Ein neuer Sommer am Inselweg - Julie Peters - E-Book
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Ein neuer Sommer am Inselweg E-Book

Julie Peters

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Beschreibung

Ein Sommer voller Gefühle.

Endlich ist es wieder Sommer, doch Sonja kann die Schönheit der Insel nicht genießen. Als dreifache Single-Mutter mit Vollzeitjob ist sie vor allem eins: unendlich müde. Dann steht Carl vor ihrer Tür. Der Star-Journalist und ehemalige Kollege von Sonjas Freundin Frieke wurde suspendiert, jetzt sucht er Abstand und hilft in Friekes Buchladen aus. Völlig unerwartet knistert es zwischen Sonja und Carl, doch kann Sonja dem Mann vertrauen, der offensichtlich gelogen hat? Und auch Frieke steht plötzlich vor einer Entscheidung, die ihr Leben auf den Kopf stellt ... 

Romantisch und witzig: ein Sommerbuch mit Wohlfühl-Garantie.

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Seitenzahl: 442

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Über das Buch

Die Sonne glitzert über dem Meer, und der Wind streift sanft über die Dünen. Eigentlich Zeit, endlich Urlaub zu machen. Doch für Sonja bedeutet Sommer vor allem Arbeit. Entweder kümmert sie sich um ihre drei Kinder oder um die Ferienhäuser, die sie vermietet. Und nachts kann sie vor Müdigkeit nicht einschlafen. Dann taucht Carl auf. Der ehemalige Kollege ihrer Freundin Frieke braucht dringend Abstand zu seinem hektischen Alltag als Journalist in Hamburg. Das zumindest glaubt Sonja und ist nicht nur überrascht, dass es zwischen ihnen knistert, sondern auch, dass sie mit ihm endlich zur Ruhe kommt. Doch dann erfährt sie, dass Carl vorgeworfen wird, Teile seiner Reportagen erfunden zu haben. Kann sie ihm jetzt noch vertrauen?

Über Julie Peters

Julie Peters, geboren 1979, arbeitete als Buchhändlerin und studierte Geschichte, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie lebt mit ihrer Familie im Westfälischen. Im Aufbau Taschenbuch sind bereits ihre Romane »Mein wunderbarer Buchladen am Inselweg«, »Mein zauberhafter Sommer im Inselbuchladen«, »Der kleine Weihnachtsbuchladen am Meer«, »Die Dorfärztin – Ein neuer Anfang«, »Die Dorfärztin – Wege der Veränderung«, »Ein Sommer im Alten Land«, »Ein Winter im Alten Land« und zuletzt »Käthe Kruse und die Träume der Kinder« erschienen.

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Julie Peters

Ein neuer Sommer am Inselweg

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Friekes Buchempfehlungen, chronologisch sortiert

Danksagung

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Kapitel 1

Die Nächte gehörten Sonja.

So ganz freiwillig ja nicht, aber wenn sie nach einem langen Arbeitstag und der anschließenden Hausarbeit, die sie eben nicht liegen lassen konnte, irgendwann abends aufs Sofa sank, stellte sie sich gegen die Müdigkeit einen doppelten Espresso auf den Kaffeetisch. Neben das Häkelzeug und das Buch, das sie gerade las. Im Moment war das, wie passend!, »Schlafen werden wir später« von Zsuzsa Bánk. Der fiktive Briefwechsel zweier Frauen in der sogenannten Rush Hour des Lebens, Sonja hasste diesen Begriff, die sich darüber austauschten, wie wenig Zeit ihnen fürs Durchatmen blieb neben den tausend großen und kleinen Anforderungen des Alltäglichen.

Diese Stunden von abends um neun bis mindestens Mitternacht waren ihre Zeit. Die Kinder schliefen, kein Mann saß neben ihr und verlangte ihre Aufmerksamkeit. Sie konnte häkeln, lesen, Nachrichten im Fernsehen gucken, oder einfach nur, weil sie Lust drauf hatte, zum dritten Mal eine ihrer Lieblingsserien. Und wenn sie kurz nach zwölf ins Bett ging, den Wecker auf sechs Uhr stellte und dann doch bis nach halb zwei noch las – dann war auch das ihre Zeit, die ihr keiner nehmen konnte.

Heute Abend hatte sie allerdings einen kleinen Sofagast.

Ihre Jüngste, Raphaela, hatte in der Schule einen ihrer inzwischen zum Glück seltenen Asthmaanfälle bekommen und dann nach dem kurzen Kontrollbesuch bei Dr. Raik Tossens drüben in der Inselpraxis den halben Nachmittag verschlafen. Nun hockte sie putzmunter neben Sonja, die es nicht übers Herz brachte, Raphaela ins Bett zu schicken. Morgen war Samstag, also musste sie auch nicht zur Schule, und selbst wenn – ob Raphaela im Bett heimlich las oder neben ihrer Mutter auf dem Sofa brav noch einen Thymiantee mit Wildblütenhonig trank, bevor sie richtig müde war, machte auch keinen Unterschied, oder?

Und manchmal, ganz selten nur, genoss Sonja es auch, abends nicht so allein zu sein. Heute allerdings wäre sie lieber allein gewesen, denn neben ihrer Tochter zu sitzen und ihr die Haare aus dem Gesicht zu streicheln, blond und dicht wie die ihres Vaters Bosse, war fast zu viel für sie.

»Mama, alles okay?«

Sonja nickte. »Alles prima.« Sie küsste Raphaelas Scheitel und angelte nach ihrem Handy. Das gehörte abends auch dazu.

Frieke hatte geschrieben.

Endlich schläft der Satansbraten!

Sprichst du von Bengt?, schrieb Sonja zurück.

Frieke antwortete prompt mit einem Smiley, das Tränen lachte. Dann: Keine Mutter hat mir vorher gesagt, dass sie auch mit drei nicht ohne Eltern einschlafen wollen. Clever von euch, uns Unbedarften das zu verschweigen!

Mit acht sitzen sie dann auf deinem Sofa und fressen dir die Chips weg. Du willst eigentlich zum vierten Mal »The Good Wife« gucken, stattdessen läuft »Bibi und Tina«, obwohl du das auch schon auswendig kennst.

»Bist du traurig, weil Papa ne Neue hat?«, fragte Raphaela dazwischen.

Sonja erstarrte mitten in der Bewegung. Sie starrte aufs Handy. »Hat er das? Wusste ich gar nicht.«

»Ja, die Nette von der Karierten Kuh.« Die »Karierte Kuh« war eine von zwei Eisdielen auf Spiekeroog. Sonja wusste sofort, wen Raphaela mit »die Nette« meinte. Die unverschämt schlanke und fröhliche Charlotte, die mit ihrer Schwester Bernadette über den Sommer auf der Insel arbeitete. Bernadette war ein paar Jahre älter als Charlotte, nicht ganz so blond, nicht ganz so überbordend – und damit einfach mal gar nicht Bosses Typ.

»Das ist schön für deinen Papa.« Gedankenverloren zupfte Sonja ein paar Flusen von der Decke, unter die Raphaela und sie sich gekuschelt hatten. Sie wusste noch ganz genau, wie sie diese Decke gehäkelt hatte. Damals, als sie mit Raphaela schwanger war und sich schonen sollte, weil sie immer wieder beängstigend heftige Blutungen hatte. Ein Hämatom direkt neben der Fruchthöhle, hatte die Gynäkologin auf dem Festland per Ultraschall festgestellt und ihr geraten, so viel wie möglich zu liegen. Sonja hatte damals gelacht. »Das ist ja einfach mit zwei kleinen Kindern zu Hause.«

»Versuchen Sie es trotzdem. Dann muss eben Ihr Mann mal mit anpacken.«

Ihr Mann Bosse hatte damals so ziemlich viel angepackt – nur nicht im Haushalt. Ständig war er unterwegs. Angeblich, weil er sich um die Ferienhäuser ihres Vaters kümmerte. Nun, das hatte er getan – aber er hatte sich auch mehr, als angemessen gewesen wäre, um einen Gast gekümmert, genauer eine Gästin, die den ganzen Sommer in einer der Ferienwohnungen am Süderloog logierte.

