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DIE STRANDHOCHZEIT
Nur um ihren habgierigen Verwandten zu entkommen, gibt Holly ganz spontan dem attraktiven Jack Armour ihr Ja-Wort. Doch in der leidenschaftlichen Nacht nach der Traumhochzeit am Strand von Sugar Island erkennt sie, dass sie diesen Entschluss niemals in ihrem Leben bereuen wird …
EINE BRAUT GEHÖRT DAZU
Keine Braut, keine Hochzeit - so einfach ist das. Also muss die hinreißende Hochzeitsausstatterin Meredith für den Millionär Adam Morgan erstmal eine Braut finden, denn Adam will ganz schnell heiraten. Nach dem ersten leidenschaftlichen Kuss, der ersten sinnlichen Nacht fällt Adam dann plötzlich ein, wen er am liebsten heiraten würde - Meredith …
ERST HOCHZEIT, DANN LIEBE
Nur Philippa kann den finanziellen Ruin ihres Vaters verhindern. Der reiche David Morgan will dessen Schulden übernehmen, wenn sie ihn heiratet. Geht es David wirklich nur um Rache an den Corbetts, die immer auf ihn herabgesehen haben? Oder besteht ein Fünkchen Hoffnung, dass er Philippas Liebe erwidert?
HAB ICH WIRKLICH JA GESAGT?
Dani soll mit dem Schauspieler Beau Chamberlain verheiratet sein? Das wüsste sie doch! Aber Beau präsentiert die Heiratsurkunde, und plötzlich hat Dani das unbehagliche Gefühl, dass es stimmt, was er sagt. Wenn sie sich nur erinnern könnte, was vor drei Wochen während ihres Trips nach Mexiko passiert ist …
LUST AUFS HEIRATEN?
Verlobt mit dem Falschen! Das wird der zauberhaften Malerin Emma klar, als sie Burke, den attraktiven Bruder ihres zukünftigen Mannes Clay, kennen lernt. Auch Burke verzehrt sich nach ihr. Aber das wagt er ihr nicht zu zeigen. Emma ist total verunsichert. Kann sie Clay überhaupt noch heiraten?
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Seitenzahl: 981
Veröffentlichungsjahr: 2018
Sophie Weston, Millie Criswell, Susanne Mccarthy, Cathy Gillen Thacker, Gail Link
Ein Ring sie zu lieben - fünf romantische Hochzeitsgeschichten
IMPRESSUM
Die Strandhochzeit erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2000 by Sophie Weston Originaltitel: „Midnight Wedding“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe ROMANABand 1437 - 2002 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Bettina Röhricht
Umschlagsmotive: GettyImages_GeoffGoldswain
Veröffentlicht im ePub Format in 03/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733756208
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Den internationalen Journalisten war nicht ganz wohl in ihrer Haut, als sie nach einer abenteuerlichen Fahrt mit dem Geländewagen in Ignaz ankamen. Der Ort lag in viertausend Meter Höhe in den Anden. Es regnete unaufhörlich, der Schauplatz der Katastrophe war von einer graubraunen Schlammschicht überzogen, und der Pressesprecher des Katastrophenhilfe-Unternehmens war sichtlich überfordert.
„Was, um alles in der Welt, soll ich denn hier fotografieren?“, flüsterte die Journalistin des Magazins Elegance, die auf Artikel über Prominente spezialisiert war.
„In einer halben Stunde wird der Regen aufhören“, bemerkte eine Stimme hinter ihnen kühl.
Abrupt drehten sie sich um. Der Pressesprecher war erleichtert. „Meine Damen und Herren, dies ist Dr. Jack Armour.“
„Du meine Güte“, sagte die Elegance – Journalistin beeindruckt.
Jack Armour war groß, schlank und strahlte Gelassenheit und Selbstvertrauen aus. Im Gegensatz zu den Journalisten, die Schutzbekleidung trugen, hatte er nur das Nötigste an. Der herabströmende Regen machte ihm offenbar nicht das Geringste aus. Wasser rann ihm über die breite Brust und ließ die Haare auf seinem Oberkörper schwarz erscheinen. Seine sonnengebräunte Haut hatte einen schimmernden Goldton. Die langen, muskulösen Beine waren nackt.
„Dr. Armour ist der amerikanische Experte, von dem ich Ihnen erzählt habe, und der Vorstandsvorsitzende der Armour-Katastrophenhilfe. Er wird Sie auf dem Gelände herumführen und Ihre Fragen beantworten.“
„Wie ein griechischer Gott“, flüsterte die Elegance – Journalistin.
„Guten Morgen“, sagte der griechische Gott amüsiert.
Er führte die Gruppe den Berg hinauf, wobei er sich so geschmeidig wie eine Gämse bewegte und den Journalisten gleichzeitig wichtige Informationen lieferte. Seinen kräftigen, aber schlanken Beinen schienen der matschige Untergrund, die Steigung und die spiegelglatten Felsen keine Schwierigkeiten zu bereiten. Und auch der Regen machte ihm offenbar nichts aus. Die Journalisten begannen, vor Anstrengung zu keuchen.
„Bitte entschuldigen Sie mein Tempo“, rief Jack Armour ihnen über die Schulter zu. „Ich habe es eilig, weil ich heute noch nach Paris muss.“
„Sie Glückspilz.“ Einer der Journalisten seufzte sehnsüchtig.
„Ich hasse Paris, aber dort findet eine wichtige Konferenz statt, die ich nicht verpassen darf.“
„Sie hassen Paris?“, fragte die Elegance – Reporterin schockiert. „Die Stadt der Kultur und der Liebe?“
Jack Armour lachte nur. „Wenn ich nach Paris fahre, dann geht es immer um Naturkatastrophen – nicht um Sehenswürdigkeiten oder Sex.“
Sie verzog den leuchtend rot geschminkten Mund. „Und wann finden Sie die Zeit für Sehenswürdigkeiten?“
Sein Lächeln verschwand, und seine Augen wirkten plötzlich so dunkel, als wären sie schwarz.
„Seien Sie ruhig“, warnte ein britischer Journalist die Frau. Er kannte Jack Armours wunde Punkte bereits.
„Für so etwas habe ich keine Zeit“, erwiderte Jack Armour nachdrücklich.
„Aber …“
Jacks Miene war undurchdringlich. „Netter Versuch. Aber wie Sie sehen, funktioniert es bei mir nicht.“
Das brachte die Reporterin endlich zum Schweigen.
Holly trat vorsichtig aus dem Fahrstuhl. Sie balancierte einen hohen Stapel Schachteln eines Lieferservices. Ihr lief ein Schauer über den Rücken, und sie versuchte, ihre Bedrücktheit als Aberglauben abzutun. Sie hasste diese riesigen, unpersönlichen Gebäude. Diese erinnerten sie immer daran, wie sie ihre Mutter bei deren Arbeit in einem großen Londoner Bürokomplex besucht hatte.
Meist gelang es ihr, all diese Gedanken zu verdrängen: an ihre Mutter, London und jenes andere Leben. Immerhin lag es schon fast acht Jahre zurück. Damals hatte ein Zugunglück das Leben ihrer Mutter ausgelöscht – und mit ihr alles, was ihr, Holly, die damals noch zur Schule gegangen war, vertraut und wichtig gewesen war.
Holly blickte in die verspiegelten Türen des Fahrstuhls. In letzter Zeit erkannte sie sich manchmal kaum wieder. Sie war sehr gewachsen und hatte lange, schlanke Beine. Ihr mittelbraunes Haar war so hell geworden, dass es bei bestimmtem Licht fast golden wirkte. Doch nach wie vor kringelte es sich in widerspenstigen Locken. Deshalb trug sie es lang und flocht es zu einem Zopf, wenn sie arbeitete. Mit ihrer Baseballkappe und der Latzhose sah sie ein wenig aus wie ein Schuljunge.
Hier in Paris bin ich ja auch als Lieferjunge wieder geboren worden, dachte sie ironisch. Ihre Mutter hatte versucht, sie auf die unerwarteten Ereignisse vorzubereiten, die das Leben vielleicht für sie bereithielt. „Alles ist vergänglich, Hol“, sagte sie immer wieder. Ihre großen Augen wirkten stets ein wenig traurig. „Du musst selbst auf dich aufpassen“, flüsterte sie einmal und drückte sie an sich. „Denn niemand sonst wird es tun.“ Und wenn sie zu erschöpft war, um zu lachen oder traurig zu sein, bat sie: „Bitte verzeih mir.“
Damals hatte sie, Holly, natürlich noch nicht gewusst, dass es etwas zu verzeihen gab. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt. Und sie konnte nicht ahnen, dass ihre Mutter ihm durch ihr Testament eine Nachricht zukommen lassen würde.
Doch das hatte diese getan. Und die verzweifelte Holly fand sich plötzlich im Hause eines amerikanischen Millionärs im Mittleren Westen der USA wieder. Damals hatte sie die zweite wichtige Botschaft endlich voll und ganz verstanden, die ihre Mutter ihr mit auf den Weg gegeben hatte: „Das Einzige, worauf du dich bei einem Mann verlassen kannst, ist, dass er dir das Herz brechen wird.“
Das alles gehörte allerdings der Vergangenheit an. Der Vater, den sie nie wirklich kennengelernt hatte, war tot. Die Stiefschwester, die schon ihre, Hollys, Existenz als Affront empfunden hatte, war weit weg – fünf Jahre und ein ganzer Kontinent lagen zwischen ihnen. Und wenn es auch bedeutete, dass sie allein war, so war es Holly nur recht. Solange ihr Herz wie aus Eis war, kam ihr zumindest niemand zu nahe. Sie war frei und in Sicherheit.
Holly verschob die Schachteln mit dem Essen ein wenig, sodass sie diese ein wenig besser tragen konnte. Dann ging sie durch die schier endlosen, stillen Flure zum Geschäftszimmer des Internationalen Katastrophenhilfekomitees.
