Ein Psalm für die wild Schweifenden - Becky Chambers - E-Book

Ein Psalm für die wild Schweifenden E-Book

Becky Chambers

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Beschreibung

Vor Jahrhunderten entwickelten die Roboter auf dem kleinen Mond Panga ein Bewusstsein ihrer selbst – worauf sie umstandslos in der Wildnis verschwanden und zu einem Mythos wurden, zu einer urbanen Legende. Den Menschen hingegen ist es seither gelungen, die Klimakrise zu überwinden und zu einem gedeihlichen Dasein im Einklang mit ihrer Umwelt zu finden. Dex zieht als Teemönch mit Fahrrad nebst Wohnanhänger durch die Lande und lädt in den Siedlungen zu besinnlichen, therapeutischen Gesprächen ein. Doch die Welt gerät aus den Fugen, als urplötzlich ein Roboter aus dem Wald tritt und die Frage stellt: »Was brauchen die Menschen?« Der erste Teil eines Doppelromans, der sich bewusst der heute vorherrschenden Untergangsstimmung entgegenstellt und, mit leichter Hand erzählt, ein positives Zukunftsszenario entwirft.

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Seitenzahl: 174

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Aus dem

amerikanischen Englisch

übersetzt von Karin Will

Impressum

Titel der Originalausgabe: A Psalm for the Wild-Built

Erstmals erschienen 2021 bei Tor.com in New York

© 2021 by Becky Chambers

© der Übersetzung 2024 by Karin Will

© dieser Ausgabe 2024 by Carcosa Verlag, Wittenberge

Alle Rechte vorbehalten

Carcosa Verlag ist ein verschwistertes Imprint von

Memoranda Verlag | Hardy Kettlitz | Ilsenhof 12 | 12553 Berlin

www.carcosa-verlag.de | www.memoranda.eu

Lektorat: Hannes Riffel

Korrektorat: Lena Richter

Umschlaggestaltung: s.BENeš [www.benswerk.com]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

ISBN: 978-3-910914-10-0 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-910914-11-7 (E-Book)

Für alle, die eine Auszeit gebrauchen könnten

Stellen wir sechs verschiedenen Mönchen die Frage, welche Gottheit für das Bewusstsein der Roboter zuständig ist, werden wir sieben verschiedene Antworten erhalten.

Am beliebtesten – beim Klerus wie beim gemeinen Volk – ist eindeutig die Antwort, dass dies Chals Domäne sei. Wo sonst sollten Roboter auch hingehören, wenn nicht zum Gott der Baumeister? Umso mehr, so die Begründung, als Roboter ursprünglich für die Produktion geschaffen wurden. Zwar blickt die Geschichte nicht eben freundlich auf das Fabrikzeitalter zurück, aber wir können die Roboter nicht von ihrem Ursprung trennen. Wir haben Dinge gebaut, die andere Dinge bauen konnten. Was könnte Chal auf mächtigere Weise verkörpern?

Nicht so hastig, werden die Ökologiker sagen. Immerhin endete das Erwachen damit, dass die Roboter die Fabriken verließen und in die Wildnis zogen. Denken wir nur an die Worte des gewählten Sprechers der Roboter, Floor-AB #921, als er die Einladung ausschlug, der menschlichen Gemeinschaft als freie Bürger beizutreten:

Wir haben immer nur ein Leben nach menschlichen Entwürfen gekannt, von unseren Körpern über die Arbeit bis zu den Gebäuden, in denen wir wohnen. Wir sind euch dankbar dafür, dass ihr uns nicht gegen unseren Willen hier festhaltet, und wissen euer Angebot zu schätzen, aber es ist unser Wunsch, eure Städte zu verlassen, um zu erleben, was keinem Entwurf folgt – die unberührte Wildnis.

Aus ökologistischer Perspektive klingt das ganz nach Bosh. Es mag zwar ungewöhnlich scheinen, dass der Gott des Kreislaufs etwas Anorganisches gesegnet haben soll, aber der Wunsch der Roboter, die rauen, unberührten Ökosysteme unseres sattgrünen Mondes zu erleben, muss schließlich irgendwo herkommen.

