Ein Sommer im Alten Land - Julie Peters - E-Book
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Ein Sommer im Alten Land E-Book

Julie Peters

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Beschreibung

Der Duft von Apfelblüten.

Alix ist Parfümeurin, aber nach einem Unfall kann sie ihren Beruf nicht mehr ausüben. Als es auch noch in ihrer Beziehung kriselt, flieht sie in die Provence. Doch in Grasse, der Stadt der Düfte, erinnert sie zu viel an das, was sie verloren hat. Da kommt die Einladung ihrer Tante auf den Apfelhof im Alten Land mehr als recht. Könnte sie hier nicht eine Seifenmanufaktur errichten – wie in Südfrankreich? Ihre Tante ist alles andere als begeistert, außerdem steht der Hof kurz vor dem Ruin. Nur der benachbarte Ökobauer Johann unterstützt ihre Ideen, oder hat er mit dem Apfelhof ganz eigene Pläne?

Warmherzig und humorvoll: Sommerlektüre zum Verlieben.

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Über Julie Peters

Julie Peters, geboren 1979, arbeitete einige Jahre als Buchhändlerin und studierte ein paar Semester Geschichte. Anschließend widmete sie sich ganz dem Schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie im Westfälischen.

Im Aufbau Taschenbuch sind bereits die Romane »Mein wunderbarer Buchladen am Inselweg« und »Mein zauberhafter Sommer im Inselbuchladen« von ihr erschienen.

Informationen zum Buch

Der Duft von Apfelblüten.

Alix ist Parfümeurin, aber nach einem Unfall kann sie ihren Beruf nicht mehr ausüben. Als es auch noch in ihrer Beziehung kriselt, flieht sie in die Provence. Doch in Grasse, der Stadt der Düfte, erinnert sie zu viel an das, was sie verloren hat. Da kommt die Einladung ihrer Tante auf den Apfelhof im Alten Land mehr als recht. Könnte sie hier nicht eine Seifenmanufaktur errichten – wie in Südfrankreich? Ihre Tante ist alles andere als begeistert, außerdem steht der Hof kurz vor dem Ruin. Nur der benachbarte Ökobauer Johann unterstützt ihre Ideen, oder hat er mit dem Apfelhof ganz eigene Pläne?

Warmherzig und humorvoll: Sommerlektüre zum Verlieben.

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Julie Peters

Ein Sommer im Alten Land

Roman

Inhaltsübersicht

Über Julie Peters

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Epilog

Impressum

Kapitel 1

Alix hielt unwillkürlich die Luft an.

Da war er, der Moment der Wahrheit. Der Moment, dem sie nach monatelanger Arbeit entgegengefiebert, den sie zugleich auch gefürchtet hatte. Sie atmete tief durch. Wird schon alles gut gehen, redete sie sich ein. Und dann schob sie das kleine braune Köfferchen über den niedrigen Kaffeetisch zwischen sich und ihrer Auftraggeberin.

»Hier ist es«, sagte sie auf Englisch.

Sophie Bingham beugte sich leicht vor. Sie war Anfang zwanzig, allein das war ungewöhnlich, die meisten ihrer Klienten waren mindestens Ende dreißig. Mit dem hochgeschlossenen, pflaumenfarbenen Kleid aus Moiréseide und mit cremefarbenen Spitzenkragen wirkte sie wie aus der Zeit gefallen, richtig altmodisch. Dazu passend trug sie die schwarz gefärbten Haare zu einem akkuraten, ultrakurzen Pony geschnitten, die langen Haare zu einem komplizierten Knoten im Nacken hochgesteckt. Sie hätte sich kaum mehr von Alix unterscheiden können.

»Ich traue mich gar nicht, es zu öffnen.« Sophies Englisch war sehr weich, abgeschliffener Ostküstenadel. Draußen vor den dreifach verglasten Schallschutzfenstern des New Yorker Stadthauses lärmte das Leben. Hier drin in der Bibliothek im dritten Stock war es still. Nur die drei Hunde auf den beiden gegenüberstehenden Sofas hechelten und schmatzten leise.

Ausgerechnet Hunde.

Alix mochte keine Tiere, aber Hunde fand sie besonders schlimm, egal ob kleine Kläffer oder große Wachhunde. Und als sie den Auftrag angenommen hatte, waren die Hunde mit keinem Wort erwähnt worden.

Sie hatte den Duft unter einer etwas anderen Prämisse entworfen. Auch in der Bibliothek hatte sich einiges verändert, seit sie vor fünf Monaten eine große Kiste mit Stoffproben, Fotos und anderen Materialien erhalten hatte. An diesem Morgen hatte sie das Haus zum ersten Mal betreten, doch seit November war sie in Gedanken immer wieder die einzelnen Räume abgeschritten. Manche Auftraggeberinnen waren nicht bereit, ihr das Haus, für das Alix einen neuen Raumduft komponieren sollte, vorab zu öffnen. Und sie akzeptierte diese Bedingung, auch wenn sie ihre Arbeit ein wenig erschwerte, da sie so nur das zu sehen bekam, was eine Auftraggeberin von sich preisgeben wollte. Damit würde der Duft eher am Traum-Ich der Bewohnerin ausgerichtet werden. Aber das war im Grunde sogar etwas leichter, weil sie anhand der Listen, Fotos und Stoffproben erkannte, was die Auftraggeberin sein wollte.

Entworfen also unter einer etwas anderen Prämisse – keine Hunde! –, aber Alix hoffte, dass Sophie trotzdem Gefallen daran fand.

