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Jackie Kabler

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Beschreibung

Ein fesselnder Psychothriller, bei dem nichts ist, wie es scheint ...

Gemma und Danny sind Ein perfektes Paar, das jedenfalls denkt Gemma. Gerade erst sind die beiden von London nach Bristol in ein hübsches Cottage am Stadtrand gezogen, um dem Lärm der Großstadt zu entfliehen. Alles scheint wunderbar. Aber als Gemma eines Abends nach Hause kommt, ist Danny nicht da, obwohl er versprochen hatte, an diesem Abend für sie zu kochen. Aber er hat nicht einmal eingekauft. Auch in der Nacht und am folgenden Tag taucht er nicht wieder auf.

Die Polizei nimmt die übliche Vermisstenanzeige auf, aber als sie dann ein Foto des Verschwundenen sieht, ist DCI Helena Dickens höchst alarmiert: Danny sieht genauso aus wie die zwei Männer, die kürzlich ermordet aufgefunden wurden. Ist er ebenfalls tot? Gemma beteuert zwar, dass sie keine Ahnung hat, was passiert sein könnte, doch je mehr Zeit vergeht ohne eine Spur des Vermissten, desto größer werden die Zweifel an Gemmas Glaubwürdigkeit und eine gnadenlose Jagd beginnt …

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Seitenzahl: 517

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Titel

Jackie Kabler

Ein perfektes Paar

Roman

Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence

Insel Verlag

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Dank

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Kapitel 1

Es war das Schweigen, das mir als Erstes auffiel. War Danny zu Hause, war immer etwas zu hören. Er sang oder summte, klapperte auf der Tastatur seines Laptops und klackerte endlos mit dem Löffel in seinem Kaffeebecher herum. Aber ich liebte es, ich mochte die Geräuschkulisse, trotz meiner regelmäßigen Proteste. Ich hatte vor Danny viel zu lange allein gelebt, und der Umstand, dass er ständig zu hören war, gab mir das Gefühl, mit der Welt verbunden zu sein, zu leben. Es machte mich glücklich. Und als ich an jenem Abend die Haustür aufdrückte, den Schlüssel aus dem Schloss zog, einen Willkommensruf aus dem Wohnzimmer erwartete, oder auch sein lächelndes Gesicht, das hinter der Küchentür auftauchte, traf mich die Stille wie eine eiskalte Welle.

»Danny? Danny, ich bin wieder da. Wo bist du?«

Noch während ich das rief, wurde mir klar, dass er offenbar nicht da war. Ich schaltete das Licht ein, stellte meine Reisetasche auf den Tisch neben der Tür und machte mich auf die Suche nach ihm. Meine Schritte hallten auf dem polierten Parkett der Diele, und während ich Tür um Tür öffnete und hinter ihnen nur Dunkelheit und Leere vorfand, wuchs meine Irritation. Wo war er? Abends zuvor noch hatte er in seiner Gute-Nacht-E-Mail versprochen, da zu sein, wenn ich zurückkam. Kochen wollte er und, wie ich mich auf dem Weg in die Küche erinnerte, sogar eine Flasche meines Lieblings-Cavas kaltstellen. Willkommen zu Hause, wir genießen den Freitagabend. Wenn er es vergessen hatte …

»Verdammt, Danny. Wirklich?«

Ich starrte in den Kühlschrank, dessen Inhalt noch genau den gleichen Anblick bot wie am Donnerstagmorgen. Eine halbvolle Milch, ein Stück Käse und eine Packung Würstchen, aus der wir vor meinem Aufbruch zu meiner kurzen Pressereise vier Stück zum Frühstück gegessen hatten. Kein Cava. Nichts Frisches. War er nicht mal einkaufen gegangen? Was ging hier vor? Hatte ihn etwas bei der Arbeit aufgehalten? Er hatte gesagt, er hätte ausnahmsweise mittags schon Schluss und damit reichlich Zeit, die Einkäufe im Supermarkt zu übernehmen, die ich für gewöhnlich samstagmorgens auf dem Zettel hatte, während er zu Hause Staubsauger und Putzeimer schwang. Was der normale Ablauf war, auf den wir uns schnell – und gerne – geeinigt hatten, nachdem wir von London in unser schönes Haus im schicken Clifton gezogen waren. Es war nicht immer so gewesen, aber Danny meinte beim Umzug, er wolle mehr im Haus helfen, mehr von den Dingen übernehmen, die ich hasste. Dem hatte ich nicht widersprochen. Drei Wochen wohnten wir nun hier, und der Ausdruck »häusliches Glück« fasste ziemlich gut zusammen, was wir empfanden, so peinlich es auch klingen mochte.

»Du kannst am Samstag länger schlafen, Gem. Du wirst erschöpft sein nach all der Schwelgerei in deinem noblen Kurhotel«, hatte er bei unserem ausgiebigen Frühstück gesagt und über den Tisch gelangt, um mir einen Ketchupklecks von der Unterlippe zu wischen. Weich strich sein Finger über meine Haut.

»Es ist Arbeit«, hatte ich geantwortet, ihm mit der Gabel gedroht, gegrinst und noch ein Stück Black Pudding aufgespießt. »Nun … vielleicht ist auch ein winziges bisschen Schwelgerei dabei.«

»Kein Zweifel. Schwer verdient mit harter Arbeit und harten Getränken.«

Sein normalerweise weicher westirischer Akzent klang unversehens nach tiefstem, finsterstem Dublin. Ich schluckte hinunter, was ich im Mund hatte, und lachte.

»Ja, genau. Wir nehmen ein paar Drinks, liegen aber um elf im Bett, garantiert. Dafür sind zu viele erschöpfte Mütter mit in der Gruppe. Eine Nacht weg von zu Hause, ohne Kinder, heißt, endlich mal ungestört schlafen zu können.«

Er hob die dichten, dunklen Augenbrauen, die ursprünglich zusammengewachsen gewesen waren, bis ich ihn bei passender Gelegenheit, meine Pinzette schwingend, aufs Bett geworfen hatte. Und ich musste schon wieder lachen, so komisch verzog er das Gesicht vor lauter übertriebenem Unglauben.

»Oh, sei schon still!«

»Ich habe nichts gesagt.«

Er sprang von seinem Stuhl auf, zog mich in die Höhe, umarmte mich und atmete in meine Haare.

»Ich werde dich vermissen. Aber genieße es. Du verdienst es.«

Und wo bist du jetzt, Danny? Ich knallte die Kühlschranktür zu und zog das Handy aus der Manteltasche, erinnerte mich dann aber … Verdammt. Dannys neuer Arbeitgeber hatte es nicht hingekriegt, ihm rechtzeitig ein Firmenhandy zur Verfügung zu stellen – am Montag, hatten sie versprochen, würde es da sein –, und da er sein bisheriges mit seinem alten Job hatte abgeben müssen, war er vorübergehend ohne Telefon. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich sein Büro anrufen und fragen sollte, ob er heute länger arbeiten musste, doch dann seufzte ich und entschied mich dagegen. Das wäre wohl nicht so toll, wo er doch erst so kurz in seinem neuen Job war – wenn da seine Frau anrief und nicht wusste, wo er war. Ihm eine Mail schicken? Sein Tablet hatte er noch, und das E-Mailen hatte die letzten paar Wochen ganz gut funktioniert, wenn wir uns erreichen mussten. Natürlich gab es auch noch Skype, für Notfälle, aber dann konnte ich auch genauso gut anrufen. Ja, eine E-Mail.

Ich hockte mich auf einen der Esszimmerstühle und schrieb eine Nachricht.

Ich bin zu Hause. Wo bist du? Und mehr noch: Wo ist mein Essen? Und meine Brause? G xxx

Ich klickte auf Senden, sah auf die Uhr und stand mit einem Seufzer auf. Kurz nach sieben. Ich würde erst mal auspacken, schön heiß duschen und etwas anderes anziehen. Wir konnten uns ja auch was liefern lassen, statt selbst zu kochen, und vielleicht würde Danny auf dem Nachhauseweg eine Flasche Schampus mitbringen, dachte ich. Ich ließ meinen Blick durch die Küche schweifen. Wenigstens hatte er gespült, alles saubergewischt und die Küchenmesser in den Block gesteckt. Alles war makellos. Es roch leicht nach Reinigungsmittel, und selbst die Edelstahlabdeckung des Herdes funkelte. Ich spürte, wie mein Ärger langsam verging. Es war der Job, sonst nichts, und es war nicht seine Schuld, dass er da noch festsaß. Er kam sicher bald. Ich ließ mir den Mantel von den Schultern gleiten und ging zurück in die Diele, um meine Tasche zu holen.

Kapitel 2

»Großer Gott. Die beiden sehen wie Brüder aus. Zufall, oder? Was meinst du, Boss?«

Detective Sergeant Devon Clarke warf einen Blick über die Schulter. Detective Chief Inspector Helena Dickens hinter ihm nickte langsam, die blauen Augen konzentriert auf die beiden Fotos an der Tafel gerichtet.