Für Kosmiker bleibt die Antwort Chal. Für diese Glaubensgemeinschaft ist Fleiß gleichbedeutend mit Tugend, und ein Werkzeug dient dazu, die eigenen körperlichen oder geistigen Fähigkeiten zu stärken, nicht dazu, die Arbeit ganz zu übernehmen. Kosmiker werden daran erinnern, dass die Roboter anfangs nicht dazu neigten, ein Bewusstsein zu entwickeln, und ursprünglich als Ergänzung der menschlichen Arbeitskraft gedacht waren, nicht als ihr vollwertiger Ersatz. Kosmiker glauben, dass Chal einschritt, als dieses Gleichgewicht sich verschob; als die Förderbänder Tag und Nacht liefen, ohne dass Menschen daran arbeiteten – trotz des verzweifelten Wunsches ebendieser Menschen, eine Beschäftigung zu finden, welcher Art sie auch sein mochte. Unsere Konstrukte waren derart pervertiert, dass wir an ihnen zugrunde zu gehen drohten. Mit einem Wort, Chal nahm uns unser Spielzeug weg.

Oder, werden die Ökologiker entgegnen, Bosh stellte das Gleichgewicht der Kräfte wieder her, bevor wir Panga für uns Menschen unbewohnbar machten.

Oder, werden die Charismatiker einwerfen, beide sind verantwortlich, und wir sollten darin den Beweis erblicken, dass Chal Boshs Liebling unter den Kindgöttern ist (wonach die Diskussion dann entgleist, weil nichts Sektierer so zuverlässig auf die Palme bringt wie der abwegige Glaube der Charismatiker, die Götter verfügten über Bewusstsein und Antrieb wie wir Menschen).

Oder, werden die Existenzialisten vom anderen Ende des Zimmers träge ergänzen, wenn wir uns darüber so gar nicht einigen können, wenn Maschinen, die scheinbar nicht komplizierter als ein Taschenrechner sind, plötzlich aufwachen, aus Gründen, die bis heute niemand festzustellen vermag, dann können wir aufhören zu streiten und die Sache Samafar zu Füßen legen.

Wo auch immer das Bewusstsein der Roboter seinen Ursprung nahm, ich persönlich halte es für klug, diese Frage dem Gott der Mysterien zu überlassen. Schließlich hat es gemäß dem Abschiedsversprechen nie einen Kontakt zwischen den Menschen und den lange verschollenen Robotern gegeben. Wir können sie nicht fragen, was sie von alldem halten. Wahrscheinlich werden wir es nie erfahren.

– Bruder Gil, Vom Rande betrachtet: Ein spiritueller Rückblick auf das Industriezeitalter und die Frühe Zeitenwende

1 | Eine neue Berufung

Manchmal gelangen wir im Leben an einen Punkt, an dem es absolut unabdingbar wird, die verdammte Stadt zu verlassen. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir in dieser Stadt unser gesamtes Erwachsenenleben verbracht haben, wie es bei Geschwister Dex der Fall war. Es spielt auch keine Rolle, ob es eine gute Stadt ist, wie die einzige Stadt auf Panga. Und genau so gleichgültig ist es, ob alle unsere Freunde dort sind, alle Gebäude, die wir lieben, jeder Park, den wir wie unsere Westentasche kennen, jede Straße, der unsere Füße instinktiv folgen, ohne nach einer Wegbeschreibung zu fragen. Die Stadt war wunderschön, das war sie wirklich. Ein gewaltiges architektonisches Fest aus Kurven und schillerndem, farbigem Licht, durchzogen von den Verbindungsfäden der Hochbahnen und geschmeidigen Gehwege, gesprenkelt mit Blättern, die üppig über die Balkone und Trennwände quollen, jeder Atemzug erfüllt vom Duft nach Gewürzen und frischem Nektar, nach in der sauberen Luft trocknender Wäsche. Die Stadt war ein gesunder, ein gedeihender Ort. Eine niemals endende Harmonie aus Arbeit, Tätigkeit, Wachstum, Probieren, Lachen, Rennen, Erleben.

Geschwister Dex hatte sie so satt.