„Vielen Dank, meine Herren“, sagte die Vorsitzende. „Sie haben uns viel Stoff zum Nachdenken gegeben.“
Jack unterdrückte den Impuls zu protestieren. Er hatte bisher nicht einmal über die Hälfte der vorbereiteten Themen gesprochen. Er hatte festgelegt, dass sein Unternehmen, die Armour-Katastrophenhilfe, den Vortrag auch während des Mittagessens weiterführen sollte. Die anderen Teilnehmer hatten zugestimmt. Doch das war vor Ramons Gefühlsausbruch gewesen. Die Vorsitzende des Komitees hatte für Gefühle nichts übrig. Jack wollte weiteren Fehlschlägen vorbeugen und stand auf. „Vielen Dank.“
Ramon Lopez sah ihn ungläubig an. „Wir können noch nicht gehen! Das Komitee …“
„Hat unseren Bericht und den Vertragsentwurf vorliegen“, führte Jack den Satz zu Ende. Er umfasste die Lehne von Ramons Stuhl und zog unauffällig, aber heftig daran. „Und selbstverständlich stehen wir Ihnen bei Fragen jederzeit zur Verfügung. Sie haben meine Telefonnummer?“
Die Vorsitzende warf einen Blick auf die Visitenkarten, die sie vor sich ausgebreitet hatte. „Ja, vielen Dank, Dr. Armour. Wir werden sicher zahlreiche Fragen haben. Deshalb würden wir es begrüßen, wenn Sie erreichbar sind.“
„Selbstverständlich“, erwiderte Jack lächelnd. Sein charmantes Auftreten war nur gespielt, doch außer Ramon bemerkte es niemand. „Zum Glück gibt es ja Handys.“
Die anderen Vorstandsmitglieder erwiderten das Lächeln ein wenig verlegen, wobei sie Ramon anblickten. Sie befürchteten, dass der unbeherrschte Spanier sich nicht von der Stelle bewegen würde, und bereiteten sich innerlich auf eine unangenehme Szene vor.
Jack war allerdings nicht nur der Chef der Organisation, sondern auch eine starke Persönlichkeit, und so ging Ramon mit ihm, obwohl er leise fluchte. Er nahm seine Aktentasche und folgte ihm aus dem Konferenzzimmer.
Sobald sie auf dem Flur waren, rief er: „Verdammt! Warum habe ich nur den Mund nicht gehalten?“
Jack prüfte, ob sein Handy eingeschaltet war. „Das nächste Mal wirst du es bestimmt besser machen“, antwortete er, ohne aufzublicken.
„Es ist alles meine Schuld. Ich hätte nicht die Beherrschung verlieren dürfen.“
Jack betrachtete Ramon, und seine Augen funkelten humorvoll. „Immerhin hast du sie ganz schön beeindruckt, als du mit der Faust auf den Tisch geschlagen hast.“
Der Spanier wirkte zerknirscht. „Hoffentlich habe ich nicht alles verdorben.“
„Mach dir keine Gedanken. Jetzt müssen wir die Verhandlungen eben anders führen.“
„Dich bringt wohl nichts aus der Fassung.“
„Wenn man es von der richtigen Seite betrachtet, ist jeder Rückschlag auch eine Gelegenheit“, zitierte Jack Ramons bevorzugten Managementspezialisten.
Der Spanier musste lächeln. „Gilt das auch für diese Journalistin aus New York, die einen Artikel über dich schreiben wollte?“ Die Mitarbeiter der Armour-Katastrophenhilfe diskutierten seit einiger Zeit eifrig per E-Mail über die Frage, ob Rita Caruso die neueste Eroberung ihres Chefs war.
Jack seufzte nur resigniert. Ramon war inzwischen wieder bester Laune. „Ich kann es kaum erwarten, ihre Bilder zu sehen.“
Jack schnaufte und steckte sein Handy zurück in die Hosentasche. „Da kannst du lange warten.“
„Du hast doch gesagt, wir bräuchten Publicity.“
„Aber nicht solche.“
„‚Kaum jemand ist sich der langfristigen Folgen von Naturkatastrophen bewusst‘“, zitierte Ramon den Satz über die Unwilligkeit zu spenden, der aus dem Bericht für das Komitee stammte. Er hatte ihn unzählige Male umschreiben müssen, bis Jack damit zufrieden gewesen war. „‚Die meisten Journalisten verlieren schon kurze Zeit nach einer Katastrophe das Interesse an dem Thema. Doch es sterben wesentlich mehr Menschen in der Zeit danach als während des tatsächlichen Unglücksfalls. Wir müssen alles tun, um dies zu ändern.‘“ Er lächelte. „Gehören hübsche Fotos für eine Lady, die dich anhimmelt, nicht dazu?“
Jack verdrehte die Augen. „Du weißt genau, dass ich mich sogar an ein Heer von Bürokraten verkaufen würde, um meine Aufgaben zu erfüllen. Aber bei Aktfotos ist bei mir die Grenze erreicht.“
Überrascht sah Ramon ihn an. „Aktfotos?“
„Rita Caruso ist Fotojournalistin bei der Elegance. Dieses Magazin schreibt nur über Mode, Sex, Klatsch und Tratsch. Ich war ziemlich erstaunt, dass überhaupt eine der Mitarbeiterinnen nach Ignaz geschickt wurde.“
„Und woher weißt du, worüber die Elegance schreibt? Seit wann hast du denn Zeit, etwas zu lesen, was nicht mit deiner Arbeit zu tun hat?“
Ein kurzes Schweigen folgte. Dann antwortete Jack ruhig: „Susana hat sie gern gelesen.“
Und zum ersten Mal hielt Ramon den Mund.
Holly balancierte die Schachteln mit dem Essen vor sich her wie eine Zirkusartistin. Am Ende des Flurs sah sie zwei Männer in dunklen Anzügen stehen. Einer von ihnen war klein und wirkte sehr besorgt, der andere war groß, dunkelhaarig und strahlte kühle Selbstbeherrschung aus.
Der Mann hatte hohe Wangenknochen und markante Gesichtszüge. Seine Miene war undurchdringlich, doch Holly fiel seine Körperhaltung auf. Er wirkte sehr angespannt. Zum Glück bin ich nicht diejenige, die ihn so gereizt hat, dachte sie.
Dann sagte der kleinere Mann auf Englisch: „Es tut mir leid, Jack. Ich habe einfach nicht nachgedacht.“
Der Angesprochene schwieg einen Moment. „Du warst vermutlich aufgeregt wegen der Konferenz“, erwiderte er schließlich. Und Holly wusste, dass die Gefahr vorüber war.
Der andere Mann blickte ihn zweifelnd an.
„Betrachte es doch einmal von der positiven Seite“, fügte sein Begleiter hinzu. „Zumindest hast du es uns erspart, weitere achtundvierzig Stunden in dem Konferenzzimmer zu verbringen.“
Holly griff nach oben, um den schwankenden Schachtelturm am Umstürzen zu hindern, und ging auf die beiden Männer zu.
„Achtundvierzig Stunden?“, wiederholte der andere Mann entsetzt. „Du meine Güte, Jack! Meinst du wirklich, es wird so lange dauern?“
Sie merkte plötzlich, wie attraktiv der große, Furcht einflößende Fremde war. Er wirkte zwar sehr unnachgiebig, und seine eiserne Selbstbeherrschung war erschreckend. Aber ganz ohne Zweifel sah er auch unglaublich gut aus.
Der schöne Jack, wie Holly ihn insgeheim taufte, war nicht nur gut aussehend, sondern auch sarkastisch: „Wenn Bürokraten erst einmal zu Wort kommen, hören sie so bald nicht wieder auf zu reden.“
Der kleinere Mann stöhnte auf. „Wären wir nur nicht auf sie angewiesen!“
Jack lachte kurz auf. „Eigentlich bräuchten wir einen netten Millionär, der an langfristige Planung glaubt. Aber so einen haben wir leider nicht, und unter den verbleibenden Möglichkeiten ist das Katastrophenhilfekomitee die beste Wahl.“
Holly hatte die beiden erreicht. „Entschuldigung“, sagte sie hinter dem Schachtelturm. Der Stapel neigte sich zur Seite. Sie beugte sich ein wenig in die andere Richtung, damit die Schachteln nicht hinunterfielen. Vielleicht hatten die beiden Männer sie nicht gehört, oder sie waren zu sehr in ihre eigenen Angelegenheiten vertieft. Jedenfalls hatten sie sie nicht bemerkt.
„Wenn ich nur nicht die Geduld verloren hätte“, meinte der kleinere Mann zerknirscht.
„Das passiert nun einmal leicht bei Bürokraten. Sie …“
„Entschuldigung!“
„… müssen ständig zeigen, wie viel Einfluss sie …“ Ungeduldig drehte Jack sich um. „Was gibt es denn?“
Seine Augen funkelten wie schwarze Diamanten. Der Stapel schwankte, doch Holly konnte den Blick nicht von dem Mann abwenden. Sie stellte fest, dass ihr erster Eindruck richtig gewesen war. Aus der Nähe wirkte er noch unnachgiebiger. Seine edlen, klar geschnittenen Gesichtszüge glichen denen eines griechischen Gottes – und sein Temperament offensichtlich ebenfalls. Sie konnte sich gut vorstellen, dass viele Menschen sich von seinem strengem Blick einschüchtern ließen. Aber mir passiert das nicht so leicht, dachte sie entschlossen und erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Darf ich bitte vorbei?“
Holly spürte förmlich, wie er sie musterte. Doch sie ließ sich nicht abschrecken. Ungeduldig stampfte sie mit dem Fuß auf den Boden. Der Schachtelturm begann, bedenklich zu schwanken.