»Weiß nicht. Aber ja, ist fast schon unheimlich.«

Sie sah auf die Uhr. Kurz nach sieben. Sie seufzte, drehte sich um, und ein Stich im unteren Rücken ließ sie zusammenzucken. Der Lauf gestern Abend war zu lang und zu schnell gewesen, dachte sie.

»Okay, kommt mal alle zusammen. Tut mir leid, dass ich Ihnen das an einem Freitagabend antun muss, aber nach dem zweiten Mord müssen wir das Wochenende durcharbeiten. Sie werden es sich schon gedacht haben. Gehen wir einmal durch, was wir bis jetzt wissen, damit es alle präsent haben. Dann verteile ich die Aufgaben.«

Sie wartete einen Moment und ließ noch einmal einen Blick über die Tafel gleiten, während Stühle zurechtgeschoben wurden und Füße über den Boden scharrten. Dann wurde es still, nur der Regen, der seit einer Stunde niederging, prasselte lautstark gegen die Fenster.

»Danke. Gut, einige von Ihnen sind heute zu unserer Verstärkung nach Bristol gekommen, wofür ich Ihnen danke. Ich bin DCI Helena Dickens, die leitende Ermittlungsbeamtin. Das ist DS Devon Clarke.«

Sie zeigte auf Devon, der kurz in die Runde nickte.

»Es ist schon eine Weile her, dass die Polizei von Avon gleich zwei Mordfälle in so kurzer Zeit zu untersuchen hatte, das heißt, wir werden gut beschäftigt sein. Es gibt im Moment keinen Hinweis darauf, dass die beiden Morde etwas miteinander zu tun haben, wobei wir noch auf die kriminaltechnischen Ergebnisse von Fall zwei warten. Aber …«, sie machte eine Pause und wechselte einen Blick mit Devon, »nun, fangen wir am Anfang an. Devon, könntest du uns darüber ins Bild setzen, was wir über Mervin Elliott wissen?«

»Sicher.«

Devon nickte und räusperte sich.

»Okay, der hier ist Mervin Elliott.«

Er deutete auf das Foto in der oberen linken Ecke der Tafel.

»Zweiunddreißig Jahre alt, führte ein Bekleidungsgeschäft für Männer, einen der trendigen Läden im Cabot Circus. Alleinstehend, heterosexuell, keine Kinder, lebte allein in einer Wohnung unten beim Hafen. Seine Leiche wurde vor etwas über zwei Wochen auf den Clifton Downs gefunden, von einem Mann, der früh am Morgen seinen Hund ausführte, am dreizehnten Februar, einem Mittwoch. Hier, direkt bei der Ladies Mile, in der Nähe der Stoke Road.« Er deutete auf die Karte der Downs, das riesige Areal nördlich des wohlhabenden Vororts Clifton. »Sein Körper lag halb im Gestrüpp verborgen, in ein paar Büschen oder so. Der Tod war wohl zehn oder elf Stunden zuvor eingetreten, also zwischen sieben und acht Uhr abends, am Dienstag, dem zwölften. Todesursache war ein Schlag auf den Kopf. Keine anderen wesentlichen Verletzungen. Eine Mordwaffe wurde nicht gefunden.«

Er hielt inne, rieb sich die Nase und fuhr fort.

»Nach allem, was wir bisher in Erfahrung bringen konnten, war er ein netter, normaler Mann. Hängte sich in seine Arbeit rein, alleinstehend, wie ich sagte. Seine Bekannten und Freunde meinen, er hätte in letzter Zeit verschiedene Dates gehabt mit Frauen, die er wohl online kennengelernt hat, aber nichts Ernstes. Auf jeden Fall kontaktfreudig, ging offenbar gerne aus, nahm jedoch keine Drogen und war auch kein großer Trinker. War eher ein Fitness-Freak, Mitglied eines Studios, dem großen unten am Hafen, das rund um die Uhr geöffnet hat, nicht weit von seiner Wohnung. Hat auf sich aufgepasst. Keine Vorstrafen. Kein offensichtliches Motiv für einen Mörder. Es sieht aus, als wäre er joggen gewesen. Als er gefunden wurde, trug er Laufschuhe und Sportsachen. Und er hatte eine ziemlich nette Sportuhr am Arm und ein teures Handy in der Tasche. Beides hat der Mörder nicht angerührt. Auf den Downs gibt es immer wieder Leute, die nach Sex suchen, sicher auch an diesem Abend, aber es gibt keinerlei Hinweis auf sexuelle Handlungen beim Toten oder dass er nach etwas in der Art gesucht hätte, und bis jetzt haben wir keine Zeugen finden können. Es war zur Tatzeit bereits dunkel, und wir haben tatsächlich noch kaum etwas, was uns weiterbringen würde. Keine brauchbaren Spuren. Nada.«

Auf einem der Schreibtische hinten im Raum schrillte ein Telefon, und Devon wartete, während eine der jungen DCs hinlief, den Anruf annahm, leise antwortete und schließlich in Devons Richtung grinste.

»Nichts Wichtiges«, sagte sie tonlos, indem sie die Worte mit den Lippen formte.

Devon nickte und wandte sich wieder der Tafel zu.

»Okay, das ist also Mervin Elliott. Und der da …«, er machte eine Geste zum Foto rechts von Elliott hin, »ist Ryan Jones. Er wurde gestern Morgen gefunden, am Donnerstag, dem achtundzwanzigsten Februar, in einer Gasse zwischen zwei Häusern auf der Berkeley Rise, direkt hier bei der Saville Road.«

Er fuhr mit dem Finger über die Karte.

»Die Saville Road verläuft östlich von den Durdham Downs. Für die von Ihnen, die nicht mit den Downs vertraut sind, die Durdham Downs sind der nördliche Teil, nördlich der Stoke Road. Die Clifton Downs bilden den südlichen Teil. Insgesamt sind es gut anderthalb Quadratkilometer.«

»Das heißt … die beiden Toten wurden wie weit voneinander gefunden? Rund einen Kilometer?«

Die Frage kam irgendwo hinten aus der Gruppe der Beamten. Devon nickte.

»In etwa, ja. Todesursache war wahrscheinlich wieder eine Kopfverletzung, aber wir warten noch auf das Ergebnis der Autopsie, das jede Minute kommen sollte. Die hatten da unten ein paar fiese Verkehrsunfälle, bevor wir kamen, und sind ein bisschen in Verzug. Der Tote hat noch ein paar andere, kleinere Verletzungen, aber nichts Bedeutendes, und seine Kopfverletzung deutet ebenfalls auf das Einwirken mit einem schweren Gegenstand hin. Wir stehen da aber noch ganz am Anfang, da er erst gestern gefunden wurde. Die Todeszeit wurde am Tatort ebenfalls auf etwa zehn Stunden zuvor geschätzt, es geschah also am Mittwochabend. Der Mann wurde von einem Anwohner gefunden, der früh schon eine Fahrradtour machen wollte und die Gasse als Abkürzung nahm. Die Identität ließ sich durch das Portemonnaie des Toten bestimmen, das noch in seiner Tasche steckte, mit etwa fünfzig Pfund. Ryan war einunddreißig und ebenfalls Single, keine Kinder, hatte hier und da eine Verabredung, aber keine feste Freundin, soweit wir das im Moment sagen können. Arbeitete in der Buchhaltung einer Firma am Queen Square. Noch mal, wir stehen da noch am Anfang, aber er hat einiges mit dem ersten Opfer gemeinsam. Ein netter, normaler junger Mann, keine Vorstrafen.«

Devon hielt inne und sah Helena an.

»Keine Kameras in der Gegend, wo er gefunden wurde, nehme ich an?«, sagte sie.

Devon schüttelte den Kopf.

»Nicht eine einzige. Allerdings gibt es da weit mehr Häuser als bei Mervins Fundstelle, und wir haben gestern Nachmittag mit einer Haustürbefragung angefangen. Bis jetzt scheint aber niemand etwas gesehen oder gehört zu haben.«

Helena seufzte.

»Sag uns noch mal, was er anhatte. Ryan, meine ich.«

Devon wandte sich wieder der Tafel zu.

»Normale Kleidung. Keine Laufsachen oder so. Jeans, Turnschuhe, einen dunkelblauen Pullover und eine dicke, schwarze Daunenjacke. Es war kalt am Mittwochabend. Und nein, wir wissen noch nicht, was er in der Gegend gemacht hat. Er wohnte in …«, Devon zog die Stirn kraus, »in Redcliffe. Also vier, fünf Kilometer von der Fundstelle entfernt.«

»Danke, Devon.«

Helena räusperte sich und wandte sich den Zuhörern zu.

»Okay, das sind die grundlegenden Daten. Zwei tote Männer, beide mit einer Kopfverletzung, beide im Bereich der Downs ermordet, im zeitlichen Abstand von ein paar Wochen. Beide erfolgreich und ambitioniert, beide Anfang dreißig. Zwei Männer, die, soweit wir es bisher sagen können, in keinerlei kriminelle Aktivitäten verstrickt waren. Und zwei Männer, die …«, sie wandte sich der Tafel zu und klopfte erst auf Mervins, dann auf Ryans Foto, »offen gesagt wie verdammte Zwillinge aussehen. Die gleichen dunklen Locken, dunklen Augen, dichten Augenbrauen. Ähnlich groß und ähnlich gebaut. Das mag nichts bedeuten, aber …«, sie zuckte mit den Schultern und drehte sich erneut zu den versammelten Beamten um, »komisch ist es schon. Okay, hören Sie zu. Halten wir uns im Moment nicht zu lange mit dem Aussehen der Opfer auf. Vielleicht haben die beiden Morde nichts miteinander zu tun … Wobei wir es nicht ausschließen können, nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt, angesichts der Ähnlichkeiten der beiden Fälle. Bleiben wir offen für alle Möglichkeiten und halten uns an die Fakten.

