Ein Sommer für zwei - Kathryn Taylor - E-Book

Ein Sommer für zwei E-Book

Kathryn Taylor

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Beschreibung

Willkommen zurück in Cornwall, wo die Sommer lang und die Landärzte heiß sind …

Was hat den attraktiven Mediziner David MacKenzie dazu gebracht, die Landarztpraxis im verschlafenen Carywith in Cornwall zu übernehmen? Diese Frage stellt sich auch seine Angestellte Shauna, die ihn für arrogant hält. Erst als sie ihre Wohnung verliert und David ihr anbietet, mit ihrer kleinen Schwester Emma und ihrer trächtigen Colliehündin Brave zu ihm zu ziehen, lernt sie ihn richtig kennen, und nach einem leidenschaftlichen Kuss träumt sie von einer Zukunft mit ihm. Doch was will David wirklich in Cornwall? Und wie wird er reagieren, wenn er Shaunas Geheimnis erfährt?

Lesen Sie auch die anderen Roman der »Cornwall-Träume«-Reihe!

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Seitenzahl: 403

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Was hat den attraktiven Mediziner David MacKenzie dazu gebracht, die Landarztpraxis im verschlafenen Carywith in Cornwall zu übernehmen? Diese Frage stellt sich auch seine Angestellte Shauna, die ihn für arrogant hält. Erst als sie ihre Wohnung verliert und David ihr anbietet, mit ihrer kleinen Schwester Emma und ihrer trächtigen Colliehündin Brave zu ihm zu ziehen, lernt sie ihn richtig kennen, und nach einem leidenschaftlichen Kuss träumt sie von einer Zukunft mit ihm. Doch was will David wirklich in Cornwall? Und wie wird er reagieren, wenn er Shaunas Geheimnis erfährt?

Autorin

Kathryn Taylor begann schon als Kind zu schreiben – ihre erste Geschichte veröffentlichte sie bereits mit elf. Von da an wusste sie, dass sie irgendwann als Schriftstellerin ihr Geld verdienen wollte. Nach einigen beruflichen Umwegen und einem privaten Happy End ging ihr Traum in Erfüllung. Mittlerweile wurden ihre Romane in fünfzehn Sprachen übersetzt und haben Stammplätze auf den Bestsellerlisten.

Von Kathryn Taylor ebenfalls lieferbar:

Ein Cottage für zwei

Ein Tanz für zwei

Kathryn Taylor

Ein Sommer

für zwei

Roman

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Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025

by Blanvalet, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich

Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Anne Fröhlich

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

LH Herstellung: DiMo

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN: 978-3-641-32825-2V001

www.blanvalet.de

1

Shauna blickte zu der großen Wanduhr hinüber und seufzte erleichtert. Es war schon halb sechs. Nur noch eine halbe Stunde, dann war die Sprechstunde offiziell zu Ende, und mit etwas Glück musste sie heute nicht länger bleiben, wie sonst so oft.

Es klappte fast nie, dass sie die Praxis pünktlich verlassen konnte, weil immer noch jemand in letzter Minute hereinkam oder weil sich die Behandlungen über den Tag hinweg verzögerten. Aber heute lagen sie gut in der Zeit, und von ihrem Platz hinter dem Empfangstresen aus konnte Shauna in das jenseits des Flurs gelegene Wartezimmer blicken, wo nur noch ein Patient saß. Seamus Bodilly, ein älterer Farmer aus der Gegend, klagte über Schmerzen im Knie. Seine Behandlung würde sicher nicht ewig dauern, und wenn sonst niemand mehr kam, dann würde Shauna nur noch schnell ein bisschen aufräumen und um Punkt sechs Uhr gehen. Es war ein schöner, warmer Juliabend, und sie wollte ihn gerne für einen Ausflug zum Strand nutzen, zusammen mit Emma. Die Kleine liebte es, mit Brave über den Sand um die Wette zu rennen. Und Shauna sehnte sich danach, sich vom Wind den Kopf freipusten zu lassen und die drängenden Sorgen, die sie in letzter Zeit kaum schlafen ließen, mal für eine Weile zu vergessen …

Die Tür zum Behandlungszimmer knallte so laut zu, dass Shauna erschrocken zusammenzuckte. Einen Augenblick später stürmte Declan Spargo, der Patient, den sie zuletzt zu MacKenzie hineingeführt hatte, an der Anmeldung vorbei in Richtung Ausgang.

Oh nein, bitte nicht schon wieder, dachte sie und erhob sich hastig.

»Mr. Spargo?« Sie lief dem sichtlich aufgebrachten Mann nach und erwischte ihn gerade noch, als er eben zur Praxistür hinauswollte. »Was ist passiert? Haben Sie sich mit dem Doktor gestritten?«

Declan Spargo hatte die Hände zu Fäusten geballt, und seine Lippen bildeten eine schmale Linie, was Shauna noch mehr erschreckte. Denn eigentlich war der Wirt des Fisherman’s Inn ein freundlicher Mann, der viel lächelte.

»Ich wollte nur ein Rezept für mein Magenmittel, so wie immer«, beschwerte er sich. »Aber Doktor MacKenzie will es mir nicht geben. Stattdessen soll ich ins Krankenhaus!« Er schüttelte den Kopf. »Macht aus einer Mücke einen Elefanten, dieser Quacksalber, nur damit er mehr Geld an mir verdient!«

»Doktor MacKenzie verdient nichts daran, wenn er Sie ins Krankenhaus schickt«, versicherte Shauna ihm. »Er hat ganz sicher nur Ihre Gesundheit im Blick. Wenn er sagt, dass Sie dorthin müssen, dann …«

»Ich muss da aber nicht hin!«, unterbrach der Mann sie wütend. »Ich habe mal wieder Magenbeschwerden und brauche meine Tropfen, die mir seit Jahren helfen. Doktor Brown hat sie mir immer gegeben, und sie haben immer gewirkt. Aber nein, Doktor Oberschlau aus der Großstadt weiß es ja besser.« Er hielt inne, weil ihm offenbar auffiel, wie laut er geworden war. »Nichts für ungut, Miss Lewis, Sie können nichts dafür. Aber mich sehen Sie hier nicht wieder.«

Er stieß die Tür ganz auf und verließ die Praxis. Shauna folgte ihm ein Stück und sah ihm nach, während er die wenigen Schritte hinüber ins Fisherman’s Inn ging, das direkt neben der Praxis lag. Die Hafenkneipe gehörte ihm, und da sie so etwas wie das heimliche Zentrum von Carywith war, wo sich die Dorfbevölkerung gerne auf einen Plausch traf, war Shauna ziemlich sicher, dass sich bald herumgesprochen haben würde, wie stur sich der neue Landarzt verhalten hatte.

Das würde MacKenzies Ruf schaden. Mal wieder. Denn letzte Woche hatte er sich auch schon mit Martin Rodark gestritten, und in der Woche davor mit der alten Harriet Stowe. So ging das schon, seit Shauna Anfang Juni, also vor knapp anderthalb Monaten in der Praxis angefangen hatte. Sie hatte keine Ahnung, was mit ihrem Chef manchmal los war, aber er schaffte es immer wieder, die Leute, die bei ihm Hilfe suchten, gegen sich aufzubringen. Wenn er so weitermachte, kam vielleicht bald niemand mehr. Und dann war Shauna ihren Job wieder los, kaum, dass er richtig angefangen hatte.

