Ruhm für eine Nacht - Calla Henkel - E-Book

Ruhm für eine Nacht E-Book

Calla Henkel

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Beschreibung

Eigentlich kehren die ungleichen Freundinnen Zoe und Hailey New York den Rücken, um im Berlin der Nullerjahre Kunst zu studieren. Hailey auf der Suche nach Erfolg; Zoe, um über den Tod ihrer besten Freundin hinwegzukommen. Immer tiefer tauchen sie ins Berliner Nachtleben ein und versuchen, sich in der Szene einen Namen zu machen. Schließlich eröffnen sie einen illegalen Club in ihrer Wohnung, die ihnen die Krimi-Autorin Beatrice überlassen hat, und veranstalten immer wildere Partys. Schon bald verschwimmen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion, denn sie fühlen sich beobachtet: Benutzt Beatrice sie als Vorlage für ihren neuen Roman? Die beiden jungen Frauen beschließen, ihre Geschichte selbst zu inszenieren – mit einer blutigen Wendung.

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Seitenzahl: 537

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

» Buch lesen

» Impressum

» Weitere eBooks von Kein & Aber

» www.keinundaber.ch

ÜBER DIE AUTORIN

Calla Henkel, geboren 1988 in Minneapolis, ist eine amerikanische Autorin, Regisseurin, Künstlerin und Dramatikerin. Sie inszenierte unter anderem an der Volksbühne Berlin; ihre in Zusammenarbeit mit Max Pitegoff entstandenen Kunstwerke wurden in Museen und Galerien weltweit ausgestellt, u.a. im New Yorker Whitney Museum of American Art. Calla Henkel lebt in Berlin, wo sie derzeit eine Bar namens TV betreibt. Ruhm für eine Nacht ist ihr Debüt.

ÜBER DAS BUCH

Zoe und Hailey kehren New York City den Rücken, um im Berlin der Nullerjahre Kunst zu studieren und exzessiv ins Nachtleben einzutauchen. Und sie landen einen Glückstreffer: Die Krimi-Autorin Beatrice überlässt ihnen ihre Altbauwohnung zur Untermiete. Doch schon bald häufen sich unerklärliche Ereignisse, und die ungleichen Freundinnen fühlen sich zu Hause nicht mehr sicher. Manipuliert Beatrice sie als Inspiration für ihr neues Buch? Kurzerhand beschließen die beiden, ihre Geschichte selbst in die Hand zu nehmen – mit einer düsteren Wendung.

»Spannend, dicht und glamourös. Ein Krimi, ein Partyroman und die szenische Aufnahme eines Berlins, das ich gerne erlebt hätte. H O T.« Ilona Hartmann

»Ein wildes, amüsantes, erotisches, unheimliches, absolutes Lieblingsbuch!« Simone Meier

»It-Girls, Verfolgungswahn, Raves und Misogynie: Ruhm für eine Nacht ist der erste feministische Thriller, den ich je gelesen habe und ich verehre Calla Henkel für dieses Buch. Was für ein komplexes, originelles Meisterwerk!« Nina Kunz

 

Für Mom und Dad

+

Max und Mia

1

»Fangen Sie ganz von vorn an«, beharrte sie, und wenn es nicht verboten gewesen wäre, hätte ich mir eine Zigarette angezündet. Ich war noch nie gut im Geschichtenerzählen, und bei dieser Geschichte hatte ich immer das Gefühl, dass sie gar nicht wirklich meine war. Damals war ich jung und dumm. Ich war naiv. Ich war zwanzig. Vielleicht könnte ich die erste Folie meines Kunstgeschichtsseminars als Ausgangspunkt nehmen. Darauf zu sehen: eine schwarze Diorit-Stele, der Codex Hammurapi. Zweihundertzweiundachtzig babylonische Rechtssätze und nach Schwere der Tat gestaffelte Strafen aus dem achtzehnten Jahrhundert vor Christus. Einige klangen scheinbar logisch – Auge um Auge, die Hand des Chirurgen für eine verpfuschte Operation, das Leben des Bauunternehmers für ein eingestürztes Gebäude –, andere eher bizarr: Die Schuld von Ehebrüchigen wurde danach beurteilt, ob sie untergingen, wenn man sie ins Wasser warf. Und das alles in Keilschrift in eine über zwei Meter hohe Stele graviert. Doch auf dem kalten schwarzen Stein stand nichts, was mir hätte weiterhelfen können. Kein Gesetz, das einen Prozess für die Dinge vorsah, die mir im vergangenen Jahr passiert waren. Ich hatte keine Ahnung, wessen Hand abgehackt werden musste.

»Na gut. Wie wäre es mit ihren ersten Worten? Was hat sie gesagt, als Sie hier ankamen?«

Ich saß schweigend da, mit verschränkten Armen, unfähig, Frau Kleins hartnäckiges Interesse am Beginn der Geschichte zu verstehen.

Die Kurklinik war allein Frauen vorbehalten, die allesamt wegen verschiedener psychischer Störungen oder auch Krankheiten hier waren, von denen ich größtenteils noch nie gehört hatte. Doch alle hatten gehört, warum ich hier war. Ich war berühmt, und das barsche Getuschel der Schwestern und Patientinnen verfolgte mich durch das Betongebäude. Zumindest versuchten sie, dass ich nichts davon mitbekam, was mich ein wenig tröstete. Mir war nur allzu bewusst, dass es außerhalb der Klinikmauern keinen Grund dazu gab, die Stimme zu senken. Als der Berliner Sommer seinen gleißenden Höhepunkt erreichte, waren wir – Hailey Mader und ich, Zoe Beech – längst Gesprächsthema Nummer eins.

Die Kurklinik war weitläufig und alt, eine umgebaute Grundschule irgendwo im Norden Brandenburgs. Die Flure rochen noch immer nach Kreide, wie das Innere eines Ziegelsteins, und in den meisten Schlafräumen, einst Klassenzimmern, schliefen zwei bis drei Patientinnen. Nur ich war allein, untergebracht in einem Zimmerchen, das einmal eine äußerst großzügig bemessene Besenkammer gewesen sein musste. Darin gab es ein quadratisches Fenster, einen blau gestrichenen Stuhl, einen ebenfalls blauen Schreibtisch und ein Porzellanwaschbecken, das ein Heiligenschein aus dunkelbraunem Schimmel zierte. Ich stellte mir gern vor, der Schimmelring sei eine emsige, von winzigen Sporen bevölkerte Stadt voller gutherziger, friedlicher Schimmelbürger, unter denen vielleicht sogar ein paar Schimmelkünstlerinnen und Schimmelkuratorinnen waren, die in winzigen Schimmelklubs koksten.

Den Großteil meiner Zeit verbrachte ich mit dieser Art sinnlosen Tagträumen, die Ellbogen in das weiche Holz der Schreibtischplatte gebohrt, starrte hinaus auf das unerträglich reglose Ackerland, und dann – wie ein Blitzschlag – eine Unterbrechung der Stille in meinem Kopf: ein Körper, der sich in einer Blutlache wand, umherzuckende Lichtstrahlen, dröhnender Sound, wie in einem Musikvideo von Rihanna oder dem Trailer eines Horrorfilms. Und genauso schnell, wie diese Bilder eingeschlagen waren, war ich wieder bei dem öden Acker oder dem schimmligen Waschbecken oder der Anordnung der Muttermale an Frau Kleins Hals.

Frau Klein liebte das Wort Pa-ra-noi-a und ließ jede Silbe wie einen Tischtennisball aus ihrem feuchten Mund flutschen. Sie war Anfang vierzig, kleidete sich aber, als wollte sie sich schon auf den Ruhestand vorbereiten. Ihre Kleider glichen Kartoffelsäcken, und ihre Haare hatten die schmutzig braune Farbe toter Wildtiere am Straßenrand. Wir hatten inzwischen viele Stunden miteinander verbracht, und ich war mir sicher, dass sie nur durch mich lebte, dass sie die Leere ihrer eigenen Existenz mit meinen Antworten und Traumata füllte, dass sie mir Informationen entlockte, die sie irgendwann an die Boulevardpresse verkaufen oder in einem Enthüllungsbuch ausbreiten würde.

»Zoe, wie haben Sie sich gefühlt, wenn Sie Sex hatten?«

»War Hailey jemals Gegenstand Ihrer Fantasien?«

Was sie sagte, klang eingeübt, als würde sie ein Tonband für einen Sprachkurs aufnehmen.

»Welche Drogen haben Sie genommen?«

»Was hat Sie dazu getrieben?«

Mit desinteressiertem Ekel beobachtete ich, wie an den Rändern ihrer schmalen Lippen der Speichel erschien, wie sie geradezu nach meinen Antworten lechzte.

»Ich habe genommen, was gerade da war.«

Sie nickte. Noch mehr Fragen. Wann immer ich den Namen Beatrice erwähnte, flackerte ihr Blick, und sie griff nach ihrem stummeligen blauen Stift und zeichnete schweigend einen Umriss in ihr Notizbuch. Frau Klein zog meine Theorien durchaus in Erwägung, legte aber am Ende doch wieder den Kopf schief. »Und was macht Sie so sicher, dass Beatrice Sie beobachtet hat?«

»Sie hat meine E-Mails gelesen.«

»Und woher wollen Sie das wissen?«

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass …«

»Aber ist es nicht vielleicht möglich, dass Sie sich das nur eingebildet haben?«

»Nein.«

Frau Klein zeichnete noch einen Umriss in ihr Notizbuch und sah dann auf die Uhr. Die Edelstahllampe auf ihrem Schreibtisch warf einen orangefarbenen Lichtkreis auf ihre übermäßig eingecremte Wange. Ihre Haut hing schlaff herab wie bei der Maske des Agamemnon oder wie ein Klumpen halb durchgebackener Keksteig.

»Und in wessen Geschichte wähnen Sie sich jetzt gerade?«

»In Ihrer«, sagte ich und zeigte auf ihr Notizbuch.

