Ein Leben im Kampf für die Rechte der kurdischen Bevölkerung - Hatip Dicle - E-Book

Ein Leben im Kampf für die Rechte der kurdischen Bevölkerung E-Book

Hatip Dicle

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  • Herausgeber: Westend Verlag
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Wenn man das über Hatip Dicle schreibt, dann ist es gewiss keine Übertreibung. Er ist einer der prominentesten kurdischen Politiker der Türkei und kämpft seit seiner Jugend unermüdlich für die Selbstbestimmung der kurdischen Bevölkerung und gegen die diskriminierende Unterdrückung, die der türkische Staat seit über 100 Jahren gegen die Kurd*innen ausübt. Über fünfzehn Jahre verbrachte Dicle deswegen im Gefängnis. Aber auch diese Haftstrafen hielten ihn nicht davon ab, sich für die demokratische Selbstorganisation der kurdischen Bevölkerung einzusetzen und seinen Überzeugungen treu zu bleiben. Mit der Verschlechterung des politischen Klimas in der Türkei musste er 2016 schlussendlich sogar seine Heimat verlassen und ins Exil gehen. Seitdem setzt er seinen Kampf von Deutschland aus fort. Dicle und seine Mitstreiter*innen haben bei allen Repressalien, Anfeindungen, Diffamierungen und nicht zuletzt auch tätlichen Angriffen nie den Glauben an eine friedliche und diplomatische Auseinandersetzung verloren und bringen sich auch weiterhin demokratisch ein.

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Ebook Edition

Hatip Dicle

Ein Leben im Kampf für die Rechte der kurdischen Bevölkerung

Eine Autobiografie

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Gefördert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) der Bundesrepublik Deutschland

ISBN 978-3-98791-027-2

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2023

Übersetzung: Müslüm Örtülü

Lektorat: Helen Bauerfeind & Emil Fadel

Umschlaggestaltung: Michaela Spohn Design, Frankfurt a. M.

Cover-Foto: © privat

Satz: Publikations Atelier, Dreieich

Gefördert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) der Bundesrepublik Deutschland

Inhalt

Titel

Vorwort

Kindheitsjahre und politischer Einfluss

Jugendjahre und aufkeimendes politisches Interesse

Rückkehr nach Kurdistan und politischer Kampf

Rückkehr nach Nordkurdistan und Neuanfang

Engagement für den Menschenrechtsverein İnsan Hakları Derneği

Politischer Kampf im Parlament

Haftzeit im Ulucanlar-Gefängnis

Politisches Engagement ab 2004 und die Bewegung für eine demokratische Gesellschaft

Vom Amed-Serhildan zur Gründung des Demokratischen Gesellschaftskongresses

Gespräche zwischen dem türkischen Staat und der PKK in Oslo

Haftzeit in Amed und Fortsetzung der Oslo-Gespräche

Der Imrali-Prozess und meine Teilnahme an den Gesprächen

Die Friedensgespräche mit Öcalan

Schlussbemerkung

Anmerkungen

Orientierungspunkte

Titel

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Meine Lebensgeschichte ist eng verknüpft mit der Geschichte der kurdischen Bevölkerung innerhalb der türkischen Staatsgrenzen und ihrem Kampf um politische Anerkennung und Demokratie. Folglich ist das vorliegende Buch nicht nur eine Biografie meiner Person, sondern ein Ausschnitt aus dem politischen Kampf der Kurd*innen. Ich war stets bemüht, meiner Verantwortung in diesem Kampf gerecht zu werden. Auch unter den schwierigen Bedingungen der Gegenwart hat dies weiterhin Gültigkeit. Als wir die Arbeit an dieser Biografie begannen, befand ich mich bereits im vierten Jahr meines politischen Exils in Europa. Zuvor hatte ich bereits 15 Jahre meines Lebens im Gefängnis verbracht und vor meiner Ausreise war ich für mein Engagement als Co-Vorsitzender des Demokratischen Gesellschaftskongresses (DTK) in Nordkurdistan erneut zu einer Haftstrafe – diesmal von neun Jahren – verurteilt worden.