Mit einem Anflug von Verzweiflung ließ sie den Blick über die Hafenpromenade schweifen. Bei dem Gedanken, diesen Ort wieder verlassen zu müssen, zog sich ihr Herz zusammen. Sie hatte nicht erwartet, dass es sie ausgerechnet nach Cornwall verschlagen würde. Als sie sich auf die Stelle bei MacKenzie beworben hatte, war ihr nur wichtig gewesen, möglichst schnell aus Exeter wegzukommen, wo sie nicht mehr hatte bleiben können. Doch es gefiel ihr sehr in Carywith. Das kleine Dorf lag idyllisch in einer Bucht – und die Praxis direkt am Hafen.

Wenn man aus der Tür trat, waren es nur noch wenige Meter bis zur Kaimauer, von wo aus man auf zahlreiche Segeljachten und Fischerboote blicken konnte. Bei Ebbe lagen die Schiffe auf dem Sand, doch im Moment schaukelten sie mit der Flut auf den Wellen, Möwen ließen sich an dem heute wunderbar blauen Himmel im Wind treiben, und die hübschen Steinhäuser des kleinen Fischerdorfes mit ihren bunten Fensterrahmen und den Blumenkästen auf den Fensterbänken bildeten eine Kulisse, in die man sich einfach verlieben musste.

Dass es im Südwesten von England wunderschön war, hörte man oft, aber in der Realität hatte Cornwall Shaunas Erwartungen tatsächlich noch übertroffen. Sogar mit ihrer Heimat Irland konnte diese Gegend mithalten, und das sollte schon was heißen. Vielleicht konnten Emma und sie hier wirklich neu anfangen. Doch dafür musste sie ihren Job in der Praxis von MacKenzie behalten. Eine Alternative dazu gab es für sie nicht, er war der einzige Arzt der Gegend. Und wenn er weiter in diesem Tempo Patienten vergraulte …

»Miss Lewis?« MacKenzies Ruf drang aus dem hinteren Teil der Praxis zu ihr und riss sie aus ihren Gedanken. »Kommen Sie bitte mal? Ich habe hier ein Problem!«

Mit einem Seufzen ging Shauna zurück ins Haus und schloss die Tür. Sie wollte nach hinten gehen, doch als sie am Wartezimmer vorbeikam, stieß sie beinahe mit Seamus Bodilly zusammen.

»Oh, tut mir leid«, entschuldigte sich der ältere Farmer. Er drehte seine Mütze in der Hand und blickt unsicher in Richtung der Behandlungszimmer. »Richten Sie dem Doktor bitte aus, dass ich ihn doch nicht mehr sehen muss.«

Überrascht sah Shauna ihn an. »Sie sind jetzt sofort dran«, versicherte sie ihn.

»Ja, ich weiß«, erwiderte er. »Aber mein Knie tut gar nicht mehr weh. Ich melde mich, falls es wieder schlimmer wird.«

Er setzte seine Mütze auf und verließ die Praxis beinahe fluchtartig.

Und der Nächste, dachte Shauna bedrückt, nachdem die Tür hinter Bodilly ins Schloss gefallen war. Der Farmer musste mitangehört haben, was Declan Spargo gesagt hatte, und schien jetzt ebenfalls keinen Wert mehr auf eine Behandlung zu legen.

Sicher ging Bodilly direkt rüber ins Fisherman’s Inn, setzte sich an die Theke und hörte sich die Tiraden an, die Declan Spargo über MacKenzie losließ. Und wenn dann dort noch andere saßen, die das mitbekamen …

Ein Schwindelgefühl ergriff Shauna, und sie musste sich kurz an der Wand abstützen. Sie fühlte sich schon den ganzen Tag nicht gut, aber jetzt drehte sich plötzlich alles um sie herum. Mit unsicheren Schritten tastete sie sich durch den Flur bis zu der schmalen Toilette. Wenn es ihr so ging wie jetzt, dann half es ihr meistens, sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen zu lassen.

Sie drehte den Hahn an dem kleinen Waschbecken voll auf und blickte, während das Wasser angenehm kalt über die empfindliche Haut an ihren Handgelenken rann, in den Spiegel. Sie sah blasser aus als sonst, weil sie nachts kaum Ruhe fand, deshalb hatte sie etwas mehr Make-up aufgetragen. Wobei das trotzdem nicht viel war. Ein bisschen Mascara, um ihre blauen Augen zu betonen, etwas Puder, ein Hauch Rouge und ein Lipgloss – mehr verwendete sie fast nie, und mehr war auch eigentlich nicht nötig, schließlich war sie noch jung und gehörte zu den Glücklichen, die mit ebenmäßigen Gesichtszügen und einem relativ glatten Hautbild gesegnet waren. Außerdem war es ihr lieber, wenn sie nicht auffiel. Sie musste nicht im Mittelpunkt stehen und alle Blicke auf sich ziehen. Das hatte sie – unfreiwillig – schon einmal getan, und diese Erfahrung wollte sie nicht wiederholen.

Das Schwindelgefühl hatte nachgelassen, deshalb drehte Shauna den Wasserhahn wieder zu und trocknete sich die Hände ab. Mit geübten Handgriffen richtete sie den Pferdeschwanz, zu dem sie ihr dunkles, schulterlanges Haar gebunden hatte, und schob sich ihre Curtain Bangs hinter die Ohren. Dann zupfte sie den dünnen hellblauen Pullover zurecht, den sie heute zu einer engen Jeans und Sneakern trug, und warf noch einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, bevor sie die Toilettentür öffnete – und beinahe mit MacKenzie zusammenprallte, der direkt davorstand.

»Oh, go hifreann leat!«, entfuhr es Shauna auf Gälisch, und sie konnte nur hoffen, dass er nicht wusste, dass sie ihn gerade zur Hölle geschickt hatte. Sie legte sich eine Hand auf die Brust und atmete tief durch. »Sie haben mich erschreckt!«

»Wieso dauert das denn so lange?«, erwiderte MacKenzie ungeduldig und blickte auf sie herunter. Er war weit über eins achtzig groß, und sie reichte ihm mit ihren eins fünfundsechzig gerade bis an die Schulter. »Kommen Sie mit, ich will Ihnen was zeigen.«

Er ging vor in das kleinere der beiden Behandlungszimmer und setzte sich hinter den Schreibtisch. Shauna folgte ihm und betrachtete ihn dabei heimlich.

Er gehörte definitiv zu den attraktivsten Männern, die sie jemals getroffen hatte, und manchmal war sie immer noch ein bisschen schockiert darüber. Sie hatte sich den Landarzt von Carywith als älteren Herrn um die sechzig vorgestellt, mit grauen Schläfen und beginnender Glatze. Doch David MacKenzie war Anfang dreißig, hatte rotbraunes Haar, auffallend grüne Augen und eine durchtrainierte Figur mit breiten Schultern. Er kleidete sich lässig, auch in der Praxis, kam meist, wie heute, in Jeans und Hemd, was er draußen mit einer ziemlich coolen Lederjacke im Bikerstil kombinierte. Den weißen Kittel, den er tatsächlich auch besaß, ließ er an dem Haken hinter der Tür des Behandlungszimmers hängen.

Und dann sein Lächeln! Es erhellte sein sonst so strenges, schönes Gesicht und ließ seine Augen funkeln. Damals beim Vorstellungsgespräch hatte er viel gelächelt, daran erinnerte Shauna sich noch gut. Er hatte ihr erklärt, dass er dringend eine Nachfolgerin für seine vorherige Arzthelferin brauchte, die überraschend und sehr kurzfristig gekündigt hatte, und Shauna war so damit beschäftigt gewesen, ihn anzuschauen, dass sie sich gar nicht gefragt hatte, warum ihre Vorgängerin gegangen war. Sie war einfach nur froh gewesen, als er ihr anschließend mitgeteilt hatte, dass sie die Stelle haben konnte. Inzwischen hätte sie allerdings schon gerne gewusst, ob Sarah Brown, die Enkelin des ehemaligen Praxisinhabers Phineas Brown, vielleicht nicht mit MacKenzies Art klargekommen war. Vorstellen konnte Shauna sich das, denn der Mann war eine Herausforderung, und zwar in jeder Hinsicht.