Frau Klein nickte vielsagend. »Lassen Sie uns noch einmal zum Anfang zurückkehren. Was waren ihre ersten Worte an Sie, als Sie hier ankamen?«

2

»Guten Tag, Dumpster!«, schrie Hailey und wedelte aufgeregt mit ihrem sommersprossigen Arm durch den Hauptbahnhof. An ihrem sportlichen Körper war ein ockerfarbener Wanderrucksack festgeschnallt – sie schien bereit, ihr Lager jede Nacht woanders aufzuschlagen, was mir ein wenig Angst machte. Während wir unsere S-Bahn-Tickets kauften, erklärte sie fröhlich, dass das Hostel Star im Ostteil der Stadt liege, ein Bett dort zweiundzwanzig Euro pro Nacht koste und in jedes Zimmer vier Stockbetten für insgesamt acht Personen passten. Ich verstand die Unterschiede zwischen Ost und West noch nicht wirklich, aber offenbar waren diese beiden Himmelsrichtungen in Berlin von besonderer Bedeutung. Die Wirkung der Tablette gegen Reisekrankheit, die ich irgendwo über dem Atlantik genommen hatte, ließ nach, und ich fühlte mich hilflos, weil ich mich ganz auf Haileys Planung verlassen musste, weil ich ihr wie ein stummer Hund hinterhertrottete, während sie vor sich hin plapperte und mir durchs Waggonfenster Sehenswürdigkeiten zeigte: das Kunstmuseum zu unserer Linken, den Alexanderplatz, den Fernsehturm.

Ich zog meinen gebrauchten Koffer über den gepflasterten Gehweg und ließ Hailey voraushüpfen, bis sie abrupt unter einem Neonstern stehen blieb, der von einer bröckelnden Betonfassade herableuchtete. Ich folgte ihr in das Gebäude, wo uns der Geruch von Zitronenreiniger und Moder entgegenschlug.

»Mir hat der Name Hostel Star irgendwie gefallen«, rechtfertigte sie sich leicht verlegen und sah sich in der heruntergekommenen Lobby um. Nachdem wir endlich die Schlüssel in den Händen hielten, betraten wir unser Zimmer im zweiten Stock, in dem bereits drei Typen in unserem Alter herumhingen. Sie hatten sich über sämtliche Möbelstücke ausgebreitet und ihre Reisetaschen und ihr Zigarettenpapier auf dem dunkelblauen Linoleumboden verteilt. Als sie uns sahen, begrüßten sie uns mit starkem australischem Akzent.

»Wir bleiben nur hier, bis wir was Dauerhaftes gefunden haben«, raunte mir Hailey zu, nachdem wir ein paar höfliche Floskeln mit unseren Zimmergenossen ausgetauscht hatten. Sie streifte die Gore-Tex-Schulterriemen ihres Rucksacks ab und nahm einen Schluck aus ihrer Smart-Wasserflasche. Die Australier stellten sich vor, alle drei Namen klangen wie Aaron, Oron oder Erin. Widerwillig nannten wir ihnen im Gegenzug unsere. Ich war erleichtert, als Hailey gähnte. Sie war also doch nur ein Mensch. Wir legten uns auf unsere Stockbetten, und ich fiel in einen sirupartigen, zähen Schlaf. Als ich aus meinem Jetlag-Nickerchen erwachte, war es draußen bereits dunkel, und die Spiegelung des Neonsterns schien wie ein Sonnenuntergang mit Schluckauf durch unser Zimmerfenster. Die Aarons fragten, ob wir mit ihnen in einen Club wollten. Hailey und ich tauschten Auf keinen Fall-Blicke aus. Die Jungs zuckten mit den Schultern und fingen an, von der Kante des oberen Stockbetts Speed zu ziehen. In einem letzten Versuch, uns zum Mitkommen zu überreden, grölte der Lange: »Jede versäumte Nacht in Berlin, ist eine versäumte Nacht in Berlin!« Wir brachen in Gelächter aus, sobald die Tür hinter ihnen zugefallen war.

Der Spruch wurde unser Mantra, wenn entweder alles absolut trostlos oder absolut unglaublich war. Jede versäumte Nacht in Berlin ist eine versäumte Nacht in Berlin. Vom oberen Stockbett aus sah ich Hailey dabei zu, wie sie den Satz in ihr orangefarbenes Tagebuch kritzelte. Sie notierte ständig irgendetwas, unterbrach unsere Gespräche, um das broschierte Büchlein hervorzuziehen. Beim Schreiben hüpfte ihr roter Pferdeschwanz wie ein Pinsel durch die Luft.

»Alle großen Künstler haben Tagebuch geführt«, sagte sie an unserem zweiten gemeinsamen Nachmittag zu mir, während Croissantkrümel vom Amorbogen ihrer Oberlippe rieselten. »Ich nehme das hier sehr ernst.« Ich nickte, unsicher, was ich in Berlin ernst nehmen würde. Ich wusste ja noch nicht mal genau, warum ich hier war. Über meinen Chai Latte hinweg spähte ich zu Hailey hinüber. Sie war so unerschütterlich selbstsicher, so überzeugt von ihren Plänen für die nächsten Monate und wahrscheinlich sogar Jahre. In Gedanken formulierte ich eine E-Mail an meinen Freund Jesse, in der ich ankündigte, früher nach Hause zu kommen. Berlin sei ein gewaltiger Fehler gewesen, ich hätte keine Ahnung, was ich hier täte.

Hailey hatte ich im Kunstgeschichtsseminar an der Uni in New York kennengelernt. Sie stammte aus Rhode Island und irgendwie auch aus Kentucky, Nebraska und Colorado. Ihrem Vater gehörte eine erfolgreiche Supermarktkette, die aus unerfindlichen Gründen Biggles hieß. Hailey war eine Titelbild-Schönheit mit rotem Haar, durch das sie ständig die Finger gleiten ließ, als stünde sie vor laufender Kamera. In Kunstgeschichte ließ sie immer wieder ihre sommersprossigen Arme in die Luft schnellen, weil sie unbedingt eine Frage beantworten wollte. Warum war Cimabue so bedeutsam? WEIL ER DIE ALLERWICHTIGSTE ÜBERGANGSFIGUR ZWISCHEN MITTELALTERLICHER UND RENAISSANCE-MALEREI DARSTELLT! Ihre Antworten waren normalerweise richtig, und sie hatte eine schizophrene Art, den Akzent zu wechseln, passend zur jeweiligen Situation: ein schleppender Südstaaten-Singsang, um jemanden um einen Stift zu bitten, oder ein trockener r-loser Ostküstenakzent, um auf Dozentenfragen zu antworten.

Zum Kunstgeschichtsseminar um neun Uhr morgens erschien Hailey grundsätzlich mit knalligem Lippenstift, wozu sie entweder eine Victoria’s Secret PINK Jogginghose oder enge Hüftjeans trug – dazwischen gab es für sie nichts. Hin und wieder setzte sie sogar eine Von-Dutch-Cap auf, was 2008 vermutlich schon als retro durchging, und war eine absolute Ausnahme an der Kunstfakultät, wo die gängige Uniform aus Carhartt-Hosen mit Farbflecken, übergroßen Band-T-Shirts und Doc Martens bestand. Genau wie ich war sie nicht gerade im Schoß der Avantgarde aufgewachsen, für sie war Popkultur die einzig wahre Kultur. Sie vergötterte Andy Warhol und marschierte, ohne zu zögern, in Kim’s Video am St. Marks Place, dem Mekka für Filmkenner, um den Angestellten, der unverhohlen die Augen verdrehte, nach Notting Hill zu fragen.

Bei meinem einzigen Besuch im Kim’s hatte ich mich dem Druck der »Mitarbeiter-Lieblinge« gebeugt und einen tschechischen New-Wave-Film ausgeliehen, für den ich nachzahlen musste, nachdem ich vier Abende in Folge vergeblich versucht hatte, ihn mir bis zum Ende anzusehen.

Freitags, nach unserer Kunstgeschichts-Arbeitsgruppe, gingen ein paar von uns oft noch in den Asian Pub, eine düstere Kneipe im East Village, in der sie billige Cocktails anboten und nicht allzu genau nachgeprüften, ob man schon einundzwanzig war. Eines Abends, als wir bereits ein paar Drinks intus hatten, ertappte mich Hailey dabei, wie ich ihre Nase anstarrte. Sie war zu perfekt, sanft geschwungen wie eine Skipiste für Kinder. Sie beugte sich vor und erzählte mir mit ihrem Erdbeer-Daiquiri-Atem, sie habe in der Highschool einen Lacrosse-Schläger ins Gesicht bekommen und ihren Vater anschließend überredet, ihr eine Nasen-OP zu spendieren. Sie trank noch einen Schluck von ihrem knallroten Getränk und sah mir in die Augen. Offenbar lag ihr daran, dass wir noch eine Weile bei diesem Thema blieben.

»Davor hatte ich bestimmt drei Castings für Neutrogena-Werbespots, aber nie habe ich den Job bekommen. Da wurde mir klar, dass es so nicht weitergehen konnte.«

»Oh«, sagte ich und wusste nicht, was ich sonst noch hinzufügen sollte.

»Also habe ich die Sache selbst in die Hand genommen«, gestand sie stolz und machte eine Schlagbewegung in Richtung ihres Kopfes.

»Willst du damit sagen, dass du dir absichtlich die Nase gebrochen hast?«, fragte ein Kommilitone, der neben uns saß.

»Ja.« Hailey schnalzte zufrieden mit der Zunge.

Ich entschuldigte mich und verschwand auf die Toilette, aber das Bild hatte sich bereits in mein Hirn eingebrannt: Hailey, wie sie sich innerlich wappnete, während der Aluminiumschläger auf ihr niedliches Teeniegesicht zuraste. Als das Semester schon einige Wochen lief, stattete ich ihr in ihrem Studentenwohnheim einen Besuch ab, um ein Handout über byzantinische Mosaike abzuholen, und bemerkte die Modelbilder, die über ihrem Bett an der Wand klebten: die junge Hailey mit kariertem Minirock in einem Katalog für Jugendmode, Hailey Capri-Sonne trinkend auf dem Fußballplatz, umringt von weiteren Rotschöpfen und einem Zwergbullterrier für eine Target-Reklame.