Als Co-Vorsitzender des DTK trug ich eine sehr große Verantwortung. Deshalb war ich eigentlich entschlossen, das Land trotz der drohenden Haftstrafe nicht zu verlassen. Nach 15 Jahren im Gefängnis fühlte ich mich bereit, für mein Engagement neun weitere in Kauf zu nehmen. Viele meiner engen Weggefährt*innen waren aber strikt anderer Meinung. Aufgrund der gesundheitlichen Schäden, die ich mir während meiner Haftzeit zugezogen hatte, beharrten sie mit Nachdruck darauf, dass ich das Land verlassen sollte.

Am Ende willigte ich ein und verließ am 3. November 2016 auf legalem Weg – mit einem Flugzeug der Turkish Airlines – meine Heimat. Nur wenige Stunden nach meiner Landung in Brüssel erfuhr ich über die Medien, dass zahlreiche HDP-Mitglieder1, darunter viele Abgeordnete und die beiden Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, bei nächtlichen Razzien festgenommen worden waren. Aus Gründen, die sich mir bis heute nicht gänzlich erschließen, hatte der Staat wohl grünes Licht für meine Ausreise gegeben. Vielleicht hatte die Regierung zu jenem Zeitpunkt den Rahmen der Rechtsstaatlichkeit aber auch noch nicht vollständig verlassen.

Nach einem kurzen Aufenthalt in Brüssel begab ich mich nach Deutschland – auch deshalb, weil hier die meisten Kurd*innen innerhalb Europas leben. Ich wurde von vielen hilfsbereiten Menschen empfangen, die mir bis heute zur Seite stehen.

Kindheitsjahre und politischer Einfluss

Ich bin 1955 in Amed (Diyarbakır)1 zur Welt gekommen. Meine Eltern, Emin und Mübeccel, sind Cousin und Cousine, was damals in der kurdischen Gesellschaft nicht unüblich war. Ich bin das älteste von insgesamt fünf Geschwistern – meine Geschwister heißen Ali, Remziye, İbrahim Halil und Sait Nuri. Meine Kindheitsjahre verbrachte ich zunächst in Sûr, der Altstadt von Amed, bevor wir wegen der Beamtenstelle meines Vaters nach Pîran (Dicle) und anschließend nach Bîsmîl (Bismil) umzogen. Unsere Familie gehört zu den Dimilkî-Sprechenden,2 die traditionell in den gebirgigen Gebieten Kurdistans beheimatet sind. Unsere Vorfahren sollen aus Bergdörfern zwischen den Orten Licê und Dara Hênê (Genç) stammen.

Dass die Generation meines Großvaters am Scheich-Said-Aufstand von 1925 teilgenommen hatte, wurde uns im jungen Alter mündlich überliefert.

Dieser Aufstand sei der erste Widerstandsakt gewesen, nachdem die kurdische Bevölkerung durch die türkische Verfassung von 1924 verleugnet worden sei. Die Älteren sprachen untereinander immer wieder davon, wie der türkische Staat damals unsere Dörfer niedergebrannt und unsere Vorfahren gepeinigt hatte. Wir Jüngeren bekamen diese Diskussionen eher nebenbei mit, lernten so aber schon früh unsere eigene Geschichte kennen.

Auf diese Weise erfuhr ich auch, dass unser Dorf später von unseren Vorfahren wiederaufgebaut wurde. Doch während sein Bruder in das Dorf zurückkehrte, beschloss mein Großvater, sich nahe dem Stadtzentrum von Amed niederzulassen. Er wurde Vorbeter in einer der größten Moscheen der Stadt. Sein Bruder arbeitete fortan als Landarbeiter auf dem Feld eines Großgrundbesitzers.