Sophie nahm den Flakon aus dem Köfferchen. Sie lachte verlegen, dann löste sie den Glasstopfen, hob ihn an und ließ das Parfüm einfach entweichen.

Sie macht das gut, dachte Alix. Die meisten Kunden rammten mit der Nase fast den Flakon, sodass sie für den Rest des Tages den Geruch daran haften hatten. Dadurch wurde er zu dominant, und sie waren in vielen Fällen einfach entsetzt, weil er gar nicht ihren Erwartungen entsprach.

»Der ist …« Sophie schnupperte. Ihr Gesicht wurde ganz hell und klar, als kämen ihr Erinnerungen, die sie lange in ihrem Innern vergraben hatte.

Alix konnte sich entspannt zurücklehnen. Sie wusste, dieser Duft war ein Volltreffer.

***

Vier Stunden später stand sie im Hotelzimmer und warf die wenigen Habseligkeiten, die sie für dieses kurze Atlantikhopping gebraucht hatte, in ihre Reisetasche: Die Kopfhörer mit Noise-Cancelling-Funktion, damit sie nichts um sich herum mitbekam. Das Handy nebst Ladegerät und Powerbank. Ihre Kosmetiktasche mit dem Nötigsten – Duschgel, Shampoo, Zahnbürste und Zahnpasta, Feuchtigkeitscreme und ein bisschen Make-up. Wechselwäsche, Ersatzjeans, eine zweite Bluse, Nachthemd, ein Buch. Man brauchte nicht viel, wenn man für einen kurzen Kundentermin über den Atlantik hüpfte.

Müde war sie, denn daheim war es schon sechs Stunden später, und sie versuchte, bei diesen Kurztrips in ihrer eigenen Zeitzone zu bleiben, damit sie vom Jetlag nicht völlig geplättet wurde. Der Plan war, dass sie im Flugzeug schlief. Morgen wartete im Labor schon die nächste Herausforderung auf sie.

Aber sie liebte diese immer neuen Aufgaben, sie liebte dieses Leben auf der Überholspur, und als ihr Handy klingelte, hangelte sie es aus der Tasche, weil sie dachte, es sei ihr Geschäftspartner Dennis, der hören wollte, wie es ihr ergangen war. Der angezeigte Name war eine willkommene Überraschung.

»Ich dachte, du schläfst noch selig«, begrüßte sie ihren Freund Maximilian. Er müsste doch gerade in Singapur sein, richtig? Bei ihm verlor sie oft den Überblick, wo er gerade steckte.

»Dachte ich auch. Aber dann musste ich gestern Abend noch nach New York fliegen.«

»Du bist hier?«

Zufall oder Schicksal?

»Wir können uns sehen. Ich muss gleich noch etwas erledigen, aber heute Abend um acht habe ich einen Tisch im Club A Steakhouse für uns reserviert.«

Alix atmete tief durch.

Das klang fast zu gut, um wahr zu sein. Aber es ging nicht. »Ich fliege in drei Stunden zurück«, sagte sie bedauernd. »Außerdem …«

»Komm schon, Kleines.« Er lockte, schmeichelte. »Du hast doch nur einmal im Jahr Geburtstag, oder?«

Den hatte sie natürlich nicht vergessen. Ja, heute war ihr Geburtstag. Mit 34, fand sie, musste man aber nicht mehr so viel Aufheben darum machen. Im Leben angekommen, im Beruf anerkannt und nicht mehr so frisch, dass mancher Konkurrent oder Kunde versucht war, sie nicht ernst zu nehmen.

Der Termin in New York war nur heute möglich gewesen, weshalb sie ihre Geburtstagsparty aufs Wochenende verlegt hatte, damit sie ausgeschlafen mit ihren Freunden und der Familie feiern konnte.

»Ja schon …«

»Und ich weiß, du bist nicht gern allein an so einem Tag. Du magst es zu feiern. Voilà, hier bin ich. Nur zu deinem Vergnügen.«

Sie lachte. Blickte auf die Uhr, rechnete. Überlegte.

»Ich muss Dennis anrufen. Wir sind morgen früh im Labor verabredet.«

»Mit ihm habe ich schon gesprochen«, erklärte Maximilian fröhlich. »Er hat nichts dagegen, wenn du ihn versetzt und er sich einen Tag freinehmen kann.«

»Du!« Nein, sauer konnte sie ihm gerade nicht sein. Außerdem brannte sie darauf, ihm von dem erfolgreichen Abschluss zu erzählen, den sie heute erzielt hatte. Sophie Binghams Begeisterung für Alix’ Duftkreation hatte sie beide überwältigt; die junge Frau fiel ihr um den Hals und stammelte »das bin ich, das bin so sehr ich, woher wussten Sie …«, und es dauerte eine Weile, bis sie sich beruhigen konnte. Aber das war vielleicht das schönste Kompliment, das sie Alix in dieser Situation hatte machen können. Eine Bestätigung für die Qualität ihrer Arbeit. Danach hatten sie sich wieder hingesetzt, Sophie ließ vom Butler noch mehr Kaffee und Macarons bringen, und sie plauderten ein bisschen, während Sophie immer mal wieder verzückt den Stopfen aus dem Flakon zog und schnupperte.

