Eine glückliche Familie - Jackie Kabler - E-Book

Eine glückliche Familie E-Book

Jackie Kabler

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Beschreibung

Ein Psychothriller mit Sogwirkung

Als Beth zehn Jahre alt war, hat ihre schöne Mutter die Familie ohne ein Wort verlassen. Beths Vater versuchte mit allen Kräften den Verlust wettzumachen, aber natürlich gab es Probleme, und Beth trägt ein dunkles Geheimnis mit sich herum, von dem außer ihrem Vater niemand etwas weiß.

Inzwischen ist Beth erwachsen und rundum zufrieden. Sie hat zwei wohlgeratene Kinder, einen interessanten Job, gute Freundinnen, und sie kümmert sich liebevoll um ihren alten Vater. Und dann steht eines Tages plötzlich diese ältere Frau vor ihrer Tür und behauptet, ihre lang verschollene Mutter zu sein. Beth ist zunächst schockiert, aber dann scheint sich alles aufs Schönste zu fügen. Doch nach und nach passieren merkwürdige Dinge: Beth fühlt sich von einem Mann verfolgt, sie verliert ihre Schlüssel, das Handy ist weg, die Freundinnen wenden sich ab. Beth fürchtet den Verstand zu verlieren. Werden die Schatten der Vergangenheit sie schließlich doch einholen?

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Seitenzahl: 512

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Ähnliche


Cover

Titel

Jackie Kabler

Eine glückliche Familie

Roman

Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence

Insel Verlag

Impressum

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Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel The Happy Family bei HarperCollinsPublishers, London

eBook Insel Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4988.

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2023Copyright © Jackie Kabler 2021

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Umschlaggestaltung von Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung des Originalumschlags von HarperCollinsPublishers Ltd 2021; Entwurf: Lucy Bennett, Umschlagfoto: Deborah Pendell/Arcangel Images

eISBN 978-3-458-77650-5

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Kapitel sechzehn

Kapitel siebzehn

Kapitel achtzehn

Kapitel neunzehn

Kapitel zwanzig

Kapitel einundzwanzig

Kapitel zweiundzwanzig

Kapitel dreiundzwanzig

Kapitel vierundzwanzig

Kapitel fünfundzwanzig

Kapitel sechsundzwanzig

Kapitel siebenundzwanzig

Kapitel achtundzwanzig

Kapitel neunundzwanzig

Kapitel dreißig

Kapitel einunddreißig

Kapitel zweiunddreißig

Kapitel dreiunddreißig

Kapitel vierunddreißig

Kapitel fünfunddreißig

Kapitel sechsunddreißig

Kapitel siebenunddreißig

Kapitel achtunddreißig

Kapitel neununddreißig

Kapitel vierzig

Kapitel einundvierzig

Kapitel zweiundvierzig

Kapitel vierundvierzig

Kapitel fünfundvierzig

Kapitel fünfundvierzig

Kapitel sechsundvierzig

Dank

Informationen zum Buch

Eine glückliche Familie

Kapitel eins

Wenn ich an meine Mutter denke, sehe ich sie meist weinend vor mir. Sie hat reichlich Tränen vergossen, meine Mum. Ich allerdings auch, weil ich sie schon mit zehn verloren habe. Gestorben ist sie da nicht, und ich nehme doch an, dass sie immer noch lebt. Wenn ich sage, dass ich sie verloren habe, meine ich es auch nicht in dem Sinn, wie man sein Handy oder sein Portemonnaie verliert. Ich bin zwar durchaus vergesslich, aber gleich einen ganzen Menschen zu verlieren, da täte selbst ich mich schwer. Was ich meine, ist … Ich meine, sie ist einfach … verschwunden. Ist gegangen. Hat mich verlassen. Uns verlassen.

Ich bin nicht sicher, warum ich gerade jetzt an sie denke, warum sie mir an diesem stressigen Donnerstagmorgen in den Sinn kommt, als ich meinen Audi abschließe und über den Parkplatz haste. Eigentlich versuche ich, nie an sie zu denken, und das meistens mit Erfolg. Aber als Dad und ich uns neulich unterhalten haben, erinnerte er sich plötzlich, er, der eigentlich nie über sie spricht, dass sie bald sechzig wird, und seitdem …

Ich bleibe kurz an der Straße zwischen dem Parkplatz und unserer Praxis stehen und schüttele den Kopf, um die sinnlosen Grübeleien loszuwerden. Was macht es schon, dass ihr ein runder Geburtstag ins Haus steht? Ich meine, wenn sie tatsächlich noch lebt, aber wer weiß das schon?

Sie hat sich seit dreißig Jahren nicht gemeldet, und es ist schließlich nicht so, als wäre mir plötzlich eine Einladung von ihr in den Briefkasten geflattert, denke ich und seufze.

Es fängt an zu regnen, es ist kalt für die Jahreszeit, wir haben März, und der Himmel ist schiefergrau. Ich drücke die Eingangstür zur Praxis auf und eile durch den noch leeren Empfangsbereich, wende mich nach links zum Mitarbeiterraum und seufze wieder, weil ich an die Stapel denke, die auf meinem Schreibtisch auf mich warten. Aber dann schallt mir lautes, heiseres Lachen entgegen, und ich muss lächeln.

Ruth ist schon da.

Ich öffne die Tür und gehe hinein. Unsere Chef-Rezeptionistin sitzt am Ende des langen Tisches und lacht immer noch. Sie trägt eine hellgrüne Bluse und darüber eine bunte Perlenkette.

»Beth! Oh, Beth, das musst du dir anhören!«

Ruth gestikuliert mit ihrem Kaffee in meine Richtung, und dann zu Lorraine hin, einer unserer Schwestern, die auf dem Stuhl neben ihr sitzt.

»RUTH! Willst du es wirklich allen erzählen?«, sagt Lorraine, stöhnt und zuckt resigniert mit den Schultern. »Oh, dann mach schon. Ich werde dich kaum aufhalten können, oder?«

»Wirst du nicht. Du kennst sie doch. Und es ist schon saukomisch. Morgen, Beth.«

Deborah, unsere Oberschwester, steht am Wasserkessel, macht sich einen Tee und grinst zu mir herüber. Ich lege meine Tasche auf den Tisch.

»Morgen. Was ist denn? Alles in Ordnung, Lorraine?«

Lorraine macht den Mund auf, aber Ruth lässt sie nicht zu Wort kommen.

»Ihr geht’s gut, aber das Klimakterium hat mal wieder zugeschlagen. Gestern Abend ist es unserer lieben Lorraine gelungen, einen Camembert in die Spülmaschine statt in den Kühlschrank zu stellen, Beth. Und dann hat sie das Ding eingeschaltet und ist schlafen gegangen, und jetzt stinkt die ganze Wohnung nach Käse, und was die Spülmaschine angeht …«

Sie schnaubt und gackert schon wieder los. Lorraine verdreht die Augen, und ich muss jetzt auch grinsen. Ruths Gelächter ist ansteckend.

»Die Maschine, alles ist innen komplett voll davon, Beth«, sagt Lorraine. »Und die Heißluft am Ende, zum Trocknen, die hat das Zeug übel hart werden lassen. Alles ist wie in Plastik gehüllt. Käse-Plastik. Teller, Besteck … Es kann echt sein, dass ich die Maschine mit allem drin auf den Müll bringen muss. Wie soll ich das alles wieder sauber kriegen? Ernsthaft, komm nicht ins Klimakterium. Das macht dich verrückt.«

»Oh, Lorraine!«, kichere ich. »Das ist zu komisch! Du Ärmste!«

Während ich mir einen Tee koche, verwöhnt uns Ruth mit einer weiteren ihrer vielen Geschichten über die Tollheiten unseres Gehirns während des Klimakteriums: wie sie ihre Schmuckkassette in den Kühlschrank und das Grillhähnchen in den Kleiderschrank gestellt hat. Das Gelächter folgt mir den Flur hinunter, und ich fühle mich dankbar, dass ich erst vierzig bin und es hoffentlich noch ein paar Jahre dauert, bis ich diese Art Geschichten erzählen kann. An der Tür meines Büros halte ich kurz inne, um etwas Schmier vom eleganten Messingschild an meiner Tür zu wischen.

Beth Holland, Praxismanagerin

Ich bin jetzt seit fast drei Jahren hier, und auch wenn es verrückt viel Arbeit gibt – wir haben fünf Ärzte, drei Schwestern, ein halbes Dutzend Leute an der Rezeption und in der Verwaltung, dazu fast achttausend Patienten –, ich liebe es hier. Die Arbeit und die Kolleginnen, ja, es sind fast alles Frauen, sie halten mich in Schwung. Selbst an harten Tagen bringen sie mich zum Lächeln, sagen mir, dass ich das schon schaffe und das Leben zu kurz ist, um wegen Lohnlistenänderungen oder Computerproblemen in Stress zu geraten.

Der heutige Tag stellt sich als einer der besseren heraus, und obwohl es rundgeht wie immer, laufe ich kurz nach fünf, stumm vor mich hin summend, zum letzten Mal den Flur hinunter.