Er war nämlich nicht nur ungeduldig und hin und wieder aufbrausend, sondern generell so unorganisiert, dass er sie damit in die Verzweiflung trieb. Jetzt zum Beispiel lag sein Schreibtisch schon wieder voll mit übereinandergestapelten Unterlagen, aus denen er einige Blätter herausgezogen hatte. Das würde neu sortiert werden müssen, und vermutlich musste Shauna das für ihn erledigen, so wie immer. Sie räumte ständig hinter ihm her, und oft bedankte er sich nicht einmal dafür. Im Gegenteil – meistens sah er nicht mal, dass er ihr unnötige Arbeit machte, dafür war er viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Und er lächelte auch nur noch selten, jedenfalls nicht ihr gegenüber. Das sparte er sich für die Patientinnen auf, die Shauna heimlich seine »Groupies« nannte, weil sie ständig wegen Lappalien in die Praxis kamen und ihr Interesse an ihm unverhohlen zeigten, indem sie mit ihm flirteten. Zu denen war er sehr nett, während er Shauna meist eher wie ein Stück Praxisinventar behandelte: Notwendig, aber nicht weiter beachtenswert.

Shauna seufzte innerlich. Nicht dass sie mehr Aufmerksamkeit von ihm wollte. Im Gegenteil, nach der Katastrophe mit Ethan war sie froh um jeden gut aussehenden Mann, der einen Bogen um sie machte. Deshalb war es in Ordnung, dass er sich ihr gegenüber so distanziert verhielt. Aber zu den Patientinnen und Patienten musste er endlich freundlicher werden!

Das Problem schien jedoch tiefer zu gehen. Sie hatte das Gefühl, als würde MacKenzie mit seiner eigenen Praxis fremdeln. Wenn er seine Patienten behandelte, war er bei der Sache. Bei allem, was die Praxisorganisation betraf, schien er jedoch sein Gehirn auszuschalten. Das geht wirklich nicht mehr lange so weiter, dachte Shauna, während sie seiner Aufforderung folgte, um den Schreibtisch herumzukommen. Sie stellte sich neben seinen Stuhl, und er deutete mit dem Kinn auf den Computerbildschirm.

»Da, schauen Sie sich diesen Eintrag mal an. Werden Sie schlau daraus?«, fragte er mit genervtem Unterton.

Shauna sah, dass auf dem Bildschirm das alte Buchhaltungsprogramm geöffnet war, mit dem MacKenzies Vorgänger gearbeitet hatte. Es gab längst viel modernere Systeme, so jedenfalls kannte Shauna es aus den Praxen, in denen sie zuvor angestellt gewesen war, und es hätte sich gelohnt, die veraltete Technik auszutauschen. Doch MacKenzie hatte das bisher nicht getan. Stattdessen ärgerte er sich lieber regelmäßig darüber, dass das alte System Probleme machte, weil viele Patientenakten fehlerhaft waren oder sich nicht richtig aufrufen ließen.

Sie beugte sich noch weiter vor, um besser lesen zu können, was auf dem Bildschirm stand, und kam MacKenzie dabei so nah, dass sie ihn beinahe berührte.

Er riecht gut, schoss es ihr durch den Kopf. Nach einer sehr angenehmen Mischung aus Leder und Sandelholz. Das war ihr schon ein paarmal aufgefallen, wenn sie sich im Praxisalltag nahegekommen waren. Sie atmete tief ein – und richtete sich dann erschrocken wieder auf. Herrgott, was tat sie denn da? MacKenzie war ihr Chef, und das Letzte, was sie interessieren sollte, war, ob sie sein Aftershave mochte.

»Miss Lewis?« Er musterte sie stirnrunzelnd, offenbar irritiert über ihren plötzlichen Rückzug. »Können Sie das klären?«

»Ja. Nein. Doch, natürlich«, stotterte sie und spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. »Ich kümmere mich darum.«

Sie wollte sich umdrehen und den Raum verlassen, doch MacKenzie griff nach ihrem Arm und hielt sie zurück.

»Sie sehen blass aus«, sagte er. »Das ist mir schon den ganzen Tag aufgefallen. Ist was mit Ihnen?«

Shauna starrte ihn an. Dass er ihren völlig übermüdeten Zustand bemerkt hatte, konnte sie kaum glauben. Doch da war plötzlich ein sehr aufmerksamer Ausdruck in seinen grünen Augen, und in seinem Gesicht las sie Besorgnis.

»Nein, es ist nichts. Mir geht’s gut«, versicherte sie ihm, und als er sie wieder losließ, hatte sie das Gefühl, als würde ihre Haut brennen an der Stelle, an der seine Hand sie eben noch berührt hatte. »Ich gehe dann wieder nach vorn.«

Hastig trat sie hinter dem Schreibtisch hervor. Sie wusste selbst nicht, wieso MacKenzie sie ausgerechnet heute so aus der Ruhe brachte. Wahrscheinlich war sie durch den fehlenden Schlaf dünnhäutiger als sonst.

»Dann schicken Sie den nächsten Patienten rein«, meinte er hinter ihr. Sie blieb stehen und drehte sich wieder zu ihm um.

»Das geht nicht, Mr. Bodilly ist gegangen«, informierte sie ihn. »Er sagt, er hätte keine Schmerzen mehr im Knie. Aber …«

MacKenzie hob den Blick, den er schon wieder auf den Computerbildschirm gerichtet hatte, und runzelte die Stirn. »Aber was?«

Shauna zögerte kurz. »Aber ich glaube, das stimmt nicht«, fuhr sie fort. »Ich denke, er hat das Vertrauen verloren, dass Sie ihm helfen werden.«

»Wie bitte?« MacKenzie war sichtlich irritiert. »Was soll das heißen?«

Shauna ging weiter, bis sie dicht vor dem Schreibtisch stand. »Es soll heißen, dass die Leute nicht zufrieden sind damit, wie sie von Ihnen behandelt werden«, sagte sie. »Menschlich, meine ich. Nicht fachlich.«

»Menschlich?« Er runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht …?«

»Sie stoßen die Leute vor den Kopf«, erklärte sie. »So etwas spricht sich in einem Ort wie Carywith schnell herum.«

»Ich mache … was?« MacKenzie wirkte ehrlich überrascht, doch dann schien ihm zu dämmern, was das Problem war. »Sie meinen, weil ich Declan Spargo sein Magenmittel nicht verschrieben habe?«

Shauna nickte. »Er hat es immer bekommen, das steht in seiner Akte. Wäre es wirklich so schlimm gewesen, es ihm noch einmal zu verordnen?«

»Ja, das wäre es«, erwiderte MacKenzie. »Denn dann würde er vielleicht glauben, dass es ihm helfen wird. Ich bin jedoch davon überzeug, dass seine Magenverstimmung ernstere Ursachen hat. Mit ein paar Kräutertropfen kommt er da nicht weiter.«

»Aber ohne die Tropfen kommt er nicht wieder in die Praxis«, sagte Shauna. »Verstehen Sie denn nicht, dass die Leute hier so ticken? Sie müssen ein bisschen mehr auf sie eingehen.«