„Ich möchte bitte vorbei.“
Jack betrachtete sie gelassen. Sie hatte schon immer schnell die Beherrschung verloren, noch bevor sie im Haus ihres Vaters hatte lernen müssen, sich zu verteidigen. Sie bemühte sich nicht länger, höflich zu sein.
„Lassen Sie mich endlich vorbei!“
Als sie merkte, dass die Schachteln umfielen, hatte er bereits reagiert und sie aufgefangen.
„Danke“, sagte sie widerstrebend.
Um seinen Mund zuckte es leicht. „Nichts zu danken.“ Er wirkte amüsiert, ließ sich durch den Vorfall allerdings nicht im Geringsten ablenken und sagte über den Stapel hinweg zu seinem Begleiter: „Du solltest dir wirklich keine Vorwürfe machen, Ramon.“
„Ich hätte das Reden lieber dir überlassen sollen.“
Jack zuckte die breiten Schultern, die durch den eleganten Anzug noch betont wurden. „Du hast eben die Beherrschung verloren – das kann jedem mal passieren.“ Er warf Holly einen gleichgültigen Blick zu. „Wohin soll das hier geliefert werden?“
„In das Büro am Ende des Ganges.“
Ohne etwas zu sagen, wandte er sich um.
„Für einen Mr. Armour“, fügte sie hinzu. Toll, dachte sie. Tritt zurück, du armseliges kleines Wesen, und lass das einen starken Mann übernehmen. Am liebsten hätte sie den schönen Jack getreten.
Der Mann namens Ramon lief neben ihm her. Bei jedem großen Schritt seines Begleiters musste er zwei machen. „Sie werden uns doch nicht wirklich achtundvierzig Stunden hier warten lassen?“, fragte er verzweifelt.
„Zumindest können sie es versuchen.“
Jack erreichte die große, imposante Flügeltür am Ende des Gangs und stieß sie mit der Schulter auf, ohne anzuklopfen. Dann stellte er die Schachteln auf dem nächsten Schreibtisch ab. „Ist es hier recht?“
Bevor Holly etwas sagen konnte, griff die elegante Frau ein, die in dem Sekretariat arbeitete. Sie stand auf und kam schnell auf Jack zu.
„Oh, Mr. Armour. Ich wusste ja nicht … Ja, vielen Dank, lassen Sie das Essen ruhig dort stehen.“
Holly kannte die Frau. Señora Martinez hatte bereits mehrmals Essen bei Chez Pierre bestellt. Sie sprach mehrere Sprachen fließend, war sehr professionell und allgemein bekannt dafür, dass sie sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ. Jetzt genügte allerdings ein kurzer Blick aus Jacks dunklen Augen, um sie zu verunsichern.
„Hier sind einige Nachrichten … Der Vorstand hat nach Ihnen gefragt … aber ich dachte, Sie wären noch in der Konferenz“, erklärte sie stockend.
Interessiert verfolgte Holly das Gespräch. Der schöne Jack muss ja ein ganz schön hohes Tier sein, überlegte sie.
Gut gelaunt erwiderte er: „Das Komitee hat uns hinausgeworfen, Elena.“ Er schenkte Señora Martinez ein strahlendes Lächeln, und sein Charme blieb nicht ohne Wirkung.
Sie errötete und schüttelte lachend den Kopf. „Aber Mr. Armour, das kann ich gar nicht glauben. Ich weiß doch, wie beeindruckt alle von Ihrem Entwurf waren.“
Es gefiel Holly ganz und gar nicht, ignoriert zu werden. Der Mann hatte sie keines Blickes gewürdigt, seit sie in dem Sekretariat waren.
„Mr. Armour, richtig?“ Sie stellte sich vor ihn und fügte laut hinzu: „Mittagessen für zehn Personen.“
„Wie bitte?“, fragte er verständnislos.
Schweigend hielt sie ihm den Lieferschein hin. Endlich schien er sie zur Kenntnis zu nehmen. Er nahm zwar den Lieferschein nicht entgegen, aber immerhin sah er sie an.
„Ja?“, meinte er gleichgültig.
Holly war wütend. Allerdings wusste sie, dass das, was er sah, nicht gerade beeindruckend war. Die doppelreihige Kochjacke hatte nach einem langen Vormittag voller Auslieferungen in diesem belebten Pariser Stadtteil ihre ursprünglich strahlend weiße Farbe verloren. Und auch die Baseballkappe, die ihre widerspenstigen goldbraunen Locken bedeckte, war nicht gerade sauber.
Doch Holly wollte sich nicht einschüchtern lassen. Sie hob das Kinn. „Ich brauche eine Unterschrift für die Lieferung“, sagte sie trotzig und fügte dann etwas verspätet hinzu: „Sir.“
Der Mann kniff die Augen zusammen, und Señora Martinez wirkte schockiert.
„Junge Dame“, erwiderte er, „was soll ich denn mit Mittagessen für zehn Personen?“
Holly verlor endgültig die Geduld. „Von mir aus können Sie die gesamte Quiche Lorraine an die Tauben verfüttern“, antwortete sie zuckersüß. „Ich will einfach nur eine Unterschrift.“
Señora Martinez griff ein. „Hier liegt ein Missverständnis vor“, erklärte sie nervös. „Das Essen ist für die Konferenz des Komitees mit Mr. Armour bestimmt. Ich habe es bestellt.“ Sie nahm den Lieferschein und unterschrieb ihn.
Holly ignorierte sie. „Sie sind also Mr. Armour?“ Spöttisch ließ sie den Blick über seine große Gestalt gleiten. „Das hätte ich mir ja denken können. Amerikanische Unternehmen sind die einzigen auf der ganzen Welt“, zitierte sie ihren Chef, den Gourmetkoch Pierre, „die ihren Mitarbeitern befehlen, am Konferenztisch zu essen.“
Der griechische Gott sah tatsächlich aus wie einer jener Männer, die Mittagspausen nur im äußersten Notfall zuließen. Während sie seinen undurchdringlichen Blick auf sich gerichtet spürte, bekam sie allerdings immer mehr das Gefühl, dass sie einen großen Fehler begangen und sich lächerlich hatte.
Doch er zuckte nur die Schultern. „Wenn ich Ihrer Meinung nach der König des Lieferservice bin – was sind Sie dann?“
Holly war sprachlos.
„Vermutlich essen Sie so etwas gar nicht“, mutmaßte er, „sondern verkaufen es nur.“
Diese selbstgefällige Art kannte sie nur zu gut. Ihr Schwager und dessen Cousin Homer, der inzwischen das Unternehmen ihres Vaters führte, waren genauso gewesen – absolut sicher, dass sie im Recht waren und sie, dieser unbequeme, uneheliche Neuankömmling, dies schließlich akzeptieren würde. Plötzlich verspürte sie den Drang, laut zu schreien.
Jack Armour lächelte. „Eins zu Null für mich, stimmt’s?“ Er wandte sich ab. Ramon lachte.
Holly errötete. Sie war so wütend, dass sie ihn am liebsten getreten hätte, damit er sie wenigstens wahrnehmen würde. Aber schließlich gewann ihre Vernunft die Oberhand. Womöglich würde Pierre sie entlassen, und sie brauchte den Job dringend. Holly beschloss, das Büro zu verlassen, bevor ihr Temperament mit ihr durchgehen würde.
Sie riss Señora Martinez den Lieferschein aus der Hand und stopfte ihn in ihre Baumwolltasche. Dabei entdeckte sie unzählige Werbeflugblätter des Clubs, in dem sie abends arbeitete. Sie hatte ganz vergessen, dass sie die Zettel eigentlich hatte verteilen sollen. Schuldbewusst warf sie einen Blick auf die Uhr, nahm die Tasche und eilte hinaus.
Heute war einfach nicht ihr Tag. Erst hatte sie verschlafen – nach einem Auftritt mit der Querflöte im Club Thaïs am Vorabend. Dann kam die Metro viel zu spät. Und als sie endlich bei der Arbeit erschien, schäumte Pierre bereits vor Wut, während das Telefon ununterbrochen klingelte und noch niemand daran gedacht hatte, die anstehenden Lieferungen vorzubereiten. Und zu guter Letzt war sie noch einem dunkelhaarigen, gut aussehenden Fremden begegnet, der sie mit ihren eigenen Waffen geschlagen hatte.
„Mr. Armour, hier ist eine Nachricht von der Vorsitzenden des Komitees für Sie.“ Señora Martinez überreichte ihm ein Schreiben. Jack öffnete den Umschlag und überflog die Nachricht.
„Wir beide“, sagte er ironisch zu Ramon, „haben heute Nachmittag frei. Das Komitee hat beschlossen, dass wir nicht weiter an der Konferenz teilzunehmen brauchen.“
Der Spanier schien den Tränen nahe zu sein. „Aber der Vertrag …“
Jack lachte. „Das Komitee hat meine Telefonnummer. Sie können mich anrufen, wenn sie den Vertrag unterzeichnen wollen.“ Er schob Ramon aus dem Zimmer und zum Fahrstuhl.
„Wir hätten bleiben sollen“, stellte der Spanier fest, während sie zum Erdgeschoss fuhren. „Wir hätten diesem verdammten Komitee die Meinung sagen sollen und …“
„Ganz ruhig, Ramon. Warte, bis wir das Gebäude verlassen haben.“ Jack warf einen vielsagenden Blick auf die Überwachungskamera an der Decke des Aufzugs. „Ich habe die letzten drei Monate in Schlammlöchern und mit Bürokraten verbracht und hätte Lust, mich mal wieder richtig zu amüsieren – mit gutem Essen, gutem Wein und guter Musik.“
„Das bedeutet, dass du nicht mit zu dem offiziellen Abendessen bei der internationalen Hilfsorganisation kommst und ich wieder allein hingehen muss“, bemerkte Ramon resigniert.