»Siehst du, das mit der Nase hat funktioniert«, sagte sie zufrieden und kramte auf ihrem Schreibtisch nach dem Handout. Ich nickte, gleichzeitig angewidert und fasziniert von ihrer pubertären Radikalität.

Gegen Ende des zweiten Studienjahrs wünschte ich mich verzweifelt weg von New York. Ich war deprimiert – die Wirtschaftskrise, überall nur Trübsinn. Unsere Studienberaterin Carol Gaynor, eine schlanke Frau mit makelloser Haut, die mit einem berühmten Dermatologen verheiratet war, erklärte sich bereit, mit mir zusammen einen Fluchtplan zu schmieden. In Carols Büro konnte man gemütlich die Füße hochlegen, während sie über die völlig irrelevanten Vorzüge weit entfernter Orte plapperte, die für einen Austausch zur Verfügung standen.

»In der Nähe der Uni gibt es ein Café in einer Orangerie, dort servieren sie spektakulär gute Scones.« Oder: »Nur ein Stück die Straße entlang ist eine tolle öffentliche Sauna direkt am Meer.«

Ich wollte nach Helsinki, zu der Kunstfakultät mit der Sauna.

»Einmal richtig schwitzen, und die Welt sieht gleich ganz anders aus«, schwärmte Carol mit einem Kaffeebecher in der Hand. Ich hatte sofort eine montessorihafte Vision von Massivholzböden und gebrochenem finnischem Licht, das auf einen Kreis gesitteter Kunststudenten fiel, die mit Schnüren hantierten. In meiner Vorstellung waren Europäer Menschen voller Würde, Geschichtsbewusstsein und Vernunft – das genaue Gegenteil meiner Uni, an der sich alles um die Bildhauerjungs drehte, die in der Holzwerkstatt riesige Kunstobjekte aus Kanthölzern zusammenzimmerten und sich während der Seminare mit Whiskey betranken, den sie zuvor in Pepsi-Flaschen umgefüllt hatten.

An unserer Fakultät herrschte ein großer Konkurrenzkampf, und die Runden zur Besprechung von Kunstwerken bildeten ein gebilligtes System des gegenseitigen Angriffs. Sämtliche Kränkungen fanden in einem Seminarraum im ersten Stock statt, der »Grube des Grauens«, wie die meisten Studenten ihn nannten. Freunde wurden dazu angespornt, sich gegenseitig mit persönlichen Details bloßzustellen: Eltern, die die Republikaner wählten, grundlegende Texte, die sie nicht gelesen hatten, pornografische Vorlieben. Man machte sich solcherlei Schwächen zunutze und erzählte Anekdoten, die für das zu besprechende Kunstwerk vollkommen belanglos waren – aus reinem Machtstreben. Um was für eine Macht es dabei genau ging, war mir immer noch völlig unklar. Teilweise lag diese Macht bei den Lehrkräften, die jungen Künstlern mit einer wohlwollenden Kritik den Weg in die nebelverhangene Welt der Galerien ebnen konnten. Aber die Bildhauerjungs waren unantastbar, sie belästigten Erstsemester lautstark mit Obszönitäten, zitierten Joseph Beuys falsch, klauten sich gegenseitig die Ideen, und trotzdem wollten alle mit ihnen ins Bett.

David Chris war der Anführer der Bildhauergang, er war der größte von ihnen, hatte ein breites Gesicht und sah aus, als wäre er gerade einer prähistorischen Höhle in Frankreich entstiegen, die Hände noch voll Farbe vom letzten Büffel-Wandgemälde. Meine Tante Caroline pflegte mit ihrer Zwei-Packungen-am-Tag-Stimme und ihrem Südstaatenakzent zu sagen: »Vertraue niemals jemandem mit zwei Vornamen.« Bei David Chris war dieses Misstrauen mehr als angebracht. Er war der Haupturheber eines mit spermabeschmiertem Filzstift erstellten Mehrgenerationen-Wandbilds von Studienanfängerinnen an der Decke des Trakts, in dem sich die Ateliers für die älteren Semester befanden. Unter jedes der Bilder kritzelten er und seine Kumpel die Spitznamen der Mädchen, hielten manchmal sogar fest, mit welchem sie geschlafen hatten, oder fügten andere wichtige Infos hinzu: Muppy hat Herpes oder Ken-doll hat eine enge Muschi.

Mein Spitzname hatte keinen sexuellen Ursprung. An Halloween war ich in einem American-Apparel-Jumpsuit mit Zebramuster eine enge Treppe in Chinatown hinuntergewankt und hatte acht Treppenabschnitte unfallfrei hinter mich gebracht, nur um auf der letzten Stufe zu stolpern. Ich landete auf einem Haufen Abfall, der es mir zum Glück nicht übelnahm. David Chris, der – wie eigentlich jeden Tag – als der legendäre Holzfäller Paul Bunyan verkleidet war, stand mit einem breiten Grinsen am Fuß der Treppe. Und jetzt war mein Spitzname Dumpster – Müllcontainer – mit fast ausgetrocknetem rotem Filzstift unter eine gar nicht mal so unschmeichelhafte Skizze von mir gekritzelt, wie ich aus einer Mülltonne auftauchte und dabei wie eine Mischung aus einer wahnsinnigen Venus von Botticelli und einem notgeilen Oscar aus der Sesamstraße aussah. Es war nicht der schlimmste Spitzname. Hailey hieß Holey, weil sie sich von einem Typ namens Moses auf dem Dach der Fakultät hatte fingern lassen.

Ich hatte endlich den Mut aufgebracht, eine meiner Assemblagen in der »Grube des Grauens« vorzustellen. Bei der Grundplatte handelte es sich um ein massiges vollgepinkeltes, vermutlich von Bettwanzen besiedeltes Stück Sperrholz, das ich auf der Bowery gefunden hatte. Ich hatte Hunderte Löcher in das verzogene Holz gebohrt und mit Silberdraht sorgfältig sämtliche Abfälle aufgefädelt, die ich im Laufe des Monats auf der Straße aufgelesen hatte und die in meine Taschen gepasst hatten: Schlüssel, Bonbonpapiere, kleine Ohrringe, Münzen, Haargummis, einen Babyschuh, Flyer für Tarot-Sitzungen, Kassenzettel, Plastikstrohhalme, Legosteine. Es war Dezember. In meiner Vorstellung war die Assemblage so etwas wie ein New-York-City-Adventskalender. David Chris war betrunken.

Sanftes Schweigen senkte sich über den Raum, als meine Mitstudenten meine Assemblage umkreisten. David schnipste gegen die splitternde Kante der Holzplatte. Ich wartete, und die Angst ließ meine Adern pulsieren. Mein Werk war das letzte an einem langen aufreibenden Abend der pseudointellektuellen Kunstkritik. Wir hatten gerade zwei Stunden damit verbracht, über die »inhärente Sentimentalität« eines noch feuchten eingegipsten Donuts zu debattieren.

David durchbrach schließlich die Stille und sprach zwischen zwei Schlucken in seinen Pappbecher hinein, wodurch sich seine Stimme leicht verzerrt anhörte: »Zoe, dir ist schon klar, dass das dekorativ ist, oder?«

»Inwiefern?«, fragte ich zaghafter als beabsichtigt.

»Es ist domestiziert … richtig hübsch …«

»Inwiefern ist es domestiziert?«, hakte ich nach, diesmal mit festerer Stimme.

»Das liegt doch auf der Hand.«

»Die Haargummis«, sagte Jeff schroff, der ein identisch zerschlissenes Flanellhemd trug wie David. »Und die Art, wie du den Draht befestigt hast, so anmutig. Als wolltest du an Gegenständen aus der Vergangenheit festhalten. Das Ding ist wie ein Traumfänger – oder ein Schmuckkästchen. Oder …«

»Außerdem finde ich, dass da noch mehr Zeug dranhängen sollte«, unterbrach ihn David. Er nahm einen weiteren Schluck aus seinem Becher und verabschiedete sich aus der Diskussion, um einem Mädchen mit einem nagelneuen, noch geschwollenen Spatzen-Tattoo am Hals nachzuschenken. Ein paar andere murmelten zustimmend.

»Es wirkt unfertig.«

»Mehr wie ein Vorschlag, ein Entwurf.«

»Ein verwässerter Rauschenberg.«

In der »Grube des Grauens« war die einfachste Art, weibliche Kunst geringzuschätzen, sie domestiziert zu nennen. Oder dekorativ.

Doppel-D. Oder, wie David Chris domesticity aussprach: dumb-ass-titties.

Als ich das ramponierte Stück Sperrholz an einem wolkenverhangenen Mittwoch gefunden hatte, hatte es hinter einem Fahrradständer geklemmt, aufgequollen von den Flüssigkeiten der Stadt – das komplette Gegenteil von Doppel-D. Ich hatte es ins Atelier geschleift und es dort genau unter die Lupe genommen, während meine Finger noch von seinem Gewicht geschmerzt hatten. Trotz seiner grobkörnigen Hässlichkeit war es glatt wie Schwemmholz, seine ursprünglich scharfen Kanten abgeschliffen vom Strom der urbanen Gezeiten. Jeder Farbklecks und jede Kerbe erschienen mir wichtig, denn sie erzählten eine traumatische Geschichte, die nur ich vernahm. Für mich lag auf der Hand, dass dieses Brett die Heimat meiner anderen Fundstücke werden sollte, all der Schätze, die ich während des letzten Monats im täglichen Hin und Her der Menschen auf den Gehwegen und Treppenschächten gefunden hatte. Aber ich wusste nicht, wie ich all dies meinen Mitstudenten erklären sollte. Also ließ ich ihre Kommentare wehrlos über mich ergehen, aus Angst, dass ich – wenn ich ihnen meine Gedanken mitteilte, und sie mein Werk trotzdem abkanzelten – mit leeren Händen dastand.

