Ein Polizist auf weiter Flur - Daniel Grob - E-Book

Ein Polizist auf weiter Flur E-Book

Daniel Grob

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Beschreibung

Konrad Bühler ist der erste Polizist in einer Kleinstadt im Mittelland in den siebziger Jahren. Die Bewohner müssen sich noch an ihn und seine Funktion gewöhnen. Und kaum hat er seinen Posten angetreten, taucht eine Seuche auf: die Tollwut! Sie verunsichert die Menschen, und Bühler wird bedroht und mit nächtlichen Telefonanrufen terrorisiert, weil er kranke Tier von ihrem Leiden erlösen muss, um die Bevölkerung zu schützen. Der Polizist, der eigentlich gerne Bauer geworden wäre, führt seinen Auftrag trotzdem gewissenhaft und mit grosser Achtung vor Menschen und Tieren weiter, bis er beinahe daran zerbricht. Neben der Ignoranz der Mächtigen, Unwissenheit und aufgewiegeltem Hass macht ihm vor allem der arrogante Tierarzt Doktor Ludwig zu schaffen, der alles tut, um den Polizisten kaltzustellen.

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Inhalt

Cover

Impressum

Titel

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Über den Autor

Über das Buch

DANIEL GROB

EIN POLIZIST AUF WEITER FLUR

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

© 2022 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, BaselAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Angelia SchwallerKorrektorat: Jonas Gygax

Daniel Grob

EIN POLIZIST AUF WEITER FLUR

Roman

Nur was mit Herz, Verstand undGefühl getan wird, ist gut getan.

1

Bühler blieb im Schatten der grossen Linde stehen, die den Kiesplatz vor der Fabrikanten-Villa ausfüllte. Er hob den Kopf ein wenig und schnupperte: Es war viel zu warm für die Jahreszeit. Ostern schneite es noch dicke, nasse Flocken, aber nun war es seit einigen Tagen fast sommerlich heiss, und das Grün der Bäume explodierte förmlich.

Auch die Linde stand schon voll im Laub, und Bühler spähte in die Äste hinauf: Man konnte bereits die Ansätze der Blüten erkennen. Oben, in den Hügeln der Voralpen, wo der kleine Hof lag, den er hätte übernehmen wollen vom Vater seiner Frau, dort war der Frühling wohl noch nicht so weit gediehen, dort würden die Linden unten an der Hecke, die man vom Küchenfenster aus das ganze Jahr im Blick hatte, erst einen grünen Schimmer zeigen. Aber der Duft des Frühlings war dort intensiver, weil der Schnee erst gerade verschwunden war und der Boden noch seine Nässe atmete.

Trotzdem wäre er lieber dort gewesen jetzt, er war und blieb ein Bauer, und die Uniform, in die man ihn gesteckt hatte, konnte es nicht verbergen. Aber wäre es gut gegangen? All die Jahre als Knecht des Schwiegervaters? Er schüttelte unmerklich den Kopf: Nein. Er hätte auch die Jahre in der Zollschule und an der Grenze nicht missen mögen, die Nächte, in denen er den Tieren lauschte, so regungslos, dass zuweilen eine Eule auf seinem Hut landete. Nicht die Frühlingstage wie dieser, wenn er mit den Bauern des Dorfes an der Grenze über die Felder ging. Und eigentlich fühlte er sich auch in dieser kleinen Stadt, in der er nun der Polizist war, bereits recht heimisch. Sein Freund aus der Zollschule war hier seit einigen Jahren der Werkmeister und hatte ihn auf die ausgeschriebene Stelle aufmerksam gemacht. Bühler war der erste Ortspolizist im Städtchen, und die Menschen mussten sich noch an ihn und seine Aufgabe gewöhnen. Aber er kam ganz gut mit ihnen zurecht, denn er war geschickt im Umgang mit Leuten aller Art und aller Schichten. Nur die Seuche, die vor Kurzem das Land und auch die kleine Stadt erreicht hatte, machte alles ein wenig schwieriger.

Tollwut nannte man die Krankheit, und sie befiel vor allem die Tiere. Aber der Name sagte schon deutlich genug, was sie bewirkte, und manchmal griffen die wütenden Tiere auch Menschen an, und wenn einer gebissen wurde, war das auch für ihn gefährlich. Darum war er, Bühler, damit beauftragt, vorbeugend zu handeln, wie ihn der Amtsvorsteher in harmlos klingendem Amtsdeutsch anwies.