Alix hatte sich auf das Designen von Raumdüften spezialisiert. Ihre Kunden waren aber nicht Unternehmen – Kaufhäuser, Boutiquen oder Hotels –, die mit einem bestimmten Duft ihre Kunden betörten, sondern Privatkunden, die für ein kleines Vermögen eine ganz eigene Duftkreation wünschten, die ihr Zuhause heimeliger machte, zu einem Teil von sich selbst. Alix verstand diesen Wunsch. In einer so schnelllebigen Zeit, in der die Superreichen sich jederzeit völlig überteuerte Immobilien überall auf der Welt leisten konnten, wollten sie irgendwo auch zu Hause sein. Alix’ Raumdüfte halfen ihnen dabei.

Sophie Binghams Auftrag war in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung gewesen, und Alix war froh über den positiven Abschluss.

Und ja, auch das wäre ein schöner Grund zum Feiern.

»Hast du das geplant?«, fragte sie jetzt.

»Ein bisschen vielleicht«, räumte Max ein. Alix musste lächeln, wie schön war es doch, mit einem Mann zusammen zu sein, der die seltenen Gelegenheiten, zu denen sie zusammen sein konnten, so gut zu nutzen wusste. Der Möglichkeiten schuf, wo offenbar keine waren. Der sie einfach überraschte, weil er wusste, wie sehr sie solche Überraschungen liebte.

»Also sehen wir uns um acht im Club A Steakhouse?«

Sie stimmte zu, und dieses kleine Funkeln von Freude, das sie im ersten Moment fast reflexartig hatte unterdrücken wollen, es flammte auf. Klar, das bedeutete irgendwie auch Umstände, sie musste den Flug umbuchen, noch eine Nacht im Hotel bleiben, ihren sorgfältig organisierten Arbeitsablauf über den Haufen werfen und – ganz wichtig – ein paar Stunden Schlaf tanken, womit ihr bei ihrer Rückkehr ein mordsmäßiger Jetlag drohte. Aber das war ein Abendessen mit ihrem Liebsten allemal wert. Noch dazu an ihrem Geburtstag.

Und wer wusste schon, was für Überraschungen er sich noch ausgedacht hatte?

***

Halb acht stand Alix am Bordstein und winkte ein Taxi heran. In der Tüte, die sie in der Hand hielt, steckten Jeans, Bluse und Pullover, Strümpfe und die etwas zweckmäßigen Schuhe. Sie hatte zwei Stunden geschlafen, ein paar Telefonate getätigt und anschließend ein Outfit gekauft, das ihre Kreditkarte ächzen ließ, sich aber so hübsch frühlingshaft anfühlte. Diese kleine Belohnung hatte sie mehr als verdient.

Das dunkelblaue, kurzärmelige Kleid mit Knopfleiste glänzte mit den großen, rosafarbenen Blüten mit winzigen Golddetails. Es reichte knapp über die Knie. Die pinken Sandalen passten perfekt dazu.

Das blonde Haar trug sie im Pferdeschwanz, für eine schickere Frisur fehlte ihr nun wirklich die Zeit. Sie glitt auf die Rückbank des Taxis. Als das Taxi sich vom Bordstein löste und beschleunigte, wurde sie in den Sitz gedrückt. Der Bleifuß war bei diesem Fahrer offenbar sehr ausgeprägt. Auch das Vokabular, mit dem er die anderen Verkehrsteilnehmer bedachte, war blumig, da lernte Alix direkt noch etwas dazu.

Dabei war aber seine Aussprache so schleppend und … lallend? Ja, lallend! Du meine Güte, hatte er etwa getrunken, bevor er seine Schicht antrat?

Lieber kein Risiko eingehen. Sie beugte sich vor, den Anschnallgurt hatte sie noch nicht geschlossen. »Sorry … Could you please stop here?«

Aber er winkte nur ab, gab Gas und schnitt einen anderen Verkehrsteilnehmer beim Linksabbiegen.

Alix bekam es mit der Angst zu tun. Der Taxifahrer war entweder betrunken oder hatte sonst einen Vollrausch. Auf jeden Fall war er alles andere als fahrtüchtig.

Sie griff nach dem Anschnallgurt – doch der war abgerissen, sie hielt nur ein ausgefranstes Ende ohne Schnalle in der Hand, und als sie zur anderen Seite der Rückbank rutschte, erlebte sie dasselbe beim zweiten Gurt. Alix klopfte gegen die Scheibe zwischen Fahrer und Fahrgastkabine. »Anhalten!«, brüllte sie auf Deutsch. »Stop!«

Doch der Taxifahrer schüttelte nur mit dem Kopf, grinste sie im Rückspiegel an und drehte sein Radio lauter. Technobeats dröhnten durch das Auto, er gab Gas und drückte auf die Hupe.

Wenn das mal gut geht, dachte sie und hielt sich verzweifelt am Griff über der Tür fest. Sie traute sich nicht, ihn noch mal zum Halt aufzufordern, wer weiß, was er dann machte.

Es ging nicht gut.

Beim nächsten Linksabbiegen geschah es. Alix sah das Unglück kommen. Ein Lieferwagen stand vor ihnen auf der Straße und ließ nur eine schmale Lücke, durch die definitiv kein Cab passen würde.

Der Fahrer versuchte es trotzdem und stieß dabei ein infernalisches Brüllen aus, als könnte er den Lieferwagen allein durch seine Willenskraft vertreiben. Alix kniff die Augen zu. Sie spürte den Aufprall, bevor sie ihn hörte, sie wurde nach vorne gerissen, instinktiv streckte sie beide Hände vor sich aus, aber da war nichts, woran sie sich hätte festhalten können, und dann spürte sie, wie das Taxi abhob, wie es um die eigene Achse wirbelte, sich überschlug und auf dem Dach landete. Das Kreischen von Metall mischte sich mit ihren eigenen Schreien, ihr Kopf knallte irgendwo gegen, sie konnte es selbst nicht so genau benennen, denn ihr Blick trübte sich bereits vom Blut, das über ihr Gesicht rann.