Ich war neidisch auf alle Kommilitonen, die in Großstädten aufgewachsen waren. Sie schienen das nötige Rüstzeug zu besitzen, um in New York zurechtzukommen. Alle hatten interessante Eltern vorzuweisen: Kartografinnen, Romanautoren, Kostümschneiderinnen, Anwältinnen für Umweltrecht, Filmvorführer im MoMA. Meine Mutter arbeitete in einem unspektakulären Maklerbüro in Florida. Trotzdem versuchte ich krampfhaft, sämtliche New-York-City-Klischees zu erfüllen: Ich trug eine schwarze Lederjacke, wusch mir nur selten die braunen Haare, trank Kaffee, obwohl er mir nicht schmeckte, besaß einen gefälschten Ausweis und hatte kein Problem damit, vulgär zu fluchen. Doch ein heißer Windstoß aus den Lüftungsschächten der U-Bahn konnte mich vor Angst erstarren lassen. Die erdrückende Nähe der vielen Menschen, die mit mir an der Fourteenth Street an der roten Ampel warteten, konnte mich beinahe bewegungsunfähig machen. Bei Trader Joe’s Lebensmittel einzukaufen, war einfach nur schrecklich, und Besuche beim Postamt überforderten mich völlig. Ich musste mir immer wieder in Erinnerung rufen, dass ich besser für ein selbständiges Leben gewappnet war als viele meiner Kommilitonen, von denen die meisten noch nie selbst Wäsche gewaschen hatten. Ich hatte bestimmt schon drei verschlafenen Studenten erklären müssen, wie man die großen weißen Maschinen im Keller des Wohnheims mit Waschpulver befüllte. Ich erhielt beinahe ein Vollstipendium, wusste, wie man ein Omelett briet und dass ich Künstlerin werden wollte. Das musste reichen, fand ich.

In der Grundschule waren meine Zeichenkünste das Einzige gewesen, was mich zumindest ansatzweise beliebt gemacht hatte. Ich hatte bunte Prinzessinnen abgeliefert, Delfine, die durch brennende Reifen sprangen – was auch immer meine Klassenkameradinnen von mir verlangt hatten. Es war, als hätte ich herausgefunden, wie man Geld druckt. In der fünften Klasse gewann meine in Kreuzschraffur angefertigte Zeichnung des Spielplatzes einen Wettbewerb und zierte das Titelbild des Schulkalenders von 2001. In der Middleschool konzentrierte ich mich auf Collagen und beklebte Heftmappen, Schließfächer und die Wände meines vorpubertären Zimmers mit ausgeschnittenen Fotos von Destiny’s Child, Leo, Christina und Britney. Und in der achten Klasse beschloss meine beste Freundin Ivy Noble, die von klein auf Ballett tanzte, nach New York City zu ziehen und Tanz an der Juilliard School zu studieren. Da ich ständig mit ihr wetteiferte und bereit war, ihr überallhin zu folgen, beschloss daraufhin auch ich, der Kunst zuliebe in die große furchteinflößende, taschendiebverseuchte Metropole zu ziehen. Voller Elan warf ich mich in die Vorbereitungen. Sie hatte ihre Proben und ihr Training, ich hatte die Bibliothek. Ich entdeckte Man Ray, Basquiat und die jenseitig wirkenden Collagen von Hannah Höch, die mich dazu inspirierten, Leo und Britney zu dramatischen Teenager-Abstraktionen zu verfremden.

Wenigstens weinte ich Jahre später nicht bei den Besprechungen in der »Grube des Grauens«. Ab und an rang ich nach vernichtenden Kritiken im Waschraum nach Luft, aber Tränen flossen nie. Und ich traf mich häufig mit Ivy, die es trotz der knallharten Aufnahmevoraussetzungen problemlos an die Juilliard geschafft hatte. Ich fand sogar ein paar neue Freunde, und ich lernte meinen damaligen Freund Nate Kai kennen. Er war ein Jahr älter als ich, ein zynischer Computerfreak mit dem starren Blick eines MacBooks. Wann immer er zum Sprechen ansetzte und nach den richtigen Worten suchte, war es, als würden seine schildkrötengrünen Augen heranzoomen wie ein Teleobjektiv, wie eine Hand, die lautlos in den Scrabble-Beutel gleitet und nach dem nächsten Vokal tastet. Nate, ehemals Debattierchampion an seinem Internat in Massachusetts, behielt auch in New York seine Tradition bei, jeden Tag ein Streitthema auszuwählen, über das er mit anderen diskutieren konnte: Ist es moralisch verwerflich, die eigene Kunst in einer Galerie zu verkaufen? Zählt computergenerierte Malerei als Kunst? Ist in unserem Zeitalter der Massenherstellung von Künstlerbedarf alles nur noch Fertigware?

Unsere Beziehung machte mir Angst, aber ich glaubte, Künstlerbeziehungen müssten so sein: unvorhersehbar, gequält, intensiv. Nate mit seiner Ostküstenart war das komplette Gegenteil der sonnenverbrannten, oberflächlichen Beachboys, mit denen ich aufgewachsen war. Ich hatte sogar kurz seine Eltern kennengelernt, im Four Seasons Hotel, vor einer Charity-Veranstaltung von UNICEF. Ihr Verhalten mir gegenüber war bestenfalls frostig gewesen, sie hatten mich von oben herab behandelt. Nates Vater Ken Kai stammte aus Japan, hatte an der renommierten Wharton School studiert und war Banker. Und seine Mutter Barbra Kai, deren Haarfarbe an Zitronenbaiser erinnerte, war Erbin eines kleinen Chemievermögens.

Nate hatte die Angewohnheit, sich Orbit-Kaugummi kauend über meinen Skizzenblock zu beugen und mich zu kritisieren: »Zoe, wenn du mich fragst – schmatz –, ist da viel zu viel los, hab keine – schmatz – Angst, Papier zu vergeuden.«

Ich hatte ständig Angst, etwas zu vergeuden, schließlich war ich mit einem Stipendium in New York. Nate hingegen liebte Verschwendung. Seine Kreditkarte lief auf seine Eltern, und wenn er Streit mit seinem Vater hatte, was häufig vorkam, nahmen wir uns ein Taxi zum Carlyle Hotel und bestellten zweimal Seezunge, die neben dem Tisch auf einer Silberplatte entgrätet wurde. Nate wollte mir unbedingt einen Fetisch andichten. Ich hatte aber keinen. Er schon. Und er wollte ihn mir nicht verraten, bis er wirklich glaubte, dass ich ebenfalls einen hatte. Ich googelte Fetisch.

Erregung durch Insekten.

Erregung durch Steine und Kies.

Erregung durch Amputierte.

Ich hatte keine Ahnung, für was ich mich entscheiden sollte. Ich war mit Nate zusammen, weil er mir Zugang zu einer anderen Welt ermöglichte, nicht, weil ich mit hohen Absätzen auf seinem Gesicht herumtrampeln wollte. Aber ich hatte Angst, ihn zu verlieren, die Opernkarten, seine Anekdoten aus dem Internat. Eines Abends kamen wir nach dem Farbenlehre-Seminar an einem Lebensmittelgeschäft vorbei. Ich sagte ihm, er könne sich eine Zucchini aussuchen und mich damit vögeln. Gemüse würde mein Fetisch werden, warum nicht? Seine Augen leuchteten auf, und seine Hände fuhren aufgeregt durch seine schwarzschimmernden Haare, während er jede Zucchini genau inspizierte, zwischen Daumen und Zeigefinger maß, sie prüfend drückte und sich schließlich für ein leicht gebogenes Exemplar entschied. Später in seiner Wohnung hielt er mitten im Akt inne, blickte entsetzt auf die Zucchini hinab, plötzlich überzeugt, dass ich mich mit dem voluminösen Gemüse über die Größe seines vollkommen normalen Penis lustig machen wollte. Er brach in Tränen aus und sagte mir, ich solle gehen. Beschämt lief ich zurück zu meinem Wohnheim. Mit neuer Entschlossenheit googelte ich Fetisch.Rollenspiele, Tentakel, Füße, Toilettenpapier, Gummi, Arztkoffer, Teddybären.

Ein paar Tage später hatte sich die Lage beruhigt, die Zucchini wurde totgeschwiegen, und wir schauten einträchtig einen Kenneth-Anger-Film, den er schon gesehen hatte, mir jedoch unbedingt zeigen wollte. Er eilte davon, um mehr Bier zu kaufen, und ließ sein Handy auf dem Schreibtisch liegen. Kurz nachdem er weg war, fing es an zu vibrieren wie eine kreischende Hyäne. Ich versuchte es zu ignorieren und konzentrierte mich auf die Nazi-Motorradfahrer, die im blauen Highway versanken, aber das Handy begann erneut mit seinem elektronischen Gejaule. Und dann ein drittes Mal. Schließlich griff ich danach und wollte es gerade stummstellen, als mehrere SMS auf dem Display erschienen. Sie stammten von einem Mädchen, Samantha Cassady, das ihm einen Zeitpunkt für ein Treffen nannte und ihm mitteilte, was er dazu anziehen sollte: Lederhose und weißes Hemd. Als Nate die Treppe hochkam und mich mit dem Handy dastehen sah, fiel ihm die Kinnlade herunter. Seine Augen weiteten sich, das grüne Heranzoomen, er war vorübergehend sprachlos. Dann machte er mit mir Schluss.

Anhand der Anleitung, die Carol mir gemailt hatte, bereitete ich ein Portfolio für die Auslandsbewerbung vor. Ich schob jeden Ausdruck in seine kleine Klarsichthülle und sprach dabei ein lautloses Gebet, das sich schnell in lautlose Fick dichs verwandelte.

FICK DICH DAVID CHRIS FICK DICH NATE FICKT EUCH IHR DÄMLICHEN BILDHAUER-ARSCHLÖCHER.

Und noch mal von vorn. Ich würde Manhattan verlassen, die Insel der ekelhaften Männer.

Einige Monate später rief mich Carol Gaynor mit überschwänglicher Freude in ihr Büro, das genauso schmal war wie sie selbst, und teilte mir mit, dass ich für ein Auslandsjahr in Helsinki angenommen worden war. Ich würde in der Sauna am Meer schwitzen und mein Studium Seite an Seite mit Menschen fortsetzen, die sich zu benehmen wussten. Carol vollführte ein peinliches kleines Tänzchen, indem sie mit ihren Zeigefingern oberhalb ihres Kopfs in die Luft feuerte. Voller Euphorie über meinen bevorstehenden Abgang gönnte ich mir eine Sushi-Box und einen Bubble Tea. Während ich an den Tapioka-Perlen lutschte, rief ich meine Mutter an.