MacKenzie hob die Augenbrauen. »Und das beinhaltet, ihnen Medikamente zu verschreiben, die keine Wirkung haben, so wie mein Vorgänger es offenbar gerne gemacht hat?«

»Das sagen Sie besser nicht laut«, warnte sie ihn. »Doktor Brown ist in Carywith immer noch sehr beliebt. Und die Leute sind stur auf dem Land. So schnell gewöhnt man sich hier nicht an etwas Neues. Oder an jemand Neues. Wenn Sie möchten, dass die Praxis läuft …«

»Herrgott noch mal, ich bin doch kein Selbstbedienungsladen!« MacKenzie sprang auf und beugte sich vor, stützte seine Hände zu Fäusten geballt auf den Schreibtisch. Er war so groß, dass er damit auf Augenhöhe mit Shauna war. »Mr. Spargo hat ernste Probleme, ich tippe auf den Blinddarm. Aber ich durfte ihm nicht mal Blut abnehmen, um die Entzündungswerte zu ermitteln, weil er der Meinung war, das sei nicht nötig. Also habe ich ihm gesagt, dass er ins Krankenhaus gehen soll, um sich untersuchen zu lassen. Vielleicht glaubt er den Ärzten dort ja mehr als mir. Was daran falsch ist, kann ich nicht erkennen, schließlich hat er mich daran gehindert, ihm zu helfen.«

»Daran ist falsch, dass Declan jetzt in seiner Kneipe hinter dem Tresen steht und sich bei jedem, der es hören will, über Sie beschwert«, erklärte Shauna und hielt seinem wütenden Blick stand. »Und Seamus Bodilly hat Ihren Streit mitbekommen und ist gleich freiwillig wieder gegangen. Wenn das so weitergeht, dann fahren die Leute bald rüber nach Truro, um dort zum Arzt zu gehen.« Sie sah ihn flehend an. »Können Sie nicht ein bisschen netter sein zu den Patienten?«

»So wie der unfehlbare Doktor Brown?« MacKenzie richtete sich auf und verzog das Gesicht. »Wissen Sie eigentlich, wie satt ich die Vergleiche mit ihm habe? Der Mann war ein Heiliger und hatte keine Freizeit, wie es scheint! Das Wort ›Sprechstunde‹ kannte hier kaum jemand, als ich anfing. Die Leute haben zu jeder Tages- und Nachtzeit angerufen, weil Doktor Brown immer bereit war, sie zu behandeln. Bei Notfällen verstehe ich das, aber dieses Wort ist hier dank Browns Dauereinsatzbereitschaft zu einem dehnbaren Begriff geworden.«

»Er war eben ein echter Landarzt, und daran könnten Sie sich ruhig ein Beispiel nehmen«, beharrte Shauna. »Hier gibt es nicht so viele Alternativen, wenn die Leute medizinische Hilfe brauchen. Deshalb schadet es nicht, ein bisschen flexibler zu sein. Das müssen Sie, wenn Sie hier auf Dauer Fuß fassen wollen. Und wo wir schon dabei sind: Ein bisschen mehr Mühe bei der Praxisorganisation könnten Sie sich auch geben. Ich meine, sehen Sie sich doch nur mal Ihren Schreibtisch an! Da liegt schon wieder alles durcheinander, und ich muss es dann alles wieder auseinandersortieren. Das ist zusätzliche Arbeit für mich, nur weil es Ihnen egal ist und Sie keine Lust haben, die Akten vernünftig zu führen. Wirklich, wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich denken, dass Sie hier gar nicht bleiben wollen, so wenig, wie Sie sich für die Buchführung interessieren!«

Sie hielt inne, selbst erschrocken über die Worte, die so heftig aus ihr herausgebrochen waren. Ja, sie war enttäuscht von ihm, aber sie hatte ihm das nicht alles so an den Kopf werfen wollen. Abwartend blickte sie zu ihm auf und erwartete eine aufbrausende Antwort, eine Rechtfertigung, die ihr sagte, dass sie mit ihrer These, dass er kein Interesse an seiner Praxis hatte, falsch lag. Doch er starrte sie nur mit versteinerter Miene an, und in seinen Augen lag ein Ausdruck, den sie erst auf den zweiten Blick erkannte. Er sah … schuldbewusst aus.

Shauna griff nach der Lehne des Stuhls, der vor MacKenzies Schreibtisch stand, weil sie spürte, wie der Schwindel sie erneut erfasste. »Stimmt das etwa?«, fragte sie entsetzt. »Wollen Sie wieder weg aus Carywith?«

Genau das unterstellte man ihm im Ort hier, das wusste sie aus den Gesprächen, die sie vorn an der Anmeldung und auch hier und da im Ort aufgeschnappt hatte. Vielen war es merkwürdig vorgekommen, dass ausgerechnet ein Mediziner aus dem fernen Glasgow die Nachfolge des allseits geschätzten Phineas Brown antrat, als dieser sich vor gut einem halben Jahr zur Ruhe setzte. Man hatte mit jemandem aus der Gegend gerechnet, und viele glaubten, dass »der Neue aus der Stadt« das Landleben nicht lange aushalten würde.

»Doktor MacKenzie?«, drängte Shauna, weil er noch nicht geantwortet hatte.

Mein Gott, konnte es sein, dass die Leute recht hatten? Aber warum hätte MacKenzie die Praxis dann überhaupt erst übernehmen sollen? Wenn er sich hier nicht niederlassen wollte, aus welchem Grund war er dann nach Cornwall gekommen? Hatte es etwas mit den Ausflügen in die Umgebung zu tun, die er ständig unternahm?

Er schien sich unter ihrem fragenden Blick zu winden, doch bevor einer von ihnen noch etwas sagen konnte, stürmte plötzlich ein großer Collie ins Sprechzimmer und blieb bellend vor Shauna stehen.

»Brave!«, rief sie überrascht und strich ihrer Hündin über den Kopf, um sie zu beruhigen. »Was machst du denn hier?«

»Ist das Ihrer?« MacKenzie kam hinter dem Schreibtisch hervor. Er wirkte entsetzt, und Shauna hätte geschworen, dass Hunde nicht zu seinen Lieblingslebewesen zählten. »Bringen Sie den sofort wieder raus. Der hat hier nichts zu suchen!«

»Tut mir leid«, meinte Shauna verwirrt. »Ich weiß auch nicht, wie …«

»Shauna, schnell!« Ein Mädchen, das die gleichen dunklen Haare wie Shauna hatte, erschien im Türrahmen. Sie war groß für eine Sechsjährige, und Angst stand in ihren blauen Augen, als sie zu Shauna lief und nach ihrer Hand griff. »Du musst mitkommen, es ist was passiert!«

»Das ist meine kleine Schwester Emma«, erklärte Shauna dem überraschten MacKenzie und wandte sich dann an das Mädchen. »Wieso bist du denn nicht bei Violet?«, fragte sie. »Hat sie dich etwa alleinge…«

»Tante Violet liegt auf dem Boden vor dem Sofa«, fiel Emma ihr aufgeregt ins Wort. »Sie kann schlecht atmen und stöhnt immerzu, weil ihr das Herz wehtut.« Sie wandte sich an MacKenzie. »Sie müssen ihr helfen, Sie sind doch ein Doktor. Ich glaube, sonst stirbt sie!«

2

Shauna wandte sich zu MacKenzie um und wollte ihm sagen, dass er Emma ernst nehmen musste. Die Kleine war sehr aufgeweckt für ihr Alter und hätte sich mit so etwas keinen Scherz erlaubt.