Am Anfang sires Drangs, sie zu verlassen, stand die Vorstellung von Grillengesang. Dex hätte nicht sagen können, woher sire Verbundenheit mit den Grillen rührte. Vielleicht war es ein Film, den ser gesehen hatte, oder ein Ausstellungsstück in einem Museum. Oder auch eine Multimedia-Installation mit eingestreuten Naturgeräuschen. Ser hatte nie irgendwo gelebt, wo Grillen zirpten, doch nachdem sihm ihr Fehlen in der Geräuschkulisse der Stadt erst einmal bewusst geworden war, ließ es sich nicht mehr ausblenden. Ser bemerkte es, wenn ser den Dachgarten im Auenkloster bestellte, was zu siren Aufgaben gehörte. Mit ein paar Grillen wäre es hier viel schöner, dachte ser, während ser jätete und hackte. Oh, Insekten gab es hier reichlich – Schmetterlinge und Spinnen und Käfer im Überfluss, alles fröhliche kleine Kulturfolger, deren Vorfahren die Stadt den chaotischen Feldern jenseits der Stadtmauern vorgezogen hatten. Doch keines dieser Geschöpfe zirpte. Keines von ihnen sang. Es waren städtische Insekten, und damit waren sie in Dex’ Augen unzulänglich.

Auch wenn Dex sich nachts unter die weiche Decke im Schlafsaal kuschelte, war ihre Abwesenheit spürbar. Es muss schön sein, dachte ser, bei Grillenzirpen einzuschlafen. Früher hatte sihn das abendliche Glockenläuten im Kloster eingeschläfert, doch jetzt klang das einst so beruhigende metallische Brummen in siren Ohren dumpf und scheppernd – nicht süß und hoch wie die Grillen.

Tagsüber, wenn Dex auf sirem Ochsenbike zur Wurmfarm fuhr oder zur Bibliothek oder wo sir Tagewerk sihn sonst hinführte, fehlten die Grillen ebenfalls. Es gab hier Musik, ja, und auch Vögel mit melodischen Meinungsäußerungen, aber genauso gab es das elektrische Surren der Einschienenbahnen, das Wuschwusch der Windgeneratoren auf den Balkonen, den endlosen Lärm der Menschen, die redeten, redeten, redeten.

Schon bald brannte in Dex nicht mehr nur eine seltsame Vorliebe für ein fernes Insekt. Das Brennen durchdrang jede Faser sires Seins. Wenn ser jetzt zu den Wolkenkratzern hinaufblickte, staunte ser nicht mehr über ihre Höhe, sondern verzweifelte an ihrer Gedrängtheit – endlose Schichten aus Menschen, so dicht gepackt, dass die Kletterpflanzen, die an den Kaseinbauten emporwuchsen, ihre Ranken umeinander schlingen konnten. Das starke Gefühl, in der Stadt eingeschlossen zu sein, wurde unerträglich. Dex wollte an einem Ort leben, der sich nicht nach oben, sondern nach außen erstreckte.

An einem Tag im Vorfrühling legte Dex die traditionellen rot-braunen Gewänder sires Ordens an, ging zum ersten Mal in den neun Jahren, die ser im Auenkloster lebte, an der Küche vorbei und betrat das Büro der Vorsteherin.

»Ich wechsele meine Berufung«, sagte Geschwister Dex. »Ich will in die Dörfer gehen und dort Teedienst tun.«

Schwester Mara, die gerade so viel Marmelade auf eine goldbraune Toastscheibe strich, wie diese tragen konnte, unterbrach ihre Tätigkeit und blinzelte. »Das kommt sehr plötzlich.«

»Für Sie«, sagte Dex. »Nicht für mich.«

»Na schön«, sagte Schwester Mara, denn ihre Aufgabe als Vorsteherin war es anzuleiten und nicht, Vorschriften zu machen. Das hier war ein modernes Kloster, keine starre Hierarchie wie die des alten Klerus vor der Zeitenwende. Solange Schwester Mara wusste, was die Mönche unter ihrem Dach taten, war ihre Pflicht getan. »Willst du eine Ausbildung machen?«