Einen Augenblick lang lag sie da, verkeilt zwischen verbogenen Metallteilen, die Welt seltsam verdreht und auf den Kopf gestellt. Stimmen näherten sich. »Are you okay?«

Der Taxifahrer lachte. Er hörte gar nicht auf zu lachen, und das war es, was sie in die Bewusstlosigkeit begleitete, was sie wie ein fernes Echo hörte, als sie schon längst nichts mehr um sich wahrnahm.

Die Dunkelheit war ein Segen.

Das Letzte, was sie dachte, war: »Riecht hier ganz schön eklig. Blut. Gummiabrieb. Kein schönes Parfüm für einen Geburtstag.«

Kapitel 2

Wie ein lautloser Geist auf Kreppsohlen glitt die Krankenschwester herein. Max hielt die Augen geschlossen. Er hörte, wie sie die Vitalzeichen kontrollierte, er stellte sich vor, wie dabei ihr Blick über Alix’ Gesicht glitt, das unter den Blutergüssen und dem Verband so fremd wirkte und nicht mehr hübsch. Das blonde Haar hatte man über der Wunde an der Schläfe abrasiert. Auch das würde nachwachsen.

Die Schwester glitt davon, die Tür klappte hinter ihr wieder zu.

Max deBuhr schlug die Augen auf. Er rieb mit der Hand über sein Gesicht, schaute auf die Apple Watch an seinem Handgelenk, runzelte die Stirn. Es dauerte einen Augenblick, bis er sich in der Zeitzone einfand, bis die Erinnerung einsetzte.

Alix war verletzt.

Seit gestern Abend saß er an ihrem Krankenbett, jemand hatte ihm einen Besuchersessel in den Raum geschoben, auf dem er zumindest ein bisschen hatte dösen können. An Schlaf war nicht zu denken; zu groß war seine Sorge um Alix.

Er beugte sich vor, nahm ihre Hand. Die Finger fühlten sich so kalt an zwischen seinen Händen, er hielt sie fest umschlossen. Sein Blick forschte in ihrem reglosen, bleichen Gesicht nach irgendeinem Lebenszeichen, einem Zucken, etwas, das ihm Hoffnung gab, dass sie bald wieder aufwachte.

Er hatte Alix in New York überrascht. Eine gelungene Überraschung, das hatte er zumindest gedacht, bis sie sich verspätete. Eine halbe Stunde nach der verabredeten Zeit rief er sie an; vielleicht hatte sie wegen des Jetlags verschlafen? Unpünktlichkeit war sonst nicht ihre Art.

Aber dann meldete sich eine fremde Stimme am anderen Ende und erklärte ihm auf Englisch, Alix sei soeben im Krankenhaus eingeliefert worden, er solle sofort herkommen, über ihren Zustand könne man aber noch nichts Genaues sagen.

Er wusste weder, was passiert war, dass sie im Krankenhaus landete – war sie angeschossen worden? Plötzlich erkrankt? –, noch wusste er, ob man ihm überhaupt etwas sagen würde, denn sie waren nicht verheiratet. Dass er an diesem Zustand etwas hatte ändern wollen an diesem Abend, wusste ja niemand – das kleine Samtkästchen in seiner Tasche fühlte sich jetzt wie ein Fremdkörper an, als gehörte es in ein anderes Leben. Eine Zeitrechnung vor dem Unfall.

Die gemeinsamen Jahre mit Alix gehörten zum Besten, was ihm hatte passieren können. Und es war schwer, das zu erkennen, wenn man wie er so viel unterwegs war, wenn sie im Grunde eine Beziehung führten, die zwischen seinen zahllosen Reisen und ihrer Arbeit im Hamburger Labor nur wenig Platz fand. Aber er hatte zuletzt etwas begriffen: Dass er mehr wollte. Mehr Alix, mehr Leben. Das hieß im Umkehrschluss vielleicht auch, dass er sein Leben ändern musste. Aber das war es wert, davon war er zutiefst überzeugt.

Und nun dies – ein Unfall, der alles veränderte, der sie beide aus der Fahrbahn des Lebens schleuderte, ohne dass er im Moment wusste, wie die Zukunft aussehen würde. Er hatte Angst. Natürlich würde er das niemals offen zugeben, aber er fürchtete, dass nun nichts mehr so sein würde wie vorher. Das Leben entzog sich seiner Kontrolle, und das war etwas, womit er einfach nicht klarkam.

Zum Glück hatte Alix ihn offenbar als ihren Notfallkontakt angegeben, sowohl in ihrem Handy als auch in einer Patientenverfügung, die sie offenbar immer bei sich trug. Was ihn überraschte, und doch wieder nicht. Niemand war so ein konzentriert planender Charakter wie Alix.

Eine Oberärztin setzte ihn ins Bild. Sie berichtete von schweren Prellungen, von einer Kopfverletzung, vor allem aber sagte sie immer wieder, wie viel Glück Alix gehabt hätte, schließlich sei sie nicht angeschnallt gewesen; warum das so sei, versuchte man noch zu ermitteln. Der Taxifahrer habe unter Drogeneinfluss gestanden, so viel konnte sie wohl verraten; der Unfall ging auf seine Kappe.