Als ich anschließend zurück zur Fakultät kam, saß Nate auf der Treppe. Weil ich so glücklich war, sagte ich hallo. Und er nahm mein Lächeln, mein kleines Entgegenkommen, nachdem wir uns drei Monate lang die kalte Schulter gezeigt hatten, zum Anlass, über sich und sein Leben zu reden, ein sprudelnder Wasserhahn der Banalitäten. Ich genoss es, wie sich die Tapioka-Perlen in meinem Bauch ausbreiteten, und starrte in sein dumpfes Gesicht, zufrieden, weil er mir so gleichgültig war. Und dann –, als würde er einen Ziegelstein auf meinen in Sandalen steckenden Fuß fallen lassen – erwähnte er, er sei gerade in Helsinki angenommen worden. Ich erwiderte nichts, machte kehrt und ging geradewegs zurück in Carols Büro. In meinem Kopf dröhnte es. Nate hatte von meiner Bewerbung in Helsinki gewusst. Ich hatte ihm sogar auf Google Maps den Campus gezeigt, hatte die Sauna am Meer herangezoomt. Dieser manipulative Dreckskerl! Von Carol erfuhr ich, dass es noch einen freien Platz an der Universität der Künste in Berlin gab.

Ich kannte sie fast nur vom Sehen, und mir wäre nie in den Sinn gekommen, zusammen mit Hailey Mader ein Jahr im Ausland zu verbringen. Ich wusste, dass sie Chanel Mademoiselle trug, einen allgegenwärtigen, an Glasreiniger erinnernden Vanilleduft, der vor allem bei Zahnhygienikerinnen, Galerieassistentinnen und anderen Frauen beliebt war, die harmlose Energie ausstrahlten. Andererseits besaß sie die beängstigende innere Stärke, sich selbst die Nase zu brechen. Ich wusste, dass sie Dentyne-Ice-Kaugummi kaute und ihr Wohnheimzimmer mit italienischer Alkoholwerbung aus den Dreißigern dekoriert hatte, aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ihre Kunst aussah. In der »Grube des Grauens« war ich ihr noch nie begegnet. Sie hatte mir einmal mit großer Ernsthaftigkeit erzählt, sie mache »Konzeptkunst«, als ob damit alles erklärt sei. An der Uni war sie mir bisher immer wie eine Figur aus einer schlecht gespielten Fernsehserie vorgekommen, mit einer lediglich schemenhaft erkennbaren Identität.

Offenbar sprach Hailey Deutsch, eine Tatsache, die Carol mir aufgeregt mitteilte, während sie mir einen Stapel Broschüren in die Hand drückte. Ich war erleichtert, dass ich nicht ganz allein sein würde. Dass es da jemanden gab, der vielleicht einen Plan hatte. Ich besaß Haileys Nummer noch von einer gemeinsamen Arbeitsgruppe und rief sie an. Sie klang aufrichtig erfreut und rasselte sofort Informationen herunter – dass ihr Flugticket gebucht sei, sie bereits ein Hostel gefunden habe und sich vor Ort eine neue SIM-Karte zulegen werde. Gegen Ende des Gesprächs wurde ihre Stimme stockender, ihr Tonfall veränderte sich kaum merklich, als sei ihr gerade bewusst geworden, dass sie nicht mehr die einzige Austauschstudentin unserer Uni in Berlin sein würde. Vielleicht hatte sie vorgehabt, sich dort neu zu erfinden. Vielleicht hatte sie den Film Cabaret mit Liza Minnelli zu oft gesehen. Oder sie plante, sich einen raspelkurzen Pony schneiden zu lassen und Techno zu produzieren. Möglicherweise hasste sie die Bildhaueridioten aber auch nur genauso sehr wie ich. Was auch immer der Grund für ihr Auslandsjahr war, am Ende meines Anrufs wusste sie jedenfalls, dass sie mich dabei mit an Bord haben würde.

Unsere erste Mahlzeit in einem richtigen Berliner Restaurant war ein Fondue in einem Laden nahe des Hostels, einer dunklen Hobbit-Höhle mit knorrigen Holzstühlen, dicken Speisekarten und flackernden Kerzen. Der Kellner war ganz süß, auf eine Teenie-Schwarm-Art, und kam immer wieder an unseren Tisch, um sich überschwänglich zu erkundigen, ob wir alles hätten, was wir bräuchten, bevor er sich mit einem Zwinkern wieder zurückzog. Ich fragte Hailey, warum er so nett zu uns war.

»Weil wir heiß sind, keine zwanzig Jahre alt und Ausländerinnen.« Sie fixierte den Kellner mit einem Fick mich-Lächeln, während sie ein Stück Brot in den zähen, blubbernden Käse tunkte. Er revanchierte sich mit einem vielsagenden Nicken, als wollte er sich gleich im Hinterzimmer einen runterholen.

»Also, wie ist das mit Ivy passiert?«

Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Mir war nicht klar gewesen, dass Hailey von Ivy wusste. Wegen der Beerdigung hatte ich meine Abschlussbeurteilung am Semesterende versäumt, daher wussten wahrscheinlich alle aus meinen Atelierseminaren Bescheid, aber ich hatte irgendwie gehofft, Ivy hier in Berlin für mich behalten zu können. Bis kurz vor meiner Abreise hatte ich immer wieder vergessen, dass sie tot war, hatte an Dinge gedacht, die ich ihr erzählen wollte, mein Handy hervorgezogen und erst nach den ersten getippten Worten realisiert, dass sie für immer fort war.

»Sie wurde ermordet«, antwortete ich schließlich so nüchtern, dass es mir selbst einen Schrecken einjagte.

»Ich weiß«, sagte Hailey und hob ihr Messer subtil Richtung Hals. »Weißt du, wer’s war? Hast du irgendeine Theorie?«

»Die Polizei glaubt, dass sie ein Zufallsopfer war.« Ich zermatschte die Essensreste auf meinem Teller. Mein Vertrauen in Hailey war noch nicht groß genug, als dass ich mit ihr über Ivy hätte reden wollen.

Sie hielt meinem Blick stand, wollte mehr wissen, spießte noch ein Brotstück auf. »Zufälle gibt es nicht.«

Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf das Summen der gekühlten Glasvitrine, in der Schokotorten ausgestellt waren. Die Glasur sah aus wie steifgeschlagener Beton.

»Hast du dir die Haare gefärbt, um wie sie auszusehen?«

»Woher weißt du, dass sie auch blond war?«, fragte ich überrascht.

»Weil ich auf Facebook nach ihr gesucht habe.« Sie hielt inne. »Tote Mädchen sind doch immer interessant.«

Ich erstickte fast an meinem letzten Bissen, und Hailey fuhr fort: »Außerdem können wir ja jetzt beste Freundinnen werden. Ich hatte nie wirklich eine beste Freundin, weil wir ständig umgezogen sind.«

Ich war erleichtert, als der Kellner an unseren Tisch kam und mein Schweigen unterbrach. Hailey begann übertrieben begeistert, mit ihm Deutsch zu reden. Diese Sprache machte mir Angst, jeder Satz kam mir vor wie ein in Würfelform gepresstes Auto. Flirten erschien mir unter diesen Umständen unmöglich, aber der Kellner lachte, und Hailey strich sich kokett übers Schlüsselbein. Die Situation machte mich verlegen. Ich starrte aus dem urigen Buntglasfenster, bis er gegangen war. Wir zählten unser neues deutsches Geld wie ängstliche Kobolde. Hailey flüsterte mir zu, dass wir hier in Deutschland nicht allzu viel Trinkgeld geben müssten, aber es fühlte sich seltsam an, so wenig dazulassen. Also waren wir spendabel wie Amerikanerinnen und bereuten es, als wir zurück zum Hostel Star trotteten.

Zwei Tage später erhielten wir eine Antwort bezüglich einer Wohnung, die wir auf Craigslist entdeckt hatten und die von Herbst bis Frühjahr untervermietet wurde. Die Australier wurden zunehmend aggressiv, einer von ihnen war nach Zigaretten und Urin stinkend zu mir ins Bett gesprungen. Hailey hatte die Vermieterin angeschrieben und erklärt, dass wir Studentinnen seien, sauber und anständig und so weiter. Leider enthielt die Anzeige keine Fotos, aber wir erfuhren, dass die Vermieterin ebenfalls Amerikanerin war, sie fragte, ob wir noch heute Abend vorbeikommen könnten. Wir nahmen die senfgelbe U-Bahn quer durch die Stadt nach Schöneberg. Das Gebäude befand sich am Ende der Bülowstraße, die erhöhte Trasse der hier oberirdisch verlaufenden U-Bahn führte direkt daran vorbei. Gegenüber schmiegte sich eine rundliche Backsteinkirche in einen hübschen kleinen Park mit Bäumen. Genau so hatte ich mir Europa immer vorgestellt.

»Siehst du diese Frauen?«, riss mich Hailey aus meiner Tagträumerei und zeigte auf eine Gruppe Damen in Neonstrumpfhosen und engen, über bauschigen Jacken geschnürten Korsetts. »Das sind Prostituierte. Ist hier legal. Die zahlen sogar Steuern.«

Ich nickte und überlegte, ob das nun hieß, dass dies eine gute oder eine schlechte Gegend war. Hailey steckte voller Informationen, wofür ich sehr dankbar war. Ich selbst wusste gar nichts. Am Morgen hatte sie mir, ohne mit der Wimper zu zucken, mitgeteilt, der Grund dafür, dass die meisten Toiletten hier einen kleinen Vorsprung hätten statt einer wassergefüllten Schüssel, sei der, dass die Deutschen gern ihre eigene Scheiße betrachteten.