„Verabrede dich doch mit einer Frau, und nimm sie mit dorthin“, schlug Jack unbekümmert vor. „Du könntest zum Beispiel die Vorsitzende des Komitees fragen. Dein südländisches Temperament hat sie sehr beeindruckt.“
Ramon erwiderte sein Lächeln. „Geh du doch mit einer Frau hin. Dann hätte ich endlich mal den Abend frei.“
Jack lächelte noch immer. Aber seine Augen wirkten plötzlich ausdruckslos.
Oh nein, dachte Ramon, ich Idiot! Schon das zweite Mal innerhalb einer halben Stunde. Um seine Verlegenheit zu überspielen, fuhr er fort: „Du hättest die junge Frau, die das Essen gebracht hat, nach ihrer Telefonnummer fragen sollen – anstatt sie zu provozieren.“
Jack schüttelte den Kopf. „Die war viel zu streitlustig.“ Doch zumindest schien sein Lächeln jetzt wieder von Herzen zu kommen.
Inzwischen war der Aufzug im Erdgeschoss angekommen, und sie stiegen aus. Ramon warf einen misstrauischen Blick zurück auf die Kamera. „Meinst du, sie war eine Spionin?“
Jack musste lachen. „Nein, keine Angst. Wozu sollte jemand Männer ausspionieren, die in Katastrophengebieten Notunterkünfte errichten? Ich wollte vorhin nur verhindern, dass du dich negativ über das Komitee äußerst, denn das könnte böse Folgen haben. Wachleute verkaufen gern kompromittierende Ausschnitte aus den Filmen, die mit den Überwachungskameras aufgenommen werden.“
Ungläubig sah Ramon ihn an. „Woher weißt du das?“
Jack zuckte die Schultern. „Ich habe auch einmal in der Branche gearbeitet.“
Das konnte der Spanier sich gut vorstellen. Sein Chef hatte früher praktisch jeden Job angenommen, um Geld für die Armour-Katastrophenhilfe zu beschaffen.
„Allerdings nie in einem so modernen und vornehmen Gebäude wie diesem hier.“ Jack lächelte ironisch und blickte sich in der Eingangshalle um. Palmwedel bewegten sich sanft im Luftzug der Klimaanlage. Wasser plätscherte leise aus einem barocken Springbrunnen, und die Marmorwände glänzten. Überall standen Palmen. Ein nicht enden wollender Strom von Leuten war zu sehen, die kamen und gingen. Der Klang ihrer Schritte und Stimmen verlor sich in dem Raum, der so hoch wie eine Kathedrale war.
Plötzlich ließ Jack seine Aktentasche fallen und lief über den spiegelnden Boden der Halle. Verwirrt hob Ramon die Tasche auf. Dann sah er, was Jacks Aufmerksamkeit erregt hatte.
Es war die temperamentvolle junge Frau vom Lieferservice. Sie stand mit dem Rücken an der Wand. Ein großer, stämmiger Mann hatte sich drohend vor ihr aufgebaut. Offensichtlich schrie er sie an, doch seine Stimme ging in dem riesigen Raum unter. Die junge Frau schien ihn ohnehin nicht zu hören. Ihre Miene versteinerte. Sie hatte panische Angst.
Ramon kannte diesen Ausdruck sehr gut und wusste genau, wie Jack auf das verängstigte Gesicht der jungen Frau reagieren würde. „Oh nein“, sagte er und eilte ihm nach.
Nach den körperlichen Anstrengungen der vergangenen drei Monate war Jack ebenso schlank wie durchtrainiert. Aber der Gegner der jungen Frau hatte einen Körper wie ein Preisboxer, mit breiten Schultern und stämmigem Nacken. Er schien Jack körperlich überlegen zu sein, und trotzdem hatte dieser ihm mit einer einzigen Bewegung den Arm auf den Rücken gedreht und hielt ihn fest.
Ramon wusste, wozu Jack bei seinen seltenen Wutanfällen fähig war. Er eilte zu ihm. Jack betrachtete den Mann, den er festhielt.
„Wer gibt Ihnen das Recht, Frauen zu belästigen?“
Der Mann blickte ihn überrascht und wütend zugleich an. Die junge Frau schien sich langsam zu entspannen. Die Panik war aus ihrem Gesicht gewichen. Ein goldbrauner geflochtener Zopf fiel ihr über die Schulter. Sie wirkte sehr jung und verletzlich.
Schwer atmend sagte sie: „Er hat kein Recht dazu! Ich habe nichts mit ihm zu tun.“
Der Mann hatte sehr markante Gesichtszüge und aufwendig frisiertes Haar. Doch sein Blick war durch und durch bösartig.
„Tatsächlich nicht? Dabei habe ich ein Dokument, in dem steht, dass ich dein Vormund bin.“
Sie zuckte zusammen, stritt die Behauptung allerdings nicht ab.
„Jack, diese Leute wollen sicher nicht, dass wir uns in ihre Privatangelegenheiten einmischen“, meldete sich Ramon zu Wort.
Jack ignorierte ihn und sah die junge Frau an. „Nun?“
„Er ist mit … mit einer Verwandten von mir verheiratet“, erwiderte sie nervös. „Ich habe die beiden nie um etwas gebeten, und ich will nichts mit ihnen zu tun haben.“
Der Mann stieß einen wütenden Laut aus, durch den ein Angestellter des Sicherheitsdienstes auf sie aufmerksam wurde. „Du bist Donna etwas schuldig“, erklärte er drohend. „Das weißt du genauso gut wie ich.“
Der Wachmann näherte sich ihnen. Die junge Frau war aschfahl geworden. Ihre Hände zitterten. „Ich … ich schulde niemandem etwas. Ich habe nie darum gebeten … Bitte …“
Jacks Miene war undurchdringlich. „Wie alt sind Sie?“
„Zweiundzwanzig“, antwortete sie stockend.
„Mit zweiundzwanzig hat man doch keinen Vormund mehr“, sagte er zu dem kräftigen Mann, den er noch immer festhielt.
„Allerdings, wenn man …“
Aber die Frau wartete nicht ab, was er sagen würde. Als der Wachmann die kleine Gruppe erreichte und sie sich alle zu ihm umwandten, nutzte sie die Gelegenheit zur Flucht. Sie drängte sich so schnell an ihnen vorbei, dass sie Ramon beinah umwarf. Innerhalb weniger Sekunden war sie durch die Drehtür ins Freie gelangt.
Der Mann fluchte leise und versuchte, ihr nachzulaufen. Jack drückte ihn gegen die Wand.
„Sie bleiben hier“, stellte er fest.
„Aber das Mädchen ist mein Mündel.“
„Offensichtlich ist sie anderer Meinung. Und ob Sie jetzt Ihr Vormund sind oder nicht, in meiner Gegenwart werden Sie nicht wieder so grob mit ihr umspringen.“ Jacks Stimme klang kalt und hart wie Stahl, sodass sich sogar Ramon die Nackenhaare sträubten.
„Hat die süße kleine Holly Ihnen etwa auch den Kopf verdreht?“, fragte der Mann höhnisch. „Darin ist sie wirklich gut“, fuhr er verächtlich fort. „Bei uns in Lansing Mills hat sie schon unzählige Kerle abgeschleppt. Deshalb ist ihr auch …“
„Sparen Sie sich das.“ Angewidert sah Jack ihn an.
Der Wachmann beschloss einzugreifen. Er kannte Jack als Besucher des Komitees und vertraute ihm. Der andere Mann dagegen war ihm unbekannt, und so stellte er ihm einige Fragen. Als Ramon seine Worte ins Französische zu übersetzen begann, war die junge Frau längst weit weg. Jack ließ den Mann los, als dieser sich schließlich bereit erklärte, die Fragen des Wachmanns zu beantworten.
„Ich heiße Brendan Sugrue“, sagte er und zog seinen Pass aus der Hosentasche. „Das Mädchen ist die Tochter des Adoptivvaters meiner Frau – rechtlich gesehen also ihre Schwester. Wir stammen aus Lansing Mills in Oklahoma und sind die Vormunde von Holly. Sie ist von zu Hause weggelaufen, und seitdem bin ich auf der Suche nach ihr.“
„Warum?“, erkundigte Jack sich ruhig, doch es klang wie ein Pistolenschuss.
Der Wachmann, der den Pass geprüft hatte, blickte auf.
Brendan Sugrue blinzelte nervös. „Sie ist noch sehr jung und …“
„Mit zweiundzwanzig kann man durchaus auf sich selbst aufpassen.“
„Sie ist verantwortungslos und nimmt keinerlei Ratschläge an …“
„Mit anderen Worten, sie tut nicht, was Sie wollen“, mutmaßte Jack.
„Monsieur Armour …“, begann der Wachmann freundlich, aber energisch.
Jack ignorierte ihn. „Ist es nicht die Wahrheit?“
„Monsieur Armour, offensichtlich handelt es sich um eine persönliche Angelegenheit.“ Der Wachmann gab den Pass zurück. „Da die junge Dame weg ist und keinerlei Schaden verursacht wurde, ist die Angelegenheit beendet. Auf Wiedersehen, meine Herren.“
Brendan Sugrue rückte seinen Schlips gerade und strich sich das Jackett glatt, das ein wenig unter Jacks festem Griff gelitten hatte.
„Vielen Dank“, sagte er zum Wachmann. Der Blick, den er Jack zuwarf, war weit weniger freundlich. „Ich wollte die Angelegenheit eigentlich im Guten mit Holly klären. Nachdem Sie sich eingemischt haben, bleibt mir nichts anderes übrig, als zur Polizei zu gehen. Ich rate Ihnen, mir nicht noch einmal in die Quere zu kommen.“
Er drängte sich an Jack und Ramon vorbei und stürmte wütend davon.