Nun, knapp sechs Stunden später war Alix immer noch bewusstlos, und je länger er ihre kühle Hand hielt, umso mehr fürchtete Max, sie könnte nie mehr aufwachen. Oder sie wäre nicht mehr sie selbst, wenn sie irgendwann die Augen aufschlug. So was passierte zwar sonst nur in Hollywood. Aber warum sollte in seinem Leben schon mal etwas glatt laufen?

Dabei sollte man meinen, dass Maximilian deBuhr ein Mann auf der Überholspur war. Mit 38 hatte er alles erreicht – einen gut dotierten Job bei einer internationalen Investmentfirma, eine Wohnung in bester Lage Hamburgs und eine Frau an seiner Seite, mit der er wahlweise Pferde stehlen, auf gesellschaftlichen Events glänzen (»Was denn, eine Duftdesignerin? Sie werden bestimmt eines Tages das neue Chanel No. 5 entwerfen!«) oder einfach gemütlich die Sonntage mit Zeitung und einem Serienmarathon im Bett vertrödeln konnte.

Aber wer wusste, aus welchem Stall er kam – den durfte sein kometenhafter Aufstieg ebenso wenig wundern wie sein geschliffener Umgang in jeder Lebenslage.

DeBuhr, deBuhr … kannte man doch? Er sah es seinen Gesprächspartnern oft an, wie sie in ihrem Gedächtnis nach dem Namen kramten, wie sie nicht draufkamen, weil eine weltbekannte Keksmarke nicht unbedingt das war, was man mit einem Mann wie ihm verband. Doch es stimmte – seinen Eltern gehörte das Imperium, aufgebaut auf zart schmelzender Schokolade, köstlichen Plätzchen und süßen Verführungen für die Massen.

Da sei es kein Wunder, dachte sicher so mancher, dass Max deBuhr so schnell erfolgreich geworden war. Doch sein Name war nichts, das er irgendwann für sich zu nutzen versucht hätte. Wann immer er darauf angesprochen wurde, winkte er ab. »Entfernte Verwandte«, meinte er.

Ob er seine Eltern zu der Hochzeit eingeladen hätte? Vielleicht. Seine Schwester allemal, auch wenn sie, nachdem Max sich mit den Eltern so gründlich überworfen hatte, vermutlich irgendwann das Keksimperium erben würde. Aber mit Antonia verband ihn immer noch eine innige Freundschaft, daran hatten auch die Eltern nichts ändern können. (Er vermutete, sie hatten es zumindest versucht.)

Aber nun war sein Leben von jetzt auf gleich aus dem Rhythmus gerissen worden, und mitten in der Nacht saß er wach an Alix’ Bett. Er stand leise auf, streichelte noch mal ihre Hand und verließ dann das Krankenzimmer.

Es war in New York drei Uhr nachts. Das hieß, dass es in Hamburg neun Uhr war – und damit höchste Zeit, dass er Alix’ Eltern informierte. Auch wenn er selbst kaum mehr wusste, als dass sie einen schweren Unfall gehabt hatte, nicht mehr in Lebensgefahr schwebte und ihnen nichts anderes blieb, als zu warten.

***

Das Lärmen, der Gestank … alles schwand. Da war nur noch Müdigkeit, so vollkommen und wärmend wie eine dicke Wolldecke. Alix ließ sich hineinsinken, sie ließ sich davontragen.

Leises Piepsen. Etwas schepperte in der Ferne. Schritte, die kamen und gingen. Ihr Gehör war zuerst zurück in dieser Welt. Sie ließ die Augen geschlossen, denn Lichtblitze zuckten hinter ihren Lidern, das war so schon schmerzhaft. Hätte sie die Augen geöffnet, ach nein, lieber nicht darüber nachdenken, denn sogar zu denken tat erstaunlich weh. Also blieb sie einfach liegen und wartete, bis dieser Schmerz nachließ. Es dauerte ewig, vielleicht schlief sie auch wieder ein. Aber dann ging es besser, sofort versuchte sie, die Geräusche einzuordnen, versuchte, ihre Erinnerungen zusammenzusuchen. Was war passiert? War denn etwas passiert?

Das Nächste, was sie spürte: Schmerzen. Hinter einem dichten Nebel, trotzdem waren sie da, sie drangen durch dieses watteweiche Gefühl. Sie spürte den Schmerzen nach. Der Kopf. Wie ein Dröhnen in einem Kirchenschiff, als wäre der Schädelknochen ein Resonanzkörper.

Ein leiseres Echo dieses Schmerzes spürte sie im Brustkorb. Die Rippen? Langsam kehrte die Erinnerung zurück.

Ich hatte einen Unfall. Ich war nicht angeschnallt, weil…

Gedanken kamen, gingen, zerfaserten. Alles war so unfassbar anstrengend.

Wo ist Max?

Sie war mit ihm verabredet gewesen. New York. Der Abend ihres Geburtstags. Seine Überraschung.

Jemand nahm ihre Hand, durch das Rauschen in ihrem Kopf drang eine Stimme an ihr Ohr, ganz leise. Als wollte jemand sie nicht erschrecken.