Wenn wir Glück haben, helfen uns die Ergebnisse der Spurensicherung von Ryan Jones' Tatort weiter. Aber lassen Sie uns, bis sie vorliegen, mit so vielen Freunden und Verwandten der beiden wie nur möglich sprechen und sehen, ob es Gemeinsamkeiten gibt. Redcliffe und der Hafen liegen nicht so weit voneinander entfernt. Sind die beiden zum Beispiel in dieselben Kneipen gegangen, kannten sie sich womöglich sogar, hatten sie gemeinsame Freunde oder Interessen? Und warum waren sie beide am Abend ihres Todes auf den oder, in Ryans Fall, bei den Downs? Okay, Mervin war joggen, und das geht dort gut, ich selbst laufe da hin und wieder. Aber er ist Mitglied in einem Fitnessstudio, und selbst, wenn er lieber im Freien gelaufen ist, gibt es viele Strecken in Bristol, die man sich aussuchen kann. Warum also gerade die Downs? War er regelmäßig dort? Und was wollte Ryan in der Gegend? Hat er einen Freund oder einen Verwandten besucht? Wir müssen alles über die beiden in Erfahrung bringen, und das schnell.«

Sie beendete ihren Vortrag und sah zu, wie sich die Kollegen Dinge notierten und etliche von ihnen Blicke tauschten. Sie wusste, was sie dachten. Es war genau das, was auch bei ihr gleich ein ungutes Gefühl hervorgerufen hatte, als Ryan Jones' Foto neben das von Mervin Elliott gepinnt worden war. Wenn die beiden Morde tatsächlich miteinander zu tun hatten, wenn sie von derselben Person begangen worden waren, nun …

Sie schluckte. Offiziell mussten es dazu drei sein. Drei Morde, um der landläufigen Definition im Vereinigten Königreich zu entsprechen. Und bis jetzt waren es erst zwei. Bitte, lieber Gott, dachte sie, belass es dabei.

Zwei waren schlimm genug.

Aber drei …

Drei, und sie hatten es womöglich mit einem Serienmörder zu tun.

Kapitel 3

»Wo zum Teufel bist du, Danny? Das wird langsam lächerlich.«

Ich hielt kurz in meinem ruhelosen Auf-und-ab-Laufen inne, blickte aus dem regennassen Küchenfenster in den hübschen Hof hinter dem Haus und versuchte, Danny mit reiner Willenskraft dort auftauchen zu lassen, ballte die Fäuste und grub mir die Fingernägel in die Handflächen. Es war Samstag, später Nachmittag, und trotz all meiner Mühen, meinen Mann aufzuspüren, war ich keinen Schritt weitergekommen. Ich musste noch ein paar Leute anrufen, mich aber erst mal beruhigen. Ich atmete tief durch und versuchte, meinen Puls herunterzubringen, legte die Stirn gegen das kalte Glas und ließ den Blick über den Hof wandern. Zwei Ebenen, getrennt von einer Hainbuchenhecke – der wunderschön gestaltete, mit Kalksteinplatten belegte Hof hatte Danny und mich schon bei der ersten Besichtigung bezaubert. Mitten auf der oberen Ebene, direkt beim Haus, lief Wasser über eine polierte Metallkugel auf einen steinernen Sockel. Daneben stand ein großer Tisch mit gläserner Platte und sechs schmiedeeisernen Stühlen. Der Essplatz da draußen hatte etwas Exotisches, fast schon Tropisches, das mich mehr an Bali als an Bristol erinnerte, was auch mit am kunstvoll gepflanzten Bambus, dem Neuseelandflachs und den drei Farnen lag. Abends wurde das Ganze von Hunderten winziger Lichter im Laub ringsum beleuchtet. Stufen führten vom oberen in den unteren Teil, wo sich links und rechts vom Tor Lorbeerbäume in riesigen Kübeln wiegten. Hochbeete mit Kräutern säumten die Mauern, unser eigener Küchengarten im Herzen der Stadt. Selbst an diesem verregneten Samstag im März, und obwohl ich mich absolut erbärmlich fühlte, erfüllte mich der Anblick mit einem Anflug von Wohlbehagen.

»Ein Brunnen! Da ist ein Brunnen, Danny!«, hatte ich gerufen, als wir durch das Tor hinten kamen, und er hatte gelacht und meine Hand gedrückt. Wir hatten uns schon gefragt, warum der Makler uns hinter dem Grundstück hatte treffen wollen, statt vorne an der Tür, aber plötzlich war es sonnenklar. Der Anblick war überwältigend.

»Es ist eher eine Wasserdeko als ein Brunnen, aber okay. Du und deine Vorliebe für schicke Höfe und Terrassen«, flüsterte Danny, als wir nach drinnen geführt wurden und beide bereits wussten, wie das Haus auch drinnen aussehen würde, ich war bereits angefixt. Ich hatte mich immer nach so einem »Hofgarten« gesehnt. Einem friedlichen Ort, an dem sich Freunde bewirten ließen, an dem man an einem Sommerabend mit einem Glas Wein in der letzten Sonne sitzen und Sonntagnachmittage mit einem Buch verbringen konnte, ohne einen Rasen mähen zu müssen … Das war für mich das perfekte Szenario.

Wir hatten auch in London ein schönes Zuhause gehabt, aber in der Hauptstadt in zentraler Lage etwas mit einem ansprechenden Hof oder Garten zu finden, ist äußerst schwer. Wir hatten die kleine Dachterrasse unserer Wohnung so schön hergerichtet, wie es ging, aber unser Hof in Bristol war im Vergleich dazu riesig.

»Es gibt sogar einen Fahrradschuppen, sieh nur, hinten in der Ecke. Da muss ich mein teures Rad nicht mehr vorne ans Gitter ketten, und du musst dich nicht beschweren, dass es das Bild verdirbt«, hatte Danny gesagt, und ich hatte in die Hände geklatscht und einen glücklichen kleinen Tanz aufgeführt, worauf er in Lachen ausbrach.

An diesem Samstag jedoch konnte ich schon bei meiner Rückkehr sehen, dass der schicke kleine Holzschuppen, in dem sein Fahrrad normalerweise stand, leer war. Ich starrte noch ein paar Sekunden hinüber, mein Blick verschwamm, und ich zuckte zusammen, als sich eine kalte, feuchte Schnauze gegen meine Hand drückte.

»Hey, Albert. Wo ist Danny, sag?«, flüsterte ich, und er legte den Kopf schief, sah mich an und winselte. Ich verübelte es ihm nicht. Mir war selbst nach Winseln zumute. In meinem Magen rumorte es, und vom Weinen und Schlafmangel waren meine Augen gerötet und wie ausgetrocknet. Ein letzter Blick in den leeren Hof, und schon lief ich wieder in der Küche auf und ab. Albert sah mir eine Weile zu und trottete dann zu seinem Körbchen in der Ecke.

Am Abend zuvor hatte ich am Ende Pizzas bestellt, in meiner herumgestochert, ständig nach meinen E-Mails gesehen und damit gerechnet, dass jede Minute eine entschuldigende Nachricht in meine Inbox flatterte. Als nichts kam, hatte ich schließlich geknurrt und angenommen, dass er die Nacht durcharbeitete. Ich war ins Bett gegangen und hatte, als ich unter die Decke krabbelte, festgestellt, dass er es während meiner Abwesenheit frisch bezogen hatte. Der Kopfkissenbezug schmiegte sich kühl und duftend an meine Wange. Sein verdammter Job, dachte ich. Er liebte ihn, ich hatte mitunter auch meine Vorbehalte. Danny war IT-Spezialist, er analysierte und reparierte Einbrüche in Firmensysteme, verteidigte Unternehmen gegen Hacker.

»Ich kämpfe gegen Cyber-Kriminelle. Im Prinzip bin ich ein Security-Superheld«, hatte er bei unserem ersten Date mit einer theatralischen Geste verkündet, und ich hatte die Augen verdreht, gegrinst und ehrlich gesagt nicht ganz verstanden, was er tatsächlich machte. War aber doch insgeheim beeindruckt gewesen.

Tatsächlich bedeutete seine Arbeit immer wieder Überstunden und Notrufe, und wenn das jetzt auch das erste Mal in seinem neuen Job war, war es doch nicht so ungewöhnlich, dass er sich eine Nacht um die Ohren schlagen musste, weil es ein Problem mit dem Computersystem eines wichtigen Kunden gab. Als wir uns kennenlernten, hatte er für eine Firma in Chiswick gearbeitet, in West-London, und verdiente eine solide sechsstellige Summe. Als wir dann in Erwägung zogen, der Hauptstadt den Rücken zu kehren, nahm ich an, dass Danny ein niedrigeres Gehalt akzeptieren müsse, doch das war nicht der Fall. Es überraschte mich, bis ich begriff, dass sein neuer Arbeitgeber, ACR Security, selbst erst vor ein paar Jahren aus London weggezogen war, um sich den Vorteil niedrigerer Mieten in der elftgrößten Stadt des Vereinigten Königreichs zunutze zu machen.