»Wie wär’s mit einem schnellen Drink, Beth? Ruth und ich fahren nachher hinauf nach Montpellier. Hast du Lust?«

Deborah hat mich kommen hören und reckt den Kopf aus ihrem Behandlungsraum, der graublonde Bob wippt um ihr Gesicht.

»Oh, Debs, das würde ich gerne, aber ich habe Dad versprochen, heute Abend bei ihm hineinzusehen, und dann die Kinder, du weißt ja …«

Ich zucke mit den Schultern, und sie nickt verständnisvoll.

»Wir sagen das nächste Mal früher Bescheid. Bis morgen dann, Liebes.«

»Bis morgen. Und viel Spaß. Trinkt ein Glas für mich mit. Nein, zwei. Trinkt zwei für mich mit.«

»Kein Problem. Würde ich allerdings für sonst niemanden machen.«

Sie zwinkert mir zu und verschwindet wieder. Ich laufe zum Parkplatz. Es wird erst etwa in einer Stunde dunkel werden, aber der Himmel ist bleigrau, und während es am Morgen nur nass war, nieselt es jetzt und ist auch noch windig. Eine plötzliche Böe treibt eine leere Coladose über den glitschigen Beton und bläst mir eine Haarsträhne ins Gesicht. Ich fische in der Tasche, die mir über der Schulter hängt, nach meinem Autoschlüssel, und plötzlich sehe ich ihn aus dem Augenwinkel.

Schon wieder? Ernsthaft jetzt? Oh, Mann …

Ich bleibe stehen, schiebe mein bereits feuchtes Haar zurück und versuche es hinter das Ohr zu bekommen. Ich spüre, wie genervt ich bin. Als es anfing, war ich argwöhnisch, nervös, ja, ich hatte Angst. Aber dann schien es wieder aufzuhören, und ich hatte ihn fast schon vergessen. Fast. Wenn er tatsächlich zurück ist … Ich bin mehr als genervt, ich bin wütend. Was will dieser Spinner, der immer wieder auftaucht und in meiner Nähe herumlungert? Hat er nichts Besseres zu tun, als mir hinterherzulaufen und mich auszuspionieren? Ich drehe mich um, mache einen Schritt in die Richtung, wo er eben noch stand, und blinzele. Er ist weg. Es hat jetzt richtig zu regnen begonnen, schwere Tropfen fallen auf meine Wimpern und verschleiern mir den Blick. Ich stehe still da und sehe über den fast leeren Parkplatz. Wo ist er hin? Ich kann ihn nirgends entdecken. Ich sehe niemanden. Da steht nur ein halbes Dutzend Autos, meines eingeschlossen, verstecken tut sich da keiner. Niemand beobachtet mich, lauert hinter einem der Autos und wartet ab. Es muss meine überreizte Fantasie sein, die mir wieder mal einen Streich gespielt hat.

Okay. Puuh. Gut.

Ich atme tief durch, sehe mich ein letztes Mal um. Jetzt bin ich wirklich nass. Ich muss weiter. Ich setze mich ins Auto und lasse den Motor an.

Kapitel zwei

Ich denke immer noch an ihn, als ich eine Stunde später, nachdem ich kurz bei meinem Dad war, zu Hause in die Einfahrt einbiege. Es ist einige Monate her, seit ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, dass mir jemand folgt und mich versteckte Augen beobachten.

Erst waren es kleine Dinge. Der Blick eines Mannes von der anderen Seite der Straße, als ich aus der Praxis kam, immer im gleichen dunklen Hoodie, der aber nie näher kam, nie nahe genug war, dass ich ihn genauer sehen konnte. Er stand immer nur da wie eine Statue und wartete darauf, dass ich in mein Auto stieg. Dann ging er davon. Oder der immer selbe silberne Fiat, der wieder und wieder langsam an unserem Haus vorbeifuhr, mir auf den Parkplatz von Sainsbury’s folgte, mir aber ebenfalls nie nahe genug kam, dass ich den Fahrer richtig hätte sehen können. Hin und wieder habe ich sogar gedacht, dass er mich fotografieren würde, weil ein Handy oder eine Kamera kurz vor seinem Gesicht auftauchte. Ziemlich verunsichert habe ich es einigen Leuten erzählt, den Kolleginnen bei der Arbeit, meinen Nachbarinnen, und sie gefragt, ob ihnen vielleicht auch jemand aufgefallen sei, doch das war nicht der Fall, und es war klar, dass sie dachten, ich würde es mir nur einbilden.

»Ich meine, Cheltenham ist nicht groß, nicht wirklich, wenn du es dir mal überlegst«, sagte Ruth eines Morgens im Mitarbeiterraum, als ich ihr, nicht lange nachdem es angefangen hatte, davon erzählte. »Da sieht man immer mal wieder dieselben Leute. Bei mir kommt regelmäßig ein Kerl mit einem schwarzen Labrador vorbei. Du sorgst dich zu viel, Beth. Mir ist niemand aufgefallen, und schon gar keiner, wegen dem ich mir Sorgen machen würde.«

Ich nickte, irgendwie beruhigt, war aber weiter hypersensibel. Wobei ich mir über die Wochen einzureden versucht habe, dass alle recht haben und ich mir das alles tatsächlich nur einrede, weil, warum sollte mir jemand folgen wollen? Die Vorstellung, dass es einen Stalker gibt, irgendeinen durchgeknallten geheimen Bewunderer, die ist schon eher lächerlich. Ich bin kaum ein Hingucker – eine vierzigjährige geschiedene Mum mit zwei Kindern, die Arbeit, Nachwuchs und ihren älter werdenden Dad unter einen Hut zu kriegen versucht und kaum die Zeit hat, sich mit einem Kamm durch die Haare zu fahren und ein wenig Rouge aufzulegen. Aber dennoch, zwischendurch tauchte er wieder auf, eine Gestalt am Rand meines Gesichtsfelds, die sich in der Umgebung aufzulösen schien, sobald ich sie genauer in den Blick zu bekommen versuchte. Ich überlegte, ob ich zu ihm hin marschieren, ihn ansprechen und eine Erklärung verlangen sollte, aber da fehlte mir der Mut, weil … Was, wenn ich falsch lag? Was, wenn ich wirklich leicht paranoid war? Und dann, vor etwa sechs Wochen, hörte es plötzlich auf. Er schien verschwunden zu sein. Keine flüchtigen Blicke unter Hoodies hervor, keine silbernen Fiats. Aber heute, das war er wieder. Auf dem Parkplatz. Oder etwa nicht? Ich war so sicher, zumindest eine Minute lang, und dann …

»Mum! Eloise will mir ihr iPad nicht geben, Mum! Sag es ihr!«

Ich habe die Haustür kaum aufgedrückt, der Schlüssel steckt noch im Schloss, und Finley bestürmt mich schon.

»Himmel, Finley, lass mich erst mal ins Trockene kommen!«, sage ich, und er schmollt.

»Aber, Muuum …«

»Schschsch.«

Ich mache die Tür hinter mir zu, trete die Schuhe auf der Matte ab und lege die Tasche weg. Dann ziehe ich ihn zu mir, fahre ihm durch den blonden Wuschelkopf und nehme ihn in den Arm.

»Wo ist deine Schwester? In ihrem Zimmer?«, frage ich, und er nickt und drückt den Kopf gegen meinen Bauch.

»Okay, wir gehen gleich zu ihr hoch, aber du musst lernen, nett zu fragen, okay? Es bringt dir nichts, wenn du dich wie ein Brummbär verhältst. Einen Moment nur, ich muss erst Robin verabschieden.«

Ich gebe ihm einen Kuss auf den Kopf, lass ihn los, und er folgt mir grummelnd in die Küche, wo Robin gerade die Spüle trockenwischt. Es ist warm und riecht köstlich. Sie dreht sich um und lächelt.

»Hi, Beth. Tut mir leid, dass er so knurrig ist. Es war bester Laune, bis er beschlossen hat, das Panda-Spiel zu wollen, das er so mag, und Eloise sagte, dass sie das iPad für ihre Hausaufgaben braucht.«

»Du meine Güte, das haben wir in einer Minute geklärt. Geh nur, Robin, und sorry, dass ich mich verspätet habe. Ich musste noch zu meinem Dad, und der Verkehr ist schrecklich. Nicht, dass dir das heute was machen würde, du Verrückte.«

Robin legt ihr Trockentuch ordentlich zusammen und grinst.