Währenddessen hatte Sonja nichts ahnend auf dem Sofa gelegen, und ihr war unendlich langweilig gewesen. Sie musste sich beschäftigen, sonst wäre sie verrückt geworden. Weil sie für das Baby irgendwann genug Jäckchen und Mützchen gestrickt hatte, brachte ihre Mutter an einem regnerischen Julimorgen einen Beutel voll Häkelwolle mit, stellte ihn mit einem knappen »da, dann machst du dem Baby eben eine Decke!« auf den Hocker und ließ Sonja damit allein, denn die beiden Jungs stritten sich schon wieder in ihrem Spielzimmer so laut, dass die Duplosteine flogen.

Ihre Mutter hatte bei dem Vorschlag eins vergessen: Sonja konnte gar nicht häkeln.

Zum Glück gab es das Internet. Und so nutzte Sonja die folgenden Tage, sich das Häkeln beizubringen. Sie häkelte erst drei Paar Topflappen, und als dann Bosses Lügengebäude in sich zusammenfiel und er ihr hoch und heilig versprach – unter Tränen! –, dass er nie wieder fremdgehen würde, hatte sie noch am selben Abend voller Hoffnung Raphaelas Babydecke angefangen.

Der Kater ließ das Mausen nicht, und in den folgenden Monaten musste Sonja ziemlich oft auf ihre Häkeldecke und den langsam wachsenden Babybauch weinen. Die Blutungen hörten irgendwann auf, aber dass sie traurig war – das nicht.

Rückblickend fand sie es nur schlimm, dass sie Bosse immer wieder geglaubt hatte, dass es nie wieder passieren würde. Erst knapp fünf Jahre später trennte sie sich von ihm. Die Decke blieb. Es war nicht bei der Babygröße mit einem knappen Meter im Quadrat geblieben; immer neue Grannys, wie man die kleinen Quadrate nannte, hatte Sonja dran gehäkelt, und zum Schluss war die Decke regenbogenbunt und hatte eine rote Umrandung. Sie passte perfekt zu ihrer kleinen, quirligen und bunten Tochter, die sie am liebsten überall mit hinschleppte.

»Mama?«

»Mh?«

Raphaela war schon fast eingeschlafen, fest an sie gekuschelt. Höchste Zeit, sie ins Bett zu schicken.

»Warum hast du eigentlich keinen Freund?«

»Was?«

Sonja fuhr hoch. Das war wirklich kein Thema, das sie mit ihrer neunjährigen Tochter besprechen wollte.

»Wieso? Papa sagt, du bist eine tolle Frau, und nur weil es mit euch nicht geklappt hat, musst du ja nicht allein bleiben.«

»Sagt er das. Ach so.«

Zum Glück brummte irgendwo unter den Regenbogenquadraten gerade ihr Handy. Sie tastete danach.

Können wir mal reden? Es wird ernst mit Bengt und den Mauerseglern. ☺

Klar! Montag Mittagspause bei mir?

Frieke schickte einen nach oben gereckten Daumen.

»So, und nun wird’s Zeit fürs Bett, meine Kleine.«

Raphaela zog eine Schnute. »Voll ungerecht. Nur weil ich mit dir über Papa rede?«

Sonja zögerte. »Nein«, log sie. Aber das Gespräch über Männer und das Fehlen eines Mannes in ihrem Leben war nun mal keins, das sie mit Raphaela führen wollte. Und sie fand’s auch daneben von Bosse, dass er das den Kindern gegenüber thematisierte. »Weißt du, ich bin ganz gern allein. Also mit euch allein.«

»Na gut. Aber wenn sich das ändert, sagst du es, oder? Papa oder Dr. Tossens haben bestimmt ein paar Kumpel, die sie dir vorstellen könnten.«

Fast hätte Sonja gelacht. Aber ihre Tochter sah sie mit so viel kindlichem Eifer an, dass sie es sich verkniff. Sie kannte doch jeden auf der Insel, war hier aufgewachsen und zur Schule gegangen, und niemand würde es schaffen, sie von hier wegzuholen. Nein, nein, die Insel und sie, das war eine feste Verbindung, die kein Mann lösen konnte. Und welcher Mann würde schon sein Leben auf dem Festland dafür aufgeben, um mit ihr auf Spiekeroog zu wohnen?

*

Auf dem Weg zur KOMET-Redaktion hielt Carl wie jeden Montagmorgen bei seinem Kiezbäcker an, bestellte zwei Franzbrötchen und einen großen Kaffee. Das schlechte Gewissen, weil er wieder mit Bäckertüte und Pappbecher durch die Gänge der Redaktion lief, drückte er erfolgreich weg. Gab nicht viel, worin er richtig gut war – aber das hier bekam er ganz gut hin.

Die Redaktion war noch verwaist. Montagfrüh, wer kam da schon her und setzte sich an seinen Schreibtisch? Ab Dienstagnachmittag füllten sich die Räume, Mittwochfrüh brach Hektik aus, Donnerstag war’s die Hölle, und Freitag, kurz nach Redaktionsschluss, verfielen alle in eine Art Dornröschenschlaf, bevor es dann zu Beginn der Woche wieder von vorne losging.

Carl aber hatte einen Plan. Heute Nacht war ihm eine Idee gekommen, und die wollte er nun seinem Chefredakteur vorstellen. Florian kam montags meist gegen neun. Genug Zeit, um bis dahin ein paar Grundlagen zu recherchieren und anschließend die Idee mit ein paar markanten Sätzen zu umreißen.

Schwungvoll betrat er die Redaktion. Alle Räume leer, okay. Das war nicht anders zu erwarten. Doch während er an den Büros seiner Kollegen vorbeiging und den Newsroom passierte, runzelte er die Stirn. Keiner da? Also, wirklich niemand? Das war außergewöhnlich.

Er erreichte sein kleines Büro. Gegenüber lag ein Konferenzraum, aus dem er Stimmen hörte. Hatte er etwas verpasst? Carl klemmte sich die Bäckertüte zwischen die Zähne, schloss die Tür auf und balancierte mit der freien Hand den Kaffeebecher zum vollgestellten Schreibtisch. Er ließ die Messengerbag zu Boden gleiten und schob ein paar Papierstapel beiseite, um Platz für den Kaffee und die Franzbrötchen zu schaffen. Dann der obligatorische Blick aufs Handy, aber weder der KOMET noch ein anderes Nachrichtenformat, das er abonniert hatte, war mit Breaking News auf dem Startbildschirm verzeichnet. Okay, er hatte also kein zweites 9/11 verpasst. Aber warum war dann niemand an seinem Platz?

Er biss von einem Franzbrötchen ab und schlenderte zum Konferenzraum. Blieb in der Tür stehen. Etwa zwanzig Köpfe fuhren zu ihm herum, zwanzig Augenpaare blickten ihn an. Florian stand ganz vorne; der Chefredakteur verstummte mitten im Satz.

»Carl. Schön, dass du auch mal kommst.«

»Was ist hier los?«, fragte er. Blickte von einem zum anderen. Manche starrten ihn finster an, andere wandten den Blick ab und hatten plötzlich wichtige Nachrichten auf ihren Handys bekommen, die sie hektisch tippend beantworteten.

»Ich habe dir geschrieben. Ich, äh … unser Termin heute Nachmittag?«

»Ja, das.« Carl biss noch mal ins Franzbrötchen. »Hatte eine Idee für nen Artikel. Ne ganze Serie. So Hanns-Joachim-Friedrichs-preiswürdig, wenn du verstehst. Wollen wir uns jetzt schon darüber unterhalten? Ich hab noch kein Exposé, aber dann improvisiere ich eben.«

»Carl.« Florian kam langsam auf ihn zu. Er wirkte seltsam ernst. »Komm. Lass uns in meinem Büro reden, okay?«

»Was war denn da eben los? Wieso gucken die mich alle an, als hätte ich gerade meinen Job verloren? Hab ich meinen Job verloren?« Carl lachte und ließ sich auf einen der Besucherstühle in Florians Büro fallen und stellte den Kaffeebecher auf den Glastisch. Florian fiel erschöpft in den Bürostuhl und fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht. Er holte aus der unteren Schublade eine Flasche Scotch und einen Tumbler. Nicht zwei.

Okay. Kein gutes Zeichen. Sonst lud Florian ihn gelegentlich auf einen Scotch ein, wenn sie etwas zu feiern hatten. Und in den letzten Jahren hatten sie oft etwas zu feiern gehabt.

Carl versuchte, das Frösteln zu unterdrücken, das ihn überkam.

»Du trinkst zu viel«, bemerkte er.