»Das wäre doch die perfekte Kulisse für unser Auslandsjahr«, sagte sie und machte eine Handbewegung in Richtung der Straße und der steinernen Fassade, zu der wir aufblickten. Ich nickte wieder. Wir traten unsere Schuhe vor der Haustür ab und stapften dann hinauf in den zweiten Stock. Als sich die Wohnungstür knarzend öffnete, wurden wir geradezu erschlagen von einem intensiven Blumengeruch, wie auf einer Beerdigung, stechend und endgültig. Eine Frau mit pechschwarzem Haar streckte uns ihre Hand entgegen, an der fünf blutrote Fingernägel leuchteten. Sie stellte sich als Beatrice Becks vor, und die Bs ploppten aus ihrem Mund: »Beee-atrice Beee-cks.«

Ich lächelte verhalten und warf den Namen gedanklich in die Luft wie eine Münze.

Groß und elegant, in einem wallenden weißen Herrenhemd, führte uns Beatrice in den Eingangsbereich, und ihr blumiger Duft wurde noch intensiver, als sie den Arm ausstreckte, um uns die Garderobe zu zeigen. Ich konnte ihn nicht einordnen, trotz meiner zahlreichen Stunden in der Parfümabteilung der Shoppingmall – vielleicht Diorissimo von Dior, aber das war eigentlich zu pudrig, während dieser Duft scharf war, fast pfeffrig. Sie beobachtete uns aufmerksam, während wir uns aus unseren Jacken schälten.

Als wir uns hinknieten, um unsere Schuhe auszuziehen, beugte sich Hailey zu mir herüber. »Sie sieht aus wie Uma Thurman in Pulp Fiction, oder?«

Ich verkniff mir ein Lachen. Den Film hatte ich nie gesehen, aber ich kannte das Plakat aus Kim’s Video – der Haarschnitt und der rote Lippenstift stimmten exakt überein. Ich schaute verstohlen zu Beatrice und sah, dass sie mit verschränkten Armen auf uns wartete. Sie warf sich selbst einen prüfenden Blick im Flurspiegel zu, hob eine Hand, um sich den Pony glattzustreichen, entspannte ihre Kiefermuskeln und neigte den Kopf zur Seite. Offenbar kannte sie ihre Schokoladenseite.

Hailey richtete sich auf, und ich folgte ihr und Beatrice auf Sockenfüßen, spähte nach rechts und erblickte eine Küche mit grünem Bodenbelag. Beatrice bog nach links ab und betrat das Wohnzimmer, das vom warmen Licht eines Kronleuchters mit kerzenähnlichen Glühbirnen erhellt wurde. Hailey schnappte beim Anblick des wunderschönen Raums nach Luft. Die Decke war mindestens dreimal so hoch wie ich, und die Stuckleiste erinnerte an mit einem Löffel modellierte kalte Butter. Ich hatte genügend Fotos auf Craigslist gesehen, um zu wissen, dass so etwas hier kein Normalfall war.

Hailey und ich fuhren erschrocken herum, denn in dem Zimmer saß eine zweite Frau, die ein weißes Hemd im selben Stil sowie die gleiche Bobfrisur mit Pony trug, nur dass ihre Haare von einem stumpfen Grau waren. Nervös machte Hailey eine kleine Verbeugung. Die grauhaarige Dame erwiderte ihre Begrüßung mit einem Nicken. Ich ließ meinen Blick zu dem Sofa hinuntergleiten, auf dem sie saß: Es war knallrot und hatte die Form von Lippen, ein praller surrealistischer Schmollmund. Beatrice, die uns an der Tür so groß vorgekommen war, wirkte plötzlich sehr klein, als sie ebenfalls auf dem Sofa Platz genommen hatte. Sie stellte uns die zweite Frau als ihre Mutter Janet vor. Ich stand wie angewurzelt da, fasziniert von dem Lippensofa, dessen einer Mundwinkel Richtung Decke wies, als wäre es mitten in einem gekünstelten Lächeln erstarrt.

Mutter und Tochter sahen uns mit dem intensiven Blick zweier Figuren aus einem Renaissance-Gemälde an. Ich fröstelte und bemerkte, dass die Fenster offen standen, doch die beiden perfekten Wachsfiguren auf dem Sofa schienen die Kälte nicht zu bemerken.

Beatrice durchbrach die Stille: »Ich bin Schriftstellerin.« Sie sagte es so, als sei dies eine Information, die uns längst bekannt war. »Und ich verlasse meine Wohnung, um vor dem Berliner Winter ins wärmere Klima Wiens zu flüchten.«

Ich starrte sie ausdruckslos an. Hailey gluckste, es handelte sich offenbar um einen Witz. Ich folgte ihrem Vorbild und stimmte gezwungen in ihr Lachen ein. Beatrice übernahm wieder die Kontrolle über das Gespräch. »Ursprünglich sind wir aus Kalifornien.«

Sie sprach dieses Wort mit einer altmodisch anmutenden Eleganz aus – »Kali-fooor-nien« –, in der das Röhren teurer Autos auf Kieszufahrten mitschwang, das Rascheln von Weinreben im Wind. Ich schätzte sie auf Anfang vierzig.

»Ich werde mich in ein Schloss für Autorinnen und Autoren zurückziehen, im Rahmen eines Arbeitsstipendiums des Bundeskanzleramts Österreich. Klingt etwas hochtrabend, ist aber ein wunderbarer Ort, um sich ganz aufs Schreiben zu konzentrieren.« Beatrice sah fragend zu ihrer Mutter. Janet senkte zustimmend ihr spitzes Kinn, Beatrice entspannte sich sichtlich und fuhr mit dem Zeigefinger die Konturen ihrer roten Lippen nach. Mir fiel auf, dass Janet trotz ihrer grauen Haare nicht viel älter wirkte als Beatrice. Die beiden ähnelten einander sehr – die gleiche kräftige Nase und fast schwarze Augen –, aber Janets Züge waren markanter, beinahe eckig.

Wir sprachen über New York, wir sprachen über Kunst. Ja, wir würden beide hier in Berlin studieren. Ja, für uns sei alles noch neu. Als Beatrice und ihre Mutter einmal nicht hinsahen, warf mir Hailey einen vielsagenden Blick aus großen Mondaugen zu – sie wollte die Wohnung. Sie verfiel in ihren gesprächigen Südstaatenmodus und unterhielt die beiden mit Horrorgeschichten über das Hostel Star und die australischen Aarons: Jede versäumte Nacht in Berlin ist eine versäumte Nacht in Berlin. Das Mutter-Tochter-Duo brach simultan in Gelächter aus, ihre vibrierenden Hälse bewegten sich voneinander weg und dann wieder uns zu. Das Eis war gebrochen. Beatrice schien sich zunehmend in uns wiederzuerkennen, den beiden jungen staunenden Amerikanerinnen im Ausland. Ihre Fragen folgten nun rasch aufeinander, als laufe ihr bei einer Partie Scharade die Zeit davon.

»Warum Berlin?«

»Welche Art von Kunst gefällt euch?«

Hailey schwärmte von Warhol.

»Wart ihr vorher schon mal im Ausland?«

Hailey stupste mich an, und ich erzählte von meinem Highschool-Trip nach Mexico City, zweiundzwanzig Mädchen und ein Junge.

»Was machen eure Eltern beruflich?«

Hailey schilderte langatmig, wie Biggles, die Supermarktkette ihrer Familie, das amerikanische Konsumverhalten revolutionierte.

Beatrice ignorierte Haileys Monolog über verderbliche Lebensmittel und fragte: »Seid ihr gebunden?« Es dauerte einen Moment, bis wir verstanden, was sie meinte. Hailey berichtete freudig von ihrem Freund Zander, »dem Genie«, von ihrer offenen Beziehung und seinen Erfolgen in der Robotertechnologie. Beatrice betrachtete ihre Fingernägel, Janet gähnte und warf ihrer Tochter einen Blick zu. Hailey schnalzte panisch mit der Zunge. »Und Zoe ist mit dem Exfreund ihrer ermordeten besten Freundin zusammen.«

Ich lief rot an. Wie hatte Hailey das herausgefunden? Ich hatte ihr nur erzählt, dass mein Freund Jesse hieß. Wahrscheinlich war sie bei Facebook auf ihn gestoßen und hatte eins und eins zusammengezählt. Beatrice’ Augen leuchteten auf, sie sah mich mit einem angespannten Lächeln an, und auch in Janet schien endlich Leben zu kommen.

»Oh, das tut mir aber leid! Wie ist das passiert?«, fragte sie.

»Erstochen«, sagte Hailey so lapidar, als beschreibe sie die gewünschte Garstufe ihres Steaks. Beatrice und Janet hoben die Augenbrauen, sie wollten ganz offensichtlich mehr erfahren.

»Wo?«

»In Hals und Brust, vierzehnmal«, antwortete Hailey.

»Meine Frage war geografisch gemeint.«

»In Florida. Sie war Balletttänzerin.« Hailey bedeutete mir mit einem Blick, dass ich fortfahren sollte. Ich starrte zu Boden, betretenes Schweigen senkte sich über den Raum. Nichts von alldem hatte ich Hailey erzählt. Warum tat sie das? Am liebsten hätte ich laut geschrien. Beatrice legte leicht belustigt den Kopf schräg. Alle sahen mich an. Eine U-Bahn rumpelte vorbei und warf einen gelblichen Lichtschein ins Zimmer. Sie war gerade nah genug, dass man schemenhaft die Fahrgäste erahnen konnte, die ins trübe Abendlicht hinausstarrten. Ich fragte mich, ob sie uns wohl sehen konnten, ob sie erkennen konnten, dass der ganze Raum darauf wartete, dass ich etwas sagte.

»Warum leben Sie in Berlin?«, fragte Hailey an Beatrice gewandt und beendete endlich die Leere, die die davonrauschende U-Bahn hinterlassen hatte.

Beatrice setzte sich aufrechter hin und drehte nachdenklich den Kopf, doch noch bevor sie antworten konnte, kam ihr Janet zuvor: »Berlin eignet sich wunderbar zum Schreiben, hier kann man sich noch ganz und gar der Dunkelheit hingeben. Aber unser Hauptwohnort ist nach wie vor Kali-fooor-nien, obwohl mein Lieblingswohnsitz die Friesenkate auf Sylt ist.«

Hailey lächelte, als wüsste sie genau, was gemeint war.