»Nein. Heute wird gejoggt. Ich weiß, es ist ein bisschen nass, aber schlechtes Wetter gibt es nicht, oder? Nur die falsche Kleidung.«

Sie ist tatsächlich ein bisschen verrückt, unsere Robin. Sie putzt und passt auf die Kinder auf und hat eindeutig ihre Eigenheiten. Aber sie ist nett, ohne Frage, und absolut verlässlich, sonst hätte ich sie nicht genommen. Die Kinder lieben sie, auch wenn sie manchmal ein wenig spröde ist, würde ich sagen. Erzählt nie viel von sich, weder von heute noch von früher. Ich meine, das ist schon okay, sie muss mir nicht alles sagen. Aber ich weiß nicht mal, ob sie in einer Beziehung lebt, Kinder hat (ich glaube nicht, das hätte sie sicher erwähnt) oder wie alt sie zum Beispiel ist. Mitte fünfzig denke ich, schlank und fit, mit kurzem, dunkelblondem Haar, und ihre Haut hat immer eine gesunde Farbe, auch ohne jedes Make-up. Für etwas verrückt halte ich sie vor allem, weil sie, obwohl sie gute acht Kilometer entfernt auf der anderen Seite der Stadt wohnt, ziemlich oft her und wieder zurück joggt, oder besser gesagt: rennt. Wobei ich zugeben muss, dass ich selbst eine gewisse Sportphobie habe. Wenn das Wetter wirklich unerträglich ist, kommt sie mit ihrem kleinen Smart, den Finley so liebt. Mit seinen sieben Jahren hat er gerade angefangen, Enid Blyton zu lesen, und denkt, sie hat ihn von Noddy geliehen. Aber wenigstens zweimal die Woche steht sie um acht Uhr früh rotgesichtig und glücklich in ihrem Laufdress vor der Tür, einen Rucksack mit frischen Sachen auf dem Rücken – nachdem sie eine Stunde lang quer durch die Stadt zu uns nach Prestbury gelaufen ist. Das ist doch echt verrückt, oder?

Jetzt nimmt sie ihren Rucksack und geht nach unten ins Bad, um aus der Jeans, dem Pullover und den Stiefeletten, die sie tagsüber getragen hat, in ihre Laufklamotten zu wechseln.

»Oh, Jacob war kurz da, um Eloises Sportschuhe zu bringen, die sie am Dienstag bei ihm vergessen hat«, ruft sie noch über die Schulter. »Sie braucht sie morgen früh in der Schule, glaube ich. Er sagt, er kommt dich morgen besuchen.«

»Okay, super. Danke, Robin.«

»Muuum …«

Finley steht neben mir und zieht an meinem Ärmel.

»Liebling, bitte, gib mir eine Minute. Lauf hoch in dein Zimmer und such dir schon mal ein Buch für deine Gute-Nacht-Geschichte aus. Ich komme sofort hoch, wenn ich mir eine Tasse Tee gemacht habe, und dann gehen wir zu deiner Schwester und sehen, ob wir uns das iPad für eine halbe Stunde ausleihen können. Okay?«

Er zögert einen Moment, blinzelt mich an und überlegt. »Okay!«

Er flitzt davon, ich seufze erleichtert und schalte den Wasserkocher ein. Robin hat wie gewöhnlich alles makellos hinterlassen, und wieder einmal danke ich meinem Glück, meinem Schutzengel oder was immer für ein himmlisches Geschöpf da oben auf mich aufpasst, dass sie es war, die auf meinen ziemlich verzweifelten Aushang im Laden ein Stück die Straße hinunter geantwortet hat, nachdem Jacob und ich uns etwa sechs Monate zuvor getrennt hatten.

Vielbeschäftigte alleinerziehende Mutter sucht Putzhilfe/Kinderfrau.

Schulwegbegleitung, Kinderaufsicht am Nachmittag, leichte Hausarbeiten.

Montag bis Freitag.

Bin unter der Nummer unten erreichbar. Beth.

Ein paar Tage darauf saß Robin in meiner Küche, und vierundzwanzig Stunden später hatte ich sie eingestellt. Es war ein Wunder, dass sie den Zettel überhaupt gesehen hatte, wo sie doch auf der anderen Seite der Stadt wohnt, aber sie hatte eine Freundin in Prestbury besucht und war auf dem Nachhauseweg kurz noch in unseren Eckladen gegangen. Bei ihrem vorherigen Arbeitgeber in The Park hatte sie aufgehört, weil dessen Zwillinge aufs Gymnasium gekommen waren und sie nicht mehr brauchten. Ihre Referenz war mehr als ausgezeichnet, und als ich zur Vorsicht noch einmal nachfragte, riet mir die Mutter, schnellstens zuzugreifen.

»Ehrlich, ich vermisse sie sehr«, sagte sie. »Ihre Kinder werden glücklich mit ihr sein und Sie Ihr blitzsauberes Haus mögen. Ich beneide Sie.«

Sie hatte recht. Robin zu haben, die meine beiden Goldstücke jeden Tag zur Schule bringt und wieder abholt, für ihr Essen sorgt und ihnen bei den Hausaufgaben hilft, bis ich von der Arbeit zurück bin, hat Finley und Eloise einiges von der Stabilität zurückgegeben, die ihnen durch die Trennung ihrer Eltern verloren gegangen war. Nach anderthalb Jahren habe ich (von iPad-Dramen mal abgesehen) glückliche Kinder, und unser Haus ist tatsächlich blitzsauber. Und wenn ich auch nicht unbedingt sagen kann, dass Robin und ich enge Freundinnen geworden sind, mögen wir uns doch, ich vertraue ihr und verlasse mich auf sie. Okay, es gab da, wenn ich ehrlich bin, ein, zwei kleine … nun, sagen wir, Vorfälle, aber die sind vergessen. Es war nichts Großes und ganz sicher nichts, was alles in Frage gestellt hätte. Es liegt auch schon einige Zeit zurück. Jemand wie Robin ist nur schwer zu finden, und ich habe nicht die Absicht, mich in nächster Zukunft von ihr zu trennen – nicht, wenn es sich vermeiden lässt.

Ich gebe einen Teebeutel in eine Tasse, schütte kochendes Wasser darüber und muss schon wieder gähnen. Ich weiß nicht, warum, aber in letzter Zeit schlafe ich nicht gut. Ich bin unruhig und habe immer wieder Alpträume. So wie die, die ich vor ewigen Zeiten als Teenager hatte.

Ist es mein Mr Stalker, der mich in diesen Zustand versetzt? Habe ich wegen ihm diese Alpträume? Es ist so lange her …

Ich starre gedankenverloren in meine Tasse und zucke zusammen, als eine Stimme ruft: »Bye, Beth! Bis morgen!«

Robin winkt mir aus der Türe zu.

»Oh, Gott, ich wollte dich nicht erschrecken«, sagt sie.

Ich lache und winke ab.

»Ist schon okay, ich war nur gerade etwas abgetaucht! Bye, Robin, und vielen Dank wie immer. Hab noch einen schönen Abend!«

»Du auch.«

Sie lächelt, winkt noch einmal und ist weg. Ich wende mich wieder meiner Tasse zu, ziehe den Teebeutel heraus und lasse ihn in den Abfalleimer neben der Spüle plumpsen. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Wie lächerlich. Das war doch nur Robin. Was ist mit mir?

Ich gehe langsam in den Flur hinaus und nach oben und bereite mich innerlich auf die unvermeidliche Auseinandersetzung mit meiner etwas trotzigen zehnjährigen Tochter vor, wenn ich sie zu überreden versuche, ihrem kleinen Bruder das iPad zu überlassen. Gleichzeitig gehe ich mit mir ins Gericht: Alles ist gut. Mir geht’s gut, mit der Arbeit geht’s gut, den Kindern geht’s gut. Ich muss dieses hartnäckige Unbehagen einfach abschütteln. Es gibt keinen Grund dafür. Wahrscheinlich brauche ich einfach nur ein heißes Bad und sollte früh ins Bett. Einmal richtig ausschlafen. Was immer es sein mag, was mich da verfolgt, es geht vorbei. Wie alles.

Ich atme tief und ruhig durch und spüre doch, als ich die Tür zum Zimmer meiner Tochter öffne, wie der Knoten in meinem Bauch weiter wächst. Weil es nicht funktioniert. Wie sehr ich mir auch zurede, dass alles in Ordnung ist, dieses tief in mir lauernde Gefühl des … des Grauens will mich nicht verlassen. Dieses nagende Gefühl, dass da etwas von vor langer Zeit, das ich längst für bewältigt gehalten hatte, vielleicht doch nicht vorbei ist.

Kapitel drei

»Glaubst du, mit der armen Frau da drüben ist alles in Ordnung? Es ist so kalt. Können wir da nichts tun?«

Ich spähe aus dem Fenster des Wartezimmers. Auf der anderen Straßenseite, im Eingang des Gebäudes gleich bei unserem Parkplatz, sitzt eine alte Frau, in eine Decke gehüllt und einen großen Rollenkoffer neben sich. Sie hat langes, strähniges graues Haar, trägt einen braunen Filzhut, den sie bis tief über die Augen gezogen hat, und liest ein zerfleddertes Taschenbuch. Beim Blättern zittern ihre Hände. Es ist der Eingang eines geschlossenen indonesischen Restaurants, den die Frau seit ein paar Wochen tagsüber für ein paar Stunden als Leseplatz benutzt. Anschließend faltet sie ihre Decke ordentlich zusammen und zieht weiter, ihr kleines Nest aus Pappkartonstücken lässt sie zurück. Es ist offenbar eine einträgliche Ecke für sie, ich habe schon mehr als einen unserer Patienten beim Kommen und Gehen stehen bleiben und ihr ein paar Münzen geben sehen. Dennoch schmerzt es mich, sie da so allein in der Kälte sitzen zu sehen.