Der auf Hochglanz polierte Boden war übersät mit unzähligen Flugblättern aus leuchtend gelbem, minderwertigem Papier. Jack betrachtete sie und kniete sich dann hin, um sie aufzusammeln. Er zeigte Ramon eines davon.
„‚Club Thaïs‘“, las dieser. „‚Cooler Jazz, heiße Rhythmen‘.“ Er überflog mit geübtem Blick die kurze Speisekarte auf der Rückseite. „Das ist nur eine billige kleine Brasserie.“
„Die junge Frau hat die Flugblätter vorhin verloren. Vielleicht geht sie abends gern dorthin oder ist dort angestellt.“
„Vielleicht arbeitet sie auch nur für die Firma, die diese Blätter gedruckt hat.“ Ramon ahnte bereits, was Jack vorhatte, und wollte ihn um jeden Preis von seinem Plan abbringen. „Woher willst du wissen, wer bei dieser Angelegenheit im Recht ist? Vielleicht stimmt es, was Sugrue gesagt hat, und das Mädchen ist wirklich ein bisschen schwierig. Außerdem solltest du nicht schon wieder den edlen Ritter spielen.“
Eine Weile sahen sie einander in die Augen und verstanden sich auch ohne Worte. Ramon wandte zuerst den Blick ab. Das habe ich wirklich großartig gemacht, dachte er ironisch, dreimal an einem einzigen Tag.
„Jack, es tut mir wirklich leid.“
„Schon gut“, erwiderte Jack ausdruckslos.
„Du hast doch gesehen, dass sie auf sich selbst aufpassen kann. Gleich bei der ersten Gelegenheit hat sie sich aus dem Staub gemacht. Und bestimmt ist sie von jetzt an auf der Hut, sodass dieser Typ sie nicht noch einmal erwischen wird.“
„Wahrscheinlich“, stimmte Jack ihm zu.
Seine Stimme klang munter, aber um seinen Mund zuckte es leicht. Ramon wusste, was das bedeutete. „Das Ganze geht uns nichts an“, bekräftigte er verzweifelt. „Außerdem sind wir nur noch zwei Tage hier – und was kann man in zwei Tagen schon erreichen? Du weißt ja noch nicht einmal, wie sie heißt.“
Nachdenklich schob Jack ein noch auf dem Boden liegendes Flugblatt hin und her. „Ich habe allerdings so eine Vermutung – und viel Zeit, bis das Komitee uns anruft.“
„Du willst also wirklich nach ihr suchen?“
„Ich werde meinem Instinkt folgen“, antwortete Jack. Er wirkte fest entschlossen. Ramon kannte diesen Gesichtsausdruck allzu gut. Er gab auf.
Holly stürzte blindlings aus dem Gebäude und zur Metro, denn sie wusste, dass sie in dem dort herrschenden Gedränge nicht leicht zu finden wäre. Erst als sie die Treppe bereits zur Hälfte hinuntergerannt war, fiel ihr der kleine Lieferwagen von Chez Pierre ein, den sie vor dem großen Gebäude im Parkverbot abgestellt hatte. Sie befürchtete, dass der Wagen abgeschleppt wurde, wenn sie ihn dort noch lange stehen ließ.
Unvermittelt blieb sie stehen. Ein Mann prallte von hinten gegen sie. Holly schrie vor Schreck auf und drehte sich um. Doch es war nur ein Passant, der einen leisen Fluch ausstieß und an ihr vorbei zur Metro hastete.
Holly presste sich die Hand aufs Herz, das wie wild klopfte. Nach einer Weile beruhigte sie sich, ging die Treppe wieder hinauf und trat ins Licht der hellen Frühjahrssonne. Ruhig bleiben, ermahnte sie sich. Das hier ist Paris und nicht Lansing Mills. Hier werden die Polizisten nicht nach Brendans Pfeife tanzen. Und er kann mich schließlich auch nicht auf offener Straße kidnappen.
Als Holly zum Lieferwagen ging, sah sie sich allerdings vorsichtig nach allen Seiten um. Zu ihrer unendlichen Erleichterung war Brendan Sugrue nirgends zu sehen – und ihr Retter auch nicht. Widerwillig musste sie sich eingestehen, dass diese Feststellung sie ein wenig enttäuschte.
„Es ist besser so“, redete sie sich ein. „Ich brauche den schönen Jack nicht als Aufpasser.“ Sie stieg in den uralten Wagen und drehte den Zündschlüssel um, aber der Motor sprang nicht an. Wütend trommelte sie mit den Fäusten aufs Lenkrad. Sie konnte nichts tun, als abzuwarten, nachzudenken … und sich zu erinnern.
Doch es war nicht Brendan mit seinen hinterhältigen Plänen und Schikanen, der ihr in den Sinn kam, oder Lansing Mills, wo sie sich immer eingeengt gefühlt hatte. Noch nicht einmal der Nachfolger ihres Vaters mit den sorgfältig manikürten Händen und den kalten Augen, die sie schließlich dazu gebracht hatten, von zu Hause wegzulaufen. Stattdessen dachte sie an den ungeduldigen Mann mit dem breiten, sinnlichen Mund, der so viel Gelassenheit und Selbstbewusstsein ausgestrahlt hatte – und der sie gerettet hatte.
„Schluss jetzt!“, schimpfte sie mit sich. „Ich habe in den letzten fünf Jahren nicht ein einziges Mal einen Retter gebraucht. Und jetzt tue ich es auch nicht – erst recht keinen überheblichen Kerl im Armani-Anzug!“
Als sie den Motor schließlich starten konnte und auf den Boulevard fuhr, konnte sie den Gedanken an Jack Armours dunkle Augen allerdings nicht ganz verdrängen – und daran, wie schön es wäre, wenn ein Mann wie er ihr den Kampf mit Brendan abnehmen würde.
Holly versuchte, Jack Armour aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. Und als sie abends zur Arbeit fuhr, war es ihr fast gelungen. Eine halbe Stunde nachdem der Club Thaïs aufgemacht hatte, betrat sie ihn wieder einmal über den Notausgang. Schnell streifte sie ihre Kleidung ab und zog ein schwarzes Top und die schwarzen Jeans an, die alle Angestellten tragen mussten.
„Du bist spät dran“, bemerkte Gilbert, der Besitzer des Clubs. „Ist dein Mann dir wieder auf der Spur?“
Er legte Wert darauf, nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Also hatte sie ihm erzählt, ihr eifersüchtiger Ehemann könnte eines Tages im Club auftauchen und nach ihr fragen. Gilbert hatte sich bereit erklärt, ihr zu helfen.
Holly nickte, doch er hatte das Interesse an ihrem Privatleben offenbar schon wieder verloren. „Wie viele Flugblätter hast du verteilt?“, erkundigte er sich.
„Alle“, erwiderte sie und verdrängte den Gedanken daran, dass die Hälfte davon auf den Boden des großen Bürokomplexes gefallen war.
„Gut. Wir könnten ein paar neue Gäste gebrauchen. Heute Abend ist bisher nicht sonderlich viel Betrieb.“
Holly glättete mit geübten Bewegungen die widerspenstigen Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten.
„Wenn Tobacco zu spielen anfängt, kommt sicher bald Stimmung auf.“ Tobacco war eine neue, bei den Stammgästen sehr beliebte Band.
Bestimmt werde ich heute nicht spielen, dachte Holly. Ihre Querflöte hatte sie bereits hinter den Kleidern verstaut.
„Wenn es nachher wirklich hoch hergeht, wirst du länger arbeiten müssen“, stellte Gilbert fest. „Ist das in Ordnung?“
Holly nickte. Dann würde sie mehr Trinkgeld bekommen. Und wenn Gilbert einen großzügigen Tag hatte, würde er ihr auch einen Zuschlag geben. Den könnte sie gut gebrauchen, für den Fall, dass sie bald wieder flüchten musste. Brendan hatte nicht gewirkt, als würde er seine Jagd aufgeben.
Sie folgte Gilbert und prägte sich schnell die Gerichte ein, die auf einer Tafel standen. Die Speisekarte des Club Thaïs änderte sich selten, denn die meisten Gäste kamen her, um zu tanzen, Musik zu hören und sich zu unterhalten.
Einen Moment lang war Holly traurig, denn in den vergangenen zehn Monaten war der Club für sie so etwas wie ein Zuhause geworden. Sie würde ihn vermissen. Aber es hatte keinen Sinn, traurig zu sein – darüber, dass sie von hier fortmusste, oder darüber, dass sie den schönen Jack nicht wieder sehen würde. „Lebe für den Moment“, hatte ihre Mutter immer gesagt. Und in den letzten fünf Jahren hatte sie gemerkt, wie recht ihre Mutter gehabt hatte.
Holly nahm ihren kleinen Block für die Bestellungen und hob das Kinn. „Auf geht’s, Gilbert“, erklärte sie fröhlich und stieß die Schwingtür zum Lokal auf.
„Warum mussten wir ausgerechnet hierher kommen?“ Ramon stand am oberen Ende einer Treppe, die zu dem kleinen Lokal im Souterrain führte, und verzog das Gesicht. „Oh nein, suchst du etwa immer noch nach diesem Mädchen?“
Jack lächelte ungerührt. „Du wolltest doch das echte Paris kennenlernen. Und außerdem lässt du dir sonst auch keine Gelegenheit entgehen, dich ein bisschen zu amüsieren.“
„Aber nicht bevor unsere Verhandlungen abgeschlossen sind. Ich möchte morgen früh um acht keinen Kater haben, wenn wir zu der Besprechung gehen.“
Jack gab allerdings nicht nach. „Komm schon, Ramon“, sagte er, „es wird bestimmt eine interessante Erfahrung.“
Leise fluchend gab Ramon sich geschlagen und folgte ihm widerstrebend in den dunklen Raum. Der unebene Boden war mit Steinplatten ausgelegt, und an den Wänden hingen Plakate, auf denen Dichterlesungen und Bands angekündigt wurden, von denen sie noch nie gehört hatten.
