Ein letztes Geschenk - Calla Henkel - E-Book

Ein letztes Geschenk E-Book

Calla Henkel

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Beschreibung

Die Künstlerin Esther Ray nimmt notgedrungen einen Auftrag für ein sorgfältig gestaltetes, mehrere Hefte umfassendes Familienalbum der Multimillionärin Naomi Duncan an. Diese Scrapbooks sollen ein Überraschungsgeschenk für Naomis Ehemann zu seinem Sechzigsten werden. Die Bedingungen: Esther muss eine Geheimhaltungsvereinbarung unterschreiben und darf Naomi nur über das mitgelieferte Handy kontaktieren. Sonst würde sie die Überraschung verderben. Während sich Esther durch unzählige Kisten mit Fotos und Erinnerungsfetzen arbeitet, stößt sie auf manche Ungereimtheiten und kann sich diesem Einblick in ein fremdes Leben immer weniger entziehen. Als Naomi schließlich unter mysteriösen Umständen ums Leben kommt, begibt sich Esther auf eine riskante Suche nach der Wahrheit.

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Seitenzahl: 490

Veröffentlichungsjahr: 2024

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

» Buch lesen

» Impressum

» Weitere eBooks von Kein & Aber

» www.keinundaber.ch

ÜBER DIE AUTORIN

Calla Henkel, geboren 1988 in Minneapolis, ist eine amerikanische Autorin, Regisseurin, Künstlerin und Dramatikerin. Sie inszenierte unter anderem an der Volksbühne Berlin; ihre in Zusammenarbeit mit Max Pitegoff entstandenen Kunstwerke wurden in Museen und Galerien weltweit ausgestellt, u.a. im New Yorker Whitney Museum of American Art. Calla Henkel lebt in Berlin. Bei Kein & Aber erschien bereits ihr Debüt Ruhm für eine Nacht. Der Auftrag ist ihr zweiter Roman.

ÜBER DAS BUCH

Die Künstlerin Esther Ray, gerade von ihrer Verlobten verlassen und auf der Hypothek sitzen geblieben, will die Welt in Schutt und Asche legen, doch stattdessen nimmt sie widerwillig einen Auftrag für ein Familienalbum der Multimillionärin Naomi Duncan an. Die Scrapbooks, ein heimliches Geburtstagsgeschenk für Naomis Ehemann, sollen die fünfundzwanzigjährige Ehe der Duncans feiern. Die Bedingungen: Esther muss eine Geheimhaltungsvereinbarung unterschreiben und darf Naomi nur über das mitgelieferte Wegwerfhandy kontaktieren. Sonst würde sie die Überraschung verderben.

Während Esther sich durch Naomis riesige Sammlung aus Fotos und Erinnerungen arbeitet, stößt sie nicht nur auf Finanzdokumente und familiäre Konflikte. Als Naomi unter mysteriösen Umständen stirbt, beginnt Esther die riskante Suche nach der Wahrheit, die sie von den Wolkenkratzern New Yorks bis zu den exotischen Stränden der Malediven führt.

 

Für K.R.

 

Es ist der zwanghafte, nicht nachlassende Wunsch, zu archivieren, ein nicht zu unterdrückendes Verlangen danach, zum Ursprung zurückzukehren, ein Heimweh, eine nostalgische Sehnsucht nach der Rückkehr zum archaischsten Ort, dem Anbeginn aller Dinge.

Jacques Derrida

 

Die monotone Stimme eines Soziopathen aus den Computerlautsprechern hatte etwas an sich, das mich während des Buchbindens in einen Zustand tiefer Konzentration versetzte. Irgendjemand ist immer schuldig – das ist der Grundgedanke, der jedem True-Crime-Podcast innewohnt. Nach unzähligen Stunden des Zuhörens war ich Expertin in Sachen Handymasten, Leichenspürhunde, skrupellose Hellseher, Ahnenforscher, Textilfasern und Kreditkartenspuren. Ich erkannte einen Mörder am Sprachmuster und war aufs Intimste vertraut mit dem teuflischen Funkeln, das private Ermittler im Auge eines Serienkillers wahrzunehmen glaubten. Rückblickend könnte man meinen, ich hätte mich mit meiner Leidenschaft für True Crime auf Naomis Ermordung vorbereitet, hätte im übertragenen Sinne Gewichte gestemmt und meine Muskeln gestählt.

1

Es war Anfang Juni, und ich trug Jeans und mein einziges gutes Hemd. Meine Ziele für den heutigen Abend waren simpel und ein wenig eigennützig: Ich wollte meinen Verlobungsring vorzeigen, meinen alten Uni-Freunden von meinem Haus in den Bergen und der zum Atelier umgewandelten Scheune erzählen und beiläufig erwähnen, dass meine Verlobte und ich Nachwuchs planten. Alle sollten wissen, dass es mir gut ging. Ich war auf dem Weg der Besserung. Während ich ein Glas Weißwein hinunterstürzte, beobachtete ich, wie die immer gleichen einstudierten Sätze von den Lippen oberflächlicher Bekannter perlten: »Ich liebe die Ausstellung!« »Gratulation!« »Memphis, du bist wirklich ein Genie!« Ich empfand die Kunstwelt als surreales, erstickendes Konstrukt voller performativer Affirmationen – unglaublich, dass ich es sieben Jahre in New York ausgehalten hatte!

Ich zog mein Handy hervor und schrieb Jessica eine Nachricht: Vermisse dich. Es war der letzte Abend des vierwöchigen Schmiedelehrgangs – sie war Expertin für Silber-Emaillierung –, den sie in Oregon leitete. Vermutlich saß sie gerade mit den Teilnehmerinnen zusammen, knabberte Salzstangen und trank Light-Bier.

Ich zwang meinen Mund, sich zu einem Lächeln zu verziehen, und sah Memphis dabei zu, wie sie sich vor einem ihrer riesigen kubistischen Palmwedel-Gemälde mit einem Typen in der typischen Hafenarbeiterkluft der meisten Künstler unterhielt – Carhartt-Hose und zu kleine Wollmütze. Es fiel mir nicht schwer, das altbekannte Aufflackern von Neid beiseitezuschieben, das mich immer überkam, wenn ich Memphis ansah. Im Grunde war ich ihr dankbar – sie war einer der wenigen Menschen, die nach dem Vorfall nicht den Kontakt zu mir abgebrochen hatten. Obwohl sie heute von Kopf bis Fuß in Gucci steckte, war sie immer noch dasselbe Mädchen, das im ersten Studienjahr betrunken in meinen Wäschekorb gepinkelt hatte. Als Memphis Emerald mich zu ihrer Vernissage eingeladen hatte, hatte sie mich wirklich dabeihaben wollen. Sie hielt mich nicht für verrückt.

Die Galerie-Assistentin löschte die Beleuchtung und fing an, die etwa hundert Anwesenden auf die Straße hinauszuscheuchen. Ich freute mich auf das anschließende Dinner bei Franco’s. Das italienische Lokal war seit Collegezeiten Memphis’ Lieblingsrestaurant, mit Ziegelwänden und einem Koch, der in der einsehbaren Küche handgemachte Pasta zauberte. Am Eingang stand immer irgendein wunderschönes, distanziert wirkendes Model, das die Gäste zum Tisch brachte und durch sie hindurchstarrte wie durch ein Busfenster.

Die auserwählten vierzig, die zu besagtem Dinner geladen waren, verteilten sich auf eine Flotte wartender Uber-Taxis. Memphis wurde in den vordersten Wagen gezogen, und ich fand mich einige Fahrzeuge dahinter wieder, eingeklemmt zwischen zwei stark parfümierten Frauen in steifen Designerjacken, einer Blondine und einer Rothaarigen. Naomi und Natalia. Ich kramte gerade nach meinem Handy, als sie sich vorstellten, und bekam daher nicht mit, welcher Name zu welcher Dame gehörte. N plus N. Beide waren Ende vierzig, vielleicht auch Anfang fünfzig, und eindeutig steinreich – von der Sorte, die Zweihundert-Dollar-Kerzen anzündete und Fünfthäuser besaß. Ich starrte unverwandt aus dem Autofenster, in der Hoffnung, auf diese Weise einem Gespräch zu entgehen. Nachdem wir an einer roten Ampel halten mussten und den Anschluss an die Kolonne verloren, bog unser Uber-Fahrer auch noch falsch ab, und so kamen wir erst bei Franco’s an, als alle anderen schon an ihren Tischen saßen. Das Empfangsmädchen, langbeinig und ätherisch wie immer, mit weit auseinanderstehenden Augen und einer breiten Zahnlücke, begleitete uns. Ich entdeckte Memphis und erspähte zu meiner Erleichterung einen freien Platz direkt neben ihr. Nachdem ich mich umgedreht hatte, um mich von den beiden Ns zu verabschieden, tauchte die Galeristin Sylvia Burton mit ihrem Anna-Wintour-Bob auf und ließ sich neben Memphis nieder. Ich erstarrte.

»Ich glaube, unser Spot ist dort drüben«, sagte die Rothaarige und zog mich energisch ans entgegengesetzte Ende des Restaurants, wo uns die letzten drei leeren Stühle blieben. Die Abendgesellschaft war platziert.

Ich kaschierte meinen Frust mit einem Lächeln und folgte ihr. Natürlich musste ich den Abend mit diesen beiden oberflächlichen Schnepfen verbringen. Wir nickten den anderen Gästen höflich zu. Ich entdeckte meinen Namen in Kursivschrift auf einem kleinen, in der Mitte gefalteten Rechteck, das irgendeine übereifrige Praktikantin beschriftet haben musste, und wir setzten uns.

»Sie sind also Künstlerin?«, fragte mich die Rothaarige laut, um das Stimmengewirr des angrenzenden Tischs zu übertönen.

Ich nickte nur, weil ich keine Lust auf nähere Erklärungen hatte.