»Nadia? Ich habe ihr heute schon einen Kaffee gebracht.«

Ruth sitzt hinter ihrer Empfangstheke, heute in einem prächtigen roten, mit Tieren bedruckten Kleid, und blättert durch einen Ordner. Das Wartezimmer ist leer – die Mittagsflaute, bevor es um zwei wieder losgeht.

»Nadia?«, sage ich. »Heißt sie so?«

Ruth sieht zu mir herüber.

»Jepp. Sie ist eine echt Nette. Sagt nicht viel, aber ich bringe ihr seit einiger Zeit regelmäßig was Heißes zu trinken und ein paar Kekse rüber. Wir kennen uns mittlerweile ganz gut. Sie hat einen Platz in einem Asyl in der High Street, doch nach dem Frühstück werden sie bis zum Tee auf die Straße geschickt, Gott noch mal.«

»Das ist ganz schön hart bei diesem Wetter.«

»Genau. Aber wenigstens ist der Hauseingang da drüben einigermaßen windgeschützt. Und sie hat eine Wärmflasche, was hilft. Die fülle ich ihr, wenn nötig, auch neu.«

»Das ist lieb von dir. Die Ärmste. Wie ist sie da wohl gelandet? Warum ist sie obdachlos? Sie muss doch so etwa in ihren Siebzigern sein?«

Ich sehe wieder hinaus. Nadia, wenn sie denn so heißt, hat sich noch tiefer in ihre Decke eingemummelt. Ich sehe gerade mal ihre Nase herausragen, das Buch hält sie sich nahe vors Gesicht.

»Wahrscheinlich. Ich weiß es allerdings nicht«, sagt Ruth. »Ich wollte sie auch nicht fragen. Gesund scheint sie zumindest zu sein. Es ist so traurig, oder? In ihrem Alter obdachlos und allein zu sein. Nun, in jedem Alter eigentlich.«

Ich wende mich mit einem Seufzer vom Fenster ab.

»Das ist es. Ich bin so dankbar, dass Dad es gut und warm hat und sich jemand um ihn kümmert. Er war bester Laune.«

»Oh, schön. Sag ihm einen lieben Gruß und dass ich Anfang nächster Woche mal bei ihm vorbeisehe und ihm ein Stück Käsekuchen bringe. Sonntag ist Backtag.«

»Das wird ihn freuen. Er liebt deinen Käsekuchen. Wobei, ich auch. Du bringst doch auch welchen zur Arbeit mit?«

Ruth grinst.

»Natürlich.«

Ich erwidere ihr Lächeln und gehe zurück in mein Büro. Ich war heute in der Mittagspause kurz bei Dad, damit ich nach der Arbeit etwas früher nach Hause komme. Jacob, mein Ex, holt die Kinder heute Abend, und Barbara und Brenda, meine Freundinnen von nebenan, kommen auf ein paar Drinks und ein Take-away. Wir machen uns einen netten Freitagabend. Ich versuche meinen Vater wenigstens drei, vier Mal die Woche zu besuchen, schaffe es jedoch nicht immer. Er versteht das, aber ich fühle mich trotzdem schuldig. Er ist achtzig und jetzt seit fast einem Jahr im Pflegeheim. Er hatte einen schlimmen Schlaganfall, war aber auch vorher schon nicht in bester Form. Er leidet an einer diabetischen Retinopathie, die seine Sehkraft schwinden lässt. Nicht, dass er blind ist, noch nicht, aber er sieht nur noch wenig, dazu kommt die teilweise Lähmung eines Arms und eines Beins durch den Schlaganfall, was heißt, dass er nicht mehr allein leben kann. Ich habe kurz überlegt, ob ich ihn zu uns nehmen soll, aber er ist rund um die Uhr auf Pflege angewiesen, was es sehr schwer gemacht hätte, und er hat es sowieso rundweg abgelehnt.

»Ich kenne ein paar Jungs, die ins Holly Tree ziehen wollen«, sagte er, als er in Erwägung zog, in das neu erbaute Heim an der Landsdown Road umzusiedeln. Er nuschelte ein wenig, da der Schlaganfall auch sein Gesicht in Mitleidenschaft gezogen hat, wenn auch nicht zu sehr. »Ziemlich nobel offenbar. Gibt eine Bar und alles.«

Er zwinkerte mir zu, schenkte mir sein neues, schiefes Lächeln, und eine Welle der Erleichterung erfasste mich – um gleich einem Schuldgefühl Platz zu machen. Aber dann stellte sich heraus, dass das Holly Tree tatsächlich ziemlich nobel war, ein moderner Bau mit Bar und Restaurant, Swimmingpool, Fitnessraum, Spielezimmer und einer kleinen Bibliothek. Es ist teuer, ja, aber Dad war Buchhalter und immer sparsam. Was er auf die Seite gelegt hat, deckt die Kosten für die ersten rund anderthalb Jahre, und danach sollte der Erlös aus dem Verkauf seines Hauses reichen, um das Heim auch für den Rest seiner Tage zu bezahlen. Es war ein sehr hübsches Haus, vier Zimmer, Küche, Bad, in Shurdington, das, kaum dass es angeboten wurde, auch schon einen neuen Besitzer gefunden hatte.

Als ich heute kurz nach eins bei ihm war, saß er im Rollstuhl am Fenster in der Bar, hielt ein Glas Rotwein in der guten Hand und schnaubte vor Lachen über etwas, was ihm sein Freund Billy, auch ein ehemaliger Buchhalter, der ihm in einem Sessel gegenübersaß, gerade erzählte.

»Ihr zwei seht aus, als hättet ihr einen netten Freitag«, sagte ich. »Zu Mittag schon ein Wein? Das macht mich neidisch.«

Dad wandte sich mir zu, versuchte mein Gesicht besser in den Blick zu bekommen und grinste.

»Beth. Hallo, Liebes. Setz dich. Wie geht’s?«

Er sah gepflegt wie immer aus, hatte seine dunkelbraune Strickjacke bis zum Hals zugeknöpft, und sein dünnes, graues Haar war ordentlich gescheitelt. Er mag ja fast blind sein, achtet aber immer noch auf sein Äußeres.

»Gut«, sagte ich. »Etwas müde. Reif fürs Wochenende. Und du? Hallo, Billy. Wie geht es Ihnen?«

Billy ist ein gütig aussehender alter Mann. Er trug ein blaukariertes Hemd, hob sein Glas mit einem, wie es schien, Gin Tonic, und nickte.

»Großartig, Mädchen, großartig.«

»Gut geht’s uns, Liebes«, sagte Dad. »Um Viertel vor gibt’s Essen. Billy und ich haben uns gerade über ein paar alte Geschichten amüsiert. Einiges davon …«

Er musste wieder lachen, und ich lächelte. Er ist schwach, aber dort im Holly Tree ist er zufrieden, das kann ich sehen. Wir haben dann noch ein paar Minuten geschwätzt, und Billy fügte dem Ganzen eine weitere halb vergessene Erinnerung über einen berüchtigten örtlichen Geschäftsmann und seine Versuche, Geld zu waschen, hinzu. Meine Gedanken schweiften ab, der überheizte Raum machte mich schläfrig, und mir kam alles Mögliche in den Sinn.

Indisch oder thailändisch heute Abend?

Hast du daran gedacht, den Schampus kalt zu stellen?

Ich muss einen frischen Schlafanzug in Eloises Übernachtungstasche packen.

War er das wirklich gestern Abend auf dem Parkplatz, oder habe ich es mir nur eingebildet? Wer zum Teufel ist er? Was will er?

Ein Schauder durchfuhr mich, trotz der Wärme im Raum.

Ich drückte den Rücken durch und versuchte mich auf Dads und Billys Unterhaltung zu konzentrieren.

Ich muss wirklich aufhören, an ihn zu denken. Vergiss ihn, Beth.

Ich habe Dad nie etwas von dem Kerl gesagt. Er würde sich nur sorgen und versuchen, mich zur Polizei zu schicken, aber was sollte das bringen? Der Mann ist mir schließlich nie nähergekommen oder hat mir etwas getan. Er ist einfach nur … nun, da.

»Ich habe Billy heute Morgen erzählt, worüber wir uns neulich unterhalten haben … dass es bald Alices Sechzigster ist. Ist so komisch, sich deine Mutter als ältere Frau vorzustellen, oder?«, sagte Dad plötzlich.

»Ich weiß.« Wir sahen einander einen Moment lang schweigend an, dann sagte ich: »Nun, wo immer sie ist, ich hoffe, es ist ein guter Tag für sie. Sechzig ist eine große Sache.«

Er zuckte mit den Schultern und verzog das Gesicht.