»Es macht Sinn«, hatte Danny gesagt, als er zum ersten Mal mit der Idee gekommen war, London hinter uns zu lassen. »Das ist ein super Job in Bristol, und das Internet ist das Internet, ich mache überall das Gleiche und werde auch gleich dafür bezahlt. Und überleg dir mal, wie viel weiter wir mit unserem Geld kommen, wenn wir keine Londoner Preise zu bezahlen haben. Es wird dir gefallen, ich weiß es. Die Lebensqualität ist da so viel besser. Bristol ist eine schöne Stadt, und Devon und Cornwall sind nicht weit, oder auch die Cotswolds in der anderen Richtung. Und es ist eine Universitätsstadt mit vielen guten Kneipen und Restaurants, und die Architektur ist eine Pracht …«

»Okay, okay, ich bin dabei, machen wir es!«

Tatsächlich war es nicht allzu schwer gewesen, mich zu überzeugen. Er hatte recht, als freie Journalistin konnte ich grundsätzlich arbeiten, wo ich wollte, und in London hielt mich nicht viel. Die Stadt war zu hektisch, zu stressig, und in den letzten Jahren hatte ich mich schon oft nach einem ruhigeren Leben gesehnt, nach mehr Grün und weniger Lärm. Und so nahm Danny den Job an, wir verstauten unsere Wohnung an der Chiswick High Road in Kisten und zogen in dieses schöne viktorianische Häuschen mit seinen hohen Decken und dem wunderbaren Hof in Bristols grüner Vorstadt Clifton. Wir waren erst seit einem Jahr verheiratet und hatten in London zur Miete gewohnt, weil wir uns nicht mit einer riesigen Hypothek belasten wollten, bevor wir nicht wussten, wo wir wirklich bleiben würden. Und obwohl sich Bristol für uns beide richtig anfühlte, wollten wir auch hier nicht gleich etwas kaufen, sondern uns genug Zeit geben, um herauszufinden, ob wir mit unseren Jobs und dem Leben in Bristol wirklich glücklich waren, bevor wir uns auf die Suche nach dem perfekten, endgültigen Zuhause machten.

»Wir mieten etwas, für ein Jahr oder so. Aber was Schönes. Im besten Teil der Stadt«, hatte Danny gesagt, während wir uns voller Vorfreude die Online-Angebote angesehen hatten. Wir staunten, wie niedrig die Mieten im Vergleich zu dem waren, was wir in Chiswick zahlten, und so fügte sich alles perfekt, und schon nach ein paar Tagen im neuen Heim wusste ich, hier war ich zu Hause. Danny schien es ähnlich zu empfinden, auch wenn er hier genauso lange arbeiten musste wie schon in London. Was ich hasste, aber zu akzeptieren gelernt hatte.

Trotzdem, ich hatte mich so auf ihn gefreut und fühlte mich ganz elend, hatte schlecht geschlafen und war immer wieder aufgewacht, um zu sehen, ob der leere Platz neben mir im Bett nicht endlich mit seinem warmen, müden Körper gefüllt wäre.

Als er am Samstagmorgen um neun noch immer nicht da war, fing ich an, mir ernstlich Sorgen zu machen. Da stimmte etwas nicht, und so schob ich meinen Widerwillen dagegen, die nörgelnde Ehefrau zu geben, beiseite, suchte die Nummer seiner Firma heraus und rief an. Eine automatische Antwort klärte mich darüber auf, dass die Büros von ACR Security geschlossen waren und am Montag um neun wieder öffnen würden. Kunden mit einem dringenden Anliegen, das nicht warten konnte, sollten die Notfallnummer anrufen, die in ihrem Vertrag stand.

»Was ist mit Ehefrauen mit einem dringenden Anliegen?«, rief ich ins Telefon und legte auf. Mein Herz begann zu hämmern. Wenn das Büro geschlossen war, wo zum Teufel war Danny dann? Hatte er auf dem Nachhauseweg einen Unfall gehabt? Das verdammte Fahrrad. Ich hatte es schon immer komisch gefunden, dass er kein Auto wollte, aber wenn ich das sagte, zuckte er nur gut gelaunt mit den Schultern.

»Hab nie eins gebraucht. Nicht als Student in Dublin, da gibt's reichlich Busse und Bahnen. Und dann in London … Ich meine, wer fährt in London schon mit dem Auto? Die City-Maut, keine Parkplätze … Da ist das Fahrrad genau das richtige Fortbewegungsmittel, Gem. Und wir haben dein Auto, oder, wenn wir eins brauchen? Da müssen wir nicht noch Geld für ein zweites verschwenden.«

Irgendwo hatte er ja recht. Trotzdem bereitete es mir Sorgen, dass er mit dem Ding zur Arbeit fuhr, und als ich ihn jetzt im Büro nicht erreichte und es mehrfach über Skype probiert hatte, er aber immer offline war, rief ich in den Krankenhäusern an. Es schien in Bristol nur ein paar mit einer Unfallchirurgie und einer Notaufnahme zu geben, und nachdem ich die Kinder- und Augenkliniken aussortiert hatte, blieben nur zwei, Southmead und das Bristol Royal Infirmary. Mit zitternden Händen wählte ich die Nummern, aber während der letzten vierundzwanzig Stunden war kein Mann in Dannys Alter eingeliefert worden, auf den seine Beschreibung gepasst hätte. Einen Moment lang war ich erleichtert, doch schon kam die Angst zurück. Wenn er nicht bei der Arbeit war und keinen Unfall gehabt hatte, wo konnte er dann sein? Falls er sich kurzfristig zum Besuch eines Freundes entschieden hatte, hätte er mich doch angerufen, oder etwa nicht? Aber das war sowieso völlig unwahrscheinlich, nachdem er versprochen hatte, zu Hause zu sein und zu kochen. Also war er vielleicht doch bei der Arbeit, und die Telefonanlage war nur auf Wochenendmodus geschaltet worden. Aber warum beantwortete er meine E-Mail nicht oder kontaktierte mich sonst wie, um mich wissen zu lassen, wo er war? So beschäftigt er auch sein mochte, dafür war doch sicher Zeit? Er musste wissen, was für Sorgen ich mir machte.

Ich atmete tief durch, versuchte, die Angst unter Kontrolle zu halten, die mich zu überwältigen drohte, und schrieb eine weitere E-Mail.

Danny, wo bist du? Ich mache mir ernsthaft Sorgen. Ich habe es im Büro versucht, aber da gibt es nur eine automatische Antwort. BITTE sag, ob du okay bist? G xxx

Ich klickte auf Senden und sah auf die Uhr. Mittlerweile war es Mittag. Seit der Gute-Nacht-E-Mail am Donnerstagabend, die ich im Hotel gelesen hatte, hatte ich nichts von ihm gehört. Das war jetzt über sechsunddreißig Stunden her. Da stimmte was nicht, das war nicht normal, nicht für uns. Sollte ich die Polizei anrufen? Aber was, wenn er wirklich bei der Arbeit und fürchterlich im Stress war, um die IT-Katastrophe eines wichtigen Kunden zu beheben, und dabei jedes Zeitgefühl verloren hatte? Wie peinlich das wäre, wenn da plötzlich die Polizei im Büro stünde. Das Kichern seiner neuen Kollegen, das Gerede über neurotische Ehefrauen. Nein, die Polizei konnte ich nicht anrufen, dazu war es zu früh. Das war Unsinn. Jede Minute würde er auf meine letzte E-Mail antworten und alles wieder okay sein, sagte ich mir. Und heute Abend kuscheln wir auf dem Sofa, trinken Wein und lachen über meine dumme Überreaktion.

Am Morgen hatte ich Albert aus der nahen Hundepension geholt, wohin ich ihn am Mittwochabend gebracht hatte, bevor ich am Donnerstag losgefahren war. Dannys lange und unvorhersehbare Arbeitszeiten vertrugen sich nicht mit der Sorge um einen Hund. Bei meiner Rückkehr ins Haus hoffte ich verzweifelt, endlich meinen Mann vorzufinden, wie er sich müde in der Küche einen Kaffee kochte oder nach der langen Nacht im Büro erschöpft auf dem Sofa lag. Aber er war nicht zurück, und so schaltete ich mittags die Nachrichten von BBC Radio Bristol ein. Das war völlig untypisch für mich, denn normalerweise zog mich das nur runter. Ich hatte jahrelang in Nachrichtenredaktionen gearbeitet und über viele Dinge berichten müssen, die mich schockierten und krank machten. Zwar hatte ich mich mit der Zeit an die Messerattacken und die sinnlose Gewalt gewöhnt, doch irgendwann kam der Punkt, an dem diese Art Leben zu viel für mich wurde, und so kehrte ich dem Ganzen den Rücken. Nach meiner Kündigung hatte ich monatelang keine Nachrichten mehr gesehen, keine Zeitungen mehr gelesen und in meiner Unkenntnis über den wahren Zustand der Welt Trost gefunden. Ich hatte Verbrechen und Politik hinter mir gelassen und mich nach einer Pause schließlich als Freelancer dem Lifestyle-Journalismus zugewandt. Aber jetzt war mein Mann verschwunden, und so schaltete ich das Radio ein und wartete zittrig, ob es etwas über Verkehrsunfälle oder nicht identifizierte Tote zu berichten gab.