Sie setzten sich an einen wackeligen Tisch in der Ecke, der mit grobem Papier bedeckt war. Darauf stand eine halb heruntergebrannte Kerze auf einer angeschlagenen Untertasse.
Etwa die Hälfte der Tische war besetzt. Auf der Bühne spielte ein einzelner Musiker auf einer Tabla, und die Gäste unterhielten sich angeregt. Jack bestellte eine Flasche Rotwein und sah sich aufmerksam um.
„Oh nein“, platzte Ramon plötzlich heraus.
„Wo ist sie?“ Jack blickte sich um.
„Bitte denk doch einmal nach …“
Jack ignorierte ihn, winkte den Kellner herbei und fragte: „Wie heißt die junge Kellnerin mit dem langen Zopf?“
„Holly“, erwiderte der Mann und musterte ihn misstrauisch.
„Und mit Nachnamen?“
Der Kellner zuckte die Schultern. „Fragen Sie sie doch selbst. He, Hol, komm mal her!“ Er verschwand.
Holly kam an den Tisch. „Ja? Kann ich etwas …?“ Sie verstummte, und ihr Herz begann, heftig zu schlagen. „Sie sind es“, flüsterte sie. Sie schüttelte den Kopf, um das Trugbild zu vertreiben, aber Jack stand noch immer vor ihr – groß, dunkelhaarig und genau so gut aussehend, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Wie versteinert blickte sie auf ihren Block und brachte kein Wort heraus.
„Hallo, Holly“, sagte Jack.
Ihr lief ein Schauer über den Rücken, und ein unbekanntes Gefühl nahm von ihr Besitz. Sie blickte ihn an und erschrak. Noch nie hatte jemand sie so angesehen – als würde er all ihre Geheimnisse und Gefühle kennen.
„Holly wer?“, erkundigte er sich sanft.
Das Lokal, die Gäste, der Lärm – plötzlich nahm sie all das nicht mehr wahr. Es gab nur noch sie beide, Holly und Jack. Holly versuchte, etwas zu sagen, doch die Kehle war ihr wie zugeschnürt.
„Sie kennen schließlich auch meinen Namen.“
Holly musste all ihre Kraft zusammennehmen, um nicht nachzugeben. „Ich verrate meinen Namen nicht jedem Fremden.“
Er lächelte erneut. Es war derselbe gelassene, leicht überhebliche Gesichtsausdruck, den sie schon am Nachmittag bemerkt hatte. Jack schien so überzeugt davon, dass er im Recht war, dass er sich nicht einmal die Mühe gab, dies zu beweisen.
„Ich bin für Sie doch kein völlig Fremder. Immerhin habe ich Ihnen heute aus einer unangenehmen Lage geholfen.“
Sie hob das Kinn. „Ich wäre auch ohne Sie mit Brendan zurechtgekommen.“
„Es sah aber nicht danach aus“, bemerkte er trocken.
Holly zögerte. Ihre Art, sich mit Brendan Sugrue auseinanderzusetzen, hatte bisher darin bestanden, die Flucht zu ergreifen, wann immer er auftauchte. Und obwohl es ihr schon immer widerstrebt hatte, jemanden zu belügen, wollte sie es diesem überheblichen Mann gegenüber um keinen Preis zugeben.
Jack schien zu erahnen, was in ihr vorging. „Wenn er heute Abend hier auftaucht, dann würden Sie meine Hilfe also nicht benötigen?“
„Heute Abend?“ Bei dem Gedanken zuckte Holly zusammen. Sie dachte an Brendans wütenden Gesichtsausdruck, und ihr Magen krampfte sich vor Angst zusammen. Mit einem Mal wurde ihr klar, wie hilflos sie war.
Seine Miene war ausdruckslos. „Wenn Sie mir sagen, dass Sie mich nicht brauchen, gehe ich sofort.“
Schweigend blickten sie einander in die Augen. Ihr Atem ging stoßweise, als wäre sie gerannt. Holly wusste nicht, warum sie so durcheinander war.
Seine Augen funkelten, dann kniff Jack sie zusammen. Holly hatte das merkwürdige Gefühl, dass er aus irgendeinem Grund noch verwirrter war als sie. Sie verstand das alles nicht. Aber um keinen Preis würde sie zugeben, dass sie Jack Armour brauchte.
Um vom Thema abzulenken, fragte sie: „Meinen Sie wirklich, dass Brendan heute Abend herkommt?“
„Ich habe Sie schließlich auch gefunden.“
Sie blickte sich um. Der Raum füllte sich langsam mit Gästen, doch Brendan war nirgends zu sehen. Dafür entdeckte sie Gilbert, der an der Küchentür stand und sie energisch zu sich winkte.
„Ich muss arbeiten“, erklärte sie zerstreut.
„Es ist nicht meine Art, mich aufzudrängen. Wenn Sie mir sagen, dass ich gehen soll, werde ich das sofort tun.“
Wieder sahen sie einander an. Dann wandte Holly den Blick ab. Angestrengt überlegte sie, was sie erwidern konnte. Sie entdeckte die Weinflasche auf dem Tisch.
„Sie brauchen nicht zu gehen. Schließlich sind Sie ein zahlender Kunde.“ Holly entfernte sich langsam. „Trinken Sie Ihren Wein aus.“
„Ich bin nicht hier, um Wein zu trinken, und das wissen Sie auch.“
Holly blickte ihm fest in die Augen. „Weswegen sind Sie dann hergekommen?“, rief sie. „Meinetwegen?“
Er schwieg, aber seine Augen funkelten.
„Und Sie behaupten, Sie würden sich anderen nicht aufdrängen?“
Jack presste die sinnlichen Lippen zusammen. „Ich habe Sie heute Nachmittag aus einer ziemlichen unangenehmen Lage befreit“, sagte er ein wenig schroff.
„Das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht …“
„Vielleicht nicht. Allerdings habe ich meine Aufgabe noch nicht ganz erledigt.“
Sie war so überrumpelt, dass sie ihre Verärgerung vergaß. „Was wollen Sie damit sagen?“
„Mr. Sugrue hat mich davor gewarnt, ihm noch einmal in die Quere zu kommen.“
„Und Sie fühlen sich von ihm herausgefordert?“, erkundigte sie sich verständnislos.
„Sagen wir einfach, das Ganze ist für mich noch nicht erledigt.“ Eindringlich sah er sie an. „Trotzdem werde ich gehen, wenn Sie es wollen.“
Holly spürte, dass sie gezwungen war, ihm eine Antwort zu geben. „Nein. Bitte bleiben Sie“, bat sie ihn widerstrebend.
„Holly!“, rief Gilbert ungeduldig.
„Gehen Sie ruhig.“ Jack machte es sich auf seinem Stuhl bequem und lächelte zufrieden, als hätte sie ihn angefleht zu bleiben – und als hätte er sich gnädig dazu bereit erklärt.
Am liebsten hätte sie vor Wut geschrien. Als sie Gilbert ein weiteres Mal energisch rufen hörte, warf sie Jack noch einen resignierten Blick zu und lief schnell zwischen den Tischen hindurch.
„Tobacco wird sich verspäten, und Jerry ist gleich fertig“, sagte Gilbert. „Hol deine Flöte.“
Ramon atmete tief durch. „Einen Moment lang dachte ich, sie würde dich wegschicken.“
Jack lächelte. „Ich wusste ja, dass sie sehr eigensinnig ist“, bemerkte er zufrieden.
Sie aßen eine Pastete und bestellten dann einen marokkanischen Schmortopf. Eine Musikerin betrat die kleine Bühne. Ihr goldbraunes Haar war zu einem langen Zopf geflochten, und sie hatte eine silbern glänzende Querflöte in der Hand.
Ramon verschluckte sich fast an seinem Wein, als er sie sah. Jack dagegen blieb ungerührt. Doch als sie das Instrument an die Lippen setzte und ein Blues-Riff zu spielen begann, das an ein Saxofon erinnerte, kniff er die Augen zusammen.
„Sie scheint sehr vielseitig begabt zu sein“, stellte Jack nachdenklich fest. Anschließend lauschte er schweigend der Musik. Als Holly ihr Solo beendet hatte, stimmte ein anderer Musiker auf einem Keyboard mit ein. Ihre heißen Salsarhythmen brachten einige Gäste dazu, aufzustehen und zu tanzen. Jack drehte seinen Stuhl ein wenig, sodass er weiterhin die Musiker betrachten, gleichzeitig aber auch ein Auge auf den Eingang haben konnte.
Der Kellerraum füllte sich. Die Kellner zwängten sich zwischen den Tischen hindurch. Auf ihren übervollen Tabletts transportierten sie Teller mit Essen, Flaschen und kurze Weingläser. Der Raum war erfüllt von Stimmengewirr und Gelächter, und die Musik wurde lauter.
„Hier ist es gar nicht schlecht“, rief Ramon und wischte die letzten Tropfen Soße mit einem Stück des knusprigen Baguettes auf.
Und tatsächlich schien die ausgelassene Stimmung alle Gäste anzustecken, bis auf Jack. Holly bewegte sich leichtfüßig im Takt und spielte so konzentriert, dass sie nichts außer der Musik wahrzunehmen schien. Und als ein stämmiger Mann den Raum betrat und sich vom Treppenabsatz aus im Raum umblickte, bemerkte ihn niemand – außer Jack. Er war bereits aufgesprungen, bevor Ramon bemerkt hatte, was vor sich ging.
„Besorg uns ein Taxi“, rief Jack ihm über die Schulter zu und rannte zur Bühne. „Warte hinter dem Gebäude auf uns. Und beeil dich!“
Holly standen Schweißperlen auf der Stirn, und so war sie erleichtert, als der Keyboardspieler ihr mit einem Handzeichen ankündigte, dass er nun ein Solo spielen würde. Sie nahm die Flöte von den Lippen. Als die Zuschauer laut Beifall klatschten, verbeugte sie sich lachend.