»Nicht so wie achtzig.«

»Stimmt.«

Ich lächelte und beugte mich vor, um seine Hand zu drücken. Dad war kürzlich erst achtzig geworden, mit einem Samstagnachmittags-Schwof dort im Heim, Tee und Kuchen, ein paar Spritzern Whiskey und etwas Gesang in der Bar. Der Altersunterschied von zwanzig Jahren zwischen ihm und Mum kann gut einer der Gründe gewesen sein, warum sie ihn verlassen hat, überlege ich mitunter, wenn ich mir wieder mal, was nicht zu oft vorkommt, erlaube, an sie zu denken. Ich könnte mich auch täuschen, es ist wahrscheinlich nur, dass ich als erwachsene Frau Entschuldigungen für sie suche. Wobei, zwanzig Jahre sind schon ein gewaltiger Unterschied, besonders, wenn man jung ist. Aber wer weiß, es ist nichts, worüber Dad und ich je wirklich gesprochen hätten, nicht ein einziges Mal. Sie war unglücklich, hat viel geweint, und dann ist sie gegangen. Es war, wie es war. Wir haben gelitten, und dann das Beste daraus gemacht, er und ich. Er war fünfzig, als sie uns verlassen hat, sie gerade mal dreißig und hatte schon eine zehnjährige Tochter, mich. Hatte mit achtzehn einen Mann geheiratet, der fast vierzig war. Meine Erinnerungen an sie sind verschwommen, ich habe nur eine vage Vorstellung von ihr im Kopf, einer jungen Frau mit blondem Haar, freundlichen Augen, dem Geruch der Kokosnussöl-Lotion, die sie so sehr mochte, und den drei winzigen Sternen – der Tätowierung auf ihrem Schlüsselbein.

Ein Stern für sie, einer für Dad, einer für mich.

Sie muss ihn einmal geliebt haben, muss mich einmal geliebt haben, um sich diese Sterne dorthin tätowieren zu lassen, oder? Oder wusste sie da auf dem Stuhl des Tätowierers, dessen Nadel Farbe in ihre Haut trieb, während ihr das Desinfektionsmittel in die Nase stieg … wusste sie da bereits, dass sie uns verlassen würde? Hat ihr die Tätowierung gereicht, als Souvenir, eine Erinnerung an die Familie, mit der sie ihr Leben nicht länger verbringen wollte? In den Jahren, die darauf folgten, jenen schrecklichen Teenagerjahren, in denen mich die Mutterlosigkeit an finstere Orte trieb, an die mich zu erinnern ich mir nicht länger erlaube, malte ich mir in meiner Vorstellung ein Bild von ihr, das Bild eines Freigeistes, wild und schön und am Ende zu wild für eine Ehe, Kinder und ein Vorstadtleben, einer Frau, die nicht zähmbar war. Doch das waren die romantischen Träumereien eines Teenagers, denn tatsächlich hatte und habe ich keine Ahnung, warum sie uns verlassen hat, nicht wirklich.

Ich habe nur ein einziges Foto von meiner Mutter Alice, ihr Hochzeitsfoto aus den späten Siebzigern, Dad modisch mit weißer Hose und blauem Blazer, Mum in fließender Spitze mit Blumen im Haar. In einem seltenen Wutanfall, Dad wird eigentlich nie wütend, warf er ein paar Monate, nachdem sie gegangen war und klar wurde, dass es für immer sein würde und keine vorübergehende Sache war, die sich in Ordnung bringen ließ, den Rest der Fotos, alle Alben und jedes einzelne gerahmte Bild, in ein Riesenfeuer. Mir gelang es nur, das Hochzeitsfoto an mich zu bringen und unter meiner Matratze zu verstecken. Wenn ich nachts allein in meinem Zimmer war, holte ich es hervor, sah es an und heulte. Ich fuhr ihr mit dem Finger über das Gesicht und flüsterte: »Bitte, komm nach Hause, Mummy. Bitte, bitte, komme nach Hause.« Wieder und wieder.

Was sie natürlich nicht tat. Die Leere war so … so riesig. Erst mit der Zeit wurde sie kleiner, schrumpfte über die Jahre dahin, bis ich sie kaum mehr spüren konnte, aber hin und wieder, selbst heute noch, wenn ich am wenigsten damit rechne, kommt es zurück, wenn auch nur kurz, dieses Nichts, dieser Schmerz.

»Was machst du heute Abend, Schatz? Einen Zug durch die Gemeinde?«

Dad fragt mich etwas, und ich richte meine Aufmerksamkeit zurück auf ihn, meinen Vater, den einen Menschen, der immer für mich da war. Ich lächele.

»Ein Frauenabend, bei mir«, sage ich. »Jacob hat die Kinder, und Brenda und Barbara kommen. Wahrscheinlich mit was Indischem, und dazu ein paar Flaschen Wein. Das wird nett.«

»Klingt gut. Genieße es, Schatz. Du verdienst es.«

Zurück in meinem Büro denke ich an Nadia, die arme obdachlose Frau da draußen, setze mich an meinen Schreibtisch und überlege, wie gut es mir geht. Für meinen Dad ist gesorgt, er ist glücklich und in guten Händen, die Kinder machen sich bestens, und ich habe einen sicheren Job, den ich mag, tolle Freundinnen und Kolleginnen. Ich verstehe mich mit meinem Ex, und es gibt nichts, weswegen ich mich sorgen sollte. Ich tippe auf meine Tastatur, um den Computer zu wecken und mich wieder an die Arbeit zu machen, aber während sich der Nachmittag dahinzieht, drängt sich ein vorwitziger, unnachgiebiger Gedanke immer wieder nach vorn.

Es mag ja alles gut sein. Aber doch nur, weil niemand weiß, was damals passiert ist. Was, wenn sich das ändern sollte?

Das wäre das Ende von allem, oder etwa nicht?

Kapitel vier

»Gut, hast du alles? Ich will nicht in zwei Stunden angerufen werden, weil du deinen Schlafanzug, dein Buch oder was anderes Wichtiges vergessen hast.«

Ich stupse Eloise sanft an, und sie windet sich und stößt meine Hand weg.

»Lass mich, Mum! Nein, ich habe nichts vergessen. Sieh nach, wenn du es mir nicht glaubst.«

Sie zeigt auf ihren kleinen rosafarbenen Wochenendkoffer, der noch offen auf dem Boden liegt, und ich schüttele den Kopf.

»Nein, ich glaube dir. Tausende Mums würden es allerdings nicht.«

Ich grinse sie an, und sie verdreht die Augen, grinst dann aber zurück und kniet sich hin, um den Koffer zuzumachen. Ich sehe ihr zu und verspüre einen kleinen Stich, wie es immer ist, wenn sie und Finley mich verlassen. Sie wird so schnell groß, mein kleines Mädchen. Das feine dunkelbraune Haar reicht ihr bis über die schmalen Schultern, die langen Wimpern hat sie von ihrem Dad. Sie ist erst zehn, noch nicht in dem Alter, in dem sie ihre glatte olivenfarbene Haut schminken oder sich Löcher in die weichen Ohrläppchen stechen lassen will, aber ich weiß, es dauert nicht mehr lange, und ich fürchte mich davor. Finley kommt die Treppe heruntergestapft und zieht seine Tasche hinter sich her – Wumms! Wumms! Wumms! –, er gleicht eher mir, so wie Eloise ihrem Vater. Er ist blonder, blasser, hat ein runderes Gesicht.

»Okay, ihr zwei, zieht schon los. Gönnt eurer Mutter ein wenig Ruhe.«

Jacob steht in der Tür, und ich löse den Blick von meinen Kindern, unseren Kindern, und lächele ihm zu. Über seine Schulter kann ich Crystal auf dem Beifahrersitz seines blauen Land Rovers sehen, der in der Einfahrt parkt. Sie hat das lange schwarze Haar zu einem ordentlichen Knoten hochgebunden, hat das Handy am Ohr, nickt und macht ein ernstes Gesicht. Er muss sie von der Arbeit abgeholt haben. Ich fange ihren Blick auf, hebe eine Hand, und sie winkt zurück und lässt ihre perfekten weißen Zähne sehen. Wir kommen miteinander aus, Jacob, Crystal und ich. Wir sind keine engen Freunde, vertragen uns aber, gehen herzlich miteinander um und stellen Finleys und Eloises Glück an die erste Stelle. Es hat eine Weile gedauert, jetzt ist es aber so gut, wie es den Umständen entsprechend sein kann.

Es war alles so ein Klischee: Jacob und ich gingen an der Uni miteinander, verlobten uns am Tag unserer Zeugnisverleihung und heirateten ein paar Jahre später, beide erst vierundzwanzig. Zu jung. Wenigstens warteten wir mit den Kindern, fassten in unseren Berufen Fuß und kauften ein Haus. Mit dreißig, als Jacobs Landschaftsgärtnerei endlich genug Geld abwarf, bekam ich Eloise. Finley kam drei Jahre später. An seinem fünften Geburtstag waren wir gerade dabei, das Chaos zu lichten, das er und sechzehn überdrehte Schulkameraden in unserem Wohnzimmer hinterlassen hatten, ich sammelte Kracher und Luftschlangen aus den Topfpflanzen und wischte klebrige Fingerabdrücke von den Kissen, als Jacob mir eröffnete, dass er eine Affäre mit einer seiner Kundinnen habe und mich verlassen wolle.