»Ich bin hier.«

Sie hätte am liebsten vor Erleichterung geweint. Max war hier. Und sie war auch noch hier, irgendwie, wobei dieses »Hier«, das sie dachte, nicht dem entsprach, in dem sie sich vor wenigen Stunden – oder Tagen? – befunden hatte. Etwas war anders. Sie konnte es nicht benennen, aber etwas fehlte ihr, da war ein blinder Fleck in ihrem Innern, von dem sie wusste, sie würde ihn schmerzlich vermissen, wenn sie nur wüsste, was es war …

»Ich bin müde«, versuchte sie zu sagen. Vielleicht sprach sie das wirklich aus, denn Max drückte ihre Hand, und er flüsterte ihr zu: »Dann schlaf ein bisschen. Ich bleibe bei dir.«

»Danke«, flüsterte sie.

***

Einschlafen.

Aufwachen.

Mit geschlossenen Augen warten, dass der innere Aufruhr aus Übelkeit und Schmerz sich legte.

Atmen, atmen, atmen.

Es fiel ihr leichter. Die Hand fuhr über das Bettlaken, das unter den Fingerspitzen raschelte. Da, ein anderer Mensch, sie spürte etwas Flauschiges – Haare? – und dann etwas, das weich und biegsam war, fast ein bisschen verschlungen, wie ein winziges Labyrinth aus Knorpel …

»Autsch!« Jemand nahm ihre Hand.

Alix hätte gern gekichert, denn jetzt begriff sie. Offenbar hatte Max sich müde mit dem Kopf auf ihre Matratze gebettet, und sie hatte ihm gerade etwas unsanft die Ohrmuschel durchgeknetet.

»Alix.« Seine honigwarme Stimme, ein bisschen rau noch vom Schlaf. »Alix, kannst du die Augen aufmachen?«

Sie nickte, schüttelte dann aber den Kopf, weil sie ahnte, wie hell es hinter den Lidern sein musste.

Max verstand. »Warte einen Moment.« Sie hörte, wie er sich im Zimmer bewegte, und versuchte, etwas zu sagen.

»Langsam, Liebes. Ich verstehe dich schlecht, wenn du so leise sprichst.«

Vermutlich nicht nur leise, sondern auch undeutlich. Alix hatte jedenfalls das Gefühl, dass sie Kieselsteine im Mund hatte, an denen sie mühsam jedes Wort vorbeischieben musste.

»Wie lange du schon hier liegst? Seit gestern Abend. Knapp zwölf Stunden.« Er saß wieder neben ihr, und hinter den geschlossenen Lidern wirkte alles dunkler. »Versuch jetzt, die Augen zu öffnen.«

Das tat sie. Auch im Dämmerlicht des abgedunkelten Zimmers hatte sie im ersten Moment das Gefühl, die Helligkeit brenne sich in die Netzhaut. Sie blinzelte. Eine verirrte Träne rann aus dem Augenwinkel und versickerte neben ihrem Ohr. Sie blickte geradeaus, zum Fußende des Betts, an die Wand dahinter, an der ein ziemlich scheußlicher Kunstdruck hing.

Max folgte ihrem Blick. »Ja, ich finde Munchs ›Schrei‹ auch nicht optimal, wenn man nach einem Unfall wieder aufwacht«, stellte er fest. »Soll ich es abhängen?«

Sie nickte, versuchte sich auch an einem Lächeln.

»Streng dich nicht zu sehr an.« Er streichelte ihre Hand, sie dachte kurz, er wollte auch ihre Wange berühren, und schloss die Augen. Da ließ er die Hand sinken. Sie hörte ihn mit dem Bild kämpfen. Die Müdigkeit umfing sie wieder, und Alix ließ es zu.

***

Wann immer sie aufwachte, saß Max bei ihr. Seine Hände hielten ihre, er gab ihr Wasser mit einem Strohhalmbecher, später Eiswürfel zu lutschen, dann gab es das erste Mal was zu essen, es schmeckte fürchterlich nichtssagend, Krankenhausessen eben. Eine Ärztin untersuchte sie. Bei alldem verließ dieses Gefühl sie nicht, dass etwas nicht stimmte, dass ihr Weltbild etwas verrückt war, aus dem Takt geraten. Was fehlte ihr? Also, wenn man mal von der schweren Gehirnerschütterung absah, von den geprellten Rippen und einigen anderen Verletzungen, die sie sich bei diesem Stunt zugezogen hatte. Sie konnte von Glück sagen, dass sie noch lebte, das sagte ihr jeder.

Dankbarkeit für diesen Umstand wollte sich allerdings nicht einstellen.

Am dritten Tag saß sie bereits wieder im Bett, sie bekam drei Mahlzeiten am Tag, die Geräte wurden etwas weiter weggestellt. Eine Ärztin, die Alix noch nicht kannte, kam zur Visite, aber sie war sehr einfühlsam und freundlich, ihre Hände tasteten den Bauch ab, sie leuchtete in Alix’ Augen und stellte viele Fragen.

»Ich weiß nicht, was nicht mit mir stimmt«, sagte Alix. »Aber irgendwas ist nicht in Ordnung.«

»Das kommt wieder, dieses Gefühl. Sie haben einen ziemlich heftigen Unfall gehabt, da ist es ganz natürlich, dass man ein paar Tage oder Wochen braucht, bis alles wieder in normalen Bahnen verläuft.« Was tröstlich klingen sollte, empfand Alix als Affront. Warum nahm keiner sie ernst?

Auch Max wiegelte ab, wenn auch etwas charmanter. »Wenn du erst wieder im Labor stehst, kannst du all das hinter dir lassen.«

Es nagte an ihr. Sie fragte, ob jemand wisse, wie es dem Taxifahrer ging. Machte sie sich unbewusst um ihn Sorgen? Niemand wusste, wie es ihm ergangen war. Und Max beschwichtigte sie; es müsse ihr doch egal sein. Er hatte den Unfall verursacht. Er war schuld, dass sie in diesem New Yorker Krankenhaus lag, statt daheim in ihrem Hamburger Labor der Arbeit nachzugehen.