»Und du? Musst du auch trinken? Oder kannst du einfach so gut schlafen? Bringen dich deine Lügen nicht um die Nachtruhe?«

Das Frösteln verstärkte sich. Carl schlang die Arme um seinen Oberkörper. Er weiß es, dachte er. Und dann: Quatsch, woher soll er was wissen? Ich bin gut. Sie können nicht auf mich verzichten.

Flucht nach vorne, was Besseres fiel ihm nicht ein. »Welche Lügen denn?«

Florian schnaubte. Er leerte das Glas und zeigte dann damit auf Carl. »Die Geschichte über Kaepernick. Alle Geschichten, die du in den letzten Jahren für uns gemacht hast.«

Carl merkte, wie ihm eiskalt wurde.

Sie wissen es.

Er versuchte trotzdem die Flucht nach vorn. »Das wirst du mir erklären müssen.«

»Stimmt es, dass du nie mit Kaepernicks Eltern gesprochen hast? Sag schon. Oder soll ich ein Rechercheteam darauf ansetzen?« Florian sprach ganz leise, den Blick auf den Tumbler in seinen Händen gerichtet. »Wir wissen, dass du es getan hast, Carl. Es bringt nichts, dich rauszureden.«

»Rausreden?«, echote Carl. Er lachte auf. Oh, er hatte ja gewusst, dass dieser Moment irgendwann kommen würde. Manchmal hatte er nachts wachgelegen und es sich vorgestellt. Das Gespräch, das nach dieser Entdeckung zwangsläufig folgen würde, egal ob mit Florian oder einem anderen Verantwortlichen beim KOMET. Hatte den Dialog vor dem Spiegel mit verteilten Rollen eingeübt. Sich auf genau diese Situation vorbereitet. »Entschuldige, Florian. Ich habe wie oft den Journalistenpreis für meine Reportagen gewonnen? Zweimal? Dreimal?«

»Dreimal.« Florian starrte auf seine Hände. »Und du warst darüber hinaus auch noch zwei weitere Male nominiert. Ich weiß.«

»Schon eine Auszeichnung ist mehr, als sich ein Reporter im Laufe seiner ganzen Karriere erhoffen kann. Und ich habe sie dreimal bekommen. Aber jetzt meinst du, ich habe … ja, was?« Er warf in gespielter Verzweiflung die Hände in die Luft. »Mir das alles nur ausgedacht?«

»Nicht ausgedacht.« Florian blickte an Carls Schulter vorbei durch das hohe Fenster nach draußen. Ein Wangenmuskel zuckte. »Die Wahrheit … nicht ganz so sauber …«

»Sprich es nicht aus, solange deine Beweise nicht stichhaltig genug sind«, knurrte Carl.

Florian kniff den Mund zusammen. Aha.

»Und? Hast du Beweise?«

»Nicht direkt«, räumte Florian ein. »Die Indizien jedoch …«

»Indizien reichen nicht. Was willst du? Eine hoch spekulative Story bringen, was eventuell einer eurer Reporter falsch gemacht hat, bevor es jemand anderes tut?«

Florian spielte mit dem Tumbler, gab keine Antwort.

Carl stand auf. »Wenn das alles ist, würde ich gern wieder an die Arbeit gehen. Mein Exposé für die neue Story lege ich dir vor, sobald ich die Vorrecherchen abgeschlossen habe.«

»Ja, mach das.«

Florian blieb reglos sitzen. Carl schlich zu seinem Büro. Äußerlich kühl und gefasst, so kannten sie ihn hier. Einer, der sich nichts anmerken ließ. Aber in ihm war das kalte Zittern. Scheiße. Wenn Florian ihn schon zur Rede stellte, war es ernst …

Er holte aus dem Schreibtisch sein altes Diktiergerät. Die meisten Kollegen arbeiteten inzwischen mit ihren Smartphones, aber Carl liebte seine Kamera und das Diktiergerät. Beide hatten ihn auf vielen Auslandsreisen begleitet. Außerdem lag in der Schublade ein Stapel linierte Blöcke. Von denen nahm er drei, stopfte alles in den Messengerbag und verließ dann mit gesenktem Kopf die KOMET-Redaktion.

Ihr könnt mir nichts beweisen, dachte er. Und bis ihr irgendwelche Fehler nachweisen könnt, bin ich unschuldig.

Als er sich aufs Rad schwang, klingelte sein Telefon. Carl nahm den Anruf mit seinen In-Ear-Kopfhörern an. »Hallo?«

»Carl?«

»Elli.« Sofort lächelte er. Blieb stehen, das Rad gegen sein rechtes Bein gelehnt. »Alles okay bei dir?« Sofort machte er sich Sorgen.

»Ja, schon. Wann kommst du nach Hause, Carl?« Sie klang müde.

»Ich bin schon auf dem Weg. Musste nur kurz in der Redaktion vorbei. Soll ich dir was mitbringen?«

Er hörte sie leise lachen. »Der Kühlschrank ist voll.«

»Ich dachte auch eher an was zu lesen oder so. Ablenkung.«

»Ablenkung wäre gut.«

Also war für sie heute auch ein schlechter Tag. Carl seufzte. »Ich komme bald«, versprach er.

Auf dem Weg zu den Bücherhallen verdrängte er jeden Gedanken daran, wie irgendwo im Redaktionsgebäude des KOMET gerade ein paar Rechercheure versuchten, ihm auf die Schliche zu kommen.

Ich habe nichts falsch gemacht, redete er sich ein.

Dabei wusste er, dass er Fehler gemacht hatte.

Fehler, die seither an ihm nagten, die sich in ihn hineinbohrten. Er hatte es nicht direkt am Anfang gewusst. Aber als zum ersten Mal eine seiner Reportagen nominiert wurde, hatte ihn jemand darauf angesprochen. Wie krass gut er da gearbeitet hatte. Er erwähnte ein Detail, das nicht der Wahrheit entsprach, wie Carl sich erinnerte. Darum hatte er überhaupt noch mal die Reportage gelesen und einen groben Schnitzer entdeckt. Mindestens eine Richtigstellung hätte es vom KOMET geben müssen. Aber da war eben die Nominierung. Das war der Heilige Gral des Journalismus, ein angesehener Reporterpreis. Carl hatte gezögert. Und dann hatte er es verdrängt, so erfolgreich, dass es ihm erst am Abend der Preisverleihung wieder einfiel, als er die wie ein Obelisk geformte, transparente Trophäe in der Hand hielt … Es wäre vermutlich einem Beben gleichgekommen, hätte er bei seiner Dankesrede erklärt, dass ihm der Preis nicht zustand, weil er schlampig gearbeitet hatte. Seitdem war da dieser Gedanke, dass er den Preis zu Unrecht bekommen hatte, und er hatte sich noch mehr angestrengt, noch mehr Aufträge angenommen, zwei weitere Preise eingeheimst, und er hatte immer wieder einen Balanceakt versucht zwischen der Wahrheit und dem, was er schrieb … Nicht immer war ihm das gelungen. Die Wahrheit konnte man verbiegen, und vielleicht hatte er im Stress, den sein Leben mit sich brachte, mehr als einmal Details aus dem Blick verloren …

Aber nein, das war in seinen Augen nicht dasselbe. Er war kein Betrüger oder Hochstapler. Er war ein Mensch. Und damit waren seine Fehler menschlich.

Kapitel 2

»Wer hat ein Spaghetti-Eis mit extra Erdbeersauce bestellt?« Sonja balancierte zwei der Zimtwaffelhippenschalen auf den Händen, die sie bei der Karierten Kuh gekauft hatte, in den gemütlichen kleinen Buchladen, der im Zentrum des Inseldorfs von Spiekeroog lag. Frieke, die in einem fliederfarbenen Top und kurzer Jeans hinter der Kasse stand, pustete sich eine widerspenstige dunkle Locke aus dem Gesicht. Ihr breiter Mund verzog sich zu einem Lächeln, als sie Sonja entdeckte.

Zwei Touristinnen warteten vor der Kasse, beide mit kurzer Cargohose und kariertem Hemd, Rucksäcken über der Schulter und einem Nordseekrimi in der Hand. Sonja schätzte sie auf Ende fünfzig, die eine hatte das graue Haar raspelkurz geschnitten, die andere trug es lang und knallrot gefärbt in einem Zopf über den Rücken. Sollte Sonja eine Wette abgeben, würde sie sagen: geschiedene Lehrerinnen, deren Kinder aus dem Haus waren und die nun gemeinsam urlaubten.