MacKenzie schien die Wichtigkeit von Emmas Meldung jedoch nicht in Zweifel zu ziehen, denn er holte bereits seine Arzttasche, die hinter der Tür stand.

»Violet?«, fragte er, an Shauna gewandt. »Reden wir von Violet Borrows, der Frau, bei der Sie wohnen?«

Shauna nickte, überrascht, dass er das wusste. Sie hatte es zwar einmal erwähnt, als Violet zu einer Kontrolluntersuchung in die Praxis gekommen war, aber er hatte es damals nicht kommentiert, deshalb war sie nicht sicher gewesen, ob er die Information überhaupt zur Kenntnis genommen hatte.

»Violet leidet an …«

»Angina pectoris, ich weiß«, beendete MacKenzie ihren Satz. »Hatte sie in den letzten Tagen Beschwerden?«

Shauna schüttelte den Kopf, verblüfft, dass er die richtige Diagnose sofort parat hatte. »Nein, ich glaube nicht. Sie hat nichts erwähnt. Wir sollten den Rettungsdienst informieren, damit wir keine Zeit verlieren. Es dauert eine Weile, bis …«

»Das habe ich schon gemacht«, unterbrach Emma sie.

»Du?«, fragte MacKenzie, und auch Shauna sah die Kleine überrascht an.

Emma nickte. »War das falsch? Violet hat gesagt, dass ich das tun soll. Als sie noch sprechen konnte. Der Mann am Telefon meinte, dass ich bei ihr warten soll, bis sie kommen. Aber dann hat sie so komisch geatmet und nicht mehr geantwortet. Da bin ich hergelaufen.«

»Das hast du richtig gemacht«, versicherte MacKenzie ihr. »Alles. Dass du angerufen hast und auch, dass du hergekommen bist.« Er wandte sich wieder an Shauna. »Wie weit ist es von hier?«

»Nur ein paar hundert Meter«, erwiderte Shauna.

»Ich zeige euch den Weg«, rief Emma aufgeregt und lief mit Brave voraus. MacKenzie eilte ihr nach, und Shauna auch, doch als sie durch die schmalen Gassen von Carywith liefen, hatte sie Mühe mitzuhalten, weil ihr wieder schwindelig war.

»Nun kommen Sie schon!« MacKenzie blieb stehen und wartete auf sie, dann schob er sie weiter.

Zum Glück dauerte es tatsächlich nicht lange, bis sie das zweistöckige, weißgetünchte Haus erreicht hatten, in dessen Erdgeschoss Violets Wohnung lag. Dort hatte Shauna genau einen Tag, bevor sie ihre Stelle bei MacKenzie angetreten hatte, ein Zimmer bekommen, und damit ihre Suche nach einer Unterkunft gerade noch rechtzeitig beendet.

Zur Miete gab es kaum etwas im Ort, die meisten Menschen besaßen die Häuser, in denen sie wohnten. Und die wenigen Wohnungen, die Shauna sich hatte ansehen können, waren entweder viel zu teuer gewesen, oder die Vermieter erlaubten keine Hunde. Shauna hatte in ihrer Verzweiflung sogar schon überlegt, vorerst in eine Pension zu ziehen, doch auch das war jetzt im Sommer während der Hochsaison nicht so einfach. Doch dann hatte sie durch Zufall erfahren, dass Violet Borrows eine Mitbewohnerin suchte. Die alte Frau war einsam und wollte gerne Gesellschaft, deshalb vermietete sie eines ihrer Zimmer unter. Der Mietpreis war sehr erschwinglich, Brave durfte mit, und Violet hatte sogar angeboten, sich um Emma zu kümmern, bis diese Mitte September in die Schule kam.

Natürlich hatte Shauna gewusst, dass dieses Arrangement wegen Violets Erkrankung nicht ideal war, aber Violet hatte ihr immer wieder versichert, wie gerne sie auf Emma aufpasste. Und es gab auch einfach keine Alternative, weder was die Wohnung noch was die Kinderbetreuung anging. Bisher war Shaunas Suche jedenfalls erfolglos geblieben. Dabei wollte sie gerne weg, auch weil ihr die Sache mit Violets Sohn John immer mehr zusetzte …

»Hier ist es!« Emma erreichte das Haus als Erste und stürmte mit Brave durch die unverschlossene Eingangstür.

Shauna blieb völlig außer Atem davor stehen und musste sich an der Wand festhalten, weil sich alles um sie drehte. Übelkeit stieg in ihr auf, und sie stemmte sich verzweifelt dagegen.

»Was ist los mit Ihnen?« MacKenzie betrachtete sie mit einer Mischung aus Verärgerung und Sorge. »Und jetzt sagen Sie nicht wieder, dass alles in Ordnung ist. Sie sind weiß wie die Wand!«

»Mir ist schwindelig. Ich habe einen zu niedrigen Blutdruck, und das macht mir manchmal Probleme. Es geht gleich wieder«, versicherte sie ihm. »Sehen Sie nach Violet, bitte! Sie braucht Sie dringender!«

Er betrachtete sie noch einen Moment skeptisch, dann ging er ins Haus. Shauna folgte ihm.

Die in die Jahre gekommenen Holzdielen im Flur knarrten unter seinem Gewicht, weil der ausgetretene, fadenscheinige Teppich, der darüberlag, das Geräusch nicht mehr dämpfen konnte. Überhaupt war das Haus sehr in die Jahre gekommen, und als sie beide kurz darauf in Violets Wohnzimmer standen, fiel Shauna unangenehm auf, wie abgewohnt die Wände und Möbel aussahen. Sie selbst nahm den Zustand der Räume kaum noch wahr, sie hatte sich daran gewöhnt. Aber wie würde MacKenzie ihre Lebensumstände finden? Ihn hier zu sehen, mitten in ihrem Privatleben, nachdem sie bisher nur beruflich miteinander zu tun gehabt hatten, fühlte sich merkwürdig an. Im Moment gab es jedoch Wichtigeres, deshalb konzentrierte sie sich auf Violet, die neben dem Sofa auf dem Boden lag.

Violet trug eine Kittelschürze, wie tagsüber meistens, und ihr graues Haar hatte sich aus ihrem Dutt gelöst und hing ihr wirr um den Kopf. Ihre Stirn glänzte schweißnass.

»Tante Violet!« Emma kniete neben ihr und hatte die Hände auf ihren Arm gelegt. »Ich bin wieder da. Und ich hab Shauna mitgebracht. Und den Doktor. Wie ich es dir versprochen habe!«

»Emma, würdest du mir einen Gefallen tun?«, bat MacKenzie, der jetzt ebenfalls neben Violet in die Hocke ging. »Wenn die Sanitäter kommen, dann muss ihnen jemand zeigen, wo wir sind. Würdest du mit dem Hund nach draußen gehen und auf sie warten? Es wäre wichtig, dass sie uns sofort finden können.« Er sah sie an. »Das ist eine wichtige Aufgabe. Denkst du, dass du das hinbekommst?«

Emma nickte mit ernster Miene und erhob sich. Sie rief nach Brave und ging mit ihr zur Wohnungstür. Kurz darauf hörte man draußen die Haustür zufallen.

»Danke«, sagte Shauna zu MacKenzie, froh, dass er Emma erst mal beschäftigt hatte. Es war schlimm genug, dass die Kleine mit Violet allein gewesen war, als diese ihren Herzanfall erlitten hatte. Alles, was jetzt noch passierte, sollte sie besser nicht mitbekommen, und dass MacKenzie das genauso sah, erleichterte sie.