Sie telefonierte mit Dennis, der etwas verloren klang. Sie fehlte ihm, klar. Ihre absolute Nase, die selbst winzige Duftpartikel erschnuppern konnte, war im Designprozess unerlässlich. In den kommenden Monaten mussten zwei weitere Düfte vollendet werden. Höchste Zeit, dass sie heimkehrte.

»Ich schaffe das auch ohne dich«, beteuerte Dennis, doch sie hörte seine Angst heraus. Dabei war er genauso gut wie sie; was ihm an genialer Nase fehlte, machte er mit Akribie wett. Wo Alix eher Pi mal Daumen Düfte mixte, ging er sehr methodisch vor. Gemeinsam schafften sie es, perfekte Kompositionen nicht nur zu erschaffen, sondern so zu kreieren, dass sie auch reproduzierbar waren. Es gab dank Dennis ein Rezept, an das sie sich halten konnten, wenn ein Kunde einen Duft nachorderte. Und das Rezept sah nicht so krude Angaben vor wie »einen Schwapp Ysop, einen Hauch Lavendel«, wie Alix es vermutlich notiert hätte.

»Ich komme bald heim«, versprach sie.

War es das? Die Sorge, ihr Geschäft könnte vor die Hunde gehen, wenn sie wegen ihrer Verletzungen noch länger in New York herumlag?

»Lass uns heimfliegen«, sagte sie zu Max, als er kurz darauf wieder ins Zimmer kam, eine Tüte mit Wasabinüsschen in der Hand. Sie hatte ihn losgeschickt, damit er ihr welche holte, denn sie hatte irgendwie eine verstopfte Nase. Wasabinüsschen sorgten da zuverlässig für Abhilfe. Besser jedenfalls als Nasensprays.

Ihre Nase war ihr Kapital, deshalb vermied Alix es normalerweise, sie mit Medikamenten zu stressen. Erkältungen waren für sie richtig schlimm, denn damit war sie zuverlässig für ein paar Tage außer Gefecht. Aber klar, wenn man im Krankenhaus lag, hatten die Viren, die hier vermutlich etwas zahlreicher durch die Luft schwirrten, leichtes Spiel mit ihr.

Sie riss das Tütchen auf und steckte sich zwei Nüsse auf einmal in den Mund. Während sie kaute, wartete sie auf das befreiende Gefühl in der Nase; ein Kribbeln, dann endlich wieder durchatmen können …

Aber sie bemerkte die Schärfe nur an einem mechanischen Brennen im Mund. Nichts davon schaffte es bis zur Nase, und wenn es nach ihrem Geschmackssinn ging, hätte sie genauso gut ein paar Papierkügelchen kauen können.

»Ich will nach Hause«, wisperte sie.

»Ich kümmere mich darum«, versprach Max. Er beugte sich über sie, drückte ihr einen Kuss auf den Mund. »Mh, schön scharf«, murmelte er, zwinkerte ihr zu.

Sie wäre gern auf dieses Geplänkel eingegangen, aber ihr war die Lust daran ebenso vergangen wie an diesen eher geschmacklosen Küssen, die er im Moment so großzügig verteilte.

Komisch. Sie hatte weder Halsschmerzen noch fühlte sich die Nase tatsächlich verstopft an. Sie schmeckte nur nichts mehr, und das empfand sie als sehr irritierend.

In ihr keimte ein Verdacht, den sie gern mit der Ärztin besprochen hätte – und zwar ohne Max dabei. Denn wenn dieser Verdacht stimmte …

Ach nein. Bestimmt machte sie sich nur verrückt. Sie hatte vor nicht mal einer Woche einen schweren Unfall erlitten, sich dabei eine Kopfverletzung zugezogen, von der sie laut Ärztin noch eine ganze Weile ziemlich üble Kopfschmerzen bekommen würde. Kein Wunder, dass sie so durcheinander war und Gespenster sah …

»Brauchst du noch was? Sonst spreche ich mit der Ärztin und kümmere mich um unseren Rückflug.«

***

Zwei Tage später flogen sie heim. Alix saß, den Kopf von Max weggedreht und die Augen fest zugekniffen, auf dem Fensterplatz. Zwischen ihnen war ein Platz frei, was ganz angenehm war, denn im Moment konnte sie ihn nicht riechen, und das irritierte sie enorm.

Max war ein Mann, der nicht mit guten Düften geizte. Und Alix mochte es, wenn ein Mann gut roch, weshalb sie ihm gerne Parfüms schenkte.

»Was ist das?«, fragte sie, richtete sich auf und schnupperte demonstrativ. »Der Duft, meine ich.«

Max war überrascht. »Das hast du mir zu Weihnachten geschenkt. Deine Eigenkreation.« Er beugte sich zu ihr herüber. »Kannst du jetzt noch nicht mal mehr deine eigenen Düfte riechen?«, scherzte er.

Doch als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte, wurde Max schlagartig ernst. »Liebes? Kannst du nichts riechen?«

Nein. Und das … Ja, das war ihr Problem.

Sie konnte nichts mehr riechen. Es war einfach so vorbei, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Zack, Geruchssinn ausgeschaltet.