»Wie schön.«

Die Restaurantluft legte sich schwer um unsere Schultern. Es würde ein langer Abend werden. Ich riss mir ein Stück Brot ab und kaute. Die beiden Ns hatten angefangen, sich in rasendem Tempo zu unterhalten, und warfen mit Namen und Orten um sich, die in meinen Ohren wie eine Geheimsprache klangen – »Whitneys COO war vorher bei Delta« – »Abe bringt Marc zu Alec«. Ich zog mein Handy hervor und schrieb Jessica: Sitze hier mit zwei obszön reichen Tussis fest, rette mich! Ein paar Minuten später fing das Telefon der Blonden an, eine Reihe von Brumm- und Piepstönen auszustoßen. Sie griff danach, lauschte einen Moment, gab ein gemurmeltes »Verdammt!« von sich, das Kinn vom Display beleuchtet. »Hm, ja, verstanden.« Sie blickte zu der Rothaarigen auf und zog eine entschuldigende Grimasse. Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, wandte sie sich an uns beide: »Es tut mir wirklich leid, aber es ist ein Notfall – ich muss weg.«

Dem Ernst ihrer Stimme nach zu urteilen, würde sie in Kürze einen Tumor aus dem Vorderlappen eines Kindergehirns operieren, was – das verriet mir ihr Outfit – mit Sicherheit nicht der Fall war.

»Kein Problem. Viel Glück!«, antwortete die rothaarige N.

Ihre blonde Freundin machte sich auf den Weg zur Tür, wobei ihre Chanel-Stiefel über den gefliesten Boden klapperten.

»Sie arbeitet in der PR-Branche«, erklärte die Zurückgelassene mit einem wissenden Lächeln.

Schweigen breitete sich zwischen uns aus. »Ein gutes Buch«, sagte die Rothaarige irgendwann und zeigte auf Cry Baby – Scharfe Schnitte von Gillian Flynn, das aus meinem am Stuhl hängenden Jutebeutel ragte. Ich hatte das Buch bei The Strand gekauft, um mir die Zeit bis zur Vernissage zu vertreiben. Es war ein Geschenk für Jessica, die Thriller liebte und – in Jogginghose auf dem Sofa ausgestreckt und mit der Nase dicht vorm Handydisplay – verkündet hatte, dass sie diesen Roman unbedingt lesen wolle.

Ich nickte. »Entschuldigen Sie, wie war noch mal Ihr Name?«

»Gillian Flynn«, antwortete sie mit einem Grinsen und wies mit dem Kinn auf das Buch.

Ich brauchte eine Sekunde, bis ich den Witz verstand. Dann stieß ich ein gezwungenes Lachen aus.

»Nein, Spaß beiseite. Ich bin Naomi. Und Sie sind Esther Ray, oder?«

Ich nickte, konnte mich jedoch nicht erinnern, ihr meinen Nachnamen genannt zu haben. Mein Tischkärtchen war aus ihrem Blickwinkel auch nicht lesbar, glaubte ich zumindest. Unbehagliches Schweigen machte sich zwischen uns breit. Ich zupfte an der Tischdecke. Kurz darauf erschien ein Typ mit abgewetztem Grateful-Dead-Shirt hinter Naomis Schulter, und mein Herz hüpfte vor Freude: Er würde sich zu uns setzen und den Smalltalk übernehmen, uns von Sound Effects für E-Gitarren und Schallisolierung aus Eierkartons erzählen.

»Ist der noch frei?«, fragte er und zeigte auf den Stuhl neben Naomi.

Wir nickten. Der Typ grunzte ein erleichtertes »Danke!«, hob den Stuhl über seinen Kopf und stapfte davon. Es gab kein Entrinnen für mich.

»Gefällt Ihnen das Buch?«, fragte Naomi und wies erneut mit dem Kinn auf Cry Baby.

»Ist für meine Lebensgefährtin. Sie steht auf Trivialliteratur.«

»Gone Girl ist mein absolutes Lieblingsbuch. Die Handlung hat so etwas Fieberhaftes, das gefällt mir. Und es ist zwar peinlich, aber ich stehe auf Dan Brown. Ich verschlinge alles, was er schreibt. Oder Stephen King, oder David Baldacci, oder – Oh Gott – Donna Leon! Ihre Krimis spielen alle in Venedig. Aber Gone Girl ist herausragend, das müssen Sie unbedingt lesen!«

»Ich ziehe wahre Kriminalfälle vor«, erwiderte ich nüchtern. Ich hatte noch nie nachvollziehen können, wie man sich für Fiktion erwärmen konnte. Wie sollte man mitfiebern, wenn die dargestellte Gewalt nicht echt war, wie sich in Figuren hineindenken, deren Ruf nach Gerechtigkeit nicht der Realität entsprach?

Naomi schwieg und wirkte seltsam enttäuscht – als hätte mich mein mangelndes Interesse für Gone Girl als Gesprächspartnerin disqualifiziert.

»Was machen Sie beruflich?«, fragte ich, um die Leere zu füllen.

»Ich bin Geschäftsführerin von WAC, einer gemeinnützigen Organisation. Wir bauen Brunnen in Ländern, in denen extreme Armut herrscht: Madagascar, Nepal, auf der ganzen Welt.«

Eine vornehme Umschreibung für Hausfrau. Ich verlagerte das Gewicht auf meinem Stuhl und warf einen flüchtigen Blick auf Naomis golddurchwirkten Sari im indischen Stil, der mich an den MoMA Design Store erinnerte.

»Und woher kennen Sie die Künstlerin – Memphis?«, fragte Naomi.

»Wir haben zusammen studiert.«

»Ah. Welche Art von Kunst machen Sie?«

»Ich mache keine Kunst, sondern Kunsthandwerk.«

Naomi legte den Kopf schräg. »Was ist der Unterschied?«

»Bei Letzterem geht es um den Herstellungsprozess und den späteren Nutzen, bei Ersterem um den Marktwert und ums Ego.« Ich hielt inne und sah mich im Restaurant um. »Beim Kunsthandwerk gibt es kein Ego – jeder kann es erlernen und darin zum Meister werden. Kunst beruht auf der Isolierung eines Genies, wohingegen Kunsthandwerk … integer ist.«

Naomi schob ihre Unterlippe vor. »Sie halten das alles hier also für Schwachsinn?«

Ich nickte.

»Ich auch«, gluckste sie. Dann senkte sie die Stimme: »Ich bin nur hier, weil Sylvia Burton, die Galeristin, bei mir im Vorstand sitzt.« Sie nippte an ihrem Weinglas. »Wobei ich Memphis’ Bilder schon toll finde.«

»Ich ja auch«, pflichtete ich ihr bei und machte es mir ein wenig bequemer auf meinem Holzstuhl. Mir fiel einer der Sätze ein, die ich vorhin in der Galerie aufgeschnappt hatte: »Memphis ist unübertroffen.«

Naomi winkte dem Kellner und bestellte noch eine Flasche Wein. Ich beobachtete sie beim Reden. Ihre Lippen waren in einem dezenten, natürlichen Farbton geschminkt, und auch sonst kam sie mir seit Natalias Aufbruch bodenständiger und weniger glamourös vor. Dass manche Leute sich selbst schöner fühlten, wenn sie sich mit Schönheit umgaben, war etwas, das ich schon als Kind gelernt hatte. Meine Mutter Caroline war der Typ Betty Draper gewesen, eine Blondine mit Engelsgesicht. Sie hatte genau gewusst, welchen Gefallen sie der Welt allein durch ihre Anwesenheit tat, denn diese Welt schleckte ihr gutes Aussehen auf wie Eiscreme. Ich berührte die Fettansammlung unter meinem Kinn. Immer wenn ich an meine Mutter dachte, ergriff ich unwillkürlich diese durch kein Training der Welt zu beseitigende Speckfalte. Wir sahen uns überhaupt nicht ähnlich.

Ich trank einen Schluck Wasser und starrte Naomi an. Sie war eine kleine Frau mit hohen, schimmernden Wangenknochen und kleinen tiefliegenden Augen, die in Sand gedrückten Murmeln glichen. Sie hatte diesen gewissen prophetischen New-Age-Look, eine Mischung aus Florence Welch und Möchtegern-Jane-Goodall. Um den Hals trug sie einen großen, in Silber gefassten Rosenquarz, und wenn sie nach ihrem Glas griff, rutschten ungefähr ein Dutzend Armreifen klimpernd an ihrem Handgelenk auf und ab.

»Und wo üben Sie Ihr Kunsthandwerk aus?«, fragte sie, nachdem sie ihren pissgelben Biowein wieder abgestellt hatte.

»In Hammersmith in den Blue Ridge Mountains. Dort habe ich zusammen mit meiner Verlobten ein Haus mit Atelier gekauft.«

»In der Nähe von Asheville?«

»Ja, ungefähr eine Stunde entfernt.« Es überraschte mich, dass sie den Ort kannte. Andererseits war Asheville ein Hotspot für gut betuchte Hippie-Rentner. Ich zupfte an dem gefalteten Kartonrechteck herum, auf dem mein Name stand.

»Ich bin neuerdings auch oft in Asheville. Mir gefällt, dass dort das Leben pulsiert, obwohl es so abgeschieden liegt. Meine Astrologin hat mir zu diesem Ort geraten. Ich interessiere mich sehr für Astromapping. Haben Sie das auch schon mal probiert?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Na ja, dabei ist jedenfalls herausgekommen, dass Asheville ein guter Ort für mein neuestes Projekt ist«, fuhr sie fort.

»Hat es mit Ihrer Brunnenbau-Organisation zu tun?«, fragte ich.

»Nein, allerdings spielt Hydrokultur eine Rolle«, antwortete sie mit einem Zwinkern, dessen Sinn sich mir nicht erschloss. Vielleicht ein Marihuana-Witz?