Bühler seufzte: In Wirklichkeit hiess das, dass er verdächtige Tiere töten musste. Er, der Bauer, der seine Tiere liebte, musste auf einen blossen Verdacht hin Katzen, Hunde oder auch Füchse und Rehe erschiessen! Der Polizist schüttelte sich, als ob er damit das Unangenehme loswerden könnte. Aber die zu grelle, zu heisse Sonne war nicht dazu angetan, die unguten Vorahnungen zu vertreiben. Noch einmal sog Bühler den Duft nach saftigem Grün und aufplatzenden Blüten ein.

«Träumst?», sagte da plötzlich eine Stimme ganz nahe.

Bühler zuckte zusammen. «Ach, da bist du ja», sagte er dann, als er Bamert, den Werkmeister der Stadt, erkannte.

Bühler war Bamert erstmals in der Zollschule begegnet. Zuerst war er ein Kollege wie alle andern in der Gruppe auch, aber dann war Bamert auf einem der anstrengenden Nachtmärsche plötzlich spurlos verschwunden. Der Leiter der Übung, die im Hochgebirge stattfand, nahm die Sache auf die leichte Schulter und meinte, dass der andere wohl aufgegeben habe und schon in der Unterkunft sei, wenn man zurückkomme, und er drohte ihm sogar mit Konsequenzen. Als man aber zurückkam, war Bamert auch dort nicht zu finden. Trotzdem wollte der Vorgesetzte bis zum nächsten Tag warten, um ihn allenfalls suchen zu gehen. Bühler war damit nicht einverstanden und machte sich mit zwei andern Kollegen von Bamert noch in derselben Nacht auf die Suche. Gegen Morgen hörten sie dann endlich schwache Rufe und erblickten schliesslich unter einer Felswand ein Feuerchen, an dem Bamert halb betäubt vor Schmerzen kauerte. Er war zum Glück damals schon ein Bär von einem Mann und überstand die kalte Nacht und auch die Verletzungen problemlos. Aber von da weg waren sie bedingungslos Freunde, und sie unterstützten sich nun auch in ihren neuen Aufgaben hier in der Stadt, wo es nur ging.

Bamert stellte sich neben Bühler und blickte ebenfalls an der Villa vorbei hinaus über die niedrigen, säuberlich gestutzten Buchshecklein auf das kleine Tal, in dem wie geduckte, massige Tiere die Gebäude der Fabrik hockten. Sie ertranken geradezu in der Flut von Grün, die vom Wald heranbrandete.

«Tut mir leid», sagte der Werkmeister, «ich musste noch kurz das Wichtigste für nächste Woche organisieren.»

«Keine Ursache», sagte Bühler, «ich war sowieso früher als erwartet hier – ich glaub, je älter er ist, desto schneller wird er», grinste er und wies auf den blauen VW-Käfer neben der Linde. Mittlerweile war das Auto stadtbekannt und auffälliger, als es ein Streifenwagen gewesen wäre.

«Nicht wie wir», lachte der Werkmeister, griff in die Brusttasche und zog eine flache, gelbe Schachtel heraus. «Willst eine?», fragte er und hielt dem Freund die geöffnete Schachtel hin. Bühler schüttelte den Kopf und zog seinerseits eine etwas dickere Schachtel aus der Brusttasche, die ebenfalls von einem satten Gelb war, auf der aber gross ein auffälliger Rosskopf prangte. Er klaubte einen der dicken Tabakstengel heraus, die Stumpen genannt wurden in der Gegend.

Der Werkmeister zündete derweil einen seiner dünnen, krummen Stengel an, der ebenfalls von dunklem Tabakbraun war. Der Polizist drehte seinen Stumpen sorgfältig in der Flamme, bis das Ende gleichmässig glühte, dann pafften sie schweigend, und die blaue Rauchwolke stieg in der unbewegten Wärme senkrecht hoch in die Linde.

«Also bei den Kosthäusern hast du den Rehbock gesehen, sagst du?», fragte Bühler schliesslich.

«Genau», nickte Bamert, «auf der Wiese zwischen den Kosthäusern und dem Wald, und mir schien sofort, dass etwas mit ihm nicht stimmt! Entschuldige, dass ich dich einfach so herbestellte, aber ich dachte, du müsstest Bescheid wissen.»