Doch plötzlich spürte sie eine große Hand auf ihrem Arm.
„Es ist Zeit zu gehen.“
Erschrocken wandte sie sich um. Es war allerdings nicht Brendan, sondern Jack. Er hielt sie fest, als würde sie ihm gehören.
„Ihr überaus sympathischer Schwager ist soeben hereingekommen“, erklärte er. „Wollen Sie hier bleiben und ihn zum Zweikampf herausfordern, oder wollen Sie lieber weglaufen?“
Holly war wie versteinert, und plötzlich begann sie, am ganzen Körper zu zittern, erfüllt von jener unsagbaren Angst, die sie so lange nicht mehr verspürt hatte. Sie strich sich die zerzausten Locken aus der Stirn und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
„Ich … ich weiß nicht“, erwiderte sie verwirrt.
„Dann sollten Sie sich schnell entscheiden, bevor Ihr Schwager Sie findet.“
Holly sah zu Brendan hinüber, der nach und nach alle Kellner betrachtete. Den Musikern hatte er bisher noch keine Aufmerksamkeit geschenkt. Er hat meine Musik nie ernst genommen, dachte sie, erfüllt von schmerzvollen Erinnerungen. Keiner von ihnen hatte das getan.
In diesem Moment entdeckte Brendan sie. Er rannte die Stufen hinunter und zwängte sich zwischen Tischen und Kellnern hindurch. Jack stieß einen ungeduldigen Laut aus und zog sie mit sich durch die Schwingtüren in die Küche. „Keine Angst“, sagte er leise, „ich bringe Sie hier raus.“
Gilbert stellte sich ihm in den Weg.
„Sie haben einen Gast, der Schwierigkeiten machen wird“, berichtete Jack kurz angebunden. „Halten Sie ihn auf.“
Besorgt warf Gilbert ihr einen Blick zu. Als er ihren ängstlichen Gesichtsausdruck bemerkte, nickte er, trat beiseite und ging schnell ins Lokal.
Jack nahm ihr die Querflöte ab, die sie noch immer in der Hand hielt. Anschließend trug er sie die Stufen des Hinteraufgangs hinauf. In der Gasse standen leere Gemüsekisten. Der Geruch nach Essensresten riss sie plötzlich aus ihrer Benommenheit.
„Meine Tasche …“
„Die können Sie morgen abholen.“
Er klingt, als würde er das hier nicht zum ersten Mal tun, überlegte sie. Jack Armours ganzes Auftreten flößte Vertrauen ein. Holly war dankbar dafür. Sie lehnte sich an ihn und versuchte, sich zu beruhigen.
Dann sah sie ein Auto am Ende der Straße, das eine Lampe auf dem Dach hatte.
„Polizei“, flüsterte sie erschrocken.
Jack sah sie durchdringend an. „Nein, nur ein Taxi. Ich habe Ramon beauftragt, eins zu rufen.“ Er nahm ihre Hand, und sie rannten zu dem bereitstehenden Wagen.
Die Mitarbeiter der Armour-Katastrophenhilfe waren in einem sehr komfortablen kleinen Hotel untergebracht, das versteckt lag. Ohne sie zu fragen, fuhr Jack mit Holly dorthin, ließ ein Zimmer für sie reservieren und nahm sie mit in die kleine Bar.
Holly saß zusammengekauert auf einem Sessel am Kamin, in der Hand eine Tasse Kaffee. Alles andere hatte sie abgelehnt.
„Zum letzten Mal: Wie heißen Sie mit Nachnamen?“, fragte Jack.
Sie gab nach. „Dent. Mein Name ist Holly Dent.“
Er nickte. „Ich finde, Sie sind mir eine Erklärung schuldig.“
Holly schluckte. „Meine Tasche …“, begann sie.
Jack blickte Ramon an. Der Spanier seufzte resigniert. „Also gut, ich fahre noch einmal hin und hole sie. Sonst noch etwas?“
„Meine Querflöte.“
„Die habe ich mitgebracht, sie liegt hinter der Bar.“
Sie rang sich ein Lächeln ab. „Da bin ich aber erleichtert. So kann sie Brendan nicht in die Finger geraten.“ Unwillkürlich rieb sie sich die Schulter, als würde sie den Griff einer kräftigen Hand verspüren.
„Gut. Also nur Ihre Tasche?“
Holly schüttelte hilflos den Kopf. „Die Kleider, die ich anhatte, als ich zur Arbeit kam. Der kleine Koffer für meine Flöte und … Ich kann im Moment einfach nicht denken. Aber Gilbert wird schon wissen, was Sie noch mitbringen müssen.“
Ramon nickte und ging hinaus. Holly schien es nicht einmal wahrzunehmen. Jack setzte sich ihr gegenüber in einen mit Gobelinstoff bezogenen Sessel und betrachtete sie aufmerksam. „Warum haben Sie solche Angst vor diesem Mann?“, erkundigte er sich.
Sie zuckte zusammen. Ohne aufzublicken, erwiderte sie: „Das ist eine lange Geschichte.“
Jack ballte die Hände in den Hosentaschen zu Fäusten. Doch seine Stimme klang ruhig und gelassen. „Hat er Gewalt über Sie – im rechtlichen Sinne?“
Wenn es darauf nur eine einfache Antwort gäbe, dachte Holly verzweifelt. Sie trank einen Schluck Kaffee. Dann antwortete sie leise: „Vielleicht.“
Jack schwieg eine Weile. Schließlich erklärte er sanft: „Wenn Sie mir nicht die Wahrheit sagen, kann ich Ihnen nicht helfen. Und momentan bin ich vermutlich Ihre beste Wahl.“
Sehr wahrscheinlich sogar meine einzige, überlegte sie. Wenn es Brendan gelungen war, ihre Spur so schnell zum Club Thaïs zu verfolgen, würde er sie vermutlich überall finden.
Die arme Donna! Sie hatte ihren leiblichen Vater nie kennengelernt und daher sehr an ihrem Stiefvater gehangen. Doch nach seinem Tod hatte sie feststellen müssen, dass er das Unternehmen seiner leiblichen Tochter hinterlassen hatte, von deren Existenz er gerade erst erfahren hatte. Donna war verletzt gewesen, Brendan dagegen hatte vor Wut geschäumt. Und Donna, die ihn liebte, tat nun alles, was er ihr sagte. Sicher gab sie ihm Geld, damit er sie, Holly, suchen konnte.
Bei diesem Gedanken lief es Holly eiskalt über den Rücken. Ja, es war besser, sein Herz zu verschließen und keinen Mann hineinzulassen.
„Und?“
Jacks Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Holly versuchte, sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren. „Ich weiß wirklich nicht, ob Brendan, rechtlich gesehen, Macht über mich hat. Er ist mit meiner Stiefschwester verheiratet“, fuhr sie fort. „Meine Eltern sind im Abstand von wenigen Jahren gestorben, und so habe ich schließlich mit Donna, meiner Stiefschwester, und Brendan zusammengelebt.“ Sie hatte zwar eine ganze Menge wichtiger Details ausgelassen, aber zumindest war es nicht gelogen.
„Das erklärt nicht, warum Sie Angst vor ihm haben.“
Holly senkte den Blick. „Wir … wir sind unterschiedlicher Meinung, was meine Zukunft betrifft. Deshalb bin ich von Zuhause weggegangen.“
„Worüber genau waren Sie sich nicht einig?“
Sie wollte so wenig wie möglich von sich preisgeben – schon gar nicht den Namen ihres Vaters.
„Ich … ich wollte meine berufliche Ausbildung fortsetzen“, antwortete sie ausdruckslos.
Jack sah sie mit seinen dunklen Augen so eindringlich an, als wäre er der Richter und sie die Angeklagte. Holly erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Also gut“, meinte er schließlich, doch es klang nicht, als würde er ihr glauben. „Und wie kann er Sie davon abhalten? Geht es um Geld?“
Energisch schüttelte sie den Kopf. „Nein, ich habe noch nie Geld von Donna und ihm angenommen.“
„Wenn Sie wirklich zweiundzwanzig Jahre alt sind, kann er Ihnen doch gar nichts vorschreiben.“
Holly überlegte. „Wahrscheinlich haben Sie recht“, stimmte sie ihm zu. „Aber sie leben nun einmal in einer Kleinstadt in den USA, und mein Vater hat ein völlig verrücktes Testament hinterlassen. Ich hätte es anfechten müssen. Allerdings habe ich nie daran geglaubt, dass ein Gericht mir recht geben würde.“
„Warum nicht?“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Ich komme übrigens auch aus einer amerikanischen Kleinstadt“, fügte er ein wenig trocken hinzu.
„Dann sollten Sie wissen, was ich meine“, erwiderte sie. „Kein Rechtsanwalt würde mich als Mandantin annehmen, wenn ich gerichtlich gegen meine Familienmitglieder vorgehen will. Sie gehören zu den angesehensten Einwohnern der Stadt.“ Sie lächelte ironisch. „Mit anderen Worten, meine Familie ist der wichtigste Arbeitgeber der Region – wenn nicht sogar der einzige.“
„Ich verstehe.“ Jack war sofort klar, was sie meinte.
Holly seufzte. „In gewisser Hinsicht ist es nachvollziehbar. Schließlich war ich erst siebzehn und hatte nur zwei Jahre in Lansing Mills gewohnt. Aber meine Stiefschwester Donna kennen alle Menschen dort bereits seit ihrer Geburt – und Brendan seit der Hochzeit. Vermutlich haben die Leute geglaubt, die beiden wollten nur auf mich aufpassen und dafür sorgen, dass ich keine Dummheiten mache – natürlich alles zu meinem Besten.“ Einen Moment war ihr Gesicht unendlich traurig.