»Nein, WAC hat gar nichts damit zu tun«, schob sie hinterher und beugte sich dann vor, als würde sie mir ein Geheimnis verraten. »Es ist ein ganz besonderes Projekt.«

Es klang obszön, wie sie besonders aussprach – zu geschmeidig und warm. An den anderen Tischen war Ruhe eingekehrt, alle waren mit ihren Gnocchi beschäftigt. Ich schielte verstohlen zu Naomi, während die ihre Serviette auf den Schoß legte. Obwohl sie leicht nach Patschuli roch, war sie extrem gepflegt, als wäre jedes rote Härchen an ihrem Körper genauestens erfasst und registriert. Wahrscheinlich gab es gleich mehrere Personen in dieser Stadt, die es gemerkt hätten, wenn eine Strähne fehl am Platz gewesen wäre. Ihre Stylistin, ihre Dermatologin. Ihr Friseur. Womöglich ein Ehemann. Worüber sollten wir während der nächsten Stunde reden? Naomi warf einen Blick auf ihre schmale goldene Uhr und dachte dabei vermutlich dasselbe.

»Haben Sie Kinder?«, fragte ich und legte dabei unwillkürlich die Hand auf meinen leeren Uterus. Dabei tauchte ein Eintrag aus unserem Küchenkalender vor meinem inneren Auge auf, in Jessicas Schrift: Kinderwunschklinik, 12:30 Uhr.

»Ja, eine Tochter – Tabitha, sie ist neunzehn.«

»Wie schön«, sagte ich und wusste nicht, was ich noch hinzufügen sollte.

»Welches Kunsthandwerk üben Sie denn aus?«

»Ich bin Buchbinderin.«

Naomi lächelte und setzte sich aufrechter hin. »Ja, erzählen Sie mir doch von Ihren Büchern!«

»Na ja, ich schöpfe das Papier und hefte die Seiten mit Faden zusammen. Der Einband besteht aus mit Leinen bespanntem Karton. Jedes Buch ist ein Einzelstück. Ich persönlich finde es schön, diese blanken Seiten zu erschaffen, die erst später mit Inhalt gefüllt werden. Wissen Sie, was ich meine? Früher war ich fotorealistische Malerin. Es tut gut, zur Abwechslung etwas Inhaltloses herzustellen. Leere statt Chaos.«

»Großartig«, sagte Naomi. Ihre Haltung veränderte sich, sie war jetzt voll auf das Gespräch konzentriert und bombardierte mich mit Fragen, die mir vorkamen, als läse sie sie von einer vorbereiteten Liste ab: Wie groß mein Atelier sei? Wie viele Seiten meine Bücher im Schnitt hätten? Wie schwer das von mir verwendete Papier sei? Ob ich bei meiner Arbeit auf Nachhaltigkeit achte? Ob ich Lagermöglichkeiten hätte? Ob diese diebstahlsicher seien? Welche Auftragsumfänge ich gewohnt sei? Ob ich nach Kundenwunsch fertige? Irgendwann beugte sich Naomi so weit über den Tisch, dass ihr Rosenquarz fast das mit Kokosraspeln bestreute Tiramisu berührte. »Ich hätte einen Vorschlag.«

Ich sah sie an und lächelte unsicher. Sie legte ihre rechte Hand auf meine, und ihre dunkelbraunen Augen öffneten sich wie aus dem Boden schießende Pilze. »Ich glaube an Schicksal. Meiner Meinung nach lernt man Menschen immer aus einem bestimmten Grund kennen. Als Natalia vorhin gegangen ist, habe ich überlegt, ob ich auch vorzeitig von hier verschwinden soll. Warum noch hier herumsitzen, dachte ich mir.« Sie hielt inne. »Darf ich ehrlich zu Ihnen sein?«

Ich nickte und wünschte mich an einen anderen Ort.

»Jetzt kommt das Entscheidende: Ich sammle Emotionen.« Sie sagte es, als würde sie sich gerade bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker vorstellen.

Nirgendwo wird so viel Zeit vergeudet wie an der Peripherie der Kunstwelt, wo ein Strudel aus sinnlosen Gesprächen alles mit sich in die Tiefe reißt. Ehemänner von Kunsthändlerinnen, Töchter von Sammlern, Vorstandskolleginnen von Galeristinnen – mir blieb nichts anderes übrig, als Naomi schwafeln zu lassen. »Mein Mann ist in fast allen Lebensbereichen ein extremer Minimalist«, fuhr sie fort. »Unsere Wohnung hat schwarzen Parkettboden und weiße Wände, keine Kunst, keine Fotos, gar nichts. Größtenteils begeistert mich das. Wir sind zwar keine Amish, aber wir mögen es clean. Er betrachtet unser Zuhause als ästhetische Oase, aber wir witzeln manchmal, dass sein Purismus schon an Faschismus grenzt. Wie auch immer, seit meine Tochter auf der Welt ist, hebe ich … na ja … ich habe noch nie jemandem davon erzählt.«

Sie trank einen Schluck Wein, raffte ihren Mut zusammen.

»Ich habe einen Lagerraum in unserem Wohngebäude gemietet und hebe alles auf.«

»Hm«, brummte ich vage.

»Schulaufgaben, Notizen, Fotos, Briefe. Manchmal drucke ich sogar E-Mails und Handy-Nachrichten aus. Es kommt alles in eine Aufbewahrungsbox aus Plastik, die ich in meinem Arbeitszimmer stehen habe. Mein Mann denkt, es gäbe nur diese eine, aber ich bringe sie jedes Mal, wenn sie voll ist, in den Lagerraum, ersetze sie durch eine identische Box und fange von vorn an. Inzwischen habe ich … ach, bestimmt zweihundert solcher Boxen. Gesegnet sei der Container Store, ich bin seine beste Kundin.«

Ich nickte und hatte keine Ahnung, warum sie mir das erzählte.

»Ich will aus diesen Boxen, oder vielmehr diesem Archiv, schon länger Familienalben kreieren. Sie sollen ein Überraschungsgeschenk für meinen Mann werden, zu seinem sechzigsten Geburtstag. Könnten Sie sich vorstellen, diese Scrapbooks für mich zu erstellen?«

Ich biss mir auf die Innenseite meiner Lippe und bemühte mich um Höflichkeit: »Oh, das ist wirklich eine interessante Idee. Aber es entspricht leider gar nicht dem, was ich tue. Ich verdiene mein Geld mit handgefertigter Alltagskunst.« Das Wort handgefertigt erinnerte mich an ein exklusives Möbelgeschäft, aber ich hoffte, dass es verdeutlichte, was ich meinte.

Naomi wirkte schockiert.

»Ich könnte Ihnen die Boxen zuschicken lassen, und Sie könnten sich Zeit lassen und in Ihrem eigenen Atelier arbeiten.«

Ich holte Luft. »Tut mir leid. Ich mache keine Scrapbooks.«

»Geld spielt keine Rolle.«

Ich lachte über diese abgedroschene Maraschino-Kirsche von einer Aussage. Natürlich spielte Geld keine Rolle. Dann sah ich sie in Naomis Augen flimmern: eine Verzweiflung, die mir Angst machte. Ich setzte mich aufrecht hin.

»Solche Aufträge nehme ich grundsätzlich nicht an«, erklärte ich bestimmt. Als ich ihr erzählt hatte, ich sei Kunsthandwerkerin, hatte sie offenbar Glitzer und Klebestifte vor Augen gehabt, nicht die alte Tradition, nützliche Gegenstände mit Sorgfalt und Liebe von Hand herzustellen. Naomis Angebot beleidigte mich, schließlich war ich stolz darauf, nichts und niemanden zu brauchen. Ich wollte Memphis’ Galeristin nicht kennenlernen und mich auch nicht bei Kunstsammlern einschmeicheln. Und ich erkannte Künstlerinnen und Künstler als das, was sie waren: Hofnarren, die mit ihren Gemälden Schwung in schicke Villen bringen und deren Besitzer bei Laune halten sollten. Darauf hatte ich keine Lust. Ich wollte nicht mehr den Clown für die kriminell Reichen dieser Welt spielen. Meine Bücher sollten für jeden erschwinglich sein. Naomi ließ meine Hand los, als könnte sie meine Gedanken hören. Sie kramte in ihrer Tasche und zog ein weißes Kärtchen hervor. »Bitte behalten Sie unser Gespräch für sich. Und rufen Sie mich an, falls Sie Ihre Meinung ändern.« Ich erhob mich unbeholfen von meinem Stuhl, als sie aufstand, um zu gehen. Während sie das Restaurant verließ, blickte ich ihrer zierlichen Gestalt hinterher.

Dann zog ich mein Handy heraus und schrieb Jessica erneut: Babe, du glaubst nicht, was mir eine der reichen Ladys gerade vorgeschlagen hat. Ich holte tief Luft und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Ein Platz in der Nähe von Memphis war freigeworden, also schnappte ich mir meine Sachen und zog um.

»Hey, Es, mit wem bist du am Tisch gelandet?«, fragte Memphis und goss mir Champagner ins Weinglas.

»Naomi …« Ich brach ab und fischte die Visitenkarte aus meiner Tasche. »Duncan.«

»Oh fuck, die ist steinreich. Wusstest du, dass sie sogar …«

Memphis wurde von Mitch unterbrochen, einem unserer ehemaligen Kommilitonen, der mit einer Wodkaflasche in Totenkopfform an unserem Tisch auftauchte.

Eine Stunde später zog der engere Kreis noch ins Sly Fox weiter, eine zum Ukrainian National Center gehörende Kellerbar an der Second Avenue. Memphis bestellte drei Pitcher mit Bier für alle.

»Esther, schön, dich zu sehen!«, sagte Slade, ein Bildhauer, der sein Geld damit verdiente, Penthouse-Wohnungen mit venezianischem Putz zu versehen.

»Schön, wieder hier zu sein«, antwortete ich.

»Wo ist dein Gothic-Look geblieben?«, fragte er lachend.