«Du hast es ganz richtig gemacht», sagte Bühler und seufzte, «das ist ja leider meine Aufgabe. Bei Wildtieren muss allerdings auch der Wildhüter dabei sein. Hast du Müller auch benachrichtigt?»

Bamert nickte: «Natürlich – er war sich aber nicht sicher, wann es ihm reicht. Wir sollen schon mal beginnen, hat er gesagt, hat noch irgendeine Sitzung.»

Bühler lächelte: «Nun, lange wird’s demnach nicht dauern, er hat’s wie wir: lieber draussen als in einem Sitzungszimmer!» Er schätzte den Wildhüter, der ihn wiederholt unterstützt hatte und der die gleichen Probleme hatte mit der Seuche wie er.

Bamert nickte und blies eine blaue Rauchwolke hoch: «Schön hier», sagte er.

Bühler blickte auf das kleine Tal hinaus. «Aber ungesund», meinte er, «diese plötzliche Wärme lässt alles viel zu schnell ins Laub und ins Kraut schiessen, dann wird’s nochmals kalt, wirst sehen, und das schnell Gewachsene ist dann nicht robust genug!»

«Der Bauer», lachte Bamert, «kannst es nicht lassen, was? Du hättest dem Heimet dort oben gutgetan, das ist sicher!» Er schlug Bühler kameradschaftlich auf die Schulter: «Aber unserem Städtchen tust du auch ganz gut! Du bist beliebt bei den Leuten, weisst du das?»

Bühlers Gesicht verdüsterte sich: «Nicht bei allen, Walti, nicht bei allen! Sie verstehen nicht, dass ich die kranken Tiere erlösen muss. Mörder, sagen sie! Verdammte Seuche.»

Bamert schüttelte den Kopf: «Das sind nur wenige, solche, die noch nie etwas begriffen haben und nur nachplappern, was ein Führer verkündet – kennen wir doch von irgendwoher, nicht wahr? Mach dir bloss nicht zu viele Gedanken.» Er zertrat den Stummel seines Krummen im Kies. «Komm, wir gehen schon mal», sagte er, «wenn’s länger dauere, hat Müller gesagt, komme er direkt zu den Kosthäusern.»

Bühler löschte seinen Stumpen sorgfältig auf dem Pfosten der Villenzufahrt aus und schnippte ihn dann zum Fuss des Lindenstammes hin: «Bisschen Tabak fördert das Wachstum», grinste er.

Der Werkmeister schüttelte den Kopf: «Du und deine Sprüche!»

2

Die Kosthäuser waren grosse, graue Kästen, die sehr in die Jahre gekommen waren. Man hatte sie für die Arbeiter der Fabrik gebaut, damals, als die Industrie aufblühte und mehr und mehr Menschen aus den Hügeln in ihre Maschinenhallen, Giessereien und Werkstätten holte. Damals waren die Wohnungen im Vergleich zu den kleinen, geduckten Bauernhäuschen hinten in den engen Tälchen grosszügig und modern gewesen. Heute jedoch waren sie veraltet und zudem auch vernachlässigt. Aber weiterhin wohnten Arbeiter darin, die in der Fabrik zumeist für die schmutzigen, lärmigen und gefährlichen Arbeiten gebraucht wurden. Nach den Hügelbauern hatten die Italiener dort ein bisschen lebenslustigen Süden hineingebracht, aber mittlerweile stammten immer mehr der Bewohner aus den armen, östlich der Adria gelegenen Gebieten.

Auf der zur Fabrik hin gelegenen Seite der Villa führte ein gewundener Fusspfad zur Strasse hinunter, an der die Kosthäuser lagen, über die das Haus auf dem Hügel hochmütig hinwegsah. Aber der Werkmeister deutete auf die andere Seite, wo ein Feldweg vom Kiesplatz aus über das Ackerland hin in den nahen Wald führte.

«Es ist besser, wenn wir vom Wald her auf die Wiese kommen», sagte Bamert, «sonst entwischt uns der Bock am Ende noch.»

«Du hast doch gesagt, dass er keine Fluchtreflexe gezeigt habe?», fragte Bühler.

«Das schon, aber wir haben ihn ja auch nur von Weitem gesehen. Wir waren drüben, ennet der Strasse auf der Fabrikseite an der Böschung dran.»