»Die können Sie ruhig uns geben!«, meinte die Rothaarige.

»Netter Versuch.« Sonja grinste.

»Sie nehmen es uns hoffentlich nicht übel, dass wir es probiert haben.«

»Ach was. Aber wenn Sie sich beeilen, kriegen Sie gegenüber noch welche von den Zimtwaffeln.«

Die beiden Frauen tauschten einen Blick, nickten. War ja Urlaub! Während Frieke kassierte, wählten ihre Kundinnen noch jeweils spontan ein halbes Dutzend Ansichtskarten aus dem Drehständer neben der Kasse aus. Dann war der Laden leer, Zeit für die Mittagspause. Frieke schloss die Eingangstür, und beide schlüpften durch die Seitentür nach draußen, wo auf einem Podest ein Strandkorb stand.

»Himmel, das brauche ich jetzt.« Frieke seufzte genüsslich, als sie den Löffel durch die Erdbeersauce mit weißen Schokoraspeln zog und in den Mund steckte. »Wie klug von dir, mir mittags Eis zu bringen!«

»Weiß doch jede, dass du es mit Ole teilen müsstest, wenn er hier wäre«, murmelte Sonja. Friekes kleiner Sohn war inzwischen drei Jahre alt und ging seit letztem Sommer in den Inselkindergarten.

»Wie gut, dass er nicht hier ist.«

Sonja lachte.

»Was denn? Bist du nicht froh, wenn deine Kinder anderweitig beschäftigt sind?«

»Lass das bloß niemanden hören. Rabenmutter.« Sonja versetzte Frieke einen kleinen Rippenstoß. »Aber hast schon recht. Ist schön, wenn sie klein sind. Ist schöner, wenn sie größer werden und ihre eigenen Wege gehen.«

Ein paar Minuten lang genossen sie stumm das Eis. Dann fragte Sonja vorsichtig: »Bengt und die Mauersegler also?«

»Puh, ja.« Frieke brach ein Stück von ihrer Waffel ab und tauchte sie in die gefrorene Sahne im Innern. »Als Ole noch so klein war, wollte er nicht. Vor zwei Jahren ergab sich nichts, letztes Jahr konnte er dann nicht. Und nun wäre er bereit, aber …« Sie biss in die Waffel. »Weißt du, wenn er draußen bei seinen Brandseeschwalben ist, kein Ding. Dann ist er ja in ner halben Stunde da, falls es brennt. Aber Malmö ist halt verdammt weit weg.«

»Hm, verstehe.«

Bengt und Frieke waren seit fast fünf Jahren ein Paar. Sie hatten sich auf der Insel kennengelernt, als Frieke kurz vor ihrer Abreise nach Boston für eine letzte Reportage über den minimalistisch lebenden Ornithologen Bengt Gerjets nach Spiekeroog kam. Die Liebe ging seltsame Wege; nicht nur in Bengt verliebte Frieke sich, sondern auch in die Insel. Und dass ihr damals bewusst wurde, dass sie nicht länger als Journalistin arbeiten, sondern lieber den kleinen Inselbuchladen übernehmen wollte, war für sie immer noch ein Wink des Schicksals.

»Wie lange wäre er denn weg?«

»Mindestens zwei Monate. Eher drei.«

»Puh, eine lange Zeit. Und du kannst nicht zwischendurch mal rüber nach Schweden?«

Frieke warf Sonja einen strengen Blick zu. »Urlaub. Während der Hauptsaison.«

Sonja spürte, wie sie rot wurde. Klar, für Frieke war der Buchladen die Existenzgrundlage. Den konnte sie nicht für zwei Wochen zusperren. Gerade im Sommer hatte sie zwei bis drei Saisonkräfte, und darüber hinaus half Emma auch das ganze Jahr aus. Aber vor allem stand Frieke im Laden – jeden Tag. Nur im Februar gönnte sie sich eine kleine Pause.

»Entschuldige. Manchmal vergesse ich, wie gut ich’s habe.«

»Ich kann den Laden halt nicht einfach abgeben.«

»Hab’s verstanden!«

Frieke grinste. »Wenn du mir noch mal Urlaub vorschlägst, kannst du dich so lange hinter die Kasse stellen.«

»Kein Bedarf!« Abwehrend hob Sonja die Hand mit dem Eislöffel. »Ich habe genug damit zu tun, die Vermietungen meines Vaters zu regeln.« Ihr Handy vibrierte, und auch wenn sie wusste, wie unhöflich das war, zog sie es aus der Gesäßtasche ihrer Jeans. »Da wir gerade davon sprechen … Eine Mieterin drüben an den Richelwiesen hat wohl Probleme mit der Waschmaschine. Ich muss wieder los.«

»Schade. Und was mache ich nun mit Bengt?«

»Na, Zugvögel muss man ziehen lassen.« Sonja schaufelte das Eis nun etwas schneller. Später würde sie das bereuen, weil sie Bauchweh bekam, aber oberstes Gebot ihres Vaters war immer, dass sie Gäste möglichst schnell versorgten, wenn sie ein akutes Problem hatten. »Dafür sind wir schließlich da«, pflegte er zu sagen. Eine Waschmaschine, die das Wasser nicht abpumpte, war nicht zwingend sofort ein Fall für den Klempner. Sonja hatte sich im Laufe der Jahre einige Kniffe angeeignet. Oft verwendeten die Urlauber im Überschwang zu viel Waschmittel. Wäre doch gelacht, wenn sie das nicht hinbekam! »Wenn du Bengt nicht fahren lässt, wird er dir das immer vorwerfen, oder?«

»Eigentlich nicht.« Frieke runzelte die Stirn. »Also, ich weiß nicht, ehrlich gesagt. Normalerweise ist er nicht nachtragend. Aber das hier ist ihm wichtig. Sonst wäre er nicht jedes Jahr aufs Neue darauf zurückgekommen.«

»Dann lass ihn ziehen. Du bist nicht allein! Ich bin hier, Emma auch, und wenn alle Stricke reißen, quartieren wir deine Eltern irgendwo auf der Insel ein. Die würden doch kommen, wenn Not am Mann ist?«

»Klar, würden sie.«

Sonja streckte sich. »Du willst es allein schaffen«, stellte sie fest.

»Martin ist in den letzten Monaten immer mal wieder krank gewesen. Nichts Lebensbedrohliches, nur etwas, das man im Blick behalten sollte. Ich glaube, es würde ihnen nicht behagen, wochenlang mit Ole Sandburgen zu bauen.«

Sonja verstand Frieke. Alles, was ihre Freundin sagte. Sie war selbst auch mal so gewesen.

»Er ist drei Jahre alt«, sagte sie sanft.

»Du darfst Ole in die Kita bringen, dir von deinen Eltern oder Freundinnen helfen lassen. Das schafft ihr.«

Frieke blinzelte.

»Lass ihn los, Frieke. Er ist immer noch dein Baby, wird er immer bleiben. Aber er ist kein Baby mehr.«

*

Frieke blieb im Strandkorb sitzen. Sonja winkte noch mal, dann radelte sie davon, um sich um Gäste und Waschmaschinen zu kümmern.

Noch blieb ihr etwas Zeit, bevor sie wieder öffnete. Frieke holte ihr Buch aus dem Laden. Sie las gerade einen unfassbar dicken Roman, der aber auch unfassbar gut war – »Gesammelte Werke« von der schwedischen Autorin Lydia Sandgren begeisterte sie nun schon etwas länger, weil ihr so wenig Zeit zum Lesen blieb.

Ihr Handy brummte. Frieke seufzte. »Heute nicht, Bengt.« Vereinbart war nämlich, dass er Ole vom Kindergarten abholte und ihn zur Not mit zu den Brandseeschwalben nahm, falls er dort draußen zu tun hatte. Der Kleine liebte es, über die Feuchtwiesen zu staken, und ließ sich ziemlich lässig bei Lars am Zeltplatz auf eine Limo einladen.

Zweites Brummen. Was war denn los? Frieke klappte das Buch zu und zog das Handy hervor.

Zwei Nachrichten. Aber nicht von Bengt, sondern von Florian.

Hey, wie geht’s meiner Lieblingsreporterin von der Waterkant? Hast du nen Moment Zeit? Hätte ein paar Fragen.