»Meine Slipknot-Shirts habe ich bedürftigen Jugendlichen gespendet«, versuchte ich mich an einer schlagfertigen Erwiderung.

Slade lächelte. Aus den Lautsprechern ertönte George Michael.

»Wie ist es dir ergangen, seit …« Mitch brach ab.

In meinem Magen rumorte es. Mitch war anzumerken, dass er an den Vorfall in Michael Valentines Atelier dachte, aber er bog elegant ab und bat mich, ihm Fotos von meinem Haus in den Bergen zu zeigen. Nachdem er angemessen über unsere zum Atelier umgewandelte Scheune gestaunt hatte, zeigte er mir Bilder von seinen neuesten Skulpturen, surrealistischen, in Beton gegossenen Körpern. Nun war ich mit dem Staunen an der Reihe. Als er aufstand, um noch eine Runde zu bestellen, schrieb ich Jessica:

Bereit, nach Hause zurückzufliegen?

Ich freue mich schon so, dich in weniger als

vierundzwanzig Stunden zu sehen!

Gerade hat mich jemand mit Bier übergossen.

»Unglaublich, dass du in einer Berghütte wohnst und noch ein Klapphandy hast«, sagte Memphis lachend und zeigte auf den alten Klotz, auf dem ich gerade meine Nachricht tippte. »Die Einsiedlerin, wie sie leibt und lebt.«

Ich zuckte mit den Schultern und ließ das Handy in meine Tasche zurückgleiten.

»Ich möchte gern mein Glas erheben!«, verkündete Memphis kurz darauf und streckte ihren Drink zur tiefhängenden Lampe hinauf.

Es wurde still am Tisch.

»Und zwar auf einen namenlosen Mann. Als ich vor zehn Jahren in New York ankam, teilte mir nämlich ein völlig zugekokster Banker mit, mein eigentlicher Name – Katie Jones – wäre scheiße. Wenn ich eine erfolgreiche Künstlerin werden wolle, müsse ich mich nach einer Stadt und einem Edelstein benennen. Ich fragte ihn nach dem Grund, und er meinte, reiche Leute könnten zwei Dingen nicht widerstehen: schicken Immobilien und Klunkern. Dreist wie ich bin, nahm ich mir seinen Rat zu Herzen und benannte mich in Memphis Emerald um. Es scheint funktioniert zu haben, deshalb trinke ich heute auf ihn! Prost!«

Der Tisch brach in Gelächter aus. Sogar ich fand die Anekdote lustig, nur auf Slades Stirn war eine gequälte Falte zu erkennen. Er steckte noch mitten im Kampf um Aufmerksamkeit, versuchte verzweifelt, Galerien auf sich aufmerksam zu machen und überall der interessanteste Mann im Raum zu sein. Am liebsten hätte ich ihn geschüttelt und ihm gesagt, dass venezianischer Putz um Längen interessanter war als jedes abstrakte Gebilde, das er als Bildhauer zustande bringen konnte. Warum kapierte er nicht, dass nützliche Dinge ihren ganz eigenen Wert hatten?

Am nächsten Morgen wachte ich auf Memphis’ unbequemem Designer-Sofa auf. Ich wusste, dass sie eine »Verabredung« zum Kaffee mit einem Reporter der New York Times hatte und längst aufgebrochen war. Wir hatten uns schon in der Nacht beschwipst in der Küche voneinander verabschiedet. Der Abend hatte in Tränen geendet. Nachdem wir die Bar verlassen hatten, waren wir den kaugummi-gesprenkelten Gehweg entlanggeschlendert, und Mitch hatte Memphis ein Foto von Ivanka Trump in deren Wohnzimmer in Palm Beach gezeigt. Donald Trumps Tochter posierte gekünstelt vor einem von Memphis’ älteren Gemälden, was diese – betrunken und emotional erschöpft nach der Ausstellungseröffnung – als Demütigung aufgefasst hatte. Aber so war nun mal das Spiel. Sobald ein Kunstwerk vom Kapital davongespült worden war, hatte man keinen Einfluss mehr darauf, wo es landete. Bei Tränengas-Produzenten, Bauunternehmern, die erschwinglichen Wohnraum plattwalzten, den verwöhnten Urenkeln von Nazi-Kollaborateuren, Rassisten. Oder allen gleichzeitig.

Ich spürte die Nachwirkungen des Alkohols. In der U-Bahn zum Flughafen zog ich mein Handy hervor. Noch immer keine Antwort von Jessica. Ihr Flug war am frühen Morgen gegangen, also war sie vielleicht schon zu Hause und hatte sich hingelegt. Ich schloss die Augen und malte mir aus, wie sie zusammengerollt in unserem Bett lag, ein Kissen zwischen die Beine geklemmt, damit sich ihre Knie nicht berührten. Ich versuchte trotzdem, sie anzurufen. Sie ging nicht dran.

Als ich in Asheville ankam, fühlte ich mich seltsam ausgeruht. Ich bezahlte die Gebühr bei dem wie Elvis Presley aussehenden Parkwächter und rauschte in meinem ramponierten alten Pick-up davon. Aus dem Autoradio dudelte näselnder Südstaaten-Country, und mich überkam eine innere Ruhe, mit der ich vor meinem Ausflug nach New York niemals gerechnet hätte. Das hatte ich Jessica zu verdanken. Als sie vor zwei Monaten die Einladungskarte mit Memphis’ exzentrischer Handschrift im Mülleimer gefunden hatte, hatte sie sie an den Kühlschrank gehängt, versehen mit einem Klebezettel, auf dem stand: Hingehen! Sie hatte keine Ausflüchte gelten lassen – es sei Zeit, mich meiner Vergangenheit zu stellen. Sogar das Flugticket hatte sie für mich gebucht.

Nach vierzig Minuten Fahrt bog ich in die kleine unbefestigte Straße ein, die zu unserem Haus führte. Es lag hinter einer Christbaum-Plantage am Ende einer steilen Auffahrt. Wie immer raubte mir der Anblick unseres wunderschönen Siebzigerjahre-Bungalows mit den abgeschrägten Fenstern und den dicken Kiefernholzbalken den Atem. Ed, der Vorbesitzer, war Schreiner, daher glänzte alles vor Liebe und Holzlack. Nicht einmal in meinen kühnsten Träumen hätte ich mir früher ein solches Leben für mich vorstellen können. Ich war in einer heruntergekommenen Doppelhaushälfte in Dayton, Ohio, aufgewachsen, bei meiner attraktiven alkoholkranken Mutter und einem Vater, der fast nie da war. Als Teenager war ich so selten wie möglich zu Hause gewesen, hatte am frühen Abend oft meine Runden durch die reicheren Viertel gedreht und mich in die hell erleuchteten Wohnzimmer der stattlichen Backsteinvillen hineingeträumt, bis ich die auf den Sofas bereitliegenden Wolldecken um meine Schultern gespürt hatte. Und nun wohnte ich selbst in einem Traum von einem Haus in den Blue Ridge Mountains.

An der Hammersmith Craft School waren jedes Jahr im Winterhalbjahr zwölf Artists-in-Residence untergebracht. Ich hatte mich als Buchbinderin beworben, Jessica als Kunstschmiedin. Bei der Einführungsveranstaltung hatte ich sie das erste Mal gesehen – sie trug ein mit Gänseblümchen bedrucktes Sommerkleid über einer Leggings, ich wie üblich Jeans und T-Shirt. Wir waren die einzigen Lesben weit und breit und stürzten uns sofort in eine intensive, alles verschlingende Liebesbeziehung. Jessica war das genaue Gegenteil von mir: laut und witzig. Der Schmuck, den sie herstellte, war auffällig und hatte eine große Fangemeinde bei Etsy und Pinterest, wohingegen ich mir mit meinen Büchern eine stillere, aus Großmüttern und Hobbylyrikern bestehende Anhängerschaft aufgebaut hatte. Wir wurden dennoch unzertrennlich, und als nach dem Winter der Schnee taute, hätten wir am liebsten die Augen verschlossen vor den ersten Schmelzwassertropfen und Narzissen, weil die Craft School für uns zum heiligen Zufluchtsort geworden war. Eines Sonntags – ich arbeitete gerade in der Cafeteria – beobachtete ich, wie Moyra, die örtliche Immobilienmaklerin, eine Verkaufsanzeige ans Schwarze Brett hängte: Bungalow in Hanglage, zwei Hektar Land, hundertzehntausend Dollar. Sobald Moyra weg war, riss ich das Exposé von der Pinnwand und starrte es schmachtend an. Schon ein paar Stunden später trafen wir auf der Terrasse von Jessicas Wohnheimzimmer unsere Entscheidung.

Ich parkte den Pick-up und öffnete die Fahrertür, genoss das vertraute Knirschen des Kiesbelags auf dem Weg zum Haus. Es war mein Kuhglockenläuten, mein wohliges Abendessen-ist-fertig-Geräusch. Ich stellte meine Reisetasche im Vorraum ab, wo mir sofort auffiel, dass alles viel zu ordentlich war. Wenn Jessica von einer Reise zurückkam, sah es hier normalerweise aus, als wäre ihr Koffer explodiert. Auch der Inhalt ihrer Handtasche war nicht auf die Bank gekippt. Ich betrat das Wohnzimmer – weder Erdnussbutterspuren auf dem Tisch noch Schmutzwäsche auf dem Boden. Nachdem ich die wenigen Stufen zu unserer Schlafempore hinaufgegangen war, sah ich, dass Jessicas dekorativ verteilte Schuhsammlung verschwunden war, genau wie unsere gesteppte Überdecke. Waren wir ausgeraubt worden? Ich blickte nach rechts. Auch die Eichenkommode, in der Jessica ihren schweren Silberschmuck aufbewahrte, war leer. Ich riss die Türen und Schubladen des Kleiderschranks auf: Meine Sachen waren noch da, ihre nicht. Weder Unterwäsche noch Sommerkleider noch Jogginghosen. Es mussten Einbrecher im Haus gewesen sein.