Unsere Ehe war dahin, einfach so, meine Glücksblase geplatzt wie die Luftballons auf dem Sofa, meine Welt nur mehr ein in den Teppich getretener Kuchenkrümel. Klar, es hatte in den letzten Monaten Anzeichen gegeben, viele sogar, dazu etliche Streitereien. Jacob hatte immer öfter bis spät in die Nacht oder an den Wochenenden gearbeitet, und es schlich sich das unausgesprochene Gefühl bei uns beiden ein, dass wir uns langsam voneinander entfernten. Das tatsächliche Ende warf mich dennoch aus der Bahn. Crystal Williams, die Frau, die da draußen in meiner Einfahrt darauf wartet, das Wochenende mit meinen Kindern zu verbringen, ist eine wunderschöne fünfunddreißigjährige Anwältin mit einer karamellfarbenen Haut, einem fantastischen Haus in Charlton Kings und der größten Schuhsammlung, die ich je gesehen habe.

Ich sollte sie hassen. In den drei Monaten, in denen er ihr den Garten neu gestaltet hat, hat sie sich meinen Mann ins Bett geholt und ihn mir am Ende gestohlen – und ja, ich habe sie am Anfang auch gehasst, und zwar heftig. Aber der Hass hat sich langsam verflüchtigt und schließlich wie durch ein Wunder aufgelöst. Die beiden sind immer noch zusammen, leben glücklich in ihrem prachtvollen Haus, und die Kinder … nun, ich sage mehr als ungern, dass sie Crystal lieben, aber ein wenig tun sie es wohl. Ihren Akzent mochten sie sofort (sie kommt ursprünglich aus Barbados und redet, wie sie sagen, »genau wie Rihanna, Mum!«), aber sie ist auch lieb zu ihnen, und großzügig, und das ganz selbstverständlich. Offenbar will sie keine eigenen Kinder, hat meinen Nachwuchs jedoch mit offenen Armen in ihr Leben und Zuhause aufgenommen. Die beiden können kommen, wann immer sie wollen, für sie sind sie ein Teil Jacobs, des Mannes, den sie ehrlich zu lieben scheint. Ein paar Monate nach der Trennung rief sie mich an und fragte, ob wir uns mal treffen könnten. Sie sagte, wie sehr sie sich schäme, aber auch, wie verliebt sie sei. Sie klang so demütig, so zaghaft und so fürchterlich nett, dass ich gegen meinen Willen spüren konnte, wie meine Wut auf sie unversehens abkühlte. Ich meine, wenn sie es nicht gewesen wäre, dann eine andere. Vielleicht hätte sogar ich eine Affäre angefangen und ihn meinerseits verlassen. So ist es nun mal, und es hat keinen Sinn, so zu tun, als wäre es anders.

Also haben wir uns zusammengerauft, und es ist … okay. Es ist okay. Ich bin immer noch Single, aber auch das ist okay. Im Moment zumindest.

»Bye, Mum! Bis Sonntag!«

Finley umarmt mich und sieht zu mir auf. Ich küsse ihn auf die Stirn und drücke ihn an mich, bis er aufjault und sich losmacht. Eloise tritt an seine Stelle, auch sie bekommt einen Kuss, und ich winke ihnen hinterher. Der Land Rover stößt langsam aus der Einfahrt zurück auf die Straße, und in dem Moment erscheinen Brenda und Barbara am Tor. Sie bleiben kurz stehen und winken, dann kommen sie zu mir herauf. Brenda hat eine Flasche Cava dabei, Barbara eine Kuchenschachtel, und ich hoffe doch sehr, dass da ihre göttlichen Schokoladen-Brownies drin sind.

»’n Abend! Brownies!«, sagt sie.

»Jaaa!«, sage ich. »Du enttäuschst mich nie! Kommt herein, kommt herein.«

Ich schließe die Tür, wir gehen in die Küche, und die beiden reden gleichzeitig.

»Ich könnte schon ein Glas Pritzel vertragen, Brenda. Mach die Flasche auf!«

»Ich sterbe vor Hunger. Was sollen wir heute bestellen? Oh, Beth, der King’s Head veranstaltet im nächsten Monat wöchentlich einen Quizabend, hast du davon gehört? Da müssen die Busy Bees mitmachen. Da werden wir glänzen, meinst du nicht?«

Ich lache, öffne den Schrank, hole drei Gläser heraus und befreie Barbara von ihren Brownies. Die Schachtel ist noch warm, und der Duft lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen.

»Indisch? Ist mir egal. Sollen wir sofort was bestellen? Ich habe auch Hunger. Und ja, ein Pub-Quiz klingt super. Ich habe so was seit Jahren nicht mehr mitgemacht. Aber das mit dem Busy-Bees-Team passt, wenn Robin auf die Kinder aufpasst.«

Brenda hat uns die »Busy Bees« getauft – Beth, Barbara, Brenda –, da kannten wir uns noch nicht lange. Barbara wohnt im Haus rechts von mir, von der Straße aus gesehen, Brenda links. Beide sind ein bisschen älter als ich. Viele meiner Freundinnen sind älter, doch das stört mich nicht im Geringsten, so sehr manch einer, nehme ich an, einen tieferen psychologischen Grund dahinter vermuten mag, dass ich mich eher zu Frauen im Alter meiner verschwundenen Mutter hingezogen fühle. Beide sind Single, und wir haben uns, würde ich sagen, gesucht und gefunden. Beide sind gutherzig, haben gern Spaß, und unsere regelmäßigen Treffen sind immer großartig. Uns gehören drei der insgesamt acht Häuser von The Acre, der neuen Siedlung am Ende der Prestbury High Street, wohin ich nach der Trennung von Jacob gezogen bin. Unser gemeinsames Haus auf der anderen Seite der Stadt habe ich nach der Trennung verkauft. Brenda ist gerade mal drei Wochen nach mir hergezogen, Barbara einen weiteren Monat später, und so sind wir jetzt alle etwa ein Jahr hier, und ich liebe es. Das Haus ist geräumig, hell und ultramodern, hat neben der zum Wohnraum hin offenen Küche noch vier Zimmer, eine elegante befestigte Zufahrt und einen kleinen Garten nach Süden hin. Für mich und meine Kinder ist es perfekt. Prestbury ist ebenfalls super. Es sind ungefähr drei Kilometer bis nach Cheltenham hinein, und zur Arbeit ist es auch nicht weit. Wir haben einen Mini-Supermarkt, ein paar Friseursalons, drei Pubs und natürlich die weltberühmte Rennbahn ein Stück die Straße hinunter.

Ich lächele, während es sich meine Freundinnen auf den Barhockern an der Kücheninsel bequem machen und mit dem Cava anstoßen. Brenda wird dieses Jahr sechzig. Sie trägt ihr Markenzeichen, eine knallrote Brille, und ihr graublondes Haar ist modisch kurz geschnitten, mit einem langen Pony über der Stirn. Sie führt eine Boutique in The Suffolks, einem schicken Stadtviertel. Es ist einer der eleganten kleinen Läden voll mit Kaschmirtüchern und fließenden Seidenkleidern, wirklich schön, aber nicht ganz meine Preisklasse. Barbara will mit ihrem Alter nie ganz heraus, aber ich glaube, sie ist etwas jünger als Brenda. Sie ist ein Althippie mit langem, rotem Haar, liebt weite, selbstgestrickte Pullover und gibt Strickkurse im Bildungszentrum für Erwachsene in der Innenstadt. Sie droht regelmäßig damit, mich mit Nadeln auszustatten und mir ein paar Gratisstunden zu geben, bisher habe ich es jedoch abwenden können. Ihre Pullover sind allerdings toll. Sie trägt auch heute einen, hellgelb mit einem blauen Zickzack-Muster um den Halsausschnitt, dazu einen langen Jeansrock. Ich habe meine schwarzen Samtjogger an, dazu ein passendes Hoodie und das schulterlange blonde Haar zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zurückgebunden. Stilmäßig passen wir als Trio nicht zusammen, doch das stört uns nicht. Im Gegenteil, es sind die Unterschiede, die uns aneinander interessieren, wie Brenda mal ganz richtig bemerkt hat.

Wir bestellen etwas Indisches, trinken Cava und bringen uns, während wir auf das Essen warten, auf den neusten Stand. Wobei ich nicht viel beizusteuern habe, es war einfach nur wieder eine heiße Woche in der Praxis, Eloise hat eine Hauptrolle im Oster-Theaterstück ihrer Schule bekommen, und Finley hat es wieder mal geschafft, aus einem Baum im Pittville Park zu fallen, sich diesmal aber nichts gebrochen. Brenda hat sich offenbar erfolgreich der Annäherungsversuche eines Verehrers erwehrt, eines Mannes in seinen Siebzigern, der seit einiger Zeit immer wieder, zuletzt fast täglich in die Boutique gekommen ist, mit Rosen und dem Angebot, sie zu Jazzkonzerten mitzunehmen (»Ich meine, zunächst mal ist er zu alt, und dann mag ich keinen Jazz. Warum denkt er, dass ich Jazz mag? Für mich ist das einfach nur Lärm«, sagt sie). Barbara überlegt neuerdings, ob es eine gute Idee wäre, sich einen Hund anzuschaffen, und wenn, welche Vorzüge ein Pudel hätte (»die sind echt clever, sie haaren nicht, und man muss offenbar auch nicht zu viel mit ihnen raus«) oder ein Mops (»so einer bleibt, glaube ich, gerne drinnen und hätte nichts dagegen, wenn ich im Haus sitze und stricke. Allerdings schnarchen sie manchmal, und ich bin nicht sicher, ob ich damit klarkäme. Es würde mich an meinen Ex erinnern …«).