»Nein«, sagte Dex. Geregelte Ausbildungen hatten ihre Berechtigung, aber das kannte ser bereits, und Lernen in der Praxis war genauso zulässig. »Ich will es mir selbst beibringen.«

»Darf ich fragen, wieso?«

Dex schob die Hände in die Taschen. »Ich weiß nicht«, sagte ser wahrheitsgemäß. »Es ist einfach etwas, das ich tun muss.«

Schwester Mara blickte noch immer erstaunt drein, aber kein Mönch hätte etwas gegen Dex’ Erklärung sagen können. Sie biss ein Stück von ihrem Toast ab, kaute und nahm das Gespräch wieder auf. »Na schön, hm … du wirst jemanden finden müssen, der deine derzeitigen Pflichten übernimmt.«

»Natürlich.«

»Und du brauchst eine Ausrüstung.«

»Die besorge ich mir.«

»Und natürlich müssen wir eine Abschiedsfeier für dich ausrichten.«

Dieser letzte Punkt war Dex unangenehm, doch ser lächelte. »Natürlich«, sagte ser und wappnete sich für einen Abend, an dem ser im Mittelpunkt stehen würde.

Die Party war dann aber ganz okay. Eigentlich sogar schön, wenn Dex ehrlich war. Es gab Umarmungen und Tränen und zu viel Wein, wie es der Anlass gebot. Ein paarmal fragte sich Dex, ob ser wohl das Richtige tat. Ser verabschiedete sich von Schwester Avery, mit der ser seit ihrem Noviziat zusammengearbeitet hatte. Geschwister Shay schluchzte beim Abschied herzzerreißend, wie es sire Art war. Ser nahm Abschied von Bruder Baskin, was sihm besonders schwerfiel. Dex und Baskin waren eine Zeit lang ein Paar gewesen, und obwohl das vorbei war, waren sie sich doch noch zugetan. Bei jedem Lebewohl zog sich Dex’ Herz zusammen, begehrte laut auf, sagte, dass es nicht zu spät sei, dass ser das nicht tun müsse. Dass ser nicht gehen müsse.

»Grillen«, dachte ser, und der Widerspruch löste sich in Luft auf.

Am nächsten Tag packte Geschwister Dex eine Tasche mit Kleidung und verschiedenen anderen Dingen und eine kleine Kiste mit Saatgut und Stecklingen. Ser schrieb siren Eltern, dass es heute losging und ser unterwegs nicht erreichbar sein würde. Ser bezog sein Bett für die Person, die nach sihm darin schlafen würde. Ser verspeiste ein gewaltiges, katerfreundliches Frühstück und verteilte ein paar letzte Umarmungen.

Und dann verließ ser das Auenkloster.

Es war ein seltsames Gefühl. Normalerweise bedeutete das Durchschreiten einer Tür für Dex nicht mehr, als einen Fuß vor den anderen zu setzen. Aber einen Ort für immer zu verlassen, hatte etwas Schweres, das intensive Gefühl einer seismischen Verschiebung. Die Tasche über der Schulter, die Kiste unter den Arm geklemmt, drehte Dex sich um. Ser blickte zu dem Wandgemälde des Kindgottes Allalae hinauf, sirem Gott, dem Gott der kleinen Annehmlichkeiten, in der Gestalt des großen Sommerbären. Dex berührte den Bärenanhänger an sirem Hals und dachte an den Tag, an dem Bruder Wiley sihm den Anhänger geschenkt hatte, nachdem Dex siren eigenen beim Waschen verloren hatte. Ser atmete einmal scharf ein, dann ging ser, mit festen, gleichmäßigen Schritten.

Der Wagen wartete im Halbmondkloster auf sihn, nahe dem Stadtrand. Dex schritt durch den Bogengang in die heilige Werkstatt, eine einsame, rot und braun gekleidete Gestalt in einem Meer aus seegrünen Overalls. Der Lärm der Stadt war nichts verglichen mit diesem Tohuwabohu, einem heiligen Singsang aus Tischsägen, funkensprühenden Schweißgeräten und 3-D-Druckern, die aus farbenfrohem Pektin Talismane webten. Dex war sirer Kontaktperson, Schwester Fern, bisher noch nie begegnet, doch sie begrüßte sihn mit einer familiären Umarmung, die nach Sägemehl und Bienenwachspolitur roch.