«Und ihr habt nur mit der Sense gemäht oder auch mit dem Mäher?»

«Wo denkst du hin! Die Sensen wären ja nicht weiter lärmig gewesen. Aber natürlich hatten wir auch den Mäher im Einsatz und sogar Motorsägen. Die verfluchte Wärme hat uns auf dem falschen Fuss erwischt. Eigentlich wollten wir das noch erledigen, bevor alles im Laub steht und auch, bevor das Gras zu hoch ist.»

«Und der Bock ist also trotz dem Lärm nicht abgehauen?», fragte Bühler nach.

Bamert schüttelte den Kopf: «Stand dort wie ausgestopft! Nur den Kopf hat er ab und zu gesenkt, aber nicht um zu äsen, mehr so, als wäre ihm das Heben des Kopfes zu anstrengend.»

Bühlers Gesicht verdüsterte sich erneut. Sie hatten nun den Waldrand schon hinter sich gelassen, und das zu grelle Licht zerfiel in eine angenehme Dämmerung. Wie in einer Kirche oder einer festlichen Säulenhalle standen die Stämme der grossen Tannen auf fast unbewachsenem braunem Nadelboden, und die Grasnarbe des Waldweges zog sich als giftgrüner Strich durch das Braun, als hätte ein surrealistischer Maler bewusst in zwei feindliche Farbtöpfe gegriffen.

«Hier müsste man mal durchforsten», sagte Bühler missbilligend, «man riecht ja den Tod förmlich!»

«Mit Wald kennst du dich auch aus?», fragte Bamert und zog die Brauen hoch.

«Natürlich», sagte Bühler, plötzlich eifrig, «drei grössere Waldstücke gehören doch auch zu unserem Heimet!»

Bamert runzelte fragend die Stirn.

Da erstarb Bühlers Eifer sofort: «Also ich meine: Sie gehören zum Heimet meines Schwiegervaters, und auch dort müsste man eben mal dahintergehen – aber davon versteht er halt auch nichts.»

Bamert war stehen geblieben: «Es ist ein Jammer», sagte er, «wenn man dich so reden hört ...»

Bühler winkte ab: «Nein, es hat keinen Zweck, Dingen nachzutrauern, die vorbei sind. Müssen wir hier rein?»

Bamert nickte: «Nur ein paar Meter, und schon wird’s zum Waldrand hin dichter.»

So war es auch. Zuerst gingen sie zügig auf dem toten, federnden Nadelteppich zwischen den Säulenstämmen hindurch, dann standen sie plötzlich vor einer dichten Wand aus Brombeeren und nahe zusammenstehenden, dünnen Stämmchen, die oben wie kleine Krönchen die ersten Blätter entfaltet hatten. Sie mussten erst einige Meter längs des Dickichts gehen, bis sie so etwas wie eine Lücke fanden. Nun wurde es unmöglich, geräuschlos vorwärtszukommen.

Bamert zuckte mit den Schultern: «Nun denn, wenn er abhauen will, dann sehen wir ihn immerhin.»

Bühler nickte: «Hoffen wir, dass er flieht, dann ist es vielleicht noch nicht so schlimm.»

Aber die Hoffnung zerbrach sofort, als sie kurz danach die letzten Ranken zu Boden drückten und vorsichtig zwischen den Büschen, die hier, an der Schattenseite des Waldes, nur kleine, grüne Knospen trugen, auf die Wiese hinausspähten. Das Gras war erst knöchelhoch gewachsen, es sah aber nun, anders als im Winter, bereits sattgrün und verlockend saftig aus. Mitten in dem wohligen Grün, auf halbem Weg zu den grauen Steinkästen im Hintergrund, stand der Rehbock bewegungslos da.

Zögernd zuerst und vorsichtig jedes Geräusch vermeidend traten die Männer sehr langsam auf die Wiese hinaus. Der Rehbock hielt den Kopf gesenkt, bewegungslos. Normalerweise wäre er längst mit grossen Sätzen zum Wald und ins Dickicht geflüchtet.

Bühler schüttelte den Kopf: «Du hattest recht, etwas stimmt nicht mit ihm! Aber endgültig beurteilen muss Müller das. Ob er schon da ist?»

Die Männer blieben stehen und schauten zu den grauen Häuserkästen hinüber.