»Was ist eine Friesenkate?«, fragte ich leise, um mein vorheriges Schweigen zu kompensieren. Hailey funkelte mich an, als wäre ich geistig minderbemittelt.

»Eine Friesenkate ist ein kleines Landhaus mit Reetdach. Auf Sylt, einer Nordseeinsel, gibt es sie überall«, erklärte Janet.

»Ich liebe diese Häuser!«, schwärmte Hailey.

»Sie sind reizend, aber sehr wartungsintensiv.«

»Also dann«, schnitt ihr Beatrice das Wort ab, offenbar verärgert über die Redseligkeit ihrer Mutter. Sie stemmte ihren knochigen Körper vom Sofa und winkte uns, ihr zu folgen. Ihre knallroten Fingernägel flogen umher, während sie uns alles zeigte – die brandneue Waschmaschine, ein fensterloses Badezimmer, eine hübsche Leseecke. Die Küche war mit einer verblichenen Siebziger-Jahre-Blümchentapete versehen und mit deckenhohen Bücherregalen vollgestellt. Ich verharrte einen Moment und spähte aus dem Fenster über der Spüle in einen leeren Innenhof.

»Und hier stehen meine eigenen Werke«, verkündete Beatrice und zeigte auf ein großes Bücherregal im Eingangsbereich, in dem die Buchrücken nach Farben sortiert waren. Als ich aus der Küche kam, verharrte sie gerade vor dem Regal, als würde sie für ein Foto posieren. In ihrem schwarzen Haarschopf spiegelte sich das Licht der Deckenlampe.

Dann eilte sie davon, weil ihr Handy klingelte, und ließ uns für einen Moment im Flur allein.

»Wusste ich’s doch! Sie ist berühmt! Ihre Bücher werden an Flughäfen verkauft«, flüsterte Hailey aufgeregt. Ihre Begeisterung für Popkultur erstreckte sich auch auf den literarischen Bereich. Sie neigte dazu, ziegelsteinschwere Wälzer mit blutigen Coverbildern und erhabener Schrift mit sich herumzuschleppen. Jetzt war sie völlig aus dem Häuschen.

Beatrice kam zurück. »Wie ihr gleich sehen werdet, gibt es nur ein richtiges Schlafzimmer, aber im Wohnzimmer steht auch ein sehr bequemes Schlafsofa.«

»Klingt super!«, antwortete Hailey mit einem dämlichen Grinsen.

Ihre aufgesetzte Überschwänglichkeit ärgerte mich maßlos. Sie hatte Ivy vollkommen skrupellos als Trumpf eingesetzt. Bei ihr gab es keinen Filter, keine Bremse.

»Seht euch ruhig um«, forderte uns Beatrice auf und machte mit flatternden Ponyfransen eine Kopfbewegung in Richtung Schlafzimmertür. Es handelte sich offenbar um einen ehemaligen Ballsaal, der durch eine Doppeltür in zwei große Räume unterteilt worden war. Die Tür war aus geschnitztem weiß bemaltem Holz und hatte goldene Griffe. Eine Vorkriegswohnung, »ein richtiger Altbau«, wie Beatrice es nannte. Das Parkett war rautenförmig verlegt, mit Sockelleisten aus dunklem Kirschholz. Darüber lagen verschiedene Teppiche. Der größere Raum, das Schlafzimmer, hatte ein Erkerfenster mit Blick auf den kleinen Park, ein schmiedeeisernes Bett und ein glänzendes Blüthner-Klavier. Und das etwas kleinere Zimmer, das Wohnzimmer, wo Janet immer noch steif auf dem lippenförmigen Sofa thronte, verfügte über einen großen Esstisch aus Eichenholz und weitere Bücherregale. In beiden Räumen stand ein riesiges gekacheltes Ungetüm in der Ecke.

»Äh ja, das muss ich vielleicht auch noch kurz erwähnen: Diese Wohnung wird mit Kohleöfen beheizt. Aber die sind sehr effektiv, wenn man mal den Dreh raushat«, erklärte Beatrice eilig, als sie Haileys misstrauischen Blick sah.

Nach dieser kleinen Führung gingen wir zurück in den Flur, um unsere Jacken anzuziehen. Beatrice umarmte uns beide steif und hüllte uns in ihren unverwechselbaren Blumenduft. »Es wäre so schön, euch beide hier wohnen zu haben, wir Amerikanerinnen im Ausland müssen doch zusammenhalten«, gurrte sie. Janet stellte sich neben ihre Tochter in die Eingangstür, sodass beide Frauen nun von hinten beleuchtet wurden, und sich die Silhouetten ihrer Zwillingsbobs vor dem hellen Flur abzeichneten.

»Also … können wir die Wohnung haben?«, fragte Hailey nervös.

»Ich wüsste nicht, was dagegen spräche«, antwortete Janet und streckte ihren Hals aus der Wohnung.

Beatrice warf ihrer Mutter einen Blick zu. »Ich melde mich bei euch, damit wir alles Weitere besprechen können.«

»Ich hoffe sehr, dass ihr an unserer Bibliothek Freude haben werdet«, fügte Janet noch hinzu, bevor die Tür zuging.

Hailey summte begeistert vor sich hin und rief »Fuck yes!«, sobald wir auf der Straße waren. Ich konnte mich nicht mit ihr freuen. Während das Haus hinter uns in der Dunkelheit verschwand, bekam ich kaum Luft vor Wut darüber, dass Hailey den Exfreund meiner ermordeten besten Freundin erwähnt hatte. Ich blaffte sie an: »Hailey, das war echt nicht …«

Sie ließ mich nicht mal ausreden: »Ach, komm schon. Das ist Beatrice Becks, wir mussten ihr eine gute Story liefern, damit sie uns die Wohnung überlässt. Schau doch, was wir jetzt haben: die beste Wohnung in ganz Berlin! Der absolute Wahnsinn! Was denn? Hast du etwa einen besseren Plan?«

Den hatte ich nicht. Das war das unsichtbare Ungleichgewicht zwischen uns: Es war Hailey, die Deutsch sprach, Hailey, die den Stadtplan lesen konnte, die keine Angst davor hatte, Fremde nach dem Weg zu fragen oder auf Wohnungsinserate zu antworten. Ich seufzte und versuchte, ihre fiese Bemerkung während der U-Bahn-Fahrt zu vergessen.

Nachdem wir später an diesem Abend die Bestätigung sowie weitere Details von Beatrice bekommen hatten, schwebten wir auf Wolke sieben und rauchten sogar mit den australischen Aarons am Fenster Gras, während sie uns mit Geschichten aus einem Club namens Berghain unterhielten.

»Da müsst ihr unbedingt auch mal hin. Aber der Türsteher ist knallhart, uns haben sie zwei Nächte hintereinander abgewiesen.«

»Reiner Zufall, ob man reinkommt. Die härteste Tür der Welt.«

»Aber es lohnt sich: Das ist ’ne verdammte Sound-Kathedrale dadrin.«

»Oy, machen wir – und wir werden reinkommen«, prophezeite Hailey mit übertriebenem australischem Akzent und gab den Joint an mich weiter.

Zehn Minuten später zogen die Aarons ihre Jacken an, rückten ihre Mützen zurecht, kratzten ihr Glück zusammen.

Als sie gerade aus der Tür verschwinden wollten, rief Hailey ihnen zu: »Ich hab Ecstasy! Von der guten Sorte, falls ihr was wollt.«

Die Jungs jubelten begeistert. Hailey wühlte in ihrem Kulturbeutel und zog drei kleine blaue Pillen hervor.

»Danke, Baby, du bist die Beste«, sagte der Größte der drei, umschloss die Pillen mit der Faust und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

Die Tür schloss sich hinter ihnen, und Hailey wischte sich über das Gesicht.

»Du hast Ecstasy?«

»Schlaftabletten. Ich hab die Prägung weggekratzt.«

Ich prustete los, dann überfiel mich plötzlich Sorge um die Gesundheit unserer Zimmergenossen.

»Rache, serviert mit einem Gähnen«, sagte Hailey kichernd.

Irgendwann dösten wir weg, und die goldenen Türgriffe aus Beatrice’ Wohnung tanzten durch unsere benebelten Träume.

Uns blieb noch eine Woche, bis wir einziehen konnten. Einmal tranken wir Bier in der nach Zitronenreiniger riechenden Lobbybar des Hostels, die aus einem kleinen Kühlschrank, einer nachlässig an die Wand gepinselten Karte von Berlin mit eingezeichneten Kneipen und einer am Fenster festgeketteten Spardose in Form des Fernsehturms bestand, in die man nach dem Ehrlichkeitsprinzip das Geld für die Getränke steckte. Hailey drehte sich zu mir: »Weißt du, was wir jetzt brauchen?« Ich schüttelte den Kopf. »Wir müssen mal so richtig feiern gehen, das ist unser letztes Wochenende, bevor die Uni anfängt. Wenn das Semester erst begonnen hat, kommen wir wahrscheinlich nicht mehr dazu.«

»Und wo?«, fragte ich und machte eine sarkastische Kopfbewegung in Richtung des Stadtplans mit den gemalten Bierkrügen über uns.

»Im Berghain.«

Meine Vorstellung von europäischen Clubs stammte hauptsächlich aus der Serie Alias, in der Jennifer Garner kurze schwarze Perücken trug und mit muskulösen Türstehern und hinterhältigen Frauen Russisch sprach. Dass die Australier abgewiesen worden waren, verwunderte mich nicht. Sie passten ganz und gar nicht in diese Welt.

»Komm schon, wir beweisen ihnen, was für Loser sie sind.«

»Ja, nichts wie los«, stimmte ich zu.

Hailey entschied sich für eine violette Hüfthose und eine schillernde cremefarbene Bluse, ich für silberne Strumpfhosen von American Apparel unter zerrissenen Jeans, eine Lederjacke und Kreolen. Der Club war nicht weit vom Hostel Star entfernt. Wir kauften eine kleine Flasche Wodka und tranken sie auf dem Weg. Die Flaschenöffnung war bald glitschig von Haileys weinrotem Dior-Lipgloss.