Aber es kam nichts. Nachmittags dann, obwohl es mir etwas albern vorkam, nahm ich Albert an die Leine, um mit ihm Dannys Weg zur Arbeit abzugehen. Irgendwo in meinem Kopf hatte sich die vage Vorstellung herausgebildet, dass ihn ein Auto auf seinem Fahrrad erwischt hatte und er bewusstlos in eine Hecke oder Seitengasse geschleudert worden war. Es war lächerlich, das wusste ich, in einer großen Stadt wie dieser wäre er sicher innerhalb von Minuten entdeckt worden. Ich probierte es dennoch, musste mir aber, bevor ich losging, eingestehen, dass ich nicht einmal wusste, welchen Weg er eigentlich nahm oder ob es vielleicht verschiedene gab. Mit dem Fahrrad gab es etliche Möglichkeiten und Abkürzungen. Ich studierte also zunächst einmal den Stadtplan und versuchte, die beiden wahrscheinlichsten Routen auszumachen, die logischsten Verbindungen zwischen unserem Haus in der Monville Road und Dannys Büro am Royal York Crescent. Auf dem Hinweg würde ich die eine nehmen, auf dem Rückweg die andere. Die Büros waren eindeutig geschlossen, als ich dort ankam. Ich klingelte dennoch und linste in dunkle Räume, in denen keine Leute zu sehen waren. Am Ende kehrte ich um und ging immer verzweifelter zurück nach Hause. Natürlich fand ich entlang des Wegs auch jetzt nichts. Kein Fahrrad, keinen Helm, keinen Danny.

Den Rest des Nachmittags verbrachte ich damit, im Haus auf und ab zu laufen, aus den Fenstern zu starren, völlig unsinnigerweise meinen abwesenden Ehemann anzuschreien und zwischendurch immer wieder in Tränen auszubrechen. Schließlich, es war inzwischen sechs Uhr, zwang ich mich, ein paar Leute anzurufen. Das alles dauerte schon viel zu lange, und ich brauchte Hilfe. Ich schaffte das alleine nicht, nicht noch länger. In der kurzen Zeit, die wir in Bristol waren, hatte ich ein paar Menschen kennengelernt, von denen einige, wie ich glaubte, gute Freunde werden konnten. Aber die Verbindungen waren noch zu frisch, um sie mit so etwas zu belasten. Was alte Freunde anging, waren die meisten ursprünglich meine Freunde gewesen, und ich glaubte nicht, dass einer von denen in dieser Situation würde helfen können. Falls Danny jemanden besuchen gefahren war, ohne es mir zu sagen, so unwahrscheinlich es schien, wäre es sicher einer seiner eigenen, alten Kumpel. Ich hatte aber keinerlei Nummern seiner irischen Freunde, sondern fand nur die von zwei Kollegen, mit denen er sich in seinem alten Job in London am besten verstanden hatte, und die seines alten Chefs. Sie alle klangen leicht verwirrt – nein, sie hatten nichts von ihm gehört, seit wir aus London weg waren, nicht mehr … Aber du kennst doch den Job, wahrscheinlich hat er jedes Zeitgefühl verloren und weiß nicht, wie lange er schon vor seinem Bildschirm hockt. Wahrscheinlich taucht er in ein paar Stunden wieder auf, mach dir keine Sorgen, Gemma, und halt uns auf dem Laufenden, ja?

Ich wünschte, ich hätte eine Privatnummer von Dannys neuem Chef, nur für den Fall, aber ich konnte mich nicht mal an seinen Namen erinnern. Also die Verwandtschaft? Danny hatte einen Cousin in London, der Rest der Familie lebte in Irland, im Westen des Landes, und nach einiger Überlegung beschloss ich, da nicht anzurufen, wenigstens vorerst nicht. Mit seinem Cousin Quinn war ich nicht wirklich warm geworden, und Bridget, seine Mum, war im besten Fall schwierig. Sein Dad, Donal, war kurz bevor wir geheiratet hatten, gestorben, und Danny hatte nie ein wirklich enges Verhältnis zu seinen Eltern gehabt. Es war unsinnig, Bridget in Panik zu versetzen, wenn es am Ende nichts gab, weswegen man sich Sorgen machen musste. Meine Eltern rief ich auch nicht an. Sie regten sich so leicht auf, alle beide, und damit käme ich jetzt nicht zurecht, nicht allein, nicht während ich selbst so fürchterlich nervös war. Und so versuchte ich es anderswo, und als Dannys Freunde nicht helfen konnten, beschloss ich nun doch, ein paar von meinen Freundinnen anzurufen.

»Himmel, Gemma, das ist beunruhigend. Ich würde die Polizei anrufen, wenn ich du wäre.«

»Oh, Gem, Schatz, wie schrecklich! Soll ich kommen? Ein Wort genügt. Aber ich bin sicher, er taucht bald wieder auf, es ist wahrscheinlich nur was mit seinem Job …«

»Verdammte Männer. Aber auf Danny ist doch normal Verlass? Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Gem. Vielleicht wartest du noch bis morgen und meldest ihn dann als vermisst? Du glaubst doch nicht … nun, ich mag dich das gar nicht fragen, aber du glaubst doch nicht, dass es da eine andere Frau gibt?«

Das war etwas, was mir bis dahin gar nicht in den Sinn gekommen war, und als ich nach meinem Gespräch mit Eva, einer meiner engsten Freundinnen, auflegte, schluckte ich schwer und versuchte die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen. Nein, das konnte nicht sein. Seit unserem Umzug nach Bristol waren wir bis zu dem Donnerstag, an dem ich auf meine Pressereise gegangen war, keine Nacht getrennt gewesen und hatten jedes einzelne Wochenende von Anfang bis Ende miteinander verbracht und unser neues Zuhause eingerichtet. Wann würde er dazu Zeit gehabt haben? Und auch vor dem Umzug waren wir meist ziemlich unzertrennlich gewesen … Wir waren gewissermaßen noch frisch verheiratet. Nun, nicht völlig unzertrennlich, klar waren wir auch die eine oder andere Nacht getrennt gewesen, hatten wegen der Arbeit mal weggemusst, dazu kam gelegentlich ein Mädels- oder Jungs-Abend, und Danny war ein Mensch, der seinen eigenen Raum brauchte, aber … Ich schüttelte den Kopf. Wenn er eine Affäre hätte, würde ich das wissen, oder? Was immer hier vorging, das war es nicht. Aber konnte er mich aus einem anderen Grund verlassen haben? Ich stand auf, zog meine Kaschmirjacke, die babyblaue, die Danny mir zu Weihnachten geschenkt hatte, etwas enger um mich, und ging langsam aus dem Wohnzimmer durch den Flur in die Küche, um ein weiteres Mal in den dunklen, leeren Hof zu starren. Albert sprang auf, lief dicht hinter mir her und stieß mir mit der Nase gegen die Waden. Er war fast so nervös wie ich, das konnte ich sehen, sein Hundeinstinkt war immer nahe bei mir, und ich hockte mich neben ihn, streichelte das weiche Fell auf seinem Kopf, sah ihm in die dunklen, intelligenten Augen und murmelte beruhigende Worte, während sich in mir die Gedanken überschlugen.

Wenn Danny mich verlassen hatte, was konnte dann der Grund sein? Und er hatte nichts von seinen Sachen mitgenommen, oder? Mir wurde mit einem Schauder bewusst, dass ich es nicht wusste. Ich hatte nicht nachgesehen, war nicht mal auf den Gedanken gekommen. Mir wurde vor plötzlicher Angst ganz schwindlig, und ich lief nach oben ins Schlafzimmer, zog die Schubladen auf, sah durch den Kleiderschrank und durchsuchte wie eine Verrückte seinen Nachttisch, ohne wirklich zu wissen, wonach. Aber alles schien unberührt, ordentlich, da. Sein Pass lag am gewohnten Ort. Seine Hemden, Hosen und Jacken waren da, seine Unterwäsche, seine Uhrensammlung. Keine Lücken, nichts fehlte, soweit ich es sagen konnte. Alles sah aus, wie es immer aussah. Was war also nicht da? Nur sein Mantel, sein Laptop, sein Tablet, der schwarze Rucksack, in dem er beides transportierte, sein Fahrrad und sein Helm. Die Dinge, mit denen er zur Arbeit ging. Sonst war alles da und wartete auf ihn, genau wie ich. Wie Albert.

Ich ließ mich auf das ungemachte Bett fallen und keuchte. Albert zögerte einen Moment, denn gewöhnlich durfte er nicht aufs Bett, sprang dann aber zu mir hoch und nahm offenbar an, dass ich zu verstört war, um ihn auszuschimpfen.