Auf einmal zuckte es mir heiß durch den Körper. Ich rannte in die Küche, um nachzusehen, ob die einzigen materiellen Dinge, die mir etwas bedeuteten, noch da waren: vier Polaroid-Aufnahmen, die mit Klebeband an der Oberseite der Küchenschublade befestigt waren. Voller Panik schob ich die Hand hinein und ertastete die Kanten der Fotos. Sie waren noch da. Ich seufzte erleichtert. Nicht mal Jessica wusste von ihrer dunklen, heimlichen Existenz im Inneren der Schublade. Ich ließ den Blick durch die Küche schweifen und entdeckte in der handgetöpferten Keramik-Obstschale eine getippte Nachricht, auf Jessicas himmelblauem Briefpapier.

Esther,

ich komme mir furchtbar feige vor, weil ich es auf diese Weise durchziehe, aber ich habe beschlossen, in Oregon zu bleiben. Ich halte den Druck einfach nicht mehr aus. Das gemeinsam gekaufte Haus, die Verlobung, unsere Nachwuchspläne, die Arbeit – es wächst mir alles über den Kopf. Ich habe völlig verlernt, auf mich selbst zu achten, die Verbindung zu mir ist verlorengegangen. Erst der räumliche Abstand hat mir klargemacht, wie unglücklich ich in letzter Zeit war.

Ich hoffe, deine Reise nach New York war heilsam für dich. Ich bin sehr stolz auf dich, weil du den Mut hattest, dorthin zurückzukehren. Deine Probleme haben mir viel abverlangt. Mir hat es viel bedeutet, dir bei diesem wichtigen Schritt auf deinem persönlichen Weg zu helfen, aber jetzt muss auch ich mich weiterentwickeln. Für die nächsten eineinhalb Monate werde ich mich in einem Ashram in den Bergen von allem zurückziehen. Mein Anteil der nächsten beiden Kreditraten ist bezahlt. Danach würde ich das Haus gern verkaufen. Ich habe mit der Maklerin gesprochen, sie meinte, es sollte kein Problem sein, Käufer zu finden. Die Besitzurkunde hängt am Kühlschrank.

Ich habe Melanie aufgetragen, den Großteil meiner Sachen zusammenzupacken und dir diesen Brief hinzulegen. Es gibt noch ein paar Umzugskartons, die ich zu einem späteren Zeitpunkt abholen werde. Mein Handy ist ausgeschaltet. Wenn ich wieder aus dem Ashram auftauche, können wir gerne reden. Ich hoffe aus tiefstem Herzen, dass es dir gelingt, nach vorn zu blicken. In Liebe,

Jess

Ich rief sie an. Vergeblich. Es klingelte einfach endlos, ohne dass die Mailbox ansprang. Also legte ich auf und versuchte es erneut. Das Freizeichen zog mich in die Tiefe, raubte mir die Luft zum Atmen. Ich setzte mich in die schwindelerregende Leere der Küche und starrte auf die Besitzurkunde für den Bungalow, die mit einem Magnet in Teekannenform am Kühlschrank befestigt war. Das schlaffe gelbe Papier schien mich zu verhöhnen, als handelte es sich um eine Lotterieniete. Wo war Jessica? Saß sie im Schneidersitz auf einem Berggipfel? Meditierte sie gerade in einer Schwitzhütte? Ich spielte die vergangenen Wochen in Gedanken durch, erinnerte mich an unsere Gespräche. Sie waren selten gewesen und meist von mir ausgegangen, das wurde mir rückblickend klar. Wie lange hatte Jess schon gewusst, dass sie mich verlassen würde? Wann hatte sie mit der Maklerin gesprochen? Und wann hatte sie ihrer idiotischen Hilfsstudentin Melanie aufgetragen, ihre Sachen zu packen? Ich stieß eine Reihe tiefer, heiserer Schluchzer aus.

Meine Gedanken zogen immer weitere Schlieren, eine sich ausbreitende Ölpest. All die Zukunftsvisionen, die wir gemeinsam geschaffen hatten, unser ganzes Leben, schwappte in grellen, giftigen Wellen davon. Wir hatten Pläne gehabt. Sie hatte mir Versprechungen gemacht, meine Hand genommen, wenn ich beim Abendessen mit bebender Stimme das Thema Kinder – Klimaerwärmung, Mikroplastik, Russland – angesprochen hatte. Sie hatte mir tief in die Augen gesehen und gesagt: »Dann lass uns unserem Leben zusammen einen Sinn verleihen, Baby.« War das etwa nie passiert? Unser Leben. Ich dachte daran, wie sie mir vom Bett aus die Arme entgegenstreckte, wie sie vor dem ersten Kaffee am Morgen schlechte Laune verbreitete, wie sie das Wort Fuck in die Länge zog wie Gummi. An die leeren Einkaufstüten, die sie unter der Spüle aufbewahrte, an die Art, wie sie nach dem Verfassen von E-Mails seufzte. Sie hatte doch mir gehört, mitsamt ihren Gewohnheiten. Wie konnte sie jetzt dort draußen losgelöst durchs Universum kreisen?

Dann sah ich aus dem Augenwinkel etwas Dunkles durchs Schlafzimmer kriechen und unter der Kommode verschwinden. Mit einem spitzen Schrei rannte ich wieder zurück in die Küche. Ich hatte panische Angst vor Schlangen. Jessica hatte die Kriechtiere immer in aller Ruhe mit einem Besen von der Veranda gepflückt, oder aus dem Wäschetrockner, oder aus der Scheune, und sich darüber amüsiert, dass ich bibbernd in meinem Versteck gekauert hatte. Ich machte laute Musik an und überlegte, ob ich Chester anrufen sollte, den immer fröhlichen Töpfer, der rund zwei Kilometer entfernt wohnte. Vielleicht kam er vorbei und legte sich mit der Schlange an? Andererseits wollte ich ihn nicht sehen. Ich wollte ihn umbringen. Ich wollte alle Menschen umbringen. Ohne Jessica sollte die Menschheit aufhören zu existieren und mit ihr jede Zeit und Vernunft.

Nachdem ich mich auf die Veranda geflüchtet hatte, trank ich zitternd eine alte Flasche Supermarktwein, der schon fast wie Essig schmeckte, die Knie ans Kinn hochgezogen, noch immer geschüttelt von den pechschwarzen Wogen der Ölkatastrophe, in die sich unser Leben verwandelt hatte. Was sollte ich denn jetzt tun? Ich stieß einen Klagelaut aus. Dann noch einen. Es waren große, südländische Erschütterungen, die mich erfassten. Ich rief Jessica dreiundvierzig Mal an. Es klingelte und klingelte, die Töne quälten mich wie Waterboarding. Endlich kam mir der Gedanke, stattdessen die Nummer ihrer Schwester Alisha zu wählen.

»Ich weiß, ich weiß«, antwortete sie und war bereits genervt, bevor ich etwas gesagt hatte. Jemand kreischte im Hintergrund. Wahrscheinlich war sie gerade in der Methadonambulanz in Chicago, in der sie arbeitete.

»Was weißt du?«, fragte ich unter Tränen.

»Ich weiß, dass Jessica dich verlassen hat. Und ich weiß, dass sie es nicht von Angesicht zu Angesicht getan hat, aber …«

»Wie konnte sie … mich verlassen?«, platzte ich heraus.

»Da fragst du die Falsche.«

»Alisha, bitte.«

Schweigen. Dann: »Sie hat sich richtig schlecht gefühlt deswegen. Es hat sie innerlich zerrissen. Ach, keine Ahnung.«

»Sag mir, warum.«

»Kann ich nicht.«

»Bitte!«, flehte ich.

»Sie war einfach … Ich vermute, sie fand einfach, dass du zu …« Sie verstummte.

»Was?«

Alisha schnalzte mit der Zunge.

»Sag es einfach«, drängte ich.

»Also gut. Dass du zu intensiv bist, oder so.«

»Intensiv?«

»Tu dir selbst einen Gefallen und nimm dir die Sache nicht so zu Herzen. Vielleicht meditiert sie eine Weile, und dann ist alles wieder gut. Stell ihr nicht nach, und mach auch sonst nichts Extremes. Ich bin bei der Arbeit und muss Schluss machen, okay?«

»Alisha, warte. Wo ist sie?«

»Nein, Esther, keine Chance.«

Sie legte auf.

Weil ich nicht wusste, wohin mit meiner Wut, warf ich die fast leere Flasche Wein gegen die Hauswand. Sie bekam einen Sprung und landete mit einem dumpfen Knall auf dem Boden, nachdem sie einen dunkelroten Schmierstreifen am Bungalow hinterlassen hatte. Es kam mir passend vor, dass es nun so aussah, als würde unser Haus bluten. Intensiv. Ich überlegte, ob ich Alisha erneut anrufen sollte, aber sie war meine einzige Verbindung zu Jessica. Ich wollte sie nicht gegen mich aufbringen. Jedenfalls noch nicht. Inzwischen war ich mehr als angetrunken, und mein Kiefer schmerzte, weil ich meine Zähne vor Wut zusammenbiss. Ich sammelte all meinen Mut und spähte noch einmal ins Schlafzimmer.

Genau dort, wo ich vermeintlich das Reptil gesehen hatte, lag ein geflochtener Ledergürtel auf dem Boden. Ich holte tief Luft. Es gab keine Schlange. In dieser Nacht schlief ich trotzdem auf dem Sofa, eingewickelt in Bettlaken und Strandhandtücher. Immer wieder schreckte ich aus dem Schlaf und hatte das Gefühl, in Treibsand zu versinken, weil Jessica nicht mehr da war.