Jack kannte diesen Blick. Er hatte ihn schon sehr oft gesehen. Diesen Gesichtsausdruck hatten Gefangene, die aufgegeben hatten und nicht mehr versuchten, sich aus ihrem Gefängnis zu befreien. Sein Magen krampfte sich zusammen. Doch Jack sagte nur: „Also sind Sie weggelaufen. Was genau war der Anlass?“
Holly antwortete ausweichend. „Das Testament meines Daddys besagte, dass Donna sich um mich kümmern soll, bis ich fünfundzwanzig bin, es sei denn, ich würde vorher heiraten.“ Sie verzog das Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Brendan und sie waren der Ansicht, ich solle zu Hause bleiben und weder aufs College gehen noch reisen oder irgendetwas anderes tun.“
Jack schwieg eine Weile nachdenklich. „Sie hatten heute Nachmittag große Angst vor diesem Mann“, stellte er schließlich fest. „Das war deutlich zu sehen.“
Holly hob den Kopf. Er bemerkte den wachsamen Ausdruck in ihren leuchtenden haselnussbraunen Augen.
„Sie trauen mir nicht über den Weg“, bemerkte er. „Stimmt’s?“
Sofort senkte sie die Lider. Sie zuckte die Schultern. „Warum sollte ich das auch tun?“
„Weil Sie nicht sehr viele Möglichkeiten haben. Und Sie brauchen Hilfe.“
Holly hob das Kinn. „Nein, das tue ich nicht!“
Er ging nicht darauf ein. „Warum sind Sie von Zuhause weggelaufen?“
Sie sahen sich an. Hollys Augen drückten Verärgerung und Angst aus, Jacks Miene dagegen war unbewegt. Sie senkte zuerst den Blick.
Der Barkeeper näherte sich ihnen. „Mr. Armour, da ist ein Anruf für Sie.“
Jack zögerte. Als er aufstand und zur Bar ging, hatte Holly das Gefühl, dass ein unbarmherziges Verhör endlich vorbei war. Erschöpft ließ sie sich gegen die Lehne des Sessels sinken. Während der vergangenen fünf Jahre hatte sie gelernt, Menschen schnell zu durchschauen. Doch in Jack Armour hatte sie sich getäuscht. Wegen seiner selbstsicheren, typisch männlichen Art war er für sie nur „der schöne Jack“ gewesen. Und er war wirklich sehr attraktiv mit seinen geheimnisvollen, schräg stehenden Augen, den hohen Wangenknochen, den markanten Gesichtszügen, dieser Aura der Macht …
Er ist ziemlich sexy, stellte Holly sachlich fest. Allerdings war Jack Armour viel mehr als ein Mann mit erotischer Ausstrahlung. Er hatte sofort gemerkt, dass sie ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Und noch nie hatte jemand versucht, ihr all ihre Geheimnisse zu entlocken. In gewisser Hinsicht war Jack Armour genauso entschlossen wie Brendan Sugrue. Eigentlich war er sogar fast so schlimm wie Homer.
Ein Schauder lief ihr den Rücken hinunter, doch sie riss sich zusammen. Niemand ist so schlimm wie Homer, erinnerte sie sich. Und genau aus diesem Grund war sie weggelaufen – und sie würde immer wieder weglaufen, bis sie fünfundzwanzig Jahre alt wäre und Brendans gerissene Anwälte ihr nichts mehr anhaben könnten. Du bist schon so weit gekommen, ermahnte sie sich, du darfst jetzt nicht aufgeben.
Jack beendete das Telefongespräch und kam zurück. „Ich muss arbeiten“, sagte er kurz angebunden.
Holly nickte. „Ich warte, bis Ihr Freund mir meine Sachen bringt, und dann werde ich gehen.“
Aus irgendeinem Grund schien ihm dieser Vorschlag nicht zu gefallen. „Aber was machen Sie, wenn dieser Kerl herausfindet, wo Sie wohnen?“
Unwillkürlich zuckte sie zusammen. Doch sie hatte gelernt, sie sich nicht von ihrer Angst lähmen zu lassen. Also hob sie das Kinn und erwiderte ein wenig schnippisch: „Dann werde ich die Wohnungstür eben nicht öffnen.“
Obwohl Jack erklärt hatte, er müsste arbeiten, rührte er sich nicht von der Stelle.
„Sie können hier bleiben. Ich habe Ihnen ein Zimmer reservieren lassen.“
„Das kann ich mir nicht leisten“, entgegnete Holly ruhig.
Jack klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. Er schien voller aufgestauter Energie zu sein. Was würde wohl passieren, wenn er nicht so mit seiner Arbeit beschäftigt wäre? Oder wenn er sie berühren würde … Sie riss sich zusammen, bevor ihre Fantasie mit ihr durchging.
„Ich kann es mir nicht leisten“, wiederholte sie – und damit meinte sie nicht nur den Preis für das Zimmer.
„Aber ich kann es.“
Holly blickte ihn an. Sie wusste aus Erfahrung, dass man selten eine Unterkunft angeboten bekam, ohne dass eine Gegenleistung erwartet wurde.
Jack schien ihre Gedanken zu erraten. „Sehen Sie mich nicht so an. Ich werde Ihnen nichts tun.“
„Die meisten Männer erwarten eben, dass man sich revanchiert.“
Er presste die Lippen zusammen. „Dann haben Sie sich mit den falschen Männern abgegeben“, bemerkte er nur. „Aber es ist ihre Entscheidung. Wenn Sie das Zimmer möchten – es ist für Sie reserviert.“
„Aber …“
„Und Sie müssen weder etwas dafür bezahlen noch sich sonst irgendwie ‚revanchieren‘“, fügte er kühl hinzu. „Gute Nacht.“ Und bevor ihr einfiel, wie sie ihn aufhalten konnte, war er gegangen.
Holly nickte ein und schreckte auf, als Ramon wiederkam und ihre Sachen brachte. Er trug ihren Flötenkoffer und eine Plastiktüte, in die er ihre fleckige Jeans und ihre Baumwolltasche gestopft hatte. Sie begann, darin herumzuwühlen.
„Falls Sie Ihren Pass suchen, der ist hier.“ Der Spanier reichte ihr das Dokument, wobei er ihr einen merkwürdigen Blick zuwarf.
Erleichtert nahm sie den Pass an sich.
„Geld oder Schlüssel habe ich nicht gefunden“, fügte er gewissenhaft hinzu.
Holly lächelte und zog ein paar gefaltete Banknoten aus der Hosentasche. „Ich nehme immer nur Geld für die Metro oder ein Taxi mit, wenn ich zum Arbeiten in den Club gehe. Und was meine Schlüssel betrifft …“ Sie schob den Ärmel zurück, und Ramon sah, dass sie ein Bettelarmband trug, an dem auch ein Schlüssel hing.
„Sehr vernünftig“, sagte er. „Wo ist denn Jack?“
Ihre Fröhlichkeit war plötzlich wie weggeblasen. „Er bekam einen Anruf und meinte, er müsse arbeiten.“
Ramon seufzte. „Schon wieder eine Nacht ohne Schlaf. Ich sollte besser herausfinden, was ich zu tun habe.“ Er zögerte. „Und was ist mit Ihnen?“
„Machen Sie sich um mich keine Gedanken“, beruhigte Holly ihn. „Ich werde schon zurechtkommen.“ Ich muss es, dachte sie. „Ich … ich nehme an, Brendan war nicht mehr da, als Sie in den Club kamen?“
„Nein. Sie brauchen sich seinetwegen keine Gedanken zu machen. Die Angestellten dort scheinen alle auf Ihrer Seite zu sein.“ Ramon trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Er hatte sich mit Gilbert unterhalten und einiges erfahren, was ihn überrascht und verwirrt hatte.
„Das ist sehr nett von ihnen.“ Holly holte die Querflöte, die der Barkeeper aufbewahrt hatte, und begann, sie auseinanderzunehmen. Vorsichtig legte sie das Instrument ins Köfferchen und ließ die Verschlüsse zuschnappen. „Sie waren wirklich sehr nett zu mir. Vielen Dank.“ Sie reichte ihm die Hand.
Ramon merkte, dass sie aufbrechen wollte. Zögernd schüttelte er ihr die Hand. „Sie sollten sich lieber bei Jack bedanken, nicht bei mir.“
„Ich bin Ihnen beiden dankbar.“
Was wird Jack wohl sagen, wenn er erfährt, dass ich sie einfach so habe gehen lassen? fragte der Spanier sich. „Wollen Sie nicht hier bleiben?“
„Nein.“
„Aber Jack erwartet sicher …“
„Er weiß, dass ich nach Hause fahre. Wir haben darüber gesprochen.“ Holly ging zur Tür. Ramon folgte ihr.
„Möchten Sie sich denn nicht einmal von ihm verabschieden?“
„Und ihn bei seiner Arbeit stören?“, fragte sie ironisch.
Er blickte sie so flehentlich an, dass sie stehen blieb. „Sie und Mr. Armour haben bereits viel mehr für mich getan, als man von Fremden erwarten kann“, erklärte sie freundlich. „Außerdem ist Brendan mein Problem, und ich muss selbst einen Weg finden, wie ich mit ihm fertig werde.“
„Weg?“
Jack wandte sich um und sah Ramon an. „Wusstest du, dass sie wegfahren wollte?“ Sein sonnengebräuntes Gesicht war aschfahl, und um seinen Mund zuckte es leicht.
Nervös trat der Spanier von einem Fuß auf den anderen. „Sie … sie hat sich noch bedankt“, erwiderte er unsicher.
Jack kniff die Augen zusammen und wandte sich an die Rezeptionistin. „Hat die junge Frau mir eine Nachricht hinterlassen?“