Bühler kniff die Augen zusammen: «Jemand steht jedenfalls dort», sagte er.

Bamert nickte: «Ja, sieht so aus, aber ich kann nicht erkennen, ob es Müller ist, scheint mir nicht sein Mantel zu sein.»

Bühler rückte seinen Gürtel zurecht: «Na ja, vielleicht ist es auch die Hausmeisterin, die Meier! Gehn wir!» Die Männer setzten ihren Weg fort, machten aber trotz allem einen grossen Bogen um das Tier.

«Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste», meinte Bühler.

Bamert lachte: «Bei dir gibt’s für jede Situation ein treffendes Wort. Meinst du, die Hausmeisterin kann uns helfen?»

Bühler nickte: «Die weiss auf jeden Fall Bescheid, ist sowas wie die Zeitung dort.»

Bamert schüttelte den Kopf: «Du kennst aber auch überall Leute, so lange bist du doch noch gar nicht hier!»

«Ist meine Arbeit», sagte der Polizist, «aber in diesem Fall eher unerfreuliche.»

«Radau?», fragte Bamert.

Bühler nickte: «Immer wenn ihr Alter sich wieder hat volllaufen lassen.»

Er schaute zum Rehbock hinüber, dem sie für einen Moment recht nahekamen. Das Tier bewegte sich noch immer nicht.

«Sieht aus, als hätte er Schaum vor den Nüstern», flüsterte Bamert.

Bühlers Gesicht verdüsterte sich: «Ja, seh ich auch. Gefällt mir nicht, gefällt mir ganz und gar nicht!»

Sie verharrten einen Augenblick und gingen dann stumm weiter gegen dasjenige der Kosthäuser zu, das dem Wald am nächsten lag und vor dem die Gestalt stand.

In Bühlers Gedanken brodelte es. In solchen Momenten verfluchte er seinen Entschluss, den Zolldienst zu quittieren. Gewiss, es war auch dort viel Unerfreuliches gewesen, vor allem die ständigen Ortswechsel, wenn man ihn nach ein paar Jahren schon wieder an einen andern Posten verlegt hatte. Warum es immer ihn traf, wusste er nicht so genau, aber manchmal hatte er die ungute Vermutung, dass es mit seiner Dienstauffassung zusammenhing. Er war zu allen Menschen genau gleich, egal ob sie im dicken Auto oder mit dem klapprigen Mofa daherkamen, wie der Pfarrer aus dem Leimental, der jeweils in seinem lustigen Elsässer Dialekt drauflosschwatzte: «Güete Bonjour, i bi de Güüre vo Leime, was mues i für mis Bicyclettli für Zoll zahle?» Ja, der Pfarrer hatte jedes Mal gefragt, nicht wie andere, die immer irgendwo etwas mitführten, das nicht ganz koscher war, und jeweils dachten, dass er, der Zöllner, ein Auge zudrücken oder nicht ganz so genau hinschauen würde. Aber da waren sie bei ihm an der falschen Adresse! Vielleicht eben darum war er immer wieder verlegt worden, und das war kein Leben für eine Familie. Die Kinder konnten nicht Fuss fassen, und sie hatten es so schon schwer genug mit der Mutter, die immer noch um ihre beiden früh verlorenen Kinder trauerte und nicht mehr so richtig ins Leben zurückfand. Er seufzte. Nein, es war trotz allem besser gewesen, dass er hierhergekommen war.

Bamert warf einen scheuen Seitenblick auf seinen Freund. Er wusste, dass Bühler alles immer eher schwernahm, und er kannte ihn so gut, dass er ziemlich genau ahnte, woran der andere dachte. Er selbst war zwar auch kein Luftibus, wie man allzu sorglose Leute hier oft nannte. Dazu war seine Jugend nicht unbelastet genug gewesen. Der Vater arbeitete als Hilfsarbeiter auf dem Bau und die Mutter war manchmal tage- und vor allem nächtelang weg, ohne dass der kleine Walter ahnte, was sie tat und wo sie war.