Wäre wirklich dringend, brauche Frieke-Input!

Sie wählte seine Nummer. Wenn Florian, Chefredakteur beim KOMET, einem der profiliertesten Wochenmagazine der Republik, und ehemals bester Freund, Fragen an sie hatte und es so dringend machte – dann war es auch dringend.

»Das ist ja schon eine ganze Weile her«, begrüßte sie ihn.

»Frieke. Mensch, danke, dass du anrufst. So langsam glaube ich, ich werde verrückt. Sehe Gespenster oder so.« Sie hörte Florian durchschnaufen. »Hast du einen Moment?«

Sie blickte auf die Uhr. Eine mechanische, ganz moderne, die Bengt ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Die sich durch die Bewegung ihres Handgelenks selbst auflud, das gefiel ihm natürlich, so unter dem Nachhaltigkeitsgedanken.

»Du hast zwanzig Minuten!«

Sie stand auf, warf dem Buch einen sehnsüchtigen Blick zu und ging zurück in den Buchladen. Im hinteren Teil gab es eine kleine Theke, auf der eine Siebträgermaschine stand. Das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt, bereitete sie sich einen Espresso zu.

»Also, es ist … Hast du schon mal mit Carl zusammengearbeitet?«

»Du kennst die Antwort.«

»Ja, stimmt. Hab’s nachgeschaut. Ihr habt einige Sachen zusammen gemacht. Er ist inzwischen fest bei uns angestellt.«

»Das freut mich für ihn.«

»Na jaaaa …«, sagte Florian gedehnt. »Für mich ist es gerade nicht so erfreulich.«

»Wie kommt’s?«

Frieke drückte auf den Knopf der Maschine und trat einen Schritt zurück. Florians Antwort ging trotzdem im Brummen unter.

»Wir haben ein Problem mit ihm.«

Sie horchte auf. Fühlte sich an etwas erinnert, das schon ein paar Jahre zurücklag, das sie aber ignoriert hatte, weil Carl schon damals zu den besten Reportern ihrer Generation gehört hatte. Besser als Florian, besser als sie, sogar besser als ihr Ex Harald.

»Ich fürchte, er nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau. Ich habe begonnen, ein paar eurer Reportagen zu prüfen, und bin dabei auf einige Ungereimtheiten gestoßen. Ich dachte erst, er hat geschludert. Dann habe ich ihn gefragt, was da los war, und er meinte, das wüsste er nicht mehr, ich sollte lieber dich fragen. Weißt du noch, das Stück über diesen Footballspieler?«

»Colin Kaepernick.« Frieke erinnerte sich. Eine ihrer letzten Storys, die sie für den KOMET gemacht hatte.

»Genau, Colin Kaepernick. Ihr wart in den Staaten und habt dort unter anderem seine Eltern interviewt.«

»Das hat Carl gemacht. Ich habe derweil versucht, seine Vergangenheit zu recherchieren. Habe mit ein paar Leuten in Turlock gesprochen und bin dann nach Reno geflogen, wo er am College Football gespielt hat. Carl blieb in Kalifornien und wollte mit den Eltern reden.« Auf einmal war alles wieder da. Schon erstaunlich. Sie hatte seit Jahren nicht mehr an ihre Arbeit als Journalistin gedacht. Aber die Kaepernick-Story hatte sie auf vielen Ebenen interessiert.

Kurz war es still in der Leitung. »Das ist komisch«, murmelte Florian. »Mir hat er das anders erzählt. Er meinte, du hättest die Eltern aufgesucht, weil ihr beide dachtet, mit einer Frau reden sie eher …?«

»Da hat er dir Unsinn erzählt.« Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß ganz genau … Aber Moment, was ist denn falsch an dem Interview?«

»Es hat nie stattgefunden.«

Frieke wusste nicht, was sie sagen sollte.

»Also, es gab wohl eine Handvoll Interviews mit seinen Eltern. Die fanden aber später statt. Als ihr dort wart, war die Sache mit seinem Protest gegen die Polizeigewalt und seiner anschließenden Entlassung vom Team noch ganz frisch. Da haben sie keine Interviews gegeben. Sie behaupten, dass Carl nie bei ihnen war.«

»Das kann doch nicht sein«, murmelte sie. »Hast du sie denn gefragt, ob ich bei ihnen war?«

»Jep. Haben sie auch verneint. Im Artikel allerdings klingt es so, als hätte einer von euch beiden sie getroffen. Du warst es nicht, und er war es auch nicht.«

Frieke versuchte, sich zu erinnern. Aber das war wie lange her, fünf Jahre, sechs?

»Puh, ich bin überfragt, wie genau es im Artikel stand, aber ich habe nicht mit ihnen gesprochen.« Frieke verbrannte sich die Lippen am Espresso und fluchte. »Scheiße, was ist das hier?«

»Reg dich nicht auf«, bat Florian sie. »Es gibt noch bei anderen Reportagen Ungereimtheiten. Die versucht er nicht auf die Kollegen abzuschieben. Aber irgendwas passt da einfach nicht.«

»Ich kann dir gern meine Recherchen zum Kaepernick-Artikel schicken.«

Florian zögerte. »Das wäre natürlich super, wenn du die noch hast. Aber besser wäre es, wenn du herkommst?«

»Nach Hamburg?«

»Dann könnten wir das alles gemeinsam klären. Du, ich, Carl. An einem Tisch. Vielleicht auch mit jemandem von der Dokumentation dabei.«

»Du glaubst mir nicht.«

»Ehrlich gesagt weiß ich nicht mehr, wem ich glauben kann.« Florian klang ratlos. Frieke wollte noch etwas erwidern, wollte ihn fragen, ob er ihr wirklich zutraute, dass sie ein Interview fälschte, das sie nicht geführt hatte. Die Vorstellung war genauso absurd wie die, dass Carl sich eine Geschichte nur ausdachte.

Aber sie hielt den Mund.

»Ich muss erst mit Bengt reden. Jemand muss sich um den Buchladen kümmern, solange ich weg bin.«

»Beeil dich. Bitte. Wir brauchen dich hier.«

»Okay«, flüsterte sie und legte auf. Mit dem Smartphone gegen die Brust gedrückt stand sie vor der kleinen Kaffeetheke, sie blickte nirgends hin. Vor ihr hätte ein bunter Elefant auftauchen können, sie hätte es nicht gemerkt.

Carl also. Natürlich erinnerte sie sich an Carl. Er war ein freier Reporter gewesen, als sie beim KOMET aufhörte. Kurz danach, das hatte sie beobachtet, begann sein Aufstieg. Große Reportagen, Preise. Er war viel unterwegs. So wie einst Harald und auch Frieke suchte er die großen Geschichten, die im Kleinen den Lauf der Welt erklärten.

Sie seufzte und trank den Espresso in zwei Schlucken aus. Das würde sie bestimmt bereuen, davon bekam sie immer Herzrasen. Aber darauf kam’s jetzt auch nicht mehr an.

Hatte sie bei ihrer letzten Reportage geschludert? Nein, auf keinen Fall. Für sie war es wichtig, dem journalistischen Ethos mit möglichst wahrhaftigen Geschichten gegenüberzutreten. Dafür hatte sie immer ausgiebig recherchiert, hatte Material gesammelt und dann versucht, die Version der Wahrheit zu schildern, die sie erlebt hatte. Unterfüttert mit Hintergrundrecherchen, mit Daten und Fakten, die auch überprüfbar waren. So hatte sie es gelernt, und man sollte meinen, dass sich alle Journalisten an diese Regeln hielten. Denn sie waren wichtig. Gerade in dieser Zeit, da Fake News und »alternative Fakten« das Misstrauen gegenüber den Medien schürten.

Sie war ganz kribbelig. Sie wusste, dass sie niemals mit den Eltern von Colin Kaepernick gesprochen hatte; am liebsten wäre sie sofort nach Hause gelaufen, um auf dem Dachboden des Kapitänshauses die Kisten zu durchwühlen, in denen sie ihre Kladden mit ihren gesammelten Notizen aufbewahrte.

Zum Glück kam kurz nach der Ladenöffnung Emma vorbei. Sie merkte sofort, dass Frieke nicht bei der Sache war.

»Was ist hier los?«, wollte sie wissen.