Der Club befand sich in einem allein stehenden Industriegebäude inmitten einer mit Maschendrahtzaun unterteilten unasphaltierten Fläche. Überall waren Fahrräder angekettet. Es war weit nach Mitternacht, und die Warteschlange bestand aus mindestens hundert Personen.

»Die sind alle hässlich«, sagte Hailey viel zu laut in Richtung Schlange. »Wir kommen auf jeden Fall rein.« Wir hatten die Wodkaflasche inzwischen leergetrunken. Meine Beine fühlten sich wackelig an, aber das Warten auf unser Schicksal an der Tür spannte meine Nerven wie Klaviersaiten.

»Ich weiß, dass wir reinkommen«, sagte Hailey immer wieder vor sich hin. Sie schob sich noch einen ihrer importierten Dentyne-Ice-Kaugummis in den Mund und begann zu schmatzen. Wir näherten uns der Tür, sahen Grüppchen, die abgewiesen wurden, andere, die hineindurften.

»Lass mich Deutsch mit denen reden, die hassen bestimmt Touristen.« Ich nickte und zupfte an meinen Nagelhäutchen. »Und hier: Trag was von meinem Lipgloss auf.«

Ich gehorchte, schob den Applikator in die dunkelrote Öffnung und umrandete meine Lippen mit Gloss. »O Gott, alle sind schwarz angezogen«, sagte sie und zeigte auf die etwa fünfzig Personen, die sich vor uns durch den Viehpferch zur Tür schlängelten. »Wir hätten uns nicht so bunt anziehen sollen.« Ein Typ mit Kapuzenpullover tauchte auf und bot uns Koks an. Hailey zuckte die Achseln und tauschte zwei Zwanziger gegen ein weißes Plastiktütchen ein.

»Wir müssen uns das reinziehen, bevor wir drinnen sind, ich hab gehört, dass man durchsucht wird …«, sagte sie mit Panik in der Stimme und strich zärtlich über das Tütchen. Eine Vierergruppe wurde abgewiesen. Ein schlaksiger Kerl mit Bomberjacke durfte rein. Hailey und ich versteckten uns hinter den wankenden Körpern vor uns und zogen hastig zusammengeschobene feuchte Häufchen von ihrem Plastikgeldbeutel. Mir war sofort klar, dass es kein Koks war. Vielleicht Speed. Jedenfalls etwas Starkes. Wir waren von einer Sekunde auf die andere high. »Ich stopfe den Rest in meine Unterhose«, schlug ich vor. Hailey nickte mit starrer Miene, wie betäubt. Endlich kamen die drei großen Personen vor uns an die Reihe und wurden hineingelassen. Der Türsteher, ein Kerl mit Stiernacken und fiesem Blick, musterte uns rasch von Kopf bis Fuß und sagte dann auf Deutsch: »Heute leider nicht.«

Ich musste seine Sprache nicht sprechen, um ihn zu verstehen. Schnell machte ich kehrt und lief davon, den Blick fest zu Boden gerichtet. Meine Nasenlöcher brannten. Wo war sie? Ich sah mich um. Hailey diskutierte mit dem Türsteher. Mir rutschte das Herz noch tiefer in die Hose. »Hailey, kommt jetzt!«, rief ich und wünschte mir verzweifelt, dass diese peinliche Situation endlich ein Ende haben würde. Ich wollte überall sein, nur nicht hier vor dieser Warteschlange, wo mich all die fremden Menschen sezierten, um einzuschätzen, was unsere Zurückweisung für sie selbst bedeutete. Endlich machte auch Hailey kehrt und stapfte davon.

»Dieses Arschloch meinte, es sei, weil er meine Schuhe scheiße findet.«

Ich blickte hinab auf ihre halboffenen Gladiatorenstiefel von Marc Jacobs. Sie waren abgrundtief hässlich.

»Ich glaube eher, es lag daran, dass wir nicht schwarz angezogen sind. Und zu sexy. Anscheinend muss man wie ein Müllsack aussehen, um da reinzukommen. Soll sich ficken, dieser Mistkerl.« Ihr Gesichtsausdruck war steinern, ihre Pupillen riesig. »Lass uns woandershin gehen. Ich hasse Techno sowieso.«

Ich nickte. Hailey kaufte noch eine Flasche Wodka, und wir liefen zur U-Bahn. Sie befand sich auf dem Kriegspfad, und ich war zu high, um zu reden. Aus Haileys Nase tropfte Blut, es sammelte sich auf dem Brustteil ihres blauen Mantels und färbte das Synthetikmaterial lila. Sie säuberte sich mit Servietten von einem Kiosk in der U-Bahn-Station und versicherte mir, das passiere ihr ständig, eine Nachwirkung der Nasen-OP.

»Ich hab von einem Club in der Skalitzer Straße gehört, in dem sich vor allem Künstler treffen. Lass uns dahin gehen«, sagte sie und hielt sich den inzwischen roten Stapel Servietten vors Gesicht. Ich nahm einen Schluck aus der Flasche und folgte ihr gehorsam, bis wir gefühlte Stunden später auf einem Parkplatz standen. Musik dröhnte aus einem Backsteingebäude dahinter. Es standen nur ungefähr ein Dutzend Leute in der Warteschlange, wieder waren alle schwarz gekleidet. Mir schoss allein bei der Vorstellung, womöglich wieder draußen bleiben zu müssen, das Blut in den Kopf. »Wir könnten auch einfach ins Hostel zurückgehen und dort weitertrinken. Ich bin high und …«, versuchte ich Hailey zu überzeugen.

»Nein!«, fauchte sie. Die Droge machte sie streitsüchtig. Zehn zermürbende Minuten später ließ uns der Türsteher, ein Typ mit Jeansjacke und strähnigen Haaren, lächelnd hinein. Kaum durch die Tür brach es aus uns heraus.

»O mein Gott, wir sind drin! Na also!«, kreischte Hailey und schlängelte sich sofort zur Bar durch.

Die Getränkekarte war mit Filzstift auf Glitzerpappe geschrieben, und die Barkeeper, vier Männer, waren oberkörperfrei und fast völlig unbehaart. Haileys Drogenblick war sanfter geworden. Auf der Tanzfläche drängten sich die tanzenden Körper, schweißglänzende Gliedmaßen wirbelten herum, und sämtliche Nischen und Freiräume unter Stühlen und auf Fensterbänken waren mit Pullovern und Jacken vollgestopft. Wir schoben unsere Mäntel unter eine Bank. Hailey bestellte zwei Wodka Soda, sie lud mich ein, und wir hüpften mit unseren Getränken Richtung Tanzfläche. Die Musik war eher Disco als Techno, und wir fanden uns bald in einem Grüppchen von vier anderen Amerikanern wieder, die sich mit der Ungezwungenheit Hunderter gemeinsam verbrachter Nächte bewegten. Ihre Hände schienen sich wie die von Hindugöttern zu vermehren, sie glitten umeinander herum, umarmten sich, tauschten Drinks, lächelnde Blicke und Drogen, die sie von ihren Schlüsseln durch die Nase zogen.

»Hi, woher kommt ihr?«, fragte der Größte der Runde, ein junger Mann mit braunen Locken und stolz zur Schau gestellter Designerbrille, an Hailey gewandt.

»New York«, antwortete sie und schob sich eine Strähne hinter die Ohren.

»Ich bin Christopher und komme aus Connecticut«, hörte ich ihn sagen, bevor er sie ironisch herumwirbelte wie in einem Swing-Film aus den Vierzigern. Christopher aus Connecticut – das klang wie aus der Werbung für eine teure Handtuchmarke. Ich beobachtete, wie sich Haileys rote Haare wieder von hinter ihrem Ohr lösten, wie sie vor und zurück schwangen, wie sich ihr Hals bog, synchron zu seinem. Hailey war hübsch, das hatte ich schon vorher gewusst. Rein theoretisch verstand ich auch, was das bedeutete, aber sie so auf der Tanzfläche zu sehen, machte ihre Attraktivität greifbar. Wie eine Währung, die man am Flughafen eintauschen konnte. Die Leute fühlten sich zu ihr hingezogen. Sie zwinkerte mir zu, und in mir kribbelte es vor Stolz darüber, dass wir zusammen hier waren, sie und ich. Ich selbst tanzte ein wenig abseits, nervös, verschwitzt und immer noch zu high. Ein Donna-Summer-Song ertönte, eines von Ivys Lieblingsliedern. Sie hatte es in ihrem kupferfarbenen Oldsmobile Bravada rauf und runter gehört, in voller Lautstärke, mit heruntergelassenen Fenstern – I feeel love.

Ich spürte plötzlich das Band, das sie und mich noch immer miteinander verknüpfte, hatte das Gefühl, ihr ganz nah zu sein. Die Musik erreichte ihren Höhepunkt. Ich schloss die Augen und sah sie vor mir, braun gebrannt und konzentriert, wie sie rhythmisch ihre Schultern bewegte. Ihre Hitze vereinigte sich mit meiner, und als ich mit flatternden Augenlidern wieder in den Club zurückkehrte, war Ivy tatsächlich da, einer von vielen herumhüpfenden Körpern. Ich hörte auf zu tanzen, und ihre Augen sahen mich an – sie waren schon immer wie Nerf-Geschosse gewesen, hatten jeden, auf den sie sich richteten, sanft, aber zielsicher erwischt. Verdutzt streckte ich die Hand aus. Ihr Körper war greifbar, Fleisch und Knochen, pulsierendes Blut. Euphorisch umfasste ich ihr Handgelenk, zog sie an mich heran. Wir bewegten uns im Gleichtakt, ich hatte zehntausend Fragen: Was ist passiert? Wer hat dich umgebracht? Wo bist du? Bist du sauer auf mich? Ich beugte mich vor, mein Mund war plötzlich trocken wie Wüstensand. Ivy hob den Finger, legte ihn auf meine nach Worten suchenden Lippen und wich dann langsam zurück. Sie entglitt mir, löste sich im Raum auf. Ich bekam Panik und griff wieder nach ihrem Handgelenk, aber diesmal war es Haileys. Sie lächelte, bevor sie sich wieder Christopher aus Connecticut zuwandte.