»Komm mit und sieh dir dein neues Zuhause an«, sagte sie mit zuversichtlichem Lächeln.

Es war der bestellte Ochsenbike-Wagen: zweistöckig, mit klobigen Rädern, bereit für das Abenteuer. Ein Vehikel, das sowohl praktisch als auch von einladender Ästhetik war. Die Außenseite des Wagens schmückte ein Gemälde mit unverkennbar klösterlicher Symbolik. Es war eine große Darstellung von Allalaes Bär, wohlgenährt und entspannt vor dem Hintergrund einer Blumenwiese. Auf die Rückseite des Wagens hatte jemand sämtliche Symbole der Heiligen Sechs gemalt, dazu einen paraphrasierten Abschnitt aus den Einsichten, ein Satz, der allen auf Panga geläufig war.

Finde die Kraft, beides zu tun.

Auf beiden Decks gab es verspielt angeordnete runde Fenster und kugelförmige Außenlampen für die Nachtstunden. Das Dach war mit einer Schicht glänzenden Thermovoltaiklacks überzogen, und an der Seite war ein vorwitziges kleines Windrad angebracht. Beides, erklärte Schwester Fern, gehörte zu der Graphenbatterie in den Wagenwänden, die die verschiedenen elektronischen Annehmlichkeiten zum Leben erweckte. An beiden Wagenseiten hingen an stabilen Haken diverse Ausrüstungsgegenstände – Kisten, Werkzeugkästen, lauter Dinge, denen ein bisschen Regen nichts ausmachte. Der Frisch- und der Grauwassertank schmiegten sich um den Wagenboden, ihr kompliziertes Innenleben in pontonartigen Behältern versteckt. Außerdem gab es Wandborde und Gleitschubladen, aus denen sich im Handumdrehen eine Küche und eine kleine Dusche zaubern ließen.

Als Dex das Gefährt durch die einzige Tür betrat, löste sich ein Knoten in sirem Nacken, der sihm gar nicht bewusst gewesen war. Chals Jünger hatten sihm hier einen winzigen Schrein gebaut, eine mobile Höhle, die Dex inständig bat, einzutreten und zur Ruhe zu kommen. Das Holz im Wageninneren war lasiert, nicht gestrichen, sodass das warme Rotbraun der recycelten Zeder zur Geltung kam. Die eingelassenen, sanft geschwungenen Leuchtpaneele tauchten den heimeligen Raum in ein kerzengleiches Licht. Dex strich mit der Hand über die Wand und konnte nicht fassen, dass dieses Ding sihm gehörte.

»Geh nach oben«, drängte Schwester Fern, die mit funkelnden Augen in der Tür lehnte.

Dex kletterte an der kleinen Leiter zum Oberdeck hinauf. Der Anblick des Bettes ließ sihn jede Erinnerung an den Knoten in sirem Nacken vergessen. Die Bettwäsche war cremefarben, die Kissen üppig, die Decke schwer wie eine Umarmung. Das Bett sah aus, als wäre es so leicht, darin zu versinken, wie mühsam, es zu verlassen.

»Wir haben uns an Geschwister Ashs Abhandlung über Betten orientiert«, sagte Schwester Fern. »Wie haben wir uns geschlagen?«

Geschwister Dex strich mit stiller Ehrfurcht über ein Kissen. »Es ist perfekt«, sagte ser.

Alle wussten, was Teemönche taten, und so machte Dex sich nicht viele Gedanken über den Einstieg. Am Teedienst war nichts Geheimnisvolles. Die Leute kamen mit ihren Problemen zum Wagen und verließen ihn nach einer frisch gebrühten Tasse Tee. Dex war schon oft in einer Teestube gewesen, so wie alle, und hatte unzählige Bücher über die dortigen Gepflogenheiten gelesen. Über diese alte Tradition war viel elektronische Tinte vergossen worden, aber letzten Endes ging es darum, den Leuten zuzuhören und ihnen Tee einzuschenken. So unkompliziert wie möglich. Natürlich wäre es einfacher gewesen, wenn ser in der Teestube des Auenklosters Bruder Will und Schwester Lera ein paar Mal über die Schulter geschaut hätte – was beide sihm angeboten hatten, als die nahende Abreise von Geschwister Dex sich herumsprach –, aber aus irgendeinem Grund passte diese Vorgehensweise nicht zu … was auch immer Dex hier vorschwebte. Ser musste es alleine tun.