Also erzählte Frieke es ihr. Emma war immerhin ihre beste Freundin und hatte, bevor die Liebe auch sie nach Spiekeroog verschlug, mehrere Jahre in der Reiseabrechnung vom KOMET gearbeitet. Sie wusste, wie wichtig es für Frieke war, gute und wahrhaftige Geschichten zu schreiben.

»Und jetzt machst du dir Sorgen, dass Florian und Carl recht haben?«

»Nein, schlimmer. Ich weiß nicht, wer recht hat. Das ist doch mindestens fünf Jahre her. Guck dich mal um, ich führe ein völlig anderes Leben als damals. Und ich glaube, die Babyjahre haben mich weich im Kopf gemacht.« Frieke seufzte. »Früher hätte ich sofort gewusst, wann ich was gemacht habe.«

Erst jetzt bemerkte sie eine Kundin, die etwas hilflos vor der Auslage mit den Romanen stand. »Ich suche was Entspannendes«, sagte diese fast ein wenig beschämt. Frieke musterte die junge Frau, die ein Baby in der Rückentrage hatte. In der Hand hielt sie einen pinkfarbenen Leinenbeutel mit der Aufschrift »Ich glaube nicht an das Patriarchat, ich bin nicht religiös«.

»Da habe ich was für Sie.« Frieke griff nach zwei Romanen. »Das hier ist ein richtig schön süffiger, historischer Roman. Den kann man einfach wegschmökern, ohne sich Gedanken zu machen.« Sie drückte ihr »Die Highlanderin« von Eva Fellner in die Hand. »Und hier noch ein Inselroman, in dem es um eine Hebamme geht.« Den Roman hatte sie selbst sogar zweimal gelesen, weil Emma Jacobsen so unterhaltsam über Norderney schrieb, auch wenn Norderney so ganz anders war als »ihr« Spiekeroog. »Da gibt’s auch noch eine Fortsetzung über eine Schäferin. Von Eva Fellner gibt’s sogar zwei Fortsetzungen.«

Sie ließ die Kundin allein und kehrte zu Emma zurück, die gerade ein ostfriesisches Kochbuch verkaufte. Frieke fragte sich oft, warum die Leute so auf Rezepte mit Grünkohl, Bohnen und Speck standen, aber das Buch verkaufte sich das ganze Jahr über wie verrückt. Sie musste schon wieder nachbestellen.

»Na los, ab mit dir.« Emma machte eine scheuchende Handbewegung.

»Was? Wieso?«

»Es lässt dir doch keine Ruhe. Geh nach Hause und such in den Notizen. Und dann fährst du nach Hamburg und klärst die Sache mit Carl und Florian.«

»Aber ich kann hier nicht weg!«, rief Frieke.

Emmas Blick war streng. »Du willst nur nicht. Die Insel versinkt nicht in der Nordsee, wenn du mal für drei Tage weg bist. Und nein, dein Kind wird auch nicht verhungern«, fügte sie hinzu, nahm Friekes nächstem Einwand den Wind aus den Segeln. »Wir schaffen das gut ohne dich, auch wenn du das nicht so gerne hörst.«

Vermutlich hatte sie recht. Trotzdem. Der Gedanke, die Insel zu verlassen, über Nacht fortzubleiben …

»Ich war seit Oles Geburt nicht mehr weg«, sagte sie leise.

»Dann wird’s Zeit.« Emma kam um den Kassentisch und umarmte Frieke. »Klär das in Hamburg und schlaf zwei Nächte im Wedina. Danach kommst du zurück und wirst sehen, wie gut dir das getan hat.«

Frieke radelte nach Hause. Sie wusste ihren Buchladen bei Emma in guten Händen, aber ihr widerstrebte es, die Arbeit einfach mal ausfallen zu lassen. Sie hatte in den letzten Jahren zu oft gefehlt, wenn Ole krank war oder sie selbst mit einem fiesen Magen-Darm-Virus niederlag, den ihr Ole aus der Kita mitgebracht hatte. Doch die Fragen von Florian ließen ihr keine Ruhe. Hatte sie Fehler gemacht?

»Frieke? Bist du zu Hause?«

Sie fuhr hoch. Wie lange hockte sie schon auf dem Dachboden über ihren Kartons? Sie konnte es nicht so genau sagen. Bengt kam mit Ole nach Hause, und ihr kleiner Sohn ließ sich nur ungern von den Brandseeschwalben weglocken, es sei denn, man versprach ihm ein üppiges Abendessen.

»Ich bin auf dem Dachboden!«, rief sie die Stiege hinunter. Sie hörte Bengt und Ole leise reden. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.

»Mama! Mama, ich hab eine riesige Kompassqualle gefunden!«

Na, hoffentlich hast du sie nicht als neues Haustier mitgebracht, dachte sie.

»Darf ich sie behalten?«

Frieke nahm die Kladden, die sie bei der Suche in den Kartons mit ihren alten Sachen gefunden hatte. Gebückt schlängelte sie sich zwischen dem alten Stubenwagen, Windelkartons mit Oles Babysachen und dem Karton für Bengts Computermonitor zur Luke. Unten stand Ole in seiner grünen Matschhose und reckte den gelben Plastikeimer hoch, in dem etwas sehr Glibberiges und leider auch schon sehr Totes in einer Pfütze Salzwasser schwamm und wenig dezent vor sich hinmüffelte.

»Bengt?«, rief Frieke. Sie hörte ihn in der Küche rumoren.

»Das ist Qualli«, erklärte ihr dreijähriger Sohn. »Und ich baue ihr ein Bett im Garten, da kann sie dann schlafen.«

Bitte nicht, dachte Frieke. Sie liebte ihren Sohn, sie liebte auch das Meer, Muschelnsammeln ging gerade noch, aber eine Qualle im Vorgarten des Kapitänshauses trieb die Meerliebe dann doch etwas zu weit.

»Ich mach Abendessen!«, rief Bengt von unten. »Kümmerst du dich um Ole?«

»Ich kümmere mich um Mama!«, rief Ole zurück. Frieke biss sich auf die Lippen, um nicht zu prusten. »Was hast du da, Mama?«

»Meine alten Hefte. Von früher.« Sie kletterte die Stiege herunter und schloss die Bodentreppe. Dann nahm sie Ole an die Hand. »Wollen wir zu Papa?«

»Was ist da drin?«

Frieke fächerte die Kladden auf. »Ganz viel langweiliger Kram, den ich aufgeschrieben habe.«

»Ach so. Ich geh Papa helfen.«

Bücher interessierten Ole mal überhaupt nicht. Er marschierte zur Treppe und stieg langsam herunter, immer noch mit Qualli im Eimer in der Hand.

»Bringst du Qualli bitte raus, bevor wir essen? Und wasch dir die Hände!«

Als sie in die Küche kam, konnte sie gerade noch verhindern, dass Ole Qualli auf einen Teller gleiten ließ. Bengt stand an der Anrichte und schnippelte Paprika und Gurken für einen Salat. Ein Brett mit Käse und Cocktailtomaten stand bereits auf dem Tisch, und das Brot, das Bengt heute Früh gebacken hatte, lag aufgeschnitten in einem Körbchen.

»Komm, wir bringen Qualli nach draußen.« Frieke half Ole, das tote, müffelige Meeresfrüchtchen zurück in den Eimer zu bugsieren. »Da fühlt er sich bestimmt wohler.«

Erst als sie alle am Tisch saßen und es sich schmecken ließen, konnte sie Bengt erzählen, warum sie so früh zu Hause war. Über Oles lautes »brrrrm« hinweg, mit dem er einen Plastikdino über dem Tisch herumfliegen ließ, berichtete sie von Florians Fragen, Carls Anschuldigungen und ihrer Wahrheitssuche.

»Nach Hamburg?«, fragte Bengt und runzelte die Stirn. Die dunklen Haare hingen ihm fast schon wieder in die Augen, und Frieke hätte sie ihm gern aus der Stirn gestrichen. Da musste sie wohl vor ihrer Abreise noch mal die Schere zücken. Bengt ließ sich nur von ihr die Haare schneiden, denn auf Spiekeroog gab es keinen Friseur, und für einen ordentlichen Haarschnitt aufs Festland fahren, das sah er nicht ein. »Wie lange denn?«

»Drei Tage? Es geht auch in zwei …«

»Drei Tage sind doch okay. Du hast hier bald drei Monate alles an der Backe, da sind drei Tage doch nix.«

»Okay, danke. Kann ich morgen schon fahren, was meinst du?«

»Ja, mach nur. Ole kann ja in die Kita, während ich bei den Brandschwalben nach dem Rechten sehe.«

So machten sie es. Während Frieke nach dem Abendessen den Tisch abräumte, ging Bengt mit Ole ins Wohnzimmer. Abends durfte er noch zwei Folgen »Popeltroll« gucken. »Mama, das heißt Paw Patrol!«, korrigierte Ole sie immer. Frieke musste dann immer lachen, denn leider klang Paw Patrol bei ihrem Kind immer noch wie Popeltroll. Sie räumte die Küche auf und setzte sich dann mit den Kladden an den Esszimmertisch.