Sie kniete sich auf der anderen Seite neben Violet, deren Brustkorb sich schwer hob und senkte. Aber zumindest atmet sie noch, dachte Shauna erleichtert. Als MacKenzie die alte Frau ansprach, dauerte es einen Moment, dann öffnete sie die Augen.

»Ich … kann … nicht … atmen«, brachte sie mühsam hervor. Ihre Augen waren schreckgeweitet, und sie legte eine Hand auf ihre Brust. »Mein Herz …«

»Ganz ruhig, Mrs. Borrows, wir helfen Ihnen.« MacKenzie war schon dabei, seiner Arzttasche alles Notwendige zu entnehmen, und während der nächsten Minuten widmeten sie sich beide ganz Violet. MacKenzie untersuchte sie mit sicheren Handgriffen und redete dabei beruhigend auf sie ein, während er ihr einen Zugang legte und ihr eine Spritze gab, um den Kreislauf zu stabilisieren.

Shauna reichte ihm, was er brauchte. Ihre Hände zitterten noch leicht, aber tatsächlich fühlte sie sich besser, was auch daran lag, dass MacKenzie so souverän wirkte. Die Sicherheit, die er ausstrahlte, übertrug sich nicht nur auf Violet, die schon viel ruhiger atmete, sondern auch auf sie.

Ich habe ihn noch nie so arbeiten sehen, dachte Shauna, selbst ein bisschen überrascht. Die Fälle, die sie in den vergangenen Wochen in der Praxis gehabt hatten, waren alle nicht so dramatisch gewesen. Jetzt erlebte sie MacKenzie zum ersten Mal unter Stress – und leistete innerlich Abbitte. Denn ganz egal, wie unorganisiert er in der Praxis sein mochte, er war ein guter Arzt, das stellte er gerade sehr eindrucksvoll unter Beweis.

»Da kommt der Heli!«, meinte MacKenzie, als wenig später von draußen das Geräusch von Rotoren zu ihnen drang, das schnell lauter wurde. »Ich hoffe, sie finden einen Landeplatz in der Nähe.«

Das schien so zu sein, denn nachdem es wieder still geworden war, dauerte es nur wenige Minuten, bis zwei Sanitäter und eine Notärztin der Cornwall Air Ambulance bei ihnen eintrafen.

MacKenzie setzte die Ärztin in Kenntnis über Violets medizinische Vorgeschichte und die Maßnahmen, die er schon ergriffen hatte, und die beiden kräftigen Männer schnallten die alte Dame auf der mitgebrachten Trage fest. Dann machten sie sich auf den Weg, und wenig später hörte man den Hubschrauber wieder aufsteigen.

Emma, die mit Brave auf dem Boden vor dem Sofa saß, kaute auf ihrer Unterlippe. »Und jetzt?«, fragte sie. »Was passiert jetzt mit Tante Violet?«

»Ich fürchte, sie wird erst mal im Krankenhaus bleiben müssen«, antwortete MacKenzie. »Ihr Herz ist krank, und es kann sein, dass sie operiert werden muss. Aber das werden die Ärzte dort entscheiden.«

»Geht es ihr dann wieder besser?«, erkundigte sich Emma hoffnungsvoll.

MacKenzie nickte. »Ich denke ja. Und das verdankt sie dir. Du hast genau das Richtige getan, obwohl du bestimmt Angst hattest. Das war sehr mutig von dir. Ich glaube, damit hast du ihr das Leben gerettet.«

»Wirklich?« Emma strahlte vor Stolz.

»Ja, wirklich«, bestätigte MacKenzie lächelnd. Doch als er sich an Shauna wandte, wurde er wieder ernst. »Und jetzt zu Ihnen«, sagte er und deutete auf das Sofa. »Setzen Sie sich da hin und machen Sie einen Arm frei, ich möchte Ihren Blutdruck messen.«

»Das ist nicht nötig«, protestierte Shauna. »Mir geht es …«

Weiter kam sie nicht, denn ein Mann stürmte plötzlich ins Wohnzimmer. Er war um die dreißig, mittelgroß und schlank, hatte hellbraunes, kurzes Haar und weit auseinanderliegende Augen, in denen, wie Shauna fand, immer ein leicht verschlagener Ausdruck lag.

»Was ist hier los?«, blaffte er Shauna an und deutete auf MacKenzie. »Was macht der Kerl hier? Und wo ist Granny?«

»Das ist mein Chef, Doktor David MacKenzie«, stellte Shauna vor. »Und das ist John Borrows. Er ist Violets Enkel und wohnt oben im ersten Stock.«

»Wieso haben Sie den Doktor mitgebracht?«, wollte Borrows wissen. Auf einen Schlag wirkte er nervös. »Ist mit Granny alles in Ordnung? Ich habe auf dem Rückweg den Hubschrauber gesehen. Sie ist doch nicht …?«

»Ihre Großmutter hatte einen Herzanfall«, erklärte MacKenzie. »Sie wird gerade von der Air Ambulance nach Truro ins Krankenhaus gebracht.«

»Was?« Die Nachricht brachte Borrows einen Moment lang sichtlich aus der Fassung. Dann fing er sich wieder und richtete den Blick voller Hass auf Shauna.

»Das ist Ihre Schuld!«, sagte er. »Ich habe es ja immer gesagt! Seit Sie hier wohnen, hat Granny überhaupt keine Ruhe mehr. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder einen Anfall hat!«

Shauna war plötzlich kalt, und sie schwankte leicht. Sie hatte geahnt, dass er ihr Vorwürfe machen würde. Schließlich ergriff er schon seit einer Weile jede sich bietende Gelegenheit, um sie fertigzumachen. Aber seine Worte trafen sie dennoch, weil es einfach nicht stimmte.

»Violet hat angeboten, auf Emma aufzupassen«, rechtfertigte sie sich. »Sie tut das gern. Und wenn sie in letzter Zeit etwas aufgeregt hat, dann nur die Tatsache, dass Sie so viel Unfrieden stiften, Mr. Borrows. Sie sind es doch, der Violet ständig drangsaliert, dass sie uns das Zimmer wieder kündigen soll. Also lassen Sie uns bitte …«

Sie brach ab, weil er noch näher auf sie zutrat.

»Wenn Granny stirbt, dann ziehe ich Sie zur Verantwortung!«, brüllte er und zeigte mit dem Finger auf sie. »Ich werde Sie verklagen. Ich werde …«

»Schluss jetzt!« MacKenzie schob sich zwischen Borrows und Shauna, drängte den aufgebrachten Mann zurück, der überrascht verstummt war. »Statt haltlose Drohungen auszustoßen, sollten Sie sich lieber bei Miss Lewis und ihrer Schwester bedanken. Würde Ihre Großmutter allein wohnen, dann wäre sie jetzt vermutlich tot. Oder wären Sie hier gewesen und hätten die Rettung rufen können?«

In Borrows Wange zuckte ein Muskel. Offenbar versuchte er, MacKenzie als Gegner einzuschätzen. Und ihm schien klar zu werden, dass er eine körperliche Auseinandersetzung gegen ihn verlieren würde, denn er machte noch einen weiteren Schritt zurück. Doch er war nicht besänftigt.