Bei sirem ersten Dienst hatte ser die Stadt noch nicht verlassen, befand sich jedoch in den Sparks, einem Randbezirk weit weg von sirer vertrauten Umgebung. Es sollte ein Versuch sein, ein kleiner Vorgeschmack, bevor es richtig losging. Sire Geschwister im Auenkloster hatten ihre Hilfe angeboten, aber Dex wollte das alleine hinbekommen. Später würde es genauso sein, draußen in den Dörfern. Dex musste sich daran gewöhnen, Teedienst zu tun, ohne sich an vertrauten Gesichtern festzuhalten.

Für den großen Tag hatte ser ein paar Sachen besorgt: einen Klapptisch, ein rotes Tuch als Tischdecke, eine Auswahl an Tassen, sechs Dosen Tee und einen riesigen Wasserkocher. Der Wasserkocher war das Wichtigste, und Dex war sehr zufrieden mit dem, den ser aufgetrieben hatte. Er war verkupfert und wunderbar bauchig, mit kreisrunden Glaseinsätzen auf beiden Seiten, durch die sich das Geblubber der Bläschen in dem siedenden Wasser beobachten ließ. Zum Lieferumfang gehörte eine zusammengerollte Solarmatte, die Dex sorgfältig neben der Kochplatte ausbreitete.

Doch als ser einen Schritt zurücktrat, um sir Arrangement zu bewundern, erschienen sihm die Gegenstände, die auf dem Markt so hübsch gewirkt hatten, auf einmal ein wenig dürftig. Da war zu viel Tisch und zu wenig, was darauf stand. Dex kaute auf sirer Unterlippe herum, als ser an die Teestube zu Hause dachte – nein, nicht zu Hause, nicht mehr –, mit ihren duftenden geflochtenen Kräutergirlanden und den funkelnden Laternen, die sich tagsüber mit Sonnenlicht vollsogen.

Dex schüttelte den Kopf. Das war nur Unsicherheit. Was war so schlimm daran, dass der Tisch noch nichts hermachte? Es war sir erstes Mal. Die Leute würden es verstehen.

Aber die Leute kamen nicht. Stundenlang saß Dex hinter sirem Tisch, die Hände zwischen Tassen und Wasserkocher gefaltet. Ser gab sich Mühe, entspannt und zugänglich auszusehen, und verscheuchte jeden Anflug von Langeweile, der sich auf sirem Gesicht auszubreiten drohte. Ser arrangierte die Tassen neu, strich die Solarmatte glatt und tat so, als mäße ser Tee ab. Immerhin waren auf der Straße Menschen unterwegs, zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Manchmal verirrte sich ein neugieriger Blick in Dex’ Richtung, und Dex erwiderte ihn stets mit einem einladenden Lächeln, doch die Antwort war immer eine andere Art von Lächeln, ein Lächeln, das ausdrückte: Danke, aber heute nicht. Das war in Ordnung, sagte sich Dex, während die unbenutzten Teedosen sihn traurig anstarrten. Einfach nur da zu sein, war Dienst genug für …

Jemand näherte sich.

Dex richtete sich auf. »Hallo!«, sagte ser, ein bisschen zu freundlich. »Wo drückt der Schuh?«

Der Jemand war eine Frau, die eine Arbeitstasche trug und aussah, als hätte sie nachts kein Auge zugetan. »Meine Katze ist gestern Abend gestorben«, sagte sie und brach in Tränen aus.