Bengt brachte Ole ins Bett. Sie hörte die beiden oben herumlaufen, Ole wollte die Zähne nicht putzen, wollte sich nicht das Gesicht waschen, auf gar keinen Fall wollte er vorgelesen bekommen, na gut, eine Geschichte mit Lieselotte Postkuh, aber dann war’s wirklich genug!

Sie vertiefte sich wieder in ihre Notizen.

Zum Glück hatte sie damals ihre Recherchen auf Papier nachgehalten. Sie wusste von vielen Reporterkollegen, bei denen alles Relevante im Smartphone gespeichert war. Frieke hatte zwar in der aktiven Recherche am liebsten auch auf ihr Weltverbindungskästchen gebaut, hatte damit zusätzliche Fotos geknipst, Sprachnotizen gemacht und Interviews geführt. Doch später hatte sie ihre Ergebnisse immer noch mal handschriftlich zusammengefasst, bevor sie mit dem Schreiben der Artikel anfing. Ihr Smartphone hatte zu ihr gehört, aber die Kladden waren es, mit denen sie den Stoff für ihre Reportagen dann sortierte. Sie, die früher halbe Tage auf Twitter und Instagram vertrödelt hatte, kam inzwischen nur noch sehr selten dazu, einen kurzen Blick in die Sozialen Netzwerke zu werfen. Sie vermisste es auch gar nicht. Und wenn sie dort unterwegs war, tauschte sie sich eher mit anderen Müttern aus. Die Journalismusblase, in der sie früher unterwegs war, fühlte sich nicht mehr richtig an.

Schade, dachte sie. War auch schön. Viel unterwegs sein, viel sehen …

»Mama? Ich kann nicht schlafen.«

Ole stand in der Tür, unter den Arm seine Robbe Robbi geklemmt.

»Ach, mein Schatz. Wo ist denn Papa?«

»Liegt im Bett und schnarcht.«

Frieke lachte. Hatte Ole es mal wieder geschafft, Bengt in den Schlaf zu begleiten. Eigentlich sollte es ja umgekehrt laufen. Sie ging hoch, weckte Bengt und gab Ole noch einen Gutenachtkuss. Zurück am Esstisch brummte ihr Smartphone.

Hast du was gefunden?

Florian wurde ungeduldig.

Ich bin meine Unterlagen durchgegangen. Habe definitiv nie mit Kaepernicks Eltern gesprochen. Komme Mittwoch nach HH, ok?

Florian tippte, tippte, tippte. Dann leuchtete auf dem Display ein knappes Ok auf.

Kapitel 3

Wer nach Spiekeroog kam, um dort Urlaub zu machen, liebte zweierlei: die Ruhe und das Reizklima. Letzteres machte vor allem müde, und das konnte ja nur von Vorteil sein, wenn man mit Kindern verreiste, die trotz der täglichen Aufregung beim Sandburgenbauen abends rasch einschliefen.

Leider gewöhnte man sich an dieses Klima, und meist war die Müdigkeit bereits nach wenigen Tagen verflogen. Und wenn eine, so wie Sonja, auf der Insel geboren und aufgewachsen war, wenn sie hier lebte und ihre Kinder großzog – dann war die Ruhe nachts oft nicht mehr gegeben.

Aber an ihren Kindern lag es inzwischen nicht mehr. Die waren mit ihren zehn, zwölf und vierzehn Jahren aus dem Gröbsten raus, höchstens wenn ein Gewitter über der Insel hing oder nachts eine Sturmflut bis ans Deichtor brandete, kam Raphaela, die Jüngste, zu ihr ins Bett. Die zweite Bettseite war leer, seit Bosse und sie sich vor fünf Jahren getrennt hatten. Im Guten, behauptete er gerne.

Also lag sie wach. Wieder mal, weil ihr tausend Dinge durch den Kopf gingen, die sie heute noch hätte erledigen wollen und dann auf morgen verschoben hatte. Raphaela brauchte neue Schuhe, warum wuchsen Kinder ständig? Waren die Schuhe von Malte und Robert auch noch groß genug? Manchmal war vor allem ihr Ältester in solchen Fragen seltsam lethargisch. Mehr als einmal hatte sie ihn in der Vergangenheit davon abhalten müssen, in einem viel zu knappen T-Shirt zur Schule zu radeln. Sie wollte ohnehin nächste Woche für einen Tag aufs Festland, dann konnte sie auch für Robert neue Shirts und Hosen kaufen. Oder wollte er lieber selbst aussuchen? Sie wusste nie, was richtig war. Früher hatte sie gedacht, die dreijährigen Wutzwerge seien wankelmütig oder die Vorschulkinder während ihrer Wackelzahnpubertät, wenn sie wirklich alles aus dem Gleichgewicht brachte. Auf Teenager hatte sie nichts vorbereitet – nicht mal ihre eigene Teenagerzeit, das war ja schon viel zu lange her.

Sie gab es auf, einschlafen zu wollen, und stand leise auf. In der Küche schaltete sie den Wasserkocher ein und suchte nach dem Nerventee, den ihr eine befreundete Apothekerin mal empfohlen hatte. »Ich probiere alles, solange es kein homöopathischer Quatsch ist«, hatte Sonja damals erklärt, und ihre Freundin war ihr um den Hals gefallen, weil sie als Apothekerin allzu oft von Kundinnen gefragt wurde, ob es nicht was »ganz Sanftes, Homöopathisches« gab. Man konnte davon halten, was man wollte – Klara konnte sich eine ablehnende Haltung jedenfalls nicht leisten, wenn sie überleben wollte.

Von ihr hatte Sonja auch schon lange nichts mehr gehört … aber wie denn? Klara war inzwischen auch Mutter von zwei kleinen Kindern, sie betrieb ihre Apotheke in Neuharlingersiel, Zeit für Treffen war rar gesät, gelegentlich schrieben sie sich Nachrichten oder schickten einander längere Sprachnachrichten, wenn es was Neues gab oder sie Zeit dafür fanden.

Sonja wog ihr Handy in der Linken, während sie auf den Wasserkocher wartete. Dann legte sie es beiseite. Sie goss den Tee auf und ging mit dem Becher ins Wohnzimmer. Lesen, bis sie müde wurde, so richtig müde, das war das Einzige, was ihr in diesen Nächten half. Morgen würde sie sich wieder durch den Tag schleppen, und abends wäre sie wieder hellwach.

»Irgendwas stimmt hier nicht«, murmelte sie.

Nun ja, sie wusste, was nicht stimmte. Alle Verantwortung ruhte auf ihren Schultern, und nach fünf Jahren als alleinerziehende Perfektionistin und voll berufstätige Vermieterin war ihr Akku einfach leer. Und all ihre Strategien, um ihn wieder zu laden, scheiterten daran, dass sie durch Selfcare zu viel liegen lassen musste, was ihr dann erneut Müdigkeit bescherte, wenn sie versuchte, aufs Laufende zu kommen. Sie wusste, dass Frieke und Emma sie bewunderten – zumindest sagten ihre Freundinnen das gerne –, weil Sonja den Anschein erweckte, sie hätte alles im Griff. Sie hatte immerhin so weit alles im Griff, dass ihre Freundinnen glaubten, sie hätte alles im Griff. Aber im Grunde war sie eine Jongleurin, die zu viele Bälle in der Luft hielt.

Auf ihrem Sofaplatz lag der Kalender, in dem sie alles notierte, was sie erledigen wollte und musste. Es half ihr; aufschreiben, dann musste sie nicht mehr darüber grübeln. Sie schlug das Buch auf und schrieb.

Neue Schuhe Ra, Ma, Ro?

Neue Klamotten?