Brenda ist gerade mitten in einer Geschichte über eine Kundin, die eine Palazzo-Hose zurückgeben wollte, von der sie behauptete, sie würde nicht passen, die aber eindeutig getragen war (»sie hatte einen schlimmen Fleck und stank nach Zigaretten, ich meine, ernsthaft …«), als das Telefon klingelt.

»Wahrscheinlich das Curry. Warum finden die uns nie?«, sage ich, rutsche von meinem Hocker und gehe in den Wohnbereich hinüber, wo das Telefon steht.

»Hallo«, sage ich aufgekratzt. Nach zwei Gläsern Cava auf nüchternen Magen spüre ich den Alkohol schon ein bisschen. Ein, zwei Sekunden höre ich nichts, dann sagt eine männliche Stimme: »Hi. Sind Sie Beth Holland?«

»Ja.«

Ich verdrehe die Augen und warte auf das Unvermeidliche: Ich versuche Ihr Haus zu finden. Können Sie mir sagen, wo genau in Prestbury das ist, bitte? Stattdessen herrscht wieder einen Moment Stille, dann: »Früher Beth Armstrong?«

»Ja«, antworte ich automatisch und halte dann inne. Warum um alles in der Welt fragt mich ein Kurier nach meinem Mädchennamen?

»Warum wollen Sie das wissen? Wer ist da?«, frage ich mit scharfer Stimme.

Wieder ein paar Sekunden nichts, dann wird die Verbindung unterbrochen. Das Freizeichen schallt mir ins Ohr. Ich lege auf und starre das Telefon an.

»Was ist? Haben die sich wieder verfahren?«, ruft Barbara.

Ich gehe langsam zurück und lege die Stirn in Falten.

»Nein, das war nicht das Essen. Ich weiß nicht, wer es war. Irgendwie komisch …«

»Komisch? Wie meinst du das?«, fragt Brenda.

»Also, da hat mich einer gefragt, ob ich Beth Holland bin und mein Mädchenname Armstrong ist. Und als ich ja gesagt habe – fragt mich nicht, warum, liegt wahrscheinlich an dem Zeugs hier«, ich hebe mein Glas an, »als ich ja gesagt habe, hat er einfach aufgelegt.«

»Hmmm. Das ist wirklich komisch«, sagt Barbara. »Ich frage mich …«

In dem Moment klingelt es an der Tür, und meine Freundinnen stoßen einen Freudenschrei aus.

»Das Curry! Jaaa!«

»Ich gehe«, sagt Brenda. Sie springt vom Hocker, und Barbara fragt: »Soll ich die Teller holen?«

Die beiden haben den Anruf offenbar schon vergessen, und ich lächle und versuche mein Unwohlsein herunterzuschlucken.

»Ja, hol du die Teller. Du weißt, wo sie sind. Ich kümmere mich um das Besteck.«

Ich stehe auf, gehe zur Besteckschublade, und in meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken.

Wer war das? Warum hat er das gefragt und dann gleich aufgelegt? Was wollte er? Aber … da draußen gibt es reichlich Organisationen und Institutionen, die meinen Mädchennamen kennen, oder? Meine Bank, meine Autorversicherung, die Kreditkartenleute … wahrscheinlich ist es nichts Besorgniserregendes? Eher der Werbeanruf von einem, der mir eine Zusatzversicherung oder so was verkaufen wollte und dann aus der Leitung geflogen ist? Es ist nur, dass …

Ich nehme Messer und Gabeln, drehe mich um und sehe Brenda mit einer großen braunen Papiertüte zurück in die Küche kommen. Schon umfängt mich ein köstliches Aroma.

»Das riecht unglaublich. Lasst uns essen!«, sagt sie.

Ich lächle und nicke, doch mein Magen verkrampft sich. Mir ist die Lust aufs Essen vergangen, die Angst steigt wieder in mir hoch. Gut, vielleicht zähle ich eins und zwei zusammen und komme auf siebzehn, vielleicht gibt es eine absolut unverfängliche Erklärung für den Anruf. Aber mir wird das alles zu viel. Während sich meine Freundinnen unterhalten und das Essen verteilen, atme ich tief durch und versuche, mich wieder in den Griff zu bekommen. Es ist schwer. Meine Angst kocht höher und höher und droht mich zu überwältigen, meine Angst, dass sie den Kopf erneut hebt, diese Sache, an die ich nie zu denken, die ich so weit wie möglich in den Tiefen meines Bewusstseins zu verstecken versuche. Ich fange langsam an zu glauben, dass ich doch nicht paranoid bin.

Ich fange an zu glauben, dass mir am Ende, nach all den Jahren, jemand zu Leibe rückt.

Jemand, der weiß, was ich getan habe.

Kapitel fünf

Knarz, knarz, knarz.

Ich höre dieses Geräusch und weiß sofort, dass ich es träume. Ich träume einen Traum, den ich schon viele, viele Male geträumt habe.

Keinen normalen Traum. Einen Alptraum.

Ich weiß, dass es einer ist, nichts anderes, nicht die Wirklichkeit, trotzdem komme ich nicht aus ihm heraus. Ich habe ihn noch nie aufhalten und einfach aufwachen können, wenn er erst einmal angefangen hat.

Und so stehe ich im Zwielicht unter den alten Holzbalken und lausche diesem Geräusch.

Knarz, knarz, knarz.

Es ist kalt im Schlafzimmer, und mein Atem hängt wie ein Bausch gespenstischer Zuckerwatte vor mir in der Luft. Aber mir ist nicht kalt, ich schwitze. Meine Achseln sind nass, und die Panik steigt in mir auf. Das Herz hämmert schmerzhaft in meiner Brust.

Und doch weiß ich, dass das alles nicht so ist, dass ich nicht wirklich in diesem Raum bin.

Ich war nie in ihm, obwohl ich ihn doch bis ins schrecklichste, kleinste Detail vor mir sehe.

Und ich tue, was ich jedes Mal tue. Ich sage mir, dass alles gut ist, ich in einer Minute aufwache und das alles nicht wirklich geschieht.

Dass es nie geschehen ist.

Und einen Moment lang, zwei, drei Momente, glaube ich es, und Wellen der Erleichterung überkommen mich. Mein Puls geht herunter, meine Muskeln beginnen sich zu entspannen, und der Schweiß auf meiner Haut fängt an zu trocknen. Doch es ist nicht von Dauer.

Weil ich aufwache.

Und wenn ich dann in der Dunkelheit liege, erinnere ich mich, langsam und qualvoll.

Und mir wird bewusst, dass der Traum die Wirklichkeit war.

Es war der Abend, der alles verändert hat.

Jede Wahl, die wir im Leben treffen, hat ihre Folgen.

Kapitel sechs

»Gehen wir bis hoch zum Baum und drehen dann um, einverstanden?«

Es ist zehn Uhr morgens, Samstag, und ich bin mit Ruth und Deborah aus der Praxis auf dem Cleeve Hill. Wir machen das am Wochenende, morgens, wenn auch nicht ganz regelmäßig. Es ist einer meiner wenigen Versuche, mich zu etwas Sportähnlichem aufzuraffen. Wir gehen dann ziemlich flott den Berg hinauf, Cleeve Hill ist der höchste Punkt der Cotswolds, und genehmigen uns anschließend auf dem Weg zurück in dem kleinen Hotel am Fuß des Berges Kaffee und Kuchen (zur Stärkung – womit wir den positiven Effekt der Übung wahrscheinlich gleich wieder zunichtemachen). Trotzdem, Cleeve Hill ist so etwas wie mein Glücksort, der Ausblick ist atemberaubend, tausend Morgen Kalkstein und Gras, durchzogen von Fußwegen. Es ist Gemeindeland, während der Weidezeit von Hunderten Schafen und Kühen besetzt, aber jetzt, Anfang März, gibt es nur Spaziergänger, Hunde, Jogger und gelegentlich auch ein Mountainbike oder ein Pferd. Wir nehmen immer wieder andere Routen, wir drei, bei unseren Wochenendgängen, enden aber meist am Einsamen Baum. Manche nennen ihn auch die Single-Buche, mir gefällt die Bezeichnung »Einsamer Baum« jedoch besser, denn das ist er wirklich. Eine alleinstehende, leicht verdrehte, windgebeugte Buche, der höchststehende Baum in Gloucestershire, umgeben von einer Mauer mit Gedenktafeln für die, die diesen Berg einmal geliebt haben.