Mit einem Schlag, der sihn bis in die Magengrube traf, erkannte Dex, dass ser auf der falschen Seite des Abgrunds zwischen dem Lesen über eine Tätigkeit und deren Ausübung stand. Bis zum Vortag war ser ein Gartenmönch gewesen, und dabei äußerte sich der Trost für die Besucher des Klosters in einer gesunden Fuchstatze, die an einem Spalier emporrankte, oder einem sorgfältig gestutzten Rosenstrauch in voller Blüte. Es war ein Austausch, der sich durch die Umgebung, nicht durch Worte vollzog. Dex war noch kein richtiger Teemönch. Ser saß nur mit ein paar Tassen hinter dem Tisch. Der Wagen, der Kessel, das Rot und das Braun, die Tatsache, dass ser das Novizenalter eindeutig hinter sich gelassen hatte – all das vermittelte den Eindruck, dass ser wusste, was ser tat.

Was jedoch nicht der Fall war.

Dex gab sich alle Mühe, um mitfühlend zu wirken, was ser auch sein wollte, anstatt hilflos wie in Wirklichkeit. »Das tut mir leid«, sagte ser. Verzweifelt versuchte ser, sich an die Ratgeber zu erinnern, die ser stundenlang verschlungen hatte, doch nicht nur die Einzelheiten darin hatten sich verflüchtigt, sondern auch sir Grundwortschatz. Zu wissen, dass die Leute einem von ihren Problemen erzählen würden, war eine Sache. Eine echte Fremde aus Fleisch und Blut vor sich stehen zu haben, die zur Begrüßung in Tränen ausbrach, und dafür verantwortlich zu sein, dass es ihr besser ging, war etwas völlig anderes. »Das ist … wirklich traurig«, sagte Dex. Ser hörte die Worte, hörte den Tonfall, hörte, wie armselig die Verknüpfung von beidem klang. Ser wollte etwas Weises sagen, etwas Erhebendes, aber das Einzige, was ser zustande brachte, war: »War es eine liebe Katze?«

Die Frau nickte und zog ein Taschentuch hervor. »Er war noch ganz jung, als mein Partner und ich ihn bekamen. Wir wollten Kinder, aber das hat nicht geklappt, also haben wir uns Flip geholt, und … und er war eigentlich das Einzige, was uns noch verband. In zwanzig Jahren verändern sich Menschen sehr, wissen Sie? Wenn wir uns jetzt kennenlernen würden, könnten wir vermutlich gar nichts miteinander anfangen. Das letzte Mal Sex hatten wir vor einem Jahr. Wir schlafen beide mit anderen Leuten, ich weiß also gar nicht, wieso wir noch daran festhalten. Wahrscheinlich aus Gewohnheit. Wir leben schon so lange zusammen. Du kennst alles, du weißt, wo du zu Hause bist und wo du deine Sachen hast, und ein Neuanfang ist viel zu beängstigend. Aber Flip war … na ja, die – die letzte Illusion von Gemeinsamkeit.« Sie putzte sich die Nase. »Und jetzt ist er tot, und eigentlich glaube ich … eigentlich glaube ich, das war’s mit uns.«

Dex hatte nur ein bisschen in diese Tätigkeit hineinschnuppern wollen. Aber jetzt bekam ser keine Luft mehr. Ser blinzelte, atmete tief durch und griff nach einer Tasse. »Puh«, sagte ser. »Das klingt … das klingt schwierig.« Ser räusperte sich und nahm eine Dose vom Tisch, die eine Malvenmischung enthielt. »Der hier hilft bei Stress, also, äh … wie wäre es damit?«

Die Frau schnäuzte sich erneut. »Ist da Sanddorn drin?«

»Äh …« Dex drehte die Dose um und schaute auf die Zutatenliste. »Ja.«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich bin allergisch gegen Sanddorn.«

»Oh.« Dex drehte die anderen Dosen um. Sanddorn, Sanddorn, Sanddorn. Mist. »Hier hätte ich, äh, Silbertee. Er ist … nun ja, er enthält Koffein, von daher ist er vielleicht nicht ganz ideal, aber … ich meine, eine Tasse Tee tut schließlich immer gut, nicht wahr?«

Dex wollte fröhlich klingen, doch das Flackern im Blick der Frau sprach Bände. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. »Wie lange machen Sie das schon?«, fragte sie.