Ist es gut oder schlecht, dass Dannys Sachen alle hier sind? Ich wusste es nicht, konnte nicht richtig denken, meine Angst überwältigte mich, und ich fühlte mich plötzlich sehr alleine. In London hätte ich wenigstens alte Freunde in der Nähe gehabt, die kommen und mich unterstützen könnten, aber hier in dieser neuen Stadt …

Ich atmete ein paarmal tief durch, mein Herz begann aufs Neue zu rasen, und ich fragte mich, ob ich meine Entscheidung noch einmal überdenken sollte, die neuen Freunde, die ich in Bristol gefunden hatte, nicht mit dieser Sache zu behelligen. Clare hatte ich ein paar Tage nach unserem Einzug auf den Clifton Downs kennengelernt. Tatsächlich war ich eine Woche vor Danny umgezogen, der in London noch ein Projekt abschließen musste, bevor er nachkommen konnte, und ich hatte dem Berg unausgepackter Kisten eine Stunde den Rücken gekehrt, um den Kopf klar zu bekommen und Albert etwas Auslauf zu gönnen. Clare hatte einen Pudel, ein weißes lockiges Energiebündel, das zu Albert gerannt kam, ihn begeistert beschnupperte und wieder davonlief, wobei es kokett über die Schulter zu ihm zurückblickte. Albert zögerte einen Moment und rannte dann freudig hinterher. Clare und ich konnten nur zusehen, die Leinen in der Hand, und darauf warten, dass sie zurückkamen.

»Sie heißt Winnie. Winnie, der Puudel, okay?« Sie grinste, und ich mochte sie gleich. Clare war groß, fast eins achtzig und schlank wie eine Gerte, mit einer Wolke blonder Locken.

»Und ja, ich wollte einen Hund, der wie ich aussieht«, fügte sie noch hinzu.

Wir setzten uns auf eine Bank und unterhielten uns an jenem ersten Tag gleich eine volle halbe Stunde, und als ich ihr sagte, dass ich neu in Bristol sei und vorhabe, in der Nähe nach einem Yogakurs zu suchen, bestand sie darauf, dass ich gleich am nächsten Abend mit in ihren kam.

»Ich gehe zweimal die Woche mit meiner Freundin Tai. Es ist Ashtanga, und es powert dich aus, aber hinterher fühlst du dich toll. Und manchmal gehen wir anschließend gegenüber noch was trinken. Wenn du also magst?«

Ich mochte, und der Kurs war toll, obwohl ich seitdem nur zweimal wieder mitgegangen war. Wir waren zu sehr damit beschäftigt, das Haus fertig zu bekommen, abends, wenn Danny von der Arbeit zurückkam. Allerdings war ich mit Clare und Tai, einer wunderschönen kleinen Chinesin mit einem ansteckenden Lachen, die zum Studieren nach England gekommen war und nicht wieder zurückwollte, verschiedentlich etwas trinken gewesen, oder wir hatten uns auf einen Kaffee getroffen, und ich konnte bereits spüren, dass sich da eine gute Freundschaft zu bilden begann. Beide waren Frauen, wie ich sie mochte, temperamentvoll und stark, herzlich und witzig, und es war klar, dass sie auch mich mochten. Aber noch kannten wir uns nicht so gut … und ihnen jetzt mit so etwas zu kommen, ihnen zu sagen, dass mein Mann verschwunden war und ich ihre Unterstützung brauchte? Nein, das konnte ich einfach nicht.

Ich ächzte. Wo war er? Und wann konnte man jemanden, einen Erwachsenen, vermisst melden? Gab es da nicht eine Regel? Ich kämpfte mich vom Bett hoch, ging zurück nach unten ins Wohnzimmer und nahm mein iPad. Checkte meine E-Mails – nichts – und wechselte zu Google.

Nein, es gab keine Regel.

Die allgemeine Annahme ist, dass man 24 Stunden wartet, bevor man jemanden vermisst meldet, aber das stimmt nicht. Man kann zur Polizei gehen, sobald man denkt, dass jemand verschwunden ist. Die meisten Vermissten werden innerhalb von 48 Stunden gefunden oder kommen zurück. Nur etwa ein Prozent gilt auch nach einem Jahr noch als vermisst …

Ein Jahr? Mir verkrampfte sich der Magen. Aber die meisten waren nach achtundvierzig Stunden zurück. Ich sah auf die Uhr. Es war neun. Damit waren es jetzt sechsundvierzig Stunden. Sechsundvierzig Stunden, seit ich zuletzt von meinem Mann gehört hatte.

Komm schon, Danny. Du hast noch zwei Stunden. Sei wie die meisten Leute. Komm nach Hause. Bitte, Danny.

Und wenn nicht? Wenn er nicht nach Hause kam? Was dann? Dann musste ich es tun, oder? Ja, dachte ich. Gleich als Erstes morgen früh. Ich würde zur Polizei gehen und ihn vermisst melden.

Kapitel 4

»Boss, tut mir leid, dich zu stören, aber unten ist jemand, mit dem du vielleicht kurz sprechen solltest.«

Helena wandte den Blick unwillig von ihrem Computer ab, auf dem sie ein weiteres Mal die neuesten Meldungen zu den zwei Morden studierte. Der gewohnte Lärmpegel im Einsatzraum war an diesem grauen Sonntagmorgen auf ein leises Summen reduziert, und sie nahm an, dass sie nicht als Einzige entmutigt und erschöpft war. Es war ein langes, weitgehend unergiebiges Wochenende, und sie hatte in der letzten Nacht nicht gut geschlafen, sondern war immer wieder aufgewacht, ohne ihre Gedanken abstellen zu können. Am Ende hatte sie sich um fünf Uhr aufgerappelt und einen langen Lauf über die Downs unternommen, war dabei bewusst an beiden Tatorten vorbeigejoggt und hatte auf eine Inspiration gehofft, irgendeine Erkenntnis, warum um alles in der Welt hier zwei junge Männer ohne erkennbaren Grund totgeschlagen worden waren. Sie rieb sich den unteren schmerzenden Rücken und seufzte. Ich muss wirklich zu einem Osteopathen oder sonst jemandem, wenn ich noch weiter laufen gehen will, dachte sie. Spurensicherung und Gerichtsmedizin hatten nichts Neues zum zweiten Fall gebracht, und während sie immer noch nicht wusste, ob die beiden Morde miteinander zu tun hatten, war die Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern doch auffallend …

Sie wusste, es würde nicht lange dauern, bis das auch der Presse auffiel, und ihr graute schon vor den Schlagzeilen am Montag.

Zwei Morde – Terror auf den Downs

Doppelmord: Die Zwillings-Opfer des Downs-Killers

Sie erschauderte. Sie brauchte Schlaf und eine anständige Tasse Tee, aber mit beidem war so schnell nicht zu rechnen.

»Um was geht's denn, Devon?«

Sie sah ihren DS an und versuchte, nicht genervt zu klingen.

»Da ist eine Frau, die ihren Mann vermisst melden will. Sie sagt …«

»Eine Vermisstenmeldung? Verdammt, Devon, ich habe hier einen Doppelmord. Warum sollte mich da eine Vermisstenmeldung interessieren? Verschon mich damit.«

Sie sah, wie er zurückzuckte, und fühlte sich gleich schuldig.

»Tut mir leid, Mann. Ich bin ziemlich durch den Wind, weißt du. Komm schon, schieß los.«

Er lächelte vorsichtig.

»Alles gut. Ich habe auch zuerst so reagiert, als der Diensthabende von unten anrief. Aber ich habe kurz mit ihr gesprochen, und ernsthaft, da ist was … Hör zu, vertrau mir einfach, komm mit nach unten und rede kurz mit ihr. Mehr als fünf Minuten dauert es nicht.«

Helena sah ihn einen Moment lang an und seufzte. Devon war ein guter Polizist und auch ein guter Freund, und sie vertraute seinem Urteil. Er hatte es privat in letzter Zeit nicht leicht gehabt, was sich jedoch in keiner Weise auf seine Arbeit auswirkte, und sie fragte sich, ob ihm bewusst war, wie sehr sie das schätzte. Wahrscheinlich nicht. Sie würde es ihm bei Gelegenheit sagen müssen. Wenn er jetzt dachte, sie müsste diese verflixte Frau sehen, war das in Ordnung. Was immer es bringen mochte, es lohnte allein schon, mal für ein paar Minuten aus dem überheizten Einsatzraum herauszukommen. Sie fuhr mit ihrem Stuhl zurück und stand auf.

»Okay, du hast gewonnen. Aber auf dem Rückweg kaufst du mir eine große Tasse Kantinen-Auslese.«

Er grinste und ließ seine gleichmäßigen weißen Zähne sehen.

»Abgemacht.«

Die Frau, die in einem der Vernehmungsräume wartete, war etwa Anfang dreißig, schlank, hübsch, hatte schulterlanges, gewelltes braunes Haar, und sie wirkte erschöpft und niedergedrückt. Sie schüttelte Helena nervös die Hand, ihre Handfläche war feuchtkalt, und sie sagte, sie heiße Gemma O'Connor.