Erst später, in der Schulzeit, begannen ihn seine Kameraden hintenherum deswegen zu hänseln und eindeutig zweideutig über seine Mutter zu spotten. Zuerst begriff er nicht, um was es ging. Seine Mutter sah doch immer sehr gepflegt aus, fand er, sie verströmte immer einen besonderen Duft, malte sich die Lippen rot und trug luftige und lustige Kleider. Bis er begriff, was sie in den Nächten, in denen sie nicht da war, in einer bestimmten Strasse in der nahen grossen Stadt trieb und woher das Geld kam, das trotz des mageren Löhnchens seines Vaters immer reichlich vorhanden war, bis er vollständig begriff, ging seine Schulzeit schon zu Ende. Als er in der Baufirma, in der sein Vater die Hilfsarbeiten erledigte, seine Lehre begann, zog er sofort zu Hause aus und nahm sich ein Zimmer. Und seither war er immer auf eigenen Füssen gestanden.

Erst während der Zollschule konnte er seine Verachtung für alle Frauen langsam ablegen, auch dank Bühler wohl, und kurz nachher war er einem Mädchen begegnet, das aus dem Nachbarland vor den Folgen des Krieges geflüchtet war und bei dem er endgültig seine Angst und seine Verachtung überwinden konnte. Mittlerweile verstand er seine Mutter besser, und dank seiner Vergangenheit verstand er es auch, mit der Schwermut seines Freundes umzugehen. Man konnte nicht viel machen, höchstens versuchen, den Freund abzulenken, ihn auf andere Gedanken zu bringen, ohne deshalb in krampfhafte Munterkeit zu verfallen.

«Na», sagte er, «immerhin haben wir mit Müller einen Wildhüter, der gut zu den Tieren schaut, das ist lange nicht selbstverständlich.»

Bühler stimmte zu: «Ja, es ist wirklich eine Freude, mit so jemandem zusammenzuarbeiten! Also, aber hier ist er tatsächlich nicht. Wie ich dachte: Es ist die Meier!» Er steuerte über den steinigen Vorplatz des Hausklotzes auf eine grosse, hagere Frau zu, die nasse Kleidungsstücke an Drähte hängte, die zwischen dem Haus und dem Schuppen dahinter gespannt waren.

3

«Guten Tag, Frau Meier», sagte Bühler und trat näher, «das ist mein Kollege, Werkmeister Bamert. Sagen Sie ...»

Ohne sich umzuwenden, unterbrach ihn die Frau: «Lassen Sie bloss den Willy in Ruhe!»

Bühler stutzte: Der Name sagte ihm nichts. Jedenfalls war damit nicht ihr Mann gemeint, der hiess Albert, das wusste Bühler sicher. Er blickte hilfsuchend zu Bamert hin, aber dann fiel ihm ein, dass der Werkmeister die Frau nicht kannte. Er trat ein wenig näher zur Wäsche hin: «Willy? Wer ist denn Willy?»

Jetzt drehte sich die Frau zu den Männern hin. Ihr Gesicht war ebenso mager wie ihre ganze Erscheinung. Unter dem Tuch, das sie um den Kopf geschlungen hatte, schaute eine fettige dunkelbraune Haarsträhne hervor. Nur die Augen brannten in dem Gesicht, aber Bamert dachte, dass es ein ungesundes Brennen sei, so fiebrig und krank, wie dieser falsche Sommertag und wie diese verfluchte Seuche. «Hören Sie», fuhr die Hausmeisterin mit einer brüchigen, verbrauchten, aber trotzdem unangenehm schrillen Stimme fort, «wir kennen uns, ja? Sie kommen nicht ohne Grund hierher, und mein Alter hat zwar um diese Tageszeit schon einiges intus, aber Radau macht er immer erst, wenn der Abendpegel erreicht ist – und ausserdem habe ich auch nicht angerufen. Also, warum sonst bemühen sich zwei städtische Beamte zu Leuten wie uns? Ich bin ja nicht blöde, ja? Und zudem hab ich die Gegend immer im Auge, kann hier unten nicht schaden, sag ich Ihnen, da können Sie sich was abschneiden davon, von meinem Wissen, was da alles herumspintisiert, schleicht und trippelt! Und natürlich seh ich schon längst, dass da zwei von der Stadtverwaltung aus dem Wald herausspazieren und dann auch noch beim Willy bisschen stehen bleiben, ich bin ja auch nicht blind!»

Bamerts Miene hellte sich auf: «Ach so, Willy, das ist der Rehbock da draussen!» Er musste sich ein Grinsen verkneifen und blickte auf Bühler, dessen Gesicht aber stattdessen noch düsterer geworden war.