Insgesamt wuchs ich in einem stark religiös geprägten Umfeld auf. Mein Vater folgte den Lehren von Said-i Nursî3 und bereits meine Großväter galten aufgrund der islamischen Traditionslinie, der sie entstammten, als anerkannte Persönlichkeiten in der Gemeinschaft. Ich begann schon mit sieben Jahren, fünfmal am Tag zu beten, und im Monat Ramadan fastete ich. Mit 16 oder 17 Jahren wurde ich auf Empfehlung einiger älterer Gemeindemitglieder freiwilliger Vorbeter in der Behrampaşa-Moschee in Amed und von Zeit zu Zeit leitete ich dort das Morgengebet. Nachdem ich 1973 meine Abiturprüfungen absolviert hatte, fing ich auf Vorschlag meines Vaters an, mich mit den religiösen Schriften Said-i Nursîs auseinanderzusetzen. Schon bald hatte ich all seine Werke sowie weitere wichtige islamische Lehrbücher gelesen.

Während meine Eltern also großen Wert darauf legten, dass ich den Islam schon früh kennenlernte, war das bei einem anderen wichtigen Thema ganz anders: Obwohl sie sich untereinander in ihrer Muttersprache Kurdisch unterhielten, sprachen sie mit uns Kindern nur Türkisch, weil sie dachten, dass wir es so in unserem Alltag leichter haben würden. Die Praxis, dass Eltern ihren Kindern aufgrund des herrschenden politischen Systems nicht mehr ihre Muttersprache beibringen, ist ein Aspekt der »Autoassimilation«. Auch ich bin Opfer dieser Praxis geworden. Hierzu möchte ich zwei Anekdoten erzählen, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt haben.

© Hatip Dicle

Hatip Dicle im Alter von 18 Jahren als Abiturient (1973)

Zwischen meinem fünften und zehnten Lebensjahr besuchten wir regelmäßig meine Großmutter. Doch sie sprach kein Türkisch und ich kein Kurdisch, weshalb wir nicht miteinander kommunizieren konnten. Ich weiß noch genau, dass mich dieser Umstand bereits im Kindesalter sehr beschäftigte. Natürlich konnte ich damals noch nicht begreifen, warum das so war. Bis zu ihrem Tod habe ich nicht mit ihr sprechen können. Das muss sie sehr traurig gemacht haben. Bei mir hinterließ es jedenfalls eine schmerzhafte Lücke.

Die zweite Anekdote: Als ich in Pîran zur Grundschule ging, wollte unser Lehrer herausfinden, wer von den Kindern außerhalb des Klassenzimmers Dimilkî sprach. Er hatte sogar zwei Kinder als Spitzel bestimmt, die ihm darüber Bericht erstatten sollten. Es war strikt verboten, die kurdische Sprache zu benutzen, und alle, die sich diesem Verbot widersetzten, mussten einen Tag lang im Klassenzimmer auf einem Bein stehen. Wiederholte sich das Vergehen, erhielten sie Prügelstrafen. Natürlich verstand ich auch hier die Hintergründe nicht. Aber diese grausamen Szenen konnte ich nicht mehr vergessen.

Jahre später sollte ich begreifen, dass diese Praxis Teil des Şark-Islahat-Plans war, der nach dem Aufstand von Scheich Said im Jahr 1925 durch die türkische Regierung erlassen worden war. Mit diesem »Reformplan« sollte die kurdische Frage in der noch jungen türkischen Republik »gelöst« werden, unter anderem durch eine strenge Assimilationspolitik. Zu den Maßnahmen gehörte beispielsweise das Erteilen von Geldbußen für den öffentlichen Gebrauch der kurdischen Sprache. Zudem wurde ein Teil der kurdischen Bevölkerung aus ihren heimischen Gebieten vertrieben und man siedelte dort wiederum türkischstämmige Familien an. So wurde die demografische Zusammensetzung Nordkurdistans verändert. Zwar sind mittlerweile knapp hundert Jahre seit dem Erlass des Şark-Islahat-Plans vergangen, doch der türkische Staat hält auch heute noch an dessen Grundsätzen fest.