Helena nahm ihr gegenüber Platz, lächelte und versuchte, der Frau die Befangenheit zu nehmen. Offenbar sorgte sie sich trotz ihrer Bedrängnis um ihr Erscheinungsbild, hatte einen karminroten, zur übergroßen roten Ledertasche auf ihrem Knie passenden Lippenstift aufgelegt, und ihr eleganter schwarzer Wollmantel wurde durch einen Schal im Leopardenfellmuster ergänzt.

»Sie wollen also jemanden vermisst melden? Ihren Mann?«

Gemma nickte.

»Ja, Danny. Sein voller Name ist Daniel Ignatius O'Connor.« Sie verzog leicht das Gesicht. »Seine Eltern sind Iren. Katholisch. Ignatius ist offenbar irgendein Heiliger.«

Helena lächelte wieder.

»Mein zweiter Name ist Muriel, nach meiner Großmutter. Ich fühle mit ihm. Fahren Sie fort.«

Gemma versuchte ebenfalls ein kurzes Lächeln und atmete tief durch.

»Gut, nun, ich war von Donnerstag auf Freitag beruflich unterwegs. Morgens haben wir noch zusammen gefrühstückt, und später hat er mir eine Gute-Nacht-Mail geschickt. Als ich Freitagabend dann zurück nach Hause kam, war er nicht da, und ich dachte erst, er wäre noch im Büro, wie es durchaus vorkommt, verstehen Sie? Manchmal geht es die ganze Nacht durch. Aber ich konnte ihn nicht erreichen, und am Samstagmorgen, also gestern, war er immer noch nicht zu Hause und auch nicht erreichbar, und ich geriet langsam in Panik. Den ganzen Tag über gestern habe ich angerufen, wer immer mir einfiel … sein Büro, die Krankenhäuser, Freunde … Ich bin sogar mit Albert los, und wir sind seinen Weg zur Arbeit abgelaufen, um nach ihm zu suchen, falls ihm unterwegs was zugestoßen ist. Das klingt dumm, ich weiß, aber er fährt mit dem Fahrrad zur Arbeit, und das alles passt so gar nicht zu ihm, überhaupt nicht, und er hat auch nichts mitgenommen, nur sein Rad, seinen Laptop und die Sachen, die er immer zur Arbeit dabeihat, und jetzt ist es Sonntag, und ich kann ihn immer noch nicht erreichen, und ich habe … ich habe eine solche Angst …« Ihr versagte die Stimme, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Helena tat die Frau leid, fragte sich aber immer noch, warum Devon meinte, sie sei so wichtig. Sie sah sich nach Taschentüchern um. Auf einem Seitentisch stand eine Schachtel, und sie holte sie.

Helena hielt Gemma die Schachtel hin und sagte sanft: »Okay, versuchen Sie, ruhig zu bleiben. Wir brauchen ein paar Einzelheiten, dann können wir uns darum kümmern. Wobei es gut möglich ist, dass er auch in ein, zwei Tagen wieder auftaucht, die meisten Vermissten tun das. Ja? Also atmen Sie einmal tief durch, und dann nehmen wir ein paar Dinge auf. Wer ist übrigens Albert? Ihr Sohn?«

Gemma hatte die Taschentücher nicht weiter beachtet und angefangen, in ihrer Handtasche herumzuwühlen. Jetzt sah sie überrascht auf und schüttelte den Kopf.

»Oh, entschuldigen Sie, nein! Wir haben noch keine Kinder, wir sind gerade erst ein Jahr verheiratet. Albert ist unser Hund, ein schwarzer Zwergschnauzer. Schon ein bisschen unser Kind, nehme ich an. Zwergschnauzer sind sehr clever.«

Helena lächelte.

»Ah, verstehe. Die sind süß. Eine Freundin hat einen.«

Gemma wühlte bereits wieder in ihrer Handtasche und schien nicht zuzuhören.

»Wo ist es, verdammt! Diese Tasche … Entschuldigung. Ich war nicht sicher, was Sie brauchen, aber ich dachte, ein Foto …«

Sie hob den Blick zu Helena, holte endlich einen Umschlag aus der Tasche und zog ein Foto daraus hervor.

»Ich habe es Ihrem Kollegen bereits gezeigt, als er vorhin mit mir gesprochen hat. Ich weiß nicht, warum ich es wieder weggesteckt habe, in dieser dummen Tasche geht immer alles verloren. Es ist das Foto, das ich am schnellsten finden konnte. Ich bin auch mit drauf, es ist unser Hochzeitsfoto, aber ich kann Ihnen auch noch ein besseres bringen, von ihm allein, später. Ich habe so viele auf meinem Telefon, ich muss sie nur durchsehen und ein gutes heraussuchen. Aber ich dachte, Sie brauchen vielleicht ein ausgedrucktes, und ich wollte einfach nicht länger warten. Ich wollte etwas tun …«

Die Worte kamen nur so aus ihr herausgesprudelt und stolperten übereinander. Dann verstummte sie abrupt, ihre Augen waren tränennass. Devon streckte die Hand aus, nahm das Foto und legte es zwischen sich und Helena auf den Tisch.

»Danke, Gemma. Das ist er, Boss.«

Er sah Helena bedeutungsvoll an, und sie warf einen Blick auf das Foto, sah dann gleich noch einmal hin, genauer jetzt. Scheiße. SCHEISSE! Jetzt verstand sie, warum Devon sie geholt hatte. Ihr wurde schier übel. Da war Gemma, strahlend schön in einem einfachen weißen Etuikleid aus Satin, das Haar kunstvoll hochgesteckt, in einer Hand einen Strauß weißer Lilien, und in der anderen hielt sie die Hand eines lächelnden jungen Mannes. Dunkles Haar, lockig. Dichte, dunkle Brauen, dunkelbraune Augen. Ein Mann, der wie seine Frau Anfang dreißig zu sein schien. Ein Mann, der Danny O'Connor hieß, aber auf den ersten Blick auch gut Mervin Elliott sein könnte. Oder Ryan Jones. Oder doch zumindest ihr Bruder. Die gleiche Statur, die gleiche Haarfarbe, Augen, Haut, der gleiche Look. Großer Gott, was geht hier vor? Helena holte tief Luft und versuchte, ruhig zu bleiben. Kein Grund, voreilige Schlüsse zu ziehen, dachte sie. Danny O'Connor wurde laut seiner Frau vermisst, er war nicht tot. Es gab keine Leiche, kein Anzeichen dafür, dass ihm etwas zugestoßen war. Behandle das also wie eine normale Vermisstenmeldung. Fürs Erste jedenfalls. Sie schob das Foto zur Seite, wandte sich Devon zu und nickte bedächtig.

»Danke, dass du mich dazugeholt hast, Devon. Gut, Gemma, geben Sie uns ein paar Einzelheiten. Sie sagten, Sie haben ihn zuletzt am Donnerstagmorgen gesehen. Am achtundzwanzigsten? Um wie viel Uhr sind Sie gefahren?«

Gemma holte Luft.

»Gegen sieben. Wir haben um sechs noch zusammen gefrühstückt, sind extra früh aufgestanden, um etwas Besonderes daraus zu machen, bevor wir beide zur Arbeit mussten … Danny hat alles aufgefahren. Ich musste auf eine Pressereise, in ein neues Kurhotel in den Cotswolds. Ich bin Journalistin, ich schreibe Reportagen, freiberuflich. Früher war ich Nachrichtenredakteurin, aber heute sind es meist Lifestyle-Geschichten. Sie wissen schon, Mode, Schönheit, Reisen, solche Sachen. Ich habe eine monatliche Kolumne in der Zeitschrift Camille, mache aber auch viel anderes. Das Meiste geht von zu Hause, aber ein paarmal im Monat habe ich die Möglichkeit rauszukommen, mal woanders zu schlafen, und ich hatte mich wirklich darauf gefreut …« Sie verstummte, und der angeregte Ausdruck, der kurzzeitig ihr Gesicht aufgehellt hatte, als sie über ihre Arbeit sprach, verschwand wieder, und die Angst kehrte zurück in ihre Augen.

»Okay, gut. Sie haben sich also verabschiedet, sind losgefahren, und was dann? Wann haben Sie wieder mit Danny gesprochen?«

Helena schrieb etwas in ihr Notizbuch.

»Nun, gesprochen habe ich nicht mehr mit ihm, nicht direkt. Wir sind erst vor ein paar Wochen in unser neues Haus gezogen, aus London, und haben keinen Festnetzanschluss. Und bei Dannys neuer Firma gab es eine Verzögerung mit seinem Handy. Deshalb haben wir während der letzten paar Wochen per E-Mail kommuniziert. Ist ein bisschen ärgerlich, aber meist funktioniert es. Spät am Donnerstagabend hat er mir noch geschrieben, so gegen elf, um gute Nacht zu sagen. Er hat mich noch mal daran erinnert, dass er am Freitag, nach meiner Rückkehr, für mich kochen würde, so in etwa. Einfach eine normale E-Mail. Ich habe ihm geantwortet, dass ich ihn liebe, und das war's. Seitdem habe ich … nichts mehr von ihm gehört.«

Die Tränen kehrten zurück. Mit zitternder Hand griff sie nach einem Taschentuch.