Am nächsten Morgen fühlte sich das Haus riesig und leer an, wie ausgebombt. Wenn ich nicht gerade weinte, hörte ich mir True-Crime-Podcasts an. Ich kam auf die Klassiker zurück, Jeffrey Dahmer und Ted Bundy, suchte Trost in der außerirdischen Welt ihres soziopathischen Verhaltens und redete mir ein, dass Jessica im Grunde auch nicht besser war. Genau wie die Opfer dieser Serienmörder war ich eine in den Bergen zurückgelassene Frau, auch wenn ich – strenggenommen – noch lebte. Jess hatte von Anfang an ein Funkeln in den Augen gehabt. Vielleicht war mir nur nicht aufgefallen, wie mordlustig es war. Um sechs Uhr abends rappelte ich mich dazu auf, mir eine Packung Mikrowellen-Popcorn zu machen. Ich aß es in großen, im Rachen kratzenden Portionen. Dabei dachte ich darüber nach, mich umzubringen. Ich dachte darüber nach, mir im Walmart eine Knarre zu kaufen und damit nach Oregon zu fahren. Es fiel mir leicht, mich in Rachefantasien zu verlieren.

Einige unglückliche Stunden später zog ich mir meine Schuhe an und stapfte zur Cafeteria der Craft School hinunter, um mich ins WLAN einzuloggen. An die Müllcontainer des Parkplatzes gelehnt klickte ich sämtliche Ashrams im Fünfhundert-Kilometer-Umkreis von Portland an und grenzte die Auswahl schließlich auf vier ein. Ich durchsuchte Jessicas Instagram-Account und stellte fest, dass sie seit zwei Wochen nichts mehr gepostet hatte. Das sah ihr gar nicht ähnlich. Sie teilte sonst regelmäßig Einblicke in ihre Arbeitswelt, um mit ihren Kunden »in Kontakt zu bleiben«. Offenbar versuchte sie, irgendetwas zu verbergen. Ich ging auf die Seite der Craft School, für die sie ihre Lehrgänge abhielt, und fand mehrere Beiträge, auf denen Teilnehmerinnen sie markiert hatten. Da war sie: Sie grinste mir von drei Gruppenfotos entgegen, auf denen sie jeweils neben einer jungen Frau mit dunklen Mandelaugen und roten Lippen saß. Die bildschöne Dunkelhaarige war getaggt. greenchristina1. Ich klickte ihren Account an. Und tatsächlich, nachdem ich zwei Fotos nach unten gescrollt hatte, sah ich Jessica allein auf einer nächtlichen Picknickbank sitzen, in ihrem kurzen gelben Sommerkleid, mit strahlenden Augen. Am liebsten hätte ich diese Christina mit Nachrichten und Kommentaren terrorisiert, aber dann hörte ich Alishas Stimme in meinem Kopf. Ich musste cool bleiben.

Ich war ersetzt worden. Und ich würde wahrscheinlich immer wieder ersetzt werden, denn Jessica würde weitere Frauen vögeln. Ihre Eroberungen würden sich stapeln, und jede einzelne würde irgendetwas beherrschen, worin ich versagt hatte, würde eine Verbesserung von mir darstellen. Ich zoomte das Gesicht von greenchristina1 näher heran. Sie schien gern zu lachen und wirkte gutherzig. Wahrscheinlich traf sie sich gern mit großen Freundesgruppen zum Essen und beschwerte sich nie über ihren Einkommenssteuerbescheid. Auf dem Weg zurück nach Hause beschloss ich, dass ich mich davorwerfen würde, falls ein Auto auftauchte.

Es tauchte keins auf. Am nächsten Morgen zog ich noch im Schlafanzug meine Stiefel über und stapfte mit einem Hammer ins Atelier hinunter. Nachdem ich den Stromschalter der Scheune betätigt hatte, wurde auch die Bluetooth-Verbindung aktiviert, über die ich am Vorabend meinen Bundy-Podcast gehört hatte. Der große Raum, der Jessica und mir so viel bedeutet hatte, füllte sich mit einer Beschreibung der Gegenstände, die die Polizei in Bundys Auto gefunden hatte: eine Brechstange, eine Packung große grüne Plastikmüllbeutel, ein Eispickel, eine Taschenlampe, ein Paar Handschuhe, ein zerrissenes Laken. Ich sah mich im Atelier um. Die meisten Werkzeuge von Jessica waren verschwunden, aber der Amboss war noch da. Ich streifte den Verlobungsring ab, den sie für mich geschmiedet hatte, und legte ihn vorsichtig darauf, dann hob ich den Hammer an und schlug so lange auf den Ring ein, bis er nur noch ein formloser Silberstreifen war. Als ich von ihm abließ, hörte ich Autoreifen, die sich auf dem Schotter der Zufahrtsstraße drehten, und mein Herz flatterte aus meinem Mund wie ein Schmetterling auf Amphetaminen. Das musste sie sein! Sie hatte gemerkt, dass es ein Fehler gewesen war, mich zu verlassen. Ich würde ihr verzeihen. Wir würden uns zusammen ein Bad einlassen, und sie würde mir einen neuen Ring schmieden. Ich rannte los und riss die Tür auf.

Das Auto bog gerade auf Höhe der Nelson-Hütte von der Zufahrtsstraße ab. Es war ein ramponierter Jeep Cherokee, auf dem ein bordeauxroter Fernsehsessel aus Leder festgezurrt war. In der Hütte wohnte angeblich niemand. Ich hatte mit George vom Postamt gesprochen, und er hatte erzählt, der alte Nelson sei vor sechs Jahren gestorben. Ich nutzte immer die Abkürzung über sein Grundstück, um zum Fluss zu gelangen, und Jessica und ich hatten sogar gewitzelt, dass wir die Hütte dazukaufen könnten. Sie war uralt, ein appalachisches Relikt, und bestand aus einem einzigen Raum mit durchhängendem Dach und morschen Holzpfeilern, die immer tiefer im Boden versanken. Wohnte jetzt doch plötzlich jemand darin? Ich verlor gerade alles, was mir lieb war, sogar meine Privatsphäre.

Nachdem ich ins Haus zurückgekehrt war, rollte ich mich auf dem Bett zusammen, von wo aus ich immer noch den Hang mit den Christbäumen sehen konnte, genau wie den Steinpfad, der sich den Berg hinunterschlängelte, und meinen chaotischen Garten. Ich wollte den Bungalow nicht verkaufen und damit das einzige Leben aufgeben, das mir je gefallen hatte. Außerdem wusste ich, dass noch eine winzige Chance darauf bestand, dass Jess zurückkehrte, solange ich das Haus hatte. Aber allein würde ich niemals die Hypothek bedienen können. Alles um mich herum schien sich zu verengen und mich einzuschließen. Mir fiel das weiße Rechteck in meiner Jackentasche ein – Naomi Duncan.

Am nächsten Morgen ging ich zur Cafeteria und googelte sie. Da war sie, mit rotglänzendem Haar an einem Lunch-Tisch, der über und über mit Petunien geschmückt war. In einem hellbraunen Kleid auf einer Veranda. Auf einem roten Teppich neben einem Mann, der wie eine seltsame Mischung aus Nathan Lane und Benicio del Toro aussah. Vermutlich ihr Ehemann. Ich scrollte noch mehr Fotos durch, die sie bei Benefizveranstaltungen oder Einweihungspartys zeigten, und las dann ihren Wikipedia-Eintrag. Sie war in Connecticut geboren, als Erbin eines Würzsoßen-Imperiums. Verheiratet war sie mit Bryce Duncan, dem CEO von Red Rock Capital. Sie gärtnerte gern und hätte sich als Skiläuferin beinahe für die Olympischen Spiele qualifiziert, wenn sie den Sport nach dem Tod ihres Vaters nicht an den Nagel gehängt hätte, um das Familienunternehmen weiterzuführen. Ich zoomte Fotos von ihr heran, auf denen sie die Premiere von Wicked besuchte und mit ihrer Familie posierte. Tabitha Duncan, ihre einzige Tochter, war groß, hatte lange Haare, die ihr bis zur Taille reichten, und einen wütenden Blick. Ich zog mein Handy hervor und wählte Naomis Nummer.

2

Ich beobachtete, wie der Lastwagen, der keine Firmenaufschrift trug, die Schotterstraße heraufkeuchte. Im Laufe der letzten Woche hatte sich mein Stolz in meinem Magen eingenistet, hatte sich dort festgesetzt wie ein versehentlich verschlucktes Kaugummi. Je näher der Transporter kam, desto steifer wurde mein Rücken und desto dünner wurde die Luft. Ich war wieder die Hofnärrin, die auf das Wohlwollen der Reichen angewiesen war, und das, obwohl ich mir nach unzähligen Porträtgemälden im Auftrag von Michael Valentine geschworen hatte, mich nie wieder vertraglich an irgendwelche wohlhabenden Mäzene zu binden. Ich rief mir in Erinnerung, dass ich mit Naomi genug Geld ausgehandelt hatte, um für die nächsten zwei Jahre meine Hypothekenzahlungen zu leisten. Das war es wert.

Sobald er den Lastwagen geparkt hatte, stieg der Fahrer aus, ein kleiner, gedrungener Mann mit Klemmbrett unter dem Arm und mürrischer Miene. »Sind Sie Gillian Flynn?«, fragte er mich mit kehligem New Yorker Akzent.

Fast hätte ich gelacht, aber ich hielt mich noch rechtzeitig zurück und ging mit klappernden Stiefeln die Holztreppe hinunter. Naomi hatte mir bereits am Telefon erklärt, dass sie für die Zustellung der Kisten ein Pseudonym verwenden würde, um die Überraschung nicht zu gefährden. Angeblich bekam ihr Mann Bryce einfach alles heraus.