Essensplan? Lebensmittel bestellen

Und so weiter. Erst nachdem sie etwa ein Dutzend Punkte notiert hatte, klappte sie den Kalender zu. Sie zog ein Buch heran, trank den ersten Schluck Tee und schlug die erste Seite auf. Wenn sie nicht schlafen konnte, dann konnte sie wenigstens lesen …

»Was liest du?«

Leise schlich Bengt ins Schlafzimmer und schreckte Frieke auf, die mit dem Lesegerät in der Hand mal wieder bei brennendem Licht eingeschlafen war. Sofort kniff sie das schlechte Gewissen, sie räkelte sich, als hätte sie einfach lange in ungewohnter Position gelesen. »Ach, nur den neuen Krimi von Robert Galbraith. Hm.«

»Hm?« Er kroch unter seine Bettdecke und gab ihr einen Gutenachtkuss. »Was stimmt nicht mit dem Autor?«

»Na ja. Eigentlich ist er eine Autorin. Also das Pseudonym von J. K. Rowling.«

»Ah. Die mit den Zaubererbüchern.« Man konnte nicht behaupten, dass Bengt nicht wenigstens versuchte, Interesse für ihre Arbeit zu zeigen. Immerhin kannte er J. K. Rowling.

»Mh, ja. Und na ja, irgendwie habe ich ein Problem mit ihr.«

»Mit ihr oder mit dem Buch?«

»Ach, der Krimi ist toll.« Leider, fügte sie in Gedanken hinzu. »Aber sie ist … Also, das habe ich erst kürzlich erfahren, aber sie hat wohl in einigen Interviews Sachen gesagt, die transfeindlich sind.«

»Aha.«

»Sie vertritt also einen transfeindlichen Feminismus.«

Bengt runzelte die Stirn. Frieke versuchte, es zu erklären. »Sie meint, Personen, die sich als trans Frauen bezeichnen, dürften das nicht, weil sie keine ›richtigen‹ Frauen sind.«

»Verstehe ich nicht.«

Frieke seufzte. »Okay, lassen wir einfach so stehen, ja? Sie sagt, trans Frauen sind keine Frauen, das wiederum finden viele falsch. Ich übrigens auch.«

»Gut.« Er nickte ernst. »Ich finde das auch falsch. Wenn jemand eine Frau ist, ist es doch egal, ob trans oder cis.«

»Genau!«

»Und jetzt kannst du ihr Buch nicht mehr lesen, weil dir ihre Ansichten nicht passen?«

Frieke nickte frustriert. »Es ist einfach nicht mehr dasselbe. Ich kann Autorin und Werk nicht trennen.«

»Noch dazu, wenn sie sich ein männliches Pseudonym zulegt.«

»Mh.«

»Und, ähm. Entschuldige, wenn ich das so frage, aber … darum liest du sie nicht mehr?«

»Ach, ich weiß nicht. Ich habe halt angefangen zu lesen, fand das Buch toll, dann stieß ich im Internet auf einen Artikel über sie, und … puff.« Frieke legte das Lesegerät auf den Nachttisch und löschte ihr Licht. »Keine Lust mehr auf ihre Geschichten.«

»Das ist aber schade.«

Er ließ das Licht auf seiner Bettseite brennen.

»Wollen wir nicht schlafen?«

»Was machst du jetzt mit ihrem Buch?« Aha, Bengt war mit dem Thema noch nicht durch.

»Na ja, keine Ahnung?«

»Gekauft hast du es ja schon. Und du könntest es ja ruhig lesen, wenn du es bereits auf dem Lesegerät hast.«

»Ach. Vielleicht habe ich einfach eine Lesekrise. Nicht nur wegen ihr.«

»Hat Twitter dich wieder geärgert?«

»Ich weiß nicht, was Twitter damit zu tun hat. Außerdem bin ich da gar nicht mehr so oft.«

»Ach so, okay. Ich dachte.«

Frieke setzte sich auf. »Was dachtest du?«

»Na ja. Nach Oles Geburt hast du ja oft die langen Stillzeiten am Smartphone gedaddelt.«

»Ich habe nicht gedaddelt.« Frieke verschränkte die Arme vor der Brust. Wie waren sie jetzt bitte von J. K. Rowlings Transphobie bei Twitter gelandet? Zugegeben, sie hatte dort das erste Mal davon gelesen, und dabei hatte sie festgestellt, dass das Thema schon länger in der Welt war. Aber was ging es bitte Bengt an, wie sie ihre Zeit verbrachte? Gerade als Baby hatte Ole wirklich stundenlang gestillt, und zugleich war ihr Kopf wie leer gefegt gewesen. Twitter war damals ihre Rettung gewesen, denn sie hatte die Entdeckung gemacht, dass jenseits von Nachrichtenseiten und pseudolustigen Paulanergarten-Accounts, die ohnehin nur rührselige Märchen erzählten, noch eine ganz andere Parallelwelt existierte – Frauen, die sich dort über alle möglichen Alltagsthemen austauschten. Viele von ihnen waren Mütter, und mit den ersten hatte Frieke sich in den nächtlichen Stillpausen vernetzt. Dort hatte sie die wertvollsten Erziehungstipps bekommen, hatte kontroverse Diskussionen mitverfolgt, und ja, dort hatte sie auch erkannt, dass Feminismus und Mutterschaft kein Widerspruch sein mussten – eine Befürchtung, die sie ganz zu Anfang gehabt hatte. Deshalb nervte es sie, wenn Bengt ihr daddeln vorwarf. Andererseits sprach sie nicht oft über Dinge, die sie in den Sozialen Netzwerken aufschnappte. Die interessierten ihn nämlich nach wie vor überhaupt nicht.

»Entschuldige, Liebste.« Bengt beugte sich zu ihr rüber. Sie küsste ihn auf den Mund. Mh, er schmeckte irgendwie lecker nach dem Bärlauchbrotaufstrich, den seine Schwester ihnen geschickt hatte. Und nach süßen Tomaten … »Wollen wir schlafen?«

»Weiß nicht«, murmelte sie. »Müssen wir schon schlafen?«

Er lachte. »Müssen wir nicht«, flüsterte er heiser. Sie griff über ihn und löschte sein Licht, bevor sie ihn erneut küsste und sich dann rittlings auf ihn setzte.

»Morgen sind wir wieder müde.«

Er lachte rau. Seine Hände strichen über ihre Flanken. »Das ist es wert.«

Und wieder einmal hatte er recht. Frieke ließ sich fallen. Sie wusste, Bengt würde immer für sie da sein. Das allein ließ ihr Herz vor Liebe überfließen.

»Ihr seid sicher, dass ihr das schafft? Drei Tage ohne mich?«

Bengt verdrehte die Augen. Nicht zum ersten Mal. »Ich werde ihn nicht umbringen. Und Ole hat mir versprochen, dass er das auch unterlassen wird. Nicht wahr?«

»Mama fährt weg.« Der Kleine stand an Bengts Hand am Fähranleger. Er hatte wohl den Zusammenhang zwischen der SPIEKEROOG II und Friekes Reisetasche schon hergestellt. Dumm war er ja nicht, schließlich brachten sie regelmäßig Friekes Eltern zur Fähre, wenn sie nach einem verlängerten Wochenende auf der Insel zurück nach Hamburg reisten.

Frieke ging in die Hocke. Sie schloss ihren kleinen Sohn in die Arme, drückte ihn ganz fest an sich. Musste auch ein paar Tränchen wegblinzeln. Blöder Wind, dachte sie.

»Mama ist ganz bald wieder da. Und solange darfst du mit Papa unterm Sternenhimmel schlafen, ja?«

»Sterne gucken, au ja!« Da lachte Ole schon wieder. Frieke gab ihm einen dicken Schmatzer auf die Wange. Sie richtete sich auf und gab auch Bengt einen Kuss auf den Mund.

»Grüß Hamburg. Ist lange her«, murmelte er.

»Und ihr grüßt mir deine Brandseeschwalben.« Sie lächelte aufmunternd, doch die Gesichtszüge entglitten ihr in dem Moment, als Ole die Ärmchen zu ihr hochstreckte. »Mama!«, rief der Kleine, und in seiner Stimme lag etwas Ängstliches, glaubte sie.

Frieke schluckte die salzige Luft, denn Tränen waren das ganz bestimmt nicht. Sie winkte, Bengt nahm Ole auf den Arm, die beiden winkten zurück. Als Frieke an Bord der Spiekeroog II