«Wer hat ihm denn diesen Namen gegeben?», fragte der Polizist tonlos.

«Na, wer wohl?», giftete die Frau, «was denken Sie? Jedenfalls nicht einer dieser Politiker da oben», sie wies gegen die Hangkante hinauf, hinter der die Villa des Fabrikbesitzers und noch weiter dahinter die Stadt lag, «und auch nicht der liebe Gott! Wir hier haben ihm den Namen gegeben, wir sind nämlich auch Menschen, und wir haben die Tiere gern! Wir sehen viele Waldtiere hier unten, aber so zahm wie der Willy war noch keines. Wir können ihn sogar streicheln, nämlich, den Willy!»

Bühler erschrak und seine Besorgnis wuchs. «Streicheln? Sagen Sie bloss nicht, dass Sie den Rehbock gestreichelt haben!»

«Warum nicht?», die Stimme der Frau wurde noch stechiger, «ist das verboten? Wir streicheln ihn alle ab und zu, auch die Miriam aus dem Dritten!» Sie deutete auf eine blasse, kleine Gestalt, die an der Hausecke stand und sofort dahinter verschwand, als die Hausmeisterin hinzeigte.

«Er ist nämlich unser Maskottchen! Und ich sagte ja, wir haben die Tiere gern und die spüren das. Und darum hat jetzt Miriam auch endlich ein Kätzchen gekriegt, obwohl ihr Vater dagegen war. Nun haust es halt bei mir, und Miriam auch, so oft sie kann. Mein Albert hat nichts dagegen, solange die Katze ihm nicht das Bier wegsäuft!» Sie lachte ein unfrohes, meckerndes Lachen. Danach kam aber sogleich eine Traurigkeit in ihr mageres Gesicht.

«Ja?», fragte Bühler nur und schaute fest in die brennenden Augen.

Die Hausmeisterin wandte den Kopf ab und murrte trotzig.

In diesem Augenblick hörte man von der Hausecke her, an der das Mädchen vorher gestanden hatte, eine spitze, näselnde Stimme: «Na, du Heulsuse, hör bloss auf zu flennen! Spürt ’n bisschen den Frühling, dein Katzenfräulein! Wird nicht grad dran sterben, die haben ja sieben Leben, die Viecher!» An der dünnen Mädchengestalt vorbei stakste nun ein elegant gekleideter Mann heran.

«Hoppla», sagte Bamert, «der Tierdoktor, hier draussen?» Er nickte ihm zu: «Tag, Herr Ludwig!»

Der andere musterte den Werkmeister und schwieg.

Bühler wurde unruhig: Warum war Ludwig hier? Doktor Ludwig war der Amtstierarzt, und nicht nur was die Seuche betraf, hatten sie beide das Heu nicht auf der gleichen Bühne, wie er selbst jeweils seine Abneigung umschrieb. Sie waren sowohl von der Herkunft als auch von der Stellung in der Stadt her zu verschieden. Der Polizist misstraute zudem den Leuten, die das Leben nur von der Schulbank her kannten, aus den Hörsälen der Universitäten kamen und mit einem goldenen Löffel im Mund geboren waren, wie man droben im Dorf von den Söhnen und Töchtern der Wohlhabenden und Alteingesessenen sagte. Er kam sich gegenüber solchen Leuten immer linkisch und ungeschickt vor und fühlte sich sofort von oben herab behandelt. Bamert schüttelte über diese Haltung seines Freundes immer wieder den Kopf.

«Du hast doch gar keinen Grund dazu», hatte er ihm immer und immer wieder versichert. «Die atmen dieselbe Luft wie wir», pflegte er zu sagen, «und du brauchst dich sowieso nicht zu verstecken, da könnte sich mancher von denen ein Stück von deinem Wissen abschneiden, das ist mal sicher!»

«Tun sie aber nicht», sagte Bühler jeweils trotzig, und er konnte nicht verhindern, dass er sofort wortkarg und mürrisch wurde. Kein Wunder, dass dann seine Erfahrungen mit ihnen auch meistens negativ waren.

«Nur nicht zu viel Respekt!», lachte Bamert immer, und er begrüsste darum den Tierarzt auch nie mit seinem Titel, «wir haben alle unsere Stärken und Schwächen, du denkst zu sehr schwarz-weiss!»