»Ich werde etwa eine halbe Stunde fürs Ausladen brauchen, aber zuerst müssen Sie das hier unterschreiben«, sagte der Fahrer und hielt mir einen dünnen Tablet-Computer hin. Ich scrollte durch die Seiten und stellte rasch fest, dass es sich nicht um eine schlichte Empfangsbestätigung handelte, sondern um eine fünfseitige Vertraulichkeitsvereinbarung, die Naomi bei unserem Telefonat unterschlagen hatte. Und in dieser Vereinbarung stand mein echter Name. Keine Spur mehr von augenzwinkernder Heimlichtuerei anlässlich eines runden Geburtstags. Dieser Vertrag war rechtlich bindend. Ich sah den Lieferanten mit hochgezogenen Augenbrauen an, und er zuckte mit den Schultern.

Ein kalter Schauder breitete sich über meine Schulterblätter aus. Nach dem Vorfall in Michaels Atelier hatte ich ebenfalls eine Vertraulichkeitsvereinbarung unterschrieben, daher kannte ich die Konsequenzen. Man verlor jedes Recht darauf zu reden, durfte nur noch denken. Es war die Hölle. Das endlose Grübeln steckte in einem fest wie ein aus der Balance geratenes Ökosystem, fand kein Ventil, wie sehr es einen auch belastete. Ich hob den Blick zur Scheune, versuchte, meine Optionen gegeneinander abzuwägen. Dann musste ich lachen: Naomi schien tatsächlich zu glauben, dass die Klassenfotos ihrer Tochter eine Vertraulichkeitsvereinbarung rechtfertigten. Helikoptermutter war bei ihr offenbar noch stark untertrieben. Ich nahm den Eingabestift und unterschrieb.

»Wo wollen Sie die Kisten haben?«, fragte der Fahrer. Ich schob das Scheunentor auf und zeigte auf die lange, leere Wand auf Jessicas Seite des Ateliers. Der Fahrer warf einen prüfenden Blick auf den unebenen Kiesbelag zwischen Lastwagen und Scheune und entschied sich dafür, die Kisten von Hand auszuladen. Ich ignorierte seine Proteste und half ihm. Die Boxen bestanden alle aus weißem Kunststoff, waren mittelgroß und verjüngten sich nach unten hin leicht. Sie fassten etwa fünfzig Liter und waren unterschiedlich schwer. Wir stellten sie in einer Reihe nebeneinander und stapelten sie anschließend, so hoch es ging. Insgesamt waren es etwas mehr als zweihundert Boxen. Der Fahrer verschwand in seinem Lastwagen und kam mit einem Werkzeugkoffer aus Metall wieder heraus.

»Ich habe den Auftrag, das Gebäude zu sichern.«

»Was?«

»Ich muss gewährleisten, dass sämtliche Fenster und Türen diebstahlsicher verschließbar sind.«

»An der Scheunentür befindet sich ein Holzriegel«, protestierte ich. »Das reicht doch.«

Wieder zuckte er nur mit den Schultern.

Als er sich daranmachte, eine Reihe von glänzenden Bolzenschlössern und Riegeln am Rolltor und am Fenster anzubringen, dämmerte mir, dass er kein gewöhnlicher Lieferant war. Nachdem er fertig war, übergab er mir die Schlüssel und zückte erneut den Tablet-Computer. »Letzte Unterschrift.«

Ich vollzog einen Schnörkel mit dem Eingabestift, woraufhin der Fahrer mir einen Umschlag überreichte und zum Abschied salutierte wie ein Soldat. Ich wartete, bis der Umzugswagen verschwunden war, bevor ich den Umschlag öffnete. Darin befand sich ein kleinerer weißer Umschlag, der die erste Rate von dreißigtausend Dollar enthielt. Am Telefon hatte ich Naomi aufs Geratewohl eine Summe genannt, die ich für unverschämt hoch gehalten hatte, mit der Begründung, es klinge ganz danach, als müsse ich die Arbeit eines vollen Jahres in sieben Monate zwängen. Sie hatte den Betrag ohne jedes Zögern verdoppelt. Ich drückte das Bündel Banknoten so fest ich konnte an mich und genoss die Erleichterung, die mich überkam.

Meine Liebe,

ich hoffe, es geht Ihnen gut. Wenn Sie das hier lesen, haben Sie bereits das Material für unser gemeinsames Projekt erhalten. Ich kann es kaum erwarten, dass es losgeht, aber vorher muss ich Ihnen noch ein paar Dinge erklären: Was Sie für mich herstellen, muss in jedem Fall unter uns bleiben, daher die Sicherheitsmaßnahmen. Ich empfinde es als ideal, dass Sie die Kisten in der Abgeschiedenheit der Blue Ridge Mountains zu Scrapbooks verarbeiten werden. Die Vertraulichkeitserklärung war hoffentlich kein allzu großer Schock für Sie. Keine Sorge, so etwas ist absolut üblich. Ich muss leider streng sein, was diesen Punkt angeht. Unter keinen Umständen darf der Inhalt der Kisten oder der daraus hergestellten Bücher nach außen dringen. Selbst wenn Mutter Teresa an Ihre Ateliertür klopft: Weisen Sie sie bitte freundlich ab! Und halten Sie sich an den Zeitrahmen, es ist unerlässlich, dass die Bücher bis zum einunddreißigsten Januar fertig werden. Ich werde gegen Ende des Projekts einen Besuch bei Ihnen arrangieren, um das Endprodukt in Augenschein zu nehmen.

Nun, da wir das Organisatorische hinter uns haben, werden Sie uns aufs Intimste kennenlernen. Unser ganzes Leben steckt in diesen Kisten. Das von Tabitha, Bryce und mir. Jedes Stück Papier, das während der vergangen beiden Jahrzehnte durch unsere Hände gegangen ist. Tabitha wäre es sicher furchtbar peinlich, wenn sie wüsste, was Sie alles zu sehen bekommen. Aber das ist ja gerade das Schöne daran, ich wünsche mir ein ehrliches Porträt unserer Familie. Unsere Familienchronik soll 1998 beginnen, dem Jahr, in dem Tabitha geboren wurde.

Wie bereits besprochen hätte ich gern mindestens zwei Bücher pro Jahr: Frühling-Sommer und Herbst-Winter. Es sollen Schulaufgaben, Fotos, E-Mails und auch zwanglose Notizen miteinbezogen werden. Ich habe die Kisten nach dem Einlagern nie wieder durchgesehen, sie enthalten also sicher die eine oder andere Überraschung. Die Fotos habe ich häufig mit Anmerkungen versehen, und alles, was mit einem hellblauen Zettel markiert ist, muss auf jeden Fall in die Bücher. Ich bin leider ein sehr pedantischer Mensch, daher ist mir eine strikte Chronologie wichtig, genau wie eine ordentliche Strukturierung durch Überschriften. Ich habe im Laufe der Jahre recht viele Fotos ausgedruckt, daher ist eine kurze Liste der wichtigsten Personen beigelegt, damit Sie die Übersicht behalten. Es findet sich auch eine Liste der Orte im Umschlag, an denen wir für gewöhnlich Urlaub machen, sowie wichtige Anlässe wie Geburtstage oder Jahrestage.

Ich würde mir wünschen, dass Sie so viel Material wie möglich integrieren. Auf keinen Fall dürfen Sie irgendetwas wegwerfen! Ich werde nach Erfüllung des Auftrags dafür sorgen, dass die übrig gebliebenen Dinge wieder abgeholt werden.

Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, zögern Sie bitte nicht, sich bei mir zu melden. Für unsere Kommunikation habe ich ein Mobiltelefon beigefügt, in dem die Nummer eingespeichert ist, unter der Sie mich erreichen. Ich weiß, das ist alles wie bei James Bond, aber Bryce findet – ich sagte es bereits – einfach alles heraus!

Ich bin Ihnen unendlich dankbar. Dass wir uns begegnet sind, war wirklich Schicksal, davon bin ich überzeugt.

Herzlich,

N.

Ich zog das Mobiltelefon aus dem größeren Umschlag. Es war ein schmales Samsung mit integrierter Kamera, viel besser als mein eigenes Handy. Ich ging auf Kontakte und sah, dass nur eine Nummer eingespeichert war, unter N. Diese Vorsichtsmaßnahme und die Vertraulichkeitsvereinbarung erschienen mir reichlich übertrieben, aber das Bündel Banknoten war beruhigend genug, um meine Bedenken zu zerstreuen. Ich nahm das Geld und verstaute es im Gefrierfach, dann holte ich ein Glas Essiggurken aus dem Kühlschrank. Ich setzte mich auf die Veranda und starrte zur Scheune. Wie sollte ich anfangen? Sollte ich mir einfach wahllos irgendeine Kiste vornehmen? Eigenartig, dass Naomi, die doch angeblich so pedantisch war, die Boxen weder datiert noch nummeriert hatte.

Ich hatte ihr gesagt, dass ich das Material zuerst sichten und dann ein Beispielbuch erstellen wolle. Im Kopf überschlug ich die vor mir liegende Arbeit: Zwei Scrapbooks pro Jahr seit Tabithas Geburt – das ergab fast vierzig Alben. Auch ohne Inhalt erforderten die Bücher wochenlanges Zusammenheften, Falten, Leimen und Binden. Ich aß noch drei Essiggurken, duschte und verbrachte eine halbe Stunde damit, in meinem Download-Ordner einen Podcast zu finden, der mir zusagte. Schließlich entschied ich mich für eine Reportage über zwei junge Mädchen, die Mitte der Neunzigerjahre auf dem Parkplatz eines Waffle-House-Schnellrestaurants umgebracht und zerstückelt worden waren.

Sobald der grausige Tod der Mädchen in der Scheune aus den Lautsprechern schallte, entfernte ich den weißen Kunststoffdeckel von der Box, die mir am nächsten stand. Sie enthielt einen chaotischen Haufen farbiges Papier. Das erste, was ich herauszog, war eine Erdkundeaufgabe. Tabithas Name, der in blauer Tinte über drei mit Buntstiften ausgemalten Landkarten prangte – Amerika, Europa, Australien. War diese Schulaufgabe wichtig? Woher sollte ich das wissen? Auf der Rückseite stand ein Datum: 2. März 2007.