In meinen späteren Jugendjahren bemühte ich mich, das Erlernen meiner Muttersprache nachzuholen, bis ich mich schließlich einigermaßen auf Kurdisch ausdrücken konnte. Leider lebte meine Großmutter nicht lang genug, um das mitzuerleben. Später machte ich meinen Vater dafür verantwortlich, mir die kurdische Sprache nicht beigebracht zu haben. Da meine Mutter im Stadtzentrum von Amed aufgewachsen war, konnte sie nicht besonders gut Kurdisch sprechen. Spätestens als mein Vater selbst vom kurdischen Freiheitskampf beeinflusst worden war, erkannte er seinen Fehler. Ich habe ihn stets sehr respektiert, doch dies verletzte mich derart, dass ich mich bis zu seinem Tod am 31. Oktober 2009 weigerte, mit ihm Kurdisch zu sprechen. Selbst als er mir auf Kurdisch Fragen stellte, antwortete ich auf Türkisch. Ich spürte zwar, dass mein stures Verhalten nicht richtig war. Schließlich war nicht mein Vater das Problem, sondern der türkische Staat, der ihn dazu gebracht hatte, seinen Kindern die kurdische Sprache vorzuenthalten. Aber dass mein Vater und seine Generation bei dieser Frage nicht mehr Widerstand geleistet hatten, dass sie nicht auf ihrer Identität und ihrer Sprache beharrt hatten, konnte aus meiner Sicht einfach nicht entschuldigt werden.

Meine persönliche Geschichte gibt lediglich einen kleinen Ausschnitt davon wieder, welch erschreckende Auswirkungen die Verbotspolitik der Türkei auf die kurdische Bevölkerung hatte und immer noch hat. Ich glaube, ohne dass in der Türkei eine Empathie für die Lage der Kurd*innen entsteht, kann es bei der Lösung der kurdischen Frage keinen Schritt vorangehen.

In meiner Kindheit gab es noch mehrere Ereignisse, die mein weiteres Leben maßgeblich beeinflussen sollten. Im Jahr 1967 ging ich in die letzte Klasse der Grundschule in Bîsmîl. Wenige Wochen vor dem Abschluss rief unser Klassenlehrer uns einzeln auf und fragte, was wir nach der Grundschule tun würden. Ich war damals der Klassenbeste und als ich an der Reihe war, antwortete ich, dass ich auf eine Imam-Hatip-Schule4 gehen würde. Mein Lehrer reagierte nicht direkt darauf, rief mich aber in der Schulpause zu sich. Er fragte, warum ich auf eine solche Schule gehen wolle. Dies sei die Idee meines Vaters, antwortete ich. Noch am selben Abend besuchte uns mein Lehrer zu Hause, um meinen Vater davon zu überzeugen, mich auf eine reguläre Schule zu schicken. Mein Lehrer – selbst turkmenisch-alevitischer Herkunft – war jedenfalls in seinem Vorhaben erfolgreich. Rückblickend kann ich sagen, dass dieses Ereignis einen wichtigen Punkt in meinem Leben darstellt: Ohne das Eingreifen meines Lehrers wäre aus mir mit großer Wahrscheinlichkeit ein Mann des Glaubens geworden.

Von klein auf vermittelte mir mein Vater ein Bewusstsein für die Geschichte meines Volkes. Bis zum Jahr 1975 war es geradezu unmöglich, an schriftliche Informationen über die Geschichte Kurdistans oder zur kurdischen Frage generell zu gelangen. Wenn wir etwas zu lesen bekamen, dann im Sinne der offiziellen Geschichtsschreibung. Und diese widersprach in mehr als einem Punkt den mündlich überlieferten Erzählungen unserer Vorfahren. In dieser Hinsicht konnte ich mich glücklich schätzen, denn mein Vater verfügte über ein umfangreiches Wissen über die kurdische Geschichte, insbesondere über das, was sich in den Jahren nach der Republikgründung ereignet hatte. Meine Fragen – zum Beispiel »Wer war Scheich Said?«, »Wie kam es zum Aufstand und wie wurde er niedergeschlagen?«, »Welche Politik hat der Staat nach dem Aufstand gegen die Kurd*innen verfolgt?« – beantwortete er stets ausführlich. Auch weil sein religiöses Vorbild, Said-i Nursî, sich intensiv mit der Situation der Kurd*innen beschäftigt hatte, war es sein Anliegen, uns auch dessen Lebensgeschichte und Ideen zu vermitteln. Ich schnappte all das auf, ich küsste die Abbildungen von Said-i Nursî in den damals verbotenen Büchern, die wir zu Hause verwahrten, und nannte ihn »meinen Löwen«.