Trotzdem brauchte Bühler bei den Studierten, wie er sie nannte, immer länger als bei den gewöhnlichen Leuten, bis er auftaute und Verständnis oder sogar Sympathie aufbrachte. Und beim Tierdoktor war es besonders schwierig, weil Doktor Ludwig seinen Titel und seine Herkunft ziemlich aufdringlich betonte, sowohl bei der Kleidung als auch beim Benehmen. Zudem sah er auch noch gut aus, sodass sich die Frauen förmlich um ihn rissen, so jedenfalls hatte es Bühler bei einigen Einsätzen im Umfeld des Doktors, bei denen er gesetzliche Regeln durchsetzen musste, unangenehm erfahren. Bamert hatte ihm auf die Schulter geklopft: «Du nimmst es dir zu sehr zu Herzen», sagte er, «es ist doch ein Armutszeugnis, wenn einer seine Stellung und seinen Titel dermassen betonen muss.»

Der Tierdoktor hatte seine Musterung beendet und nickte knapp: «Tag, Herr Bamert», und wandte sich dann der Hausmeisterin zu.

Bühler merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Wieder einmal hatte er den richtigen Moment verpasst. «Tag, Herr Doktor», würgte er mühsam hervor, aber der andere wandte nicht mal mehr den Kopf.

«Alles in Ordnung, Frau – äh – Meier», sagte Ludwig, «es ist nur der Frühling, Sie wissen ja wohl, was ich meine, nicht wie das Gör da drüben.»

«Also ich weiss nicht», murrte die Hausmeisterin, «ich kenne doch die Tiere, ich weiss nicht, ob der Frühling ... es geht um die Katze von Miriam», wandte sie sich erklärend an Bühler, «sie schien mir in letzter Zeit seltsam, frass kaum noch, aber soff Wasser wie ein verdurstender Gaul. Da hab ich halt Doktor Ludwig angerufen, obwohl mein Alter gemault hat, dass es hinausgeworfenes Geld sei, bloss für eine Katze!»

«Also», sagte Ludwig schon halb im Gehen, «es ist nichts weiter, auch wenn manche Leute heute überall Gespenster und Seuchen sehen wollen!» Er fixierte kurz Bühler, «Rechnung kommt per Post», fügte er an, wandte sich dann brüsk um und eilte mit wippenden Schritten um die Ecke.

Es war nicht sicher, ob man überhaupt noch einen Abschiedsgruss gehört hatte, wenn, dann war es nur ein verächtlich knappes ’n Tag noch gewesen. Aber sein elastischer Abgang wurde unerwartet gestört, denn gerade als er um die Ecke bog, kam ihm ein kleiner, gedrungener Mann in einem fast bodenlangen, schwarzen Ledermantel und einem breitrandigen dunklen Hut entgegen, sodass der Doktor mit einem hastigen Schritt zur Seite ausweichen musste und dabei in den matschigen Frühlingsrasen geriet. Der Mann im Ledermantel sagte etwas, lachte und streckte dem andern die Hand entgegen. Nach einem kurzen Zögern ergriff sie der Doktor, und der andere zog ihn auf den Weg zurück. Der Dank von Ludwig wirkte etwas gezwungen, das sah man selbst aus der Distanz, und hastig verschwand er um die Hausecke.

Der kleine, rundliche Mann schaute ihm noch einen Moment lang nach, dann schüttelte er den Kopf und kam auf die Gruppe bei der Wäscheleine zu. Bühler atmete auf: Es war wunderbar, einen Mann wie Müller dabeizuhaben. Der Wildhüter verbreitete jederzeit und überall, auch in angespannten Situationen, eine gute Stimmung, ohne dass er deswegen oberflächlich oder anbiedernd wurde. «Lustig ist nur, wer ernsthaft ist», pflegte Müller zu sagen, «und Ernsthaftigkeit hat nichts mit Verkniffenheit und Tod zu tun, sondern mit Freude und guten Gedanken.»

«Na, Frau Meier», sagte er dann auch sofort und drückte der Hausmeisterin fest und sicher die Hand, «haben Sie dem Herrn Doktor einen Heiratsantrag gemacht, oder womit sonst haben Sie ihn derart erschreckt? Sah ja aus, als wäre er auf der Flucht, der Herr Doktor!»