Ich holte tief Luft und lauschte dem Podcast, in dem erklärt wurde, warum eins der Mädchen erst nach fünf Tagen vermisst gemeldet worden war – es hatte irgendetwas mit der bevorstehenden Scheidung der Eltern zu tun. Ich seufzte und beschloss, den Inhalt der Boxen zunächst nach Jahreszahlen zu sortieren. Später würde ich die Haufen dann in Monate unterteilen. Ich schnappte mir einen Stift und einen Block Klebezettel und schrieb 1998, 1999, 2000 und so weiter, bis zum Jahr 2019. Dann legte ich die Zettel auf dem Boden aus.

Ich kehrte zur ersten Box zurück und zog einen Satz Musiknoten heraus, offenbar von Tabithas Geigenunterricht. Oben in eine Ecke hatte ihr Lehrer oder ihre Lehrerin geschrieben: Tabitha, das ist schon der zweite Bogen, den du diesen Monat zerbrochen hast. Es bringt niemandem etwas, wenn du deine Aggression an deinem Instrument auslässt. Statt wütend zu werden, solltest du lieber deine Einstellung ändern und Hindernisse als etwas betrachten, das du überwinden kannst. An Herausforderungen kannst du wachsen. Bitte nimm deine Geige dieses Jahr mit in den Weihnachtsurlaub, damit du üben kannst. Darunter folgte ein betrübter Smiley. Mein Interesse war geweckt, bis mir einfiel, dass Tabitha nur eins dieser verwöhnten Treuhandfonds-Kids war, die keinerlei Bezug zu Geld hatten und niemals verstehen würden, wie viel ein neuer Geigenbogen kostete. War die in die Ecke geschriebene Nachricht wichtig? Naomi hatte betont, sie wolle ein ehrliches Familienporträt. Ich beschloss, noch zu warten, bevor ich irgendetwas als wichtig oder unwichtig einschätzte. Der Großteil des Materials aus der ersten Box stammte aus dem Jahr 2012, aber nicht alles war datiert. Ich eröffnete daher einen Stapel mit dem Titel Unbekannt.

Dann machte ich eine Pause. Der Podcast legte absichtlich falsche Fährten, um die Spannung bei der Suche nach den zerstückelten Mädchen zu erhöhen. Ich ließ den Blick über die Boxen schweifen und hatte Naomi vor Augen, wie sie Tabithas Schultasche leerte, bevor die Familie zu irgendeinem Urlaub davonflog. Wenn Naomis Mann diese Art von Andenken hasste, warum sollte er sich dann über einen ganzen Berg voll belanglosem Kram zum Geburtstag freuen? Ich nahm die Listen, die Naomi für mich erstellt hatte, und blätterte sie durch. Etwa ein Dutzend Seiten war mit kleinen Porträtaufnahmen versehen, die mir bei der Identifizierung von Familienmitgliedern, Lehrern, Freunden, Nachbarn und Kollegen helfen sollten. Ich legte sie beiseite und ging die Liste mit Urlaubsorten durch.

• Weihnachten: The Little Nell in Aspen mit der erweiterten Familie – Bryce’ Schwester Danielle Brudall und deren Mann Peter Brudall (Vice President der UBS-Bank) mit ihren drei Söhnen Mike, Bradley und Tobias.

• Frühjahrsferien: The Ranch in Rock Creek (Montana) (Bryce ist begeisterter Fliegenfischer und nimmt normalerweise seinen alten Freund Conor Copeland mit, Police Commissioner bei der New Yorker Polizei.)

• Sommerferien: Unser Haus in den Hamptons, Gin Lane 271. Unsere dortigen Nachbarn sind Robert und Chrissy Ash (Chrissy ist Scheidungsanwältin und hat viele prominente Mandanten, Robert ist Führungskraft bei der NBC) mit ihren beiden Kindern Eloise und Earnest.

• Pam Gorson war unser Hauptkindermädchen, das uns auf sämtlichen Reisen begleitet hat.

• Elena Tester war unser Ersatzkindermädchen, das Pams freie Tage abgedeckt hat.

Dass Naomi auch die Berufe von Bekannten und Nachbarn hinzugefügt hatte, erschien mir haarsträubend. Mit einem abfälligen Schnauben legte ich die Liste beiseite und widmete mich wieder der Box. Nach mehreren Multiplikations-Arbeitsblättern aus Tabithas Matheunterricht stolperte ich über meinen ersten Packen Fotos, der noch in einem Papierumschlag von Duane Reade steckte. Die Hochglanzaufnahmen schienen alle am selben sonnigen Tag entstanden zu sein – drei Kinder, die um einen azurblauen Pool rannten, eine Wasserpistole, die in einem im Boden eingelassenen Whirlpool trieb, im Vordergrund eine Frau mit weißem Kleid und blonden Haaren. Vermutlich die Hamptons. Vielleicht war die Frau Chrissy Ash, die Promi-Anwältin. Der Rasen sah aus, als wäre er mit der Schere gestutzt, und das Haus war hellblau, hatte elegant verwitterte Dachschindeln und rundgeschnittene Büsche. Auf dem nächsten Foto waren vier Kinder auf Barhockern in einer glänzendweißen Küche aufgereiht, umgeben von edlen Edelstahlgeräten. Wie so oft überkam mich ein Anfall von Immobilien-Neid.

Ich legte eine Pause ein. Es dämmerte bereits, und ich ging den Pfad nach Hammersmith hinunter. Sobald ich in Reichweite des Cafeteria-WLAN war, zog ich ohne nachzudenken mein iPad heraus und gab die Hamptons-Adresse der Duncans bei Zillow ein. Siebzehn Komma sechs Millionen. Wie im Fieber scrollte ich durch die gelisteten Immobilien, wohlwissend, dass ich mich damit nur selbst quälte, klickte Fotos von Villen mit Meerblick, schweren Stoffvorhängen und Kinderbettchen in Segelbootform an.

Ich kehrte in die Scheune zurück und mutierte zum Roboter. Ohne die Fotos genauer anzusehen, sortierte ich alles strikt nach Datum. Eine Person auf den Aufnahmen fiel mir dennoch auf: Elena Tester, das Ersatzkindermädchen. Wann immer sie erschien, hielt ich inne, und mein Homosexuellen-Radar fing leise an zu piepsen. Sie war jung, etwa Anfang zwanzig, mit dickem schwarzem Eyeliner und zu dunkel geschminkten Lippen. Auf einem Foto, auf dem sie Tabitha von einer Schaukel hob, erhaschte ich einen Blick auf ihren Oberkörper, den offenbar zahlreiche Tätowierungen zierten. Vielleicht war sie eine Lesbe.

Ich blätterte noch mehr Schulaufgaben durch – Hauptstädte der amerikanischen Bundesstaaten, US-Präsidenten, Tabithas nicht bestandene Französisch-Tests. Außerdem endlose Zahlenreihen, unter denen das Logo von Red Rock Capital prangte. Sie alle waren mit hellblauen Klebezetteln versehen und somit wichtig. Meine Aufmerksamkeit wanderte zwischen den zerstückelten Leichen des Podcasts und den zu sichtenden Dokumenten hin und her. Diese Art von Langeweile fiel mir leicht. Seit ich mit dem Malen aufgehört und mit dem Buchbinden angefangen hatte, war ich es gewohnt, stumpfsinnig vor mich hin zu arbeiten. Präzision war mir wichtig, Emotionen nicht. Ich steckte nie ganz mit drin.

Ich förderte einen zweiundvierzigseitigen Bankauszug von 2011 zutage, seufzte resigniert und sah mich in der Scheune um. Was sollte dieser ganze Mist? Wozu all die Finanzunterlagen und Quittungen? Die Fotos verstand ich, sogar die Hausaufgaben, aber die Finanzunterlagen ergaben keinen Sinn. Sollte ich wirklich die ganzen zweiundvierzig Seiten in ein Scrapbook integrieren? Ich hatte plötzlich das quälende Bedürfnis, Naomi zu fragen. Also kramte ich das Samsung-Handy unter einem Papierstapel hervor und wählte die einzige eingespeicherte Nummer.

Es klingelte und klingelte. Keine Antwort.

Zehn Minuten später ließ mich der ungewohnte Klingelton erschrocken zusammenzucken.

»Hallo?«

»Hallo, meine Liebe«, meldete sich Naomi. Im Hintergrund war die Sirene eines vorbeifahrenden Krankenwagens zu hören.

»Hi, Naomi, ich fange gerade mit dem Sichten an und …« Ich verstummte und ließ den Blick über die Papierstapel auf meinem Zementboden gleiten. »Was soll ich mit den Kontoauszügen und Quittungen machen? Wollen Sie wirklich, dass ich die alle …«

Naomi unterbrach mich: »Esther, ich beneide Sie nicht. Haben Sie meinen Brief gelesen?«

»Habe ich, aber …«

»Tja, mehr kann ich Ihnen zu diesem Thema auch nicht sagen. Alles, was ich aufgehoben habe, ist für mich von Bedeutung. Es hat alles seinen Platz in dem großen Wandteppich, den Sie für mich knüpfen. Vertrauen Sie einfach dem Prozess. Und werfen Sie bloß nichts weg!«

Wieder heulte im Hintergrund ein Krankenwagen vorbei. Als die Sirene verstummt war, fuhr sie fort: »Wissen Sie, ich habe viel über das Thema Vermächtnis nachgedacht.« Sie zögerte. »Und über Reinkarnation.«

»Oh …«

»Ich habe Ihnen die Wolle gegeben, verweben müssen Sie sie. Ich kann Ihnen auch nicht sagen, wie das Endergebnis aussehen wird. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss los. Ich hoffe, ich konnte Ihnen weiterhelfen. Es war Schicksal, denken Sie immer daran.«

»Schicksal, ja. Bis dann.«