Ich erinnere mich gut daran, wie mein Vater mich anwies, ihm eine Broschüre über die Kriege des Imam Ali5 vorzulesen. Er hörte leise und aufmerksam zu und mahnte mich, mir ein Beispiel an Ali zu nehmen. Auch die Erzählungen meines Vaters von seinem Militärdienst, den er zwischen 1939 und 1945 ableisten musste, kamen uns Kindern wie Geschichten aus einer anderen Zeit vor. Für ihn selbst allerdings war es eine traumatische Zeit. Er war als Mitglied der türkischen Gendarmerie (tr. Jandarma) in Nordkurdistan stationiert und hatte in dieser Funktion Dorfbewohner*innen – letztlich seine Landsleute – gefoltert und an ihnen Gräueltaten verübt. Während seiner Erzählungen bat er oftmals Allah um Vergebung und erklärte, dass er nur Befehle habe ausführen müssen. Mein Vater konnte die Verbrechen, die unter der Einparteienregierung Ismet Inönüs6 an der kurdischen Bevölkerung verübt worden waren, mit konkreten Beispielen belegen. Somit war er mein wichtigster Geschichtslehrer. Das, was wir von ihm zu hören bekamen, war so ziemlich das Gegenteil dessen, was in der Schule gelehrt wurde. Ich bin ihm in dieser Sache zu großem Dank verpflichtet.

Jugendjahre und aufkeimendes politisches Interesse

Mein Abitur schloss ich 1973 am Ziya-Gökalp-Gymnasium in Amed mit »sehr gut« ab. Bei den anschließenden Aufnahmeprüfungen für ein Bauingenieur-Studium an der Technischen Universität Istanbul schnitt ich ebenfalls mit Erfolg ab. Aufgrund der wirtschaftlich schwierigen Lage meiner Familie musste ich tagsüber arbeiten, um finanziell etwas beisteuern zu können. Also schrieb ich mich für das Abendstudium ein.

Ich war 18 Jahre alt, als ich von Kurdistan zum Studieren nach Istanbul zog. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits durch meine Familie und mein Umfeld ein gewisses politisches Bewusstsein erlangt. Neben einem eher schwach ausgeprägten kurdischen Bewusstsein waren meine Gedanken vor allem islamisch geprägt. Ohne Zweifel gab es auch einige politische Entwicklungen, die sich auf meine Geisteswelt auswirkten. Da wäre zunächst der von Mustafa Barzanî1 seit 1961 angeführte bewaffnete Widerstand der Kurd*innen in Südkurdistan (Nordirak) gegen die irakische Zentralregierung.

Kaum ein kurdischer Jugendlicher blieb von diesem Konflikt jenseits der Grenze unberührt. In Amed gab es sogar vereinzelt junge Leute, die sich diesem Kampf aktiv anschlossen. Manche von ihnen besuchten dann als ausgebildete »Pêşmerge«2 ihre Familien, was bei uns immer einen großen Eindruck hinterließ.

Meldungen, dass die Dorfbevölkerung in den ländlichen Gebieten Kurdistans zwischen 1967 und 1970 von Kommandoeinheiten des türkischen Militärs zunehmend drangsaliert wurde, machten mir ebenfalls zu schaffen.

Daneben hatte die revolutionäre 1968er-Jugendbewegung großen Einfluss auf mich. Der Mut und Widerstandsgeist der Vorreiter dieser Bewegung – Deniz Gezmiş, Mahir Çayan, İbrahim Kaypakkaya oder Ömer Ayna,3 der wie ich aus Amed stammte – begeisterten mich ungemein.

Doch zurück zu meinen Studienjahren. 1975, im zweiten Semester, wohnte ich auf Zuweisung des Studentenwerks im Vezneciler-Wohnheim in Istanbul. Dort lebten rund 1 200 Studierende und das Wohnheim war in jener Zeit eines der Zentren der revolutionären Jugendbewegungen. Ich selbst hatte zunächst nicht viel Kontakt zu meinen Kommiliton*innen, weil ich tagsüber in einer Fabrik arbeitete und abends an der Fakultät studierte.