»Okay, vielleicht kann ich Sie nicht verklagen«, zischte er und sah Shauna an. »Aber ich kann Sie rauswerfen. Und das tue ich hiermit. Bis Montag haben Sie Zeit, Ihre Sachen zu packen, danach will ich Sie, Ihre Schwester und diesen verdammten Köter hier nicht mehr sehen!«

»Das können Sie nicht machen!« Shauna spürte, wie der Schwindel sie erneut erfasste. Hilflos tastete sie nach Halt, fand MacKenzies Arm und vergrub die Finger in dem Stoff seines Ärmels. »Ihre Großmutter ist unsere Vermieterin, nicht Sie!«

»Gut, dann zeigen Sie mir Ihren Mietvertrag!«, entgegnete Borrows und grinste zufrieden, als Shauna nicht antwortete. »Sie haben keinen, stimmt’s? Granny macht nie welche. Und solange sie im Krankenhaus ist, bin ich hier für alles verantwortlich. Ich entscheide, wer hier wohnt. Und Sie tun das ab Montag nicht mehr!«

»Das sind nur noch vier Tage!« Shauna spürte, wie ihre Kehle eng wurde. »So schnell finde ich nichts Neues. Sie müssen uns Zeit geben, etwas zu finden!«

»Ich muss gar nichts!«, erwiderte Borrows kühl. »Bis Montag sind Sie raus, sonst lernen Sie mich kennen!«

Er wandte sich abrupt um und verließ das Wohnzimmer.

Shauna sah ihn nur noch verschwommen. Alles um sie herum drehte sich jetzt im Tempo eines Kettenkarussells.

»Miss Lewis?« MacKenzies Gesicht tauchte vor ihr auf, aber nur kurz, dann wurde ihr schwarz vor Augen, und sie sackte gegen seine Brust. Sie spürte noch, wie er seine Arme um sie schloss, dann verlor sie das Bewusstsein.

3

»Das ist mir schrecklich unangenehm.« Shauna ließ den Kopf zurück auf das Kissen sinken und blickte zu MacKenzie, der auf der Kante des Sofas saß und gerade dabei war, ihr eine Manschette um den Oberarm zu legen, um ihren Blutdruck noch einmal zu kontrollieren.

Unangenehm war das falsche Wort, sie wäre eigentlich gerne im Erdboden versunken, so peinlich war es ihr, dass sie ausgerechnet in MacKenzies Armen zusammengebrochen war. Dass er sie danach zum Sofa getragen hatte, konnte sie nur annehmen, sie hatte schon hier gelegen, als sie wieder aufgewacht war. MacKenzie hatte ihren Blutdruck gemessen, der viel zu niedrig gewesen war, und ihr direkt etwas dagegen gegeben. Das Mittel schien auch schon zu wirken, denn der Schwindel hatte nachgelassen. Sie fühlte sich allerdings immer noch schwach und matt.

»Seit wann haben Sie diese Schwindelanfälle?«, wollte er wissen, während er sich das Stethoskop in die Ohren setzte und die Messsonde in Shaunas Armbeuge presste.

»Seit ein paar Tagen«, gestand sie. »Aber so schlimm wie heute war es bis jetzt nicht.«

Sie sah zu, wie er die Manschette aufpumpte und die Luft dann langsam wieder abließ, während er gleichzeitig ihren Puls nahm.

»Immer noch niedrig, aber es stabilisiert sich«, verkündete er, als er fertig war, und legte die Blutdruckmanschette und das Stethoskop zurück in seine Arzttasche. Dann wandte er sich an Emma.

»Könntest du deiner Schwester ein Glas Saft holen, falls ihr so etwas habt?«, bat er sie. »Das würde ihr guttun.«

Emma rutschte sofort von ihrem Sessel. »Ich glaube, es ist noch Orangensaft im Kühlschrank«, sagte sie und lief in Richtung Küche. Brave, die neben ihr auf dem Boden gelegen hatte, sprang ebenfalls auf und folgte ihr.

Sobald sie allein waren, verfinsterte sich MacKenzies Miene.

»Als Arzthelferin sollten Sie die Symptome für zu niedrigen Blutdruck eigentlich erkennen können«, rügte er Shauna. »Sie hatten verdammtes Glück, dass ich neben Ihnen stand und Sie auffangen konnte. Sonst hätten Sie sich verletzen können. Von dem Schreck, den Sie Ihrer Schwester und mir eingejagt haben, reden wir besser gar nicht.«

Shauna schluckte schwer. Sie wusste, dass er recht hatte. Sie hätte wissen müssen, dass ihr Zustand sich nicht von allein wieder bessern würde. Doch sie hatte sich in letzter Zeit um so vieles Gedanken machen müssen, dass sie gar nicht dazu gekommen war, auf sich selbst zu achten.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Das mit Violet war ein Schock für mich. Und dann noch dieser schreckliche John Borrows. Er setzt mir schon seit Wochen zu, weil er uns loswerden will. Und jetzt …« Sie zuckte mit den Schultern und kämpfte mühsam gegen die Tränen an, die in ihren Augen brannten. »Ich schätze, jetzt hat er es geschafft.«

MacKenzie runzelte die Stirn. »Das hat er doch nicht ernst gemeint, oder?«, fragte er. »Dass er Sie rauswerfen will?«

»Doch, ich fürchte, er meint das todernst«, erwiderte Shauna und drängte die Panik zurück, die sie bei dem Gedanken erneut überkam. »Violet hat immer die Hand über uns gehalten. Sie wollte, dass wir bleiben. Aber nun ist sie krank und muss sich erst mal um sich selbst kümmern. Und er hat leider recht, es existiert kein Mietvertrag. Violet meinte, dass wir keinen brauchen. Also kann ich ihn nicht aufhalten, wenn er uns vor die Tür setzen will.«

»Warum will er das denn so dringend?«, fragte MacKenzie. »Was hat er gegen Sie?«

»Er wollte, dass Shauna seine Freundin wird«, sagte Emma, die gerade mit einem Glas Orangensaft in der Hand wieder hereinkam. »Aber Shauna mag ihn nicht, und darüber ist er wütend. Deswegen ist er immer so gemein zu uns.«

Überrascht nahm Shauna der Kleinen das Glas ab und stellte es auf den Couchtisch. Dass Emma so viel mitbekommen hatte von John Borrows Verhalten, war ihr gar nicht bewusst gewesen. Als sie den Blick wieder auf MacKenzie richtete, lag ein entsetzter Ausdruck in seinen Augen.

»Emma, würdest du mir vielleicht auch noch etwas zu trinken holen?«, bat er und wandte sich an Shauna, als die Kleine wieder in die Küche verschwunden war.

»Ist das wahr?«, fragte er mit gesenkter Stimme. »Hat der Kerl Sie belästigt?«

Shauna nickte beklommen. »Am Anfang hat er mich oft abgepasst, wenn ich aus der Praxis nach Hause kam. Er hat nicht lockergelassen, wollte unbedingt mit mir ausgehen, obwohl ich ihm gesagt habe, dass ich so etwas grundsätzlich nicht tue. Und dann eines Abends …« Sie hielt kurz inne. »Eines Abends stand er plötzlich hier unten bei mir in der Küche«, fuhr sie dann fort. »Violet war mit Emma und Brave spazieren, und ich war allein. Er hat einen Wohnungsschlüssel und ist einfach reingekommen.«

MacKenzie presste die Lippen zusammen. »Hat er Ihnen was getan?«, fragte er.

