. Andererseits hatte Thomas die größten Kabinen für seine Familie gesichert, also war er vielleicht kein komplettes Opfer.

»Vielen Dank.« Dolly gab Hannah das Clipboard zurück.

»Gern geschehen«, antwortete Hannah und führte uns zu unserer Suite. »Ihr Gepäck wird gleich von einem Crewmitglied gebracht. Ich komme nachher noch einmal vorbei, helfe Ihnen beim Auspacken und zeige Ihnen das Schiff. Wir warten noch auf eine Lieferung für Isabelle, und eine Passagierin, Sofia, ist auch noch nicht eingetroffen. Aber sobald beide an Bord sind, heißt es: Anker lichten!« Sie hoppelte fröhlich aus dem Zimmer, so als könnte sie ihre Begeisterung kaum im Zaum halten.

»Wow.« Helfe Ihnen beim Auspacken? Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich meine BHs ordentlicher verstaut. Ich ließ mich aufs Sofa plumpsen und besah mir die Kabine genauer. Schiebetüren und Privatbalkon auf der einen, Badezimmer auf der anderen Seite. Außerdem zwei frei stehende Einzelbetten, ein Flachbildfernseher an der Wand, ein Kühlschrank, eine Minibar und ein Kleiderschrank. Das Badezimmer war ebenso geräumig, enthielt zwei Waschbecken, einen beheizbaren Handtuchhalter, eine Duschkabine, eine Toilette und eine Badewanne. An jede Annehmlichkeit war gedacht worden, selbst ein iPad für die Regulierung des Thermostats sowie die Einstellung des Unterhaltungsprogramms war vorhanden.

Dolly lag auf ihrem Bett und starrte an die Decke. »Moti?«

»Ja, Ma?«

»Es tut mir leid, was ich vorhin zu dir im Flieger gesagt habe.«

Das erwärmte mein Herz, so wie jedes Mal, wenn sie nur das kleinste bisschen nett zu mir war. »Es war ein langer Flug. Wir waren beide müde.«

»Also … dieser Nikos-Typ mit den drei Daumen, ist der so reich wie Thomas?« Sie drehte sich auf die Seite und sah mich an. »Kannst du dir das vorstellen? Meine Moti heiratet so jemanden? Du darfst während der Reise auf keinen Fall zeigen, wie lahm du bist. Männer mögen Geheimnisse, Abenteuer, jemanden, den es zu jagen lohnt. Frag Isabelle um Rat. Sie weiß, wie man seine Karten am besten ausspielt.«

Jegliche Wärme schoss aus meinem Körper, als mein Plan, mit Nikos zusammenzukommen, in etwas derart Hässliches verdreht wurde.

»Ich interessiere mich nicht wegen seinem Geld für ihn, Ma. Ich interessiere mich für ihn, weil er der Einzige ist, mit dem ich zusammen sein kann, ohne dass es sich so anfühlt, als würde ich mich gegen deine Wünsche –«

»Moti!« Die Kabinentür flog auf, und Isabelle fegte herein. »Ich bin so froh, dass du da bist. Mein Brautkleid brauchte ein paar Änderungen, und der Schneider steht draußen damit, aber man lässt ihn nicht in die Werft. Könntest du das Kleid bitte holen? Er wartet auf der Straße in einem silberfarbenen Toyota Yaris.«

Ich wollte fragen, wie ein Toyota Yaris aussah. Stattdessen nickte ich einfach.

Silberfarben.

Ich musste nur nach einem silberfarbenen Auto und einem Mann mit riesigem weißem Kleid Ausschau halten.

Nicht weiter schwierig, richtig?

Falsch.

Ich entdeckte das Auto, aber es war auf der anderen Seite der Straße geparkt. Nach drei Beinaheunfällen musste ich feststellen, dass griechische Zebrastreifen nichts weiter als ein paar hübsche Striche sind, die einen schnellstmöglich ins Jenseits locken sollen. Auto- wie Motorradfahrer schienen mich gar nicht wahrzunehmen. Und was die Sache noch schlimmer machte, war, dass ich ohne Schuhe herausgeeilt war und meine Füße nun wie Popcorn über den heißen Asphalt hüpften. Aber immerhin führte mein unfreiwilliges Tänzchen dazu, dass mich einer der Fahrer sah und das Tempo genug drosselte, damit ich schnell über den Zebrastreifen huschen konnte.

Auf die andere Straßenseite zurückzukommen, dieses Mal mit einem fetten Brautkleid im Schlepptau, war sogar noch schwieriger. Ich wartete, bis ein Einheimischer die Straße überquerte, und setzte dann auf ihn als menschlichen Schutzwall. In einiger Entfernung entdeckte ich Nikos, der auf einem der Außendecks der Jacht stand. Er lehnte am Geländer, die Nachmittagssonne glänzte in seinem Haar. Er sah sorglos und entspannt aus, so als ob er jeden Tag auf exklusiven Booten herumhängen würde. Moment. Genau das tat er. Zumindest sah es auf seinen Social-Media-Profilen danach aus.

Ich unterdrückte plötzlich aufwallende Unsicherheit. Vielleicht griff ich zu hoch? Vielleicht sollte ich tatsächlich Isabelle um Rat bitten. Drei Monate und ein gigantischer Stapel Selbsthilfebücher konnten nicht alle Risse im Selbstbewusstsein kitten.

Überall waren Pfützen vom Waschen der Boote und Dingis. Ich wich einer riesigen Schmutzlache aus, wobei ich behutsam Isabelles Kleid hochhielt. Als meine Schultern gerade unter der Last zu schmerzen begannen, rauschte ein Typ auf einem Motorrad an mir vorbei. Ich hatte das Aufblitzen seines gelben Helms kaum registriert, da öffnete sich schon mein Mund zu einem stummen Schrei.

Neiiiiiiiin.

Stopp. Stell dir die Szene in Zeitlupe und mit tiefem, tiefem Ton vor.

Das Geräusch kommt bei Slow-Motion-Stürzen in Filmen zum Einsatz, wenn der Held sieht, dass jemand erschossen werden soll und den Angreifer zu Boden ringt. In diesem Fall sah ich jedoch vor meinem geistigen Auge, wie ich erschossen wurde. Von Isabelle. Weil dieser Typ, dieser Idiot, dieser motorisierte Volltrottel einen Sturzbach dreckigen Wassers aufgespritzt hatte.

In der Millisekunde, bevor die Schmutzfontäne auf mich niedersegelte, keuchte ich laut auf. Wobei auf uns es vielleicht besser trifft, da sich Isabelles Kleid in ein lebendiges, atmendes Geschöpf verwandelt hatte, das es mit meinem Leben zu beschützen galt. Ich kauerte mich auf den Boden, rollte den Kleidersack unter mir zusammen und schirmte ihn mit meinem Oberkörper ab.

Nimm mich. Nimm mich stattdessen.

Das Wasser traf mich wie die Flosse eines Buckelwals, durchweichte meine Klamotten, mein Haar, mein Gesicht.

Plitsch, platsch, plitsch, platsch. Als ich mich aufrichtete, tröpfelte es davon. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich mich dazu durchringen konnte, das Brautkleid zu begutachten.