An einem Frühlingstag hatte ich mir freigenommen, um mich auf eine Prüfung vorzubereiten. Ich befand mich im Lernraum unseres Wohnheims, als ich plötzlich draußen Schüsse hörte. Bewaffnete rechtsradikale Studierende der Grauen Wölfe4 versuchten, das Wohnheim zu stürmen. Später mussten wir feststellen, dass Abdi Gönel, ein Mitarbeiter des Reinigungspersonals, von einer Kugel getroffen worden war und sein Leben verloren hatte. Nach dem Vorfall erstürmten dann nicht die Grauen Wölfe, sondern Polizeikräfte unser Wohnheim. Unter der damaligen Regierung der Nationalen Front von Süleyman Demirel war die Polizei angewiesen, bei ihrem Vorgehen gegen linke Studierende keinerlei Zurückhaltung zu zeigen.

Die Polizei durchsuchte an diesem Tag nicht nur unser Heim, sondern nutzte den Vorwand, um die insgesamt etwa 120 Studierenden, die sich im Gebäude befanden, mit einer ordentlichen Tracht Prügel zu versehen. Ich selbst – als Student, der bis dahin an keinerlei politischen Aktivitäten teilgenommen hatte, tagsüber ausschließlich der Lohnarbeit nachging und abends studierte – erlitt an diesem Tag neun Verletzungen. Das lag auch daran, dass ich bei den Prügelattacken nicht meinen Kopf schützte, sondern meine Uhr und meine Brille. Mit meinem damaligen Lohn hätte ich mir für diese zwei Habseligkeiten keinen Ersatz leisten können – ich brauchte sie aber im Alltag. Auch wenn ich mich also selbst nicht sonderlich gut schützen konnte, gelang es mir, die Uhr und die Brille heil durch die Prügelorgie zu bringen. Anschließend wurde ich im Krankenhaus behandelt, bevor ich in Polizeigewahrsam kam. Der Haftrichter ließ mich zwar nach kurzer Zeit wieder frei, doch bei meiner Rückkehr im Wohnheim folgte die nächste böse Überraschung. Per Anhang an der Außentür wurde uns mitgeteilt, dass sich alle 120 Studierenden, die sich zum Zeitpunkt der Ereignisse im Heim befanden, eine neue Bleibe suchen müssten, weil sie sich an »anarchistischen Umtrieben« beteiligt hätten.

Der Vorfall gelangte auch in die Medien. Aber viele rechtsgerichtete Zeitungen verdrehten die Tatsachen schamlos – so auch die damals auflagenstärkste Zeitung Tercüman. Im Wohnheim sei es zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung unter linken Studierenden gekommen. Der getötete Mitarbeiter des Reinigungspersonals sei bei einer Schießerei zwischen den Gruppen ums Leben gekommen. Dutzende weitere Studierende seien verletzt worden, woraufhin man sie des Heimes verwiesen habe.

Diese dreisten Lügen und die Brutalität der Polizei führten dazu, dass sich mein Entschluss festigte, dies alles nicht mehr hinzunehmen. Jetzt dem Ganzen nicht die Stirn zu bieten, hieße, sich von seiner eigenen Menschlichkeit zu verabschieden. Ab diesem Zeitpunkt setzte ich mich mit linker politischer Literatur auseinander und suchte den Kontakt zu revolutionären Studierendengruppen. So begann mein mittlerweile seit 45 Jahren andauernder politischer Kampf. Ich definierte mich fortan als einen links-revolutionären kurdischen Studenten und suchte Mitstreiter, die über dasselbe Selbstverständnis verfügten.

© Hatip Dicle

Hatip Dicle (rechts im Bild) während seines Studiums in Istanbul (1975)

Eines der ersten Bücher, das mir meine Genoss*innen empfohlen, war Elementare Prinzipien der Philosophie von Georges Politzer. Das Lesen dieses Werkes fiel mir damals sehr schwer. Viele Fragen und Widersprüche taten sich in meinem Kopf auf. Doch das trieb mich nur noch weiter an.