»Er wollte, doch ich konnte ihn abwehren.« Sie lächelte leicht, als sie seinen ungläubigen Gesichtsausdruck sah. »Ich weiß, ich sehe nicht so aus, als ob ich das könnte. Aber ich habe den braunen Gürtel im Judo. Mein Vater war mal im irischen Olympiateam und hat mich schon sehr früh mit zum Training genommen.«

»Kampfsport?« MacKenzie wirkte sichtlich beeindruckt. »Da war Ihr Vater sehr vorausschauend. Ich hoffe, Sie haben Ihre Kenntnisse genutzt, um diesen Mistkerl fertigzumachen?«

»Eigentlich habe ich ihn wirklich nur abgewehrt«, erwiderte Shauna und sah Borrows in Gedanken wieder stöhnend vor sich auf dem Küchenboden liegen. Sie hatte ihn ausgehebelt, als er versucht hatte, nach ihr zu greifen und sie an sich zu ziehen. Das war schmerzhaft für ihn ausgegangen und hatte dazu geführt, dass sein vorheriges Interesse in blanken Hass umgeschlagen war. »Als er ging, hat er mich wüst beschimpft. Angeblich hätte ich die Situation völlig missverstanden. Aber ich schwöre, dass er mich bedrängt hat. Ich habe mich nur gewehrt, als er mich …«

»Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen«, unterbrach MacKenzie sie. »Der Kerl hatte kein Recht, einfach in Ihre Wohnung zu kommen. Das war übergriffig, und er hatte es nicht besser verdient. Außerdem war es reines Glück, dass Sie sich wehren konnten. Wer weiß, was sonst passiert wäre.«

Sein Zuspruch löste ein warmes Gefühl in Shauna aus. Sie hatte bisher mit niemandem über diesen Vorfall geredet. Mit wem auch? Außer Violet, die sie damit nicht belasten wollte, kannte sie die meisten Menschen in Carywith noch nicht gut genug, um ihnen so etwas anzuvertrauen. Es tat gut, es endlich teilen zu können, auch wenn sie niemals gedacht hätte, dass ausgerechnet MacKenzie derjenige sein würde, der es hörte.

Er schüttelte den Kopf. »Warum haben Sie mir denn nicht gesagt, dass Sie solche Schwierigkeiten haben?«

»Ihnen?« Shauna hätte beinahe gelacht. »Doktor MacKenzie, Sie interessieren sich nicht mal für das, was ich bei Ihnen in der Praxis tue. Wieso sollte ich davon ausgehen, dass Sie etwas über mein Privatleben wissen wollen?«

Sein betroffenes Gesicht machte ihr bewusst, dass sie zu weit gegangen war.

»Tut mir leid, ich wollte Sie nicht …«, setzte sie an, doch in diesem Moment kam Emma mit dem zweiten Glas Saft zurück. Sie reichte es MacKenzie und ging dann zu Shauna.

»Geht es dir besser?«, fragte sie.

Shauna nickte. »Ja, viel besser«, antwortete sie, und um es zu beweisen, richtete sie sich auf und wollte die Beine vom Sofa schwingen. Doch schon beim Hochkommen merkte sie, wie unsicher sie sich noch fühlte. Und MacKenzie ließ das auch nicht zu, sondern drückte sie sanft zurück auf das Sofa.

»Denken Sie nicht mal dran«, meinte er. »Sie bleiben liegen, bis ich sage, dass Sie aufstehen dürfen.«

»Aber die Praxis«, protestierte Shauna, den Kopf wieder auf dem Kissen. »Wir müssen doch …«

»Wir müssen gar nichts mehr. Es ist nach sechs, wir haben für heute geschlossen«, erklärte er, und als sie auf ihre Armbanduhr sah, erkannte sie überrascht, dass er recht hatte.

»Ich kann trotzdem nicht liegen bleiben«, sagte sie und richtete sich erneut auf. »Emma braucht ihr Abendessen, und dann muss ich noch mit Brave raus, und …«

»Das mache ich«, fiel er ihr ins Wort. »Ich werde mich um alles kümmern, und Sie bleiben liegen und ruhen sich aus.«

Entgeistert schüttelte Shauna den Kopf. »Nein, das müssen Sie nicht. Bitte fühlen Sie sich nicht verpflichtet, nur weil ich gerade …«

»Keine Widerrede«, fiel er ihr ins Wort. »Emma und ich gehen mit dem Hund raus.« Er blickte zu Brave, die neben Emma saß. »Na ja, also ich gehe mit, den Rest muss Ihre Schwester machen. Mit Hunden kenne ich mich nicht besonders gut aus. Und wenn wir zurück sind, schauen wir in der Küche nach, was wir zum Abendbrot essen könnten. Da wird uns bestimmt was einfallen. Nicht wahr, Emma?«

Die Kleine nickte begeistert. »Können wir Spaghetti machen? Ich mag Nudeln am liebsten.«

Er nickte und wandte sich wieder an Shauna. »Und Sie bleiben hier liegen und machen sich mal eine Weile keine Sorgen. Okay?«

Shauna nickte. Sie merkte erst jetzt, dass sie wirklich nicht mehr konnte. Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als einfach liegen zu bleiben und einmal nicht verantwortlich zu sein für alles. Aber sie konnte sich doch nicht ausgerechnet von MacKenzie helfen lassen! Er hielt sie ohnehin schon für unfähig, weil sie ihren Zustand falsch eingeschätzt hatte. Nein, sie musste ihm beweisen, dass sie allein zurechtkam, sonst …

»Das ist eine ärztliche Anweisung, Miss Lewis«, meinte MacKenzie, als hätte er ihr angesehen, was ihr durch den Kopf ging. »Ich bin im Moment nicht nur Ihr Chef, sondern auch Ihr behandelnder Arzt, und ich möchte, dass Sie auf mich hören. Sie wissen ja, wie ungeduldig ich werden kann mit denen, die das nicht tun.« Er lächelte. »Haben wir uns verstanden?«

Shauna nickte, zu schwach, um weiter zu protestieren.

»Danke«, sagte sie mit belegter Stimme. »Vielen Dank, dass Sie das für mich tun.«

»Meine Motive sind durchaus eigennützig«, versicherte er ihr. »Ich brauche Sie fit und ausgeruht in der Praxis. Wie Sie vorhin richtig bemerkt haben, komme ich ohne Ihre Hilfe nicht zurecht. Also tun Sie mir den Gefallen und lassen sich helfen.«

Er stand auf und ging zu Emma, die Brave schon angeleint hatte. Shauna schaffte es, den beiden noch kurz lächelnd zu winken, damit Emma sich keine Sorgen machte. Dann sank sie erschöpft zurück.

Sie wusste selbst nicht, wieso MacKenzies Bemerkung ihr einen Stich versetzt hatte. Für einen kurzen Moment hatte sie tatsächlich geglaubt, dass er ihr vielleicht um ihrer selbst willen half. Aber er brauchte sie nur in der Praxis und wollte sie als Arbeitskraft nicht entbehren müssen. Deshalb unterstützte er sie. Was für einen Grund sollte er auch sonst haben?

Mit einem Seufzen schloss sie die Augen. Doch sie war noch zu aufgewühlt, um sich zu entspannen. Herrgott, wieso hatte sie das mit Violets Herzanfall nicht kommen sehen? Es war fahrlässig gewesen, Emma überhaupt mit der kranken alten Dame allein zu lassen. Und meinen eigenen Zustand hätte ich auch besser einschätzen müssen, dachte sie, von Gewissensbissen gequält.

Es war nur leichter gesagt als getan, wenn man immer auf sich allein gestellt war. Wenn man, so wie Shauna, mit nur dreiundzwanzig schon seit Jahren niemanden mehr hatte, der einem die Verantwortung auch mal abnahm. Manchmal entglitten ihr die Dinge, das war einfach so, und da half es nichts, in Selbstmitleid zu versinken. Deshalb atmete sie noch einmal tief durch und riss sich zusammen. Ich finde eine Lösung wegen der Wohnung, dachte sie. Es war schließlich nicht das erste Problem, mit dem sie konfrontiert war, und bisher hatte sie es immer geschafft, irgendwie durchzukommen. Das würde ihr auch diesmal gelingen!