Helena nickte.

»Verstehe. Sie kommen also am Freitagabend nach Hause, am ersten März, und er ist nicht da? Und Sie sagen, soweit Sie wissen, hat er nichts mitgenommen? Keinen Pass, keine Kleidung? Nichts, was er nicht auch an einem normalen Arbeitstag mitnehmen würde? Und eine Nachricht hat er auch nicht hinterlassen, nehme ich an?«

Gemma schüttelte den Kopf.

»Keine Nachricht. Und ja, es ist alles noch da, sein Pass, seine Kleider, alles. Also ist er wohl wenigstens nicht gleich außer Landes.«

Sie lächelte schwach.

»Sie sagen, Sie haben bei ihm im Büro angerufen, seine Freunde, Verwandten? Und auch in den Krankenhäusern nachgefragt?«

Gemma nickte.

»Ja, alle, die mir einfallen wollten. In seinem Büro konnte ich niemanden erreichen, es ist geschlossen, und ich habe auch nicht die Nummern von allen seinen Freunden, aber bei denen, die ich kenne, habe ich es probiert. Niemand hat etwas von ihm gesehen oder gehört. Seine Familie habe ich allerdings noch nicht angerufen. Die leben fast alle in Irland, und seine Mum ist alt und … nun, ich wollte sie nicht beunruhigen, noch nicht.«

»Verstehe. Wahrscheinlich ist es eine gute Idee, seine Familie nicht in Panik zu versetzen, im Moment jedenfalls.«

Helena lächelte die Frau kurz an.

»Ich bitte Sie gleich um eine Liste der Krankenhäuser, in denen Sie es probiert haben, dazu um Namen und Adresse von Dannys Arbeitgeber, Gemma, und wir brauchen sein Geburtsdatum, was er getragen hat, als Sie ihn zuletzt gesehen haben, Ihre gegenwärtige Adresse und von wo Sie hergezogen sind, diese Art Dinge, okay? Aber erst noch ein paar allgemeine Fragen, wenn Sie es ertragen können. Hat sich Dannys Verhalten in letzter Zeit geändert? Ich meine, wirkte er besorgt oder so, abgelenkt, irgendwie anders? Hatte er Probleme? Medizinischer, finanzieller oder anderer Natur? Hat er Drogen genommen, ein Alkoholproblem?«

Gemma schüttelte den Kopf und zog die Brauen zusammen.

»Nein, nichts von alledem. Wie waren wirklich glücklich. Es war ursprünglich seine Idee, von London herzuziehen, und ich kann von überall arbeiten, also war es auch für mich in Ordnung, das heißt, ich fand es wunderbar. Wirklich gefreut hat er sich auf seine neue Arbeit und wie sich das Leben hier ändern würde. Seit wir eingezogen sind, waren wir nonstop beschäftigt, einfach nur, um das Haus richtig hinzubekommen, aber es ist wirklich schön. Wir mieten fürs Erste, bis wir wissen, wo genau wir wohnen wollen, aber es ist so toll, hat große Zimmer und einen wunderbaren Hof, wir lieben ihn, alle beide, und … nein. Nichts von alledem. Er ist fit, gesund und glücklich, und ich könnte mir ehrlich keinen Grund vorstellen, warum … warum …« Sie hielt inne und schluckte.

Helena machte sich nach wie vor Notizen.

»Benutzt er soziale Medien? Facebook, Twitter, Instagram? Irgendwas davon?«

Wieder schüttelte Gemma den Kopf.

»Nein. Wir beide eigentlich nicht. Er überhaupt nicht, ich bin auf Instagram wegen der Arbeit, aber ich poste nicht viel. Danny ist ehrlich gesagt ziemlich anti, was die sozialen Medien angeht. Er sagt, sie richten nur Schaden an und dass sich die Leute am Ende mit all den anderen Menschen vergleichen, die so perfekte, glamouröse Leben führen, und dass das alles Unsinn ist. Ich bin da nicht so extrem, ich denke, es kann ziemlich nützlich sein, wenn man Dingen folgt, an denen man interessiert ist. Und in gewisser Weise ist es Teil des Jobs, wenn man in den Medien arbeitet, da wird es erwartet. Aber um Ihre Frage zu beantworten, nein, ich wüsste nicht, dass Danny je selbst einen Account gehabt hätte.«

Devon hatte bislang ruhig dabeigesessen, jetzt räusperte er sich.

»Wie lange sind Sie schon zusammen, Gemma? Sie sagen, Sie sind erst ein Jahr verheiratet?«

Sie wandte sich ihm zu.

»Wir sind noch nicht wirklich lange zusammen. Es ging alles sehr schnell. Ich hasse den Ausdruck ›stürmische Romanze‹, aber in gewisser Weise war es so etwas.« Sie lachte kurz auf und wurde rot. »Wir haben uns online kennengelernt, vor etwa anderthalb Jahren, und nach vier Monaten hat er mir schon einen Antrag gemacht. Drei Monate später haben wir geheiratet, das war letztes Jahr im März. In ein paar Wochen ist unser erster Hochzeitstag. Wie ich gesagt habe, es ging ziemlich schnell. Aber wenn man sich sicher ist, dann ist es eben so, nehme ich an.«

»Das nehme ich auch an, ja.« Devon lächelte, doch dann wurde er wieder ernst.

»Also … nun, ich frage Sie das nur sehr ungerne, aber … besteht die Möglichkeit, dass er jemand anders hat, eine Affäre? Es ist einfach so, dass Leute manchmal verschwinden, wenn …«

Gemma schüttelte erneut den Kopf, diesmal heftig.

»Absolut nicht. Eine meiner Freundinnen hat mich das auch gefragt, und ich habe ernsthaft darüber nachgedacht. Es ist schrecklich, sich das vorzustellen, aber ich habe versucht, es als tatsächliche Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Aber nein, keinesfalls. Er war den ganzen Tag bei der Arbeit, manchmal bis in die Nacht, kam aber anschließend immer direkt nach Hause, und seit wir hergezogen sind, waren wir nicht eine Nacht voneinander getrennt. Das am Donnerstag war meine erste Pressereise, die erste Übernachtung anderswo, seit wir in Bristol sind. In London war es ähnlich. Ich meine, wir waren beide mal abends getrennt mit Freunden oder Freundinnen aus und haben gelegentlich allein etwas unternommen. Er ist mit dem Fahrrad los und so, er liebt sein Rad. Aber den überwiegenden Teil der Zeit haben wir zusammen verbracht. Und ich würde es wissen. Das würde ich. Nichts hat sich zwischen uns verändert, mit uns geht es so, wie es immer gegangen ist, in vieler Hinsicht höchstens noch besser, seit wir hergezogen sind …«

Die Tränen waren zurück. Sie liefen ihr über die Wangen und hinterließen Spuren in ihrem Make-up.

»Gut, und es tut mir leid, dass ich Ihnen diese Fragen stellen muss. Ich weiß, es ist sehr schwer für Sie.«

Devon schob Gemma die Taschentücher wieder hin, und sie schniefte und nickte.

»Es ist in Ordnung. Ich verstehe das. Ich will einfach nur, dass er zurückkommt«, flüsterte sie.

»Wir werden tun, was wir können«, sagte Helena. Sie sah Devon einen Moment lang an, und er nickte leicht.

»Gut, dann lassen Sie mich die anderen Einzelheiten aufnehmen, die Adressen, das Geburtsdatum und so weiter. Anschließend lassen wir Sie wieder gehen.«

Ein paar Minuten lang lauschte sie Gemma, die ihr die Privat- und die Firmenadresse gab, Dannys E-Mail sowie andere Eckdaten, bis sie alles hatten, was sie im Moment brauchten. Helena machte sich noch eine letzte Notiz, legte den Stift zur Seite und lehnte sich auf ihren Stuhl zurück.

»Hören Sie, wir werden einige Erkundigungen einziehen. Das Beste, was Sie tun können, ist, nach Hause zu fahren. Und geben Sie uns Bescheid, sobald Sie etwas von ihm hören, oder auch von einem Freund oder Verwandten, wo er sein könnte, alles in der Art. Ja?«

»Danke.« Gemma stand langsam auf, gab Helena und Devon die Hand. Ein zarter silberner Armreif funkelte an ihrem Handgelenk.

»Danke«, sagte sie noch einmal. »Ich weiß Ihre Mühe zu schätzen.«

»Keine Ursache. Und ich weiß, es lässt sich leicht sagen, aber versuchen Sie, sich nicht zu große Sorgen zu machen. Wie ich schon sagte, die meisten Vermissten tauchen wieder auf, und das für gewöhnlich recht schnell. Sobald wir etwas in Erfahrung bringen, lassen wir es Sie wissen. Devon bringt Sie zur Tür. Passen Sie auf sich auf, okay?«

Gemma lächelte ihr mit wässrigen Augen zu, dann brachte Devon sie hinaus.

Als er zurückkam, saß Helena immer noch am Tisch und betrachtete das Hochzeitsfoto.

»Nun, was denkst du?«, sagte er.

Sie sah ihn an.