»Wer zuerst oben ist!«

Deborah rennt los, ihre langen Beine fliegen über das struppige Gras, und Ruth und ich verdrehen die Augen und folgen ihr etwas geruhsamer. Es ist steil, und wenn ich ehrlich bin, habe ich von gestern Abend noch einen kleinen Kater, ein bisschen zu viel Cava, aber ich beiße die Zähne zusammen. Ich habe in letzter Zeit ein paar Pfund zugelegt. Meine Jeans kneifen, und ich weiß, ich brauche die Bewegung, für mein äußeres wie für mein inneres Gleichgewicht. Im Übrigen hilft mir die Anstrengung, die nagende Angst und Unruhe von gestern Abend zu vergessen, genau wie die Alpträume in der Frühe. Die Luft ist frostig, seit einer Viertelstunde laufen wir bergauf, und ich schwitze, mir ist viel zu warm in meiner alten blauen Daunenjacke.

»Puuuh!«

Endlich kommen auch Ruth und ich am Baum an. Deborah wartet selbstzufrieden auf uns. Wir machen ein paar Minuten Pause und lesen einige der Gedenktafeln.

1950-2018

John Evans, der hier 25 Jahre mit seinem Hund spazieren ging.

Ich werde dich immer lieben, nie vergessen.

In liebendem Gedenken an Ellen McDuff, 1944-2016

Auf ewig hier, genieße den Ausblick.

»Ich möchte eines Tages auch mal so eine. Merkst du dir das, Ruth? Du bist die am besten Organisierte von uns«, sage ich.

»Was soll drauf stehen? In Erinnerung an Beth Holland, die auf diesem Berg ihrem Kater davongelaufen ist und ihren Kuchenkonsum damit entschuldigt hat?«, fragt Deborah, und wir prusten vor Lachen.

»So was in der Art«, sage ich. »Kommt, setzen wir uns etwas hin.«

Es steht eine Bank in der Nähe, auf der wir uns niederlassen. Kurz herrscht Schweigen, während wir die Aussicht genießen.

»Es wird regnen, doch das dauert noch«, sagt Ruth. Sie hat recht. In der Ferne sammeln sich dunkle Wolken, aber der Himmel über uns ist noch klar und babyblau.

»Wie war’s gestern Abend? Hattest du Spaß mit den Bees?«, fragt Deborah. Für den Aufstieg hat sie ihren schulterlangen Bob zu einem winzigen Pferdeschwanz hochgebunden, jetzt zieht das Haarband herunter und lässt die Haare um ihr Gesicht schwingen.

»Ja, war nett«, sage ich. Abgesehen von dem Anruf, denke ich, sage es aber nicht.

»Wir sollten bald mal zu fünft was unternehmen. Einen Frauenabend. Was meint ihr?«, füge ich hinzu.

»Aber klar«, sagt Deborah, und Ruth nickt.

»Das wäre super.«

Es macht mich glücklich, dass sich meine Freundinnen so gut verstehen. Deborah und Ruth waren bei meiner Einweihungsparty ein paar Monate nach meinem Einzug in Prestbury, als alles mehr oder minder fertig eingerichtet war und ich das Gefühl hatte, es sei präsentabel. Natürlich hatte ich meinen direkten Nachbarinnen auch eine Einladung in den Briefkasten geworfen, vor allem, weil ich nicht unhöflich sein wollte. Mit Brenda hatte ich auf der Straße schon ein paar Worte gewechselt, Barbara war erst knapp zwei Wochen vorher eingezogen. An dem Abend haben wir uns bereits wie alte Freundinnen unterhalten und noch lange, nachdem alle anderen gegangen waren, zu fünft um meine Kücheninsel gesessen, Wein getrunken, den letzten Käse und die verbliebenen Cracker verputzt und gelacht, bis uns die Bäuche wehtaten.

Vielleicht ist es etwas merkwürdig, dass meine besten Freundinnen alle zwanzig Jahre älter sind als ich, aber so ist es nun mal. Ich habe natürlich auch jüngere, von der Uni zumeist, obwohl wir weitgehend den Kontakt verloren haben, da es uns beruflich und familiär in alle Winde zerstreut hat. Und dann gibt es »Mum«-Freundinnen, die Eltern der Schulfreundinnen und -freunde meiner Kinder, dazu einige wenige »Paar«-Freundinnen aus der Zeit, als Jacob und ich noch zusammen waren. Aber das sind alles eher Bekannte, würde ich sagen. Wir treffen uns auf einen Kaffee, bereden, was zu bereden ist, wenn unsere Kinder mal gemeinsam hier oder da übernachten wollen, tauschen uns über Schulangelegenheiten aus, gehen schon mal zusammen essen oder ins Kino, aber ich habe nie das Gefühl, mit ihnen über die wirklich wichtigen Dinge reden zu können. Ich denke, dass ich all die Jahre Jacob dafür hatte, meine Jugendliebe, meinen Mann und besten Freund. Sonst brauchte ich niemanden. Als meine Ehe dann in die Brüche ging, waren es Ruth und Deborah, die mich retteten, unter ihre mütterlichen Fittiche nahmen und mir halfen, mein Leben neu zu ordnen. Beide sind verheiratet, Ruth bereits zum zweiten Mal, nachdem ihr erster Mann jung gestorben ist. Deborah ist eine »Spätzünderin«, wie sie sagt, und hat ihren Seelenverwandten erst mit fünfundvierzig getroffen. Sie hat keine Kinder, Ruth einen dreißigjährigen Sohn, der in Kanada lebt. Wir drei waren vor meiner Trennung bereits befreundet, beide sind nicht lange nach mir in die Praxis gekommen, und wir haben uns von Beginn an bestens verstanden. Während jener langen, traurigen Monate dann wurden sie für mich fast so etwas wie Ersatzmütter, waren mit Umarmungen und Rat bei der Hand (und gelegentlich auch mit Kuchen und Wein) und dabei unendlich geduldig und warmherzig.

Brenda und Barbara haben mich dagegen erst kennengelernt, als das Schlimmste vorüber war. Beide sind super nett und kommen gerne auch kurzfristig herüber, um auf die Kinder aufzupassen, wenn ich plötzlich weg muss, obwohl sie doch beide keine Mütter sind. Brenda hat mir bei einem gemütlichen Sonntagsessen im letzten Sommer mal anvertraut, dass sie und ihr verstorbener Mann keine Kinder bekommen konnten, wobei ich nie den Eindruck gehabt habe, dass das ein Grund für große Traurigkeit in ihrem Leben war, sondern eher etwas, das sie akzeptiert und hinter sich gelassen hatte. Barbara hatte wohl einige längere Beziehungen mit Frauen, hat aber nie geheiratet und nur mit den Schultern gezuckt, als ich sie gefragt habe, ob sie je Kinder wollte.

»Das war nie so ein Ding für mich, nein. Und es schien so kompliziert, für zwei Frauen? Ich meine, sicher, heute gibt es da Möglichkeiten, aber weißt du … Ich hab da kein Problem.« Sie lächelte.

»Wie geht es Robin?«, fragt Ruth jetzt. »Keine … komischen Vorfälle mehr?«

»Alles bestens«, sage ich. »Nein, nichts Komisches mehr. Ich habe da womöglich zu viel hineingelesen. Sie ist unbezahlbar, um ehrlich zu sein. Ich weiß nicht, was ich ohne sie machen würde.«

»Gut. Und hoffen wir, dass es dazu nicht kommt«, sagt Ruth. »Also dann, gehen wir zurück? Ich brauche einen Kaffee.«

Wir stehen auf und machen uns an den Abstieg auf dem gewundenen Pfad, der uns zu unseren Autos bringt. Ruth und Deborah sprechen über etwas in der Praxis, ich klinke mich aus, und meine Gedanken wandern zurück zu den »komischen Vorfällen«, die Ruth angesprochen hat. Ein paar Monate nachdem Robin bei uns angefangen hatte, war ich morgens schon halb im Büro, als mir einfiel, dass ich einige Unterlagen zu Hause gelassen hatte, die ich übers Wochenende hatte durchsehen müssen, und so drehte ich noch mal um. Ich stürmte die Treppe zu meinem Schlafzimmer hoch, das mir mit dem kleinen Schreibtisch, der perfekt in die Nische beim Fenster passt, auch als Home Office dient. Außer Atem kam ich durch die Tür und sah Robin mit ihren Kopfhörern – sie hört beim Putzen gerne Musik – an meinem Schreibtisch stehen und in meinen Unterlagen blättern. Als ich ihr auf die Schulter klopfte, zuckte sie so heftig zusammen und fuhr zu mir herum, dass sie mich beinahe umgestoßen hätte. Ich stolperte zurück.

»Beth! Oh … tut mir leid. Ich war gerade am Aufräumen … Ist alles in Ordnung?«

Sie zog sich den Kopfhörer herunter und gestikulierte mit den Papieren in meine Richtung. Ihre Wangen glühten, und sie legte die Papiere zurück.

»Tut mir leid«, sagte sie wieder. »Ich … Ich hab nicht …«

»Ist schon gut, Robin. Entschuldige, dass ich dich so erschreckt habe. Ich bin noch mal hergekommen, weil ich ein paar Unterlagen vergessen habe, die ich heute brauche«, sagte ich.

»Oh! Verstehe, nun … Ich lass dich lieber machen, ich bin hier sowieso so gut wie fertig«, sagte sie, nahm Staubwedel und Reiniger und huschte aus dem Raum.