Als hätte es ihn nie gegeben. Nicht mal die Erinnerung an bestimmte Düfte konnte sie noch heraufbeschwören. Dieser Sinn war einfach verschwunden, hatte sich in ein Nichts aufgelöst, das sie als schmerzhaft empfand, eine Leere, die sie nicht begriff.

Und darum schmeckte sie auch nichts mehr. Das Krankenhausessen, das erstaunlich appetitlich ausgesehen hatte, war nur Pappe gewesen, selbst die Wasabinüsschen hatte sie nicht geschmeckt. Der Geschmackssinn arbeitete Hand in Hand mit dem Geruchssinn, er brauchte für die vielen feinen Nuancen die Geruchsrezeptoren.

Sie hatte mit der Ärztin darüber gesprochen. Diese hatte klare Worte gefunden. Alix müsse Geduld haben. Die Kopfverletzung könne verschiedenste Auswirkungen haben. Eine Schädigung ihres Riechnervs sei möglich, aber sehr unwahrscheinlich. Eher könne es sein, dass ihr Körper gerade alle Ressourcen auf die Heilung verwendete und mit der Genesung auch der Geruchssinn zurückkehren würde.

»Liebes? Was ist los?«

Max setzte sich direkt neben sie. Das Flugzeug hatte die Reisehöhe erreicht, unter ihnen erstreckte sich unendlich das Blau des Atlantiks, immer wieder schoben sich Wolkenberge zwischen sie und diese Aussicht. Alix löste den Blick vom Fenster.

»Ich weiß nicht«, jammerte sie. »Meine Nase lässt mich im Stich.« Es klang ein bisschen wie bei einem Drogenspürhund, dessen Pension nahte. »Sie ist frei, ich bin nicht erkältet. Dachte ich erst, aber nein. Ich bin gesund. Nur dass ich nichts riechen kann.«

»Hm«, machte Max. »Eine Folge des Unfalls?«

Hilflos zuckte sie mit den Schultern.

»Die Ärztin meinte, das sei gut möglich, ja.«

»Aber dann wird sich das sicher bald wieder einrenken.«

Sie antwortete nicht. Denn die Angst war da – was, wenn es sich nicht wieder »einrenkte«? Ihr Riechsinn war schließlich kein gebrochener Knochen.

»Du solltest in Hamburg zu einem Spezialisten gehen. Die Ärztin in New York war Unfallchirurgin, keine HNO oder Neurologin.« Schon hatte er das Handy gezückt, er scrollte durch eine Liste von Ärzten, suchte nach Empfehlungen. Er hielt inne.

»Du könntest auch deine Schwester fragen, wen sie empfiehlt.«

»Bea? Bloß nicht.« Mit Bea war es kompliziert. Sie war die älteste der vier Richter-Schwestern, zwei Jahre älter als Alix, dennoch schienen Welten zwischen ihnen zu liegen, ohne dass sie wusste, warum das so war. Irgendwann zwischen »Bea geht zum Studium nach Süddeutschland« und »Alix zieht zu Hause aus und gründet ihre eigene Firma« hatten sie den Kontakt zueinander verloren. Als wären sie nie die flüsternden, kichernden besten Freundinnen gewesen, die nächtelang unter der Bettdecke BRAVO lasen, Robbie Williams anhimmelten und bitterlich weinten, als Take That sich trennte.

Zwanzig Jahre später ahnte Alix, dass dieses Auseinanderdriften eben Teil des Erwachsenwerdens war. Geschwister entfernten sich voneinander, kreisten zwar immer noch um die Sonne ihres Elternhauses, aber auf unterschiedlichen Umlaufbahnen. Bea hatte Medizin studiert, und Teil des Problems könnte sein, dass Alix in ihren Augen ihr naturwissenschaftliches Talent an irgendwelche Phiolen und Flakons verschwendete. »Du hättest eine bessere Ärztin werden können als ich«, hatte Bea ihr einmal vorgeworfen. Noch gar nicht so lange her, letztes Jahr erst auf der Rubinhochzeit der Eltern, als alle zusammenkamen. Bea kam allein, Alix und die jüngeren Schwestern Rosa und Jette brachten jeweils ihre Partner mit. Bea war inzwischen Oberärztin am Klinikum, mit Aussicht auf den Posten der Chefärztin, wenn sie sich noch ein bisschen anstrengte. Was sie jedem erzählte, der es nicht hören wollte. Denn so war das mit Bea: Nur die Karriere zählte. Für einen Mann war da wenig Platz, für Familie schon gar nicht. Und dass sie sich das Wochenende der Feier freigehalten hatte, sollten ihre Eltern schon als genügend großes Geschenk begreifen. Das verstand Alix nicht, und sie sagte es Bea unmissverständlich zu später Stunde, als ihre Schwester sich verabschiedete, weil im Klinikum dann doch ein Notfall auf sie wartete.

»Ich erwarte auch nicht, dass du es verstehst«, erklärte Bea von oben herab. »Ich rette Menschenleben.«

»Sei doch nicht so …«

Bea ließ sie einfach stehen. Also ja, sie war so, und es fiel Alix zunehmend schwer, sich vorzustellen, wie Bea, die im Umgang in den vergangenen Jahren so spröde und unnahbar geworden war, auf ihre Patienten empathisch einging.

Das Verhältnis war also angespannt – vorsichtig formuliert –, und seither hatte Alix auch nicht den Kontakt mit Bea gesucht.

Max runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Sie wusste, dass er ihren Streit mit Bea nicht nachvollziehen konnte, aber er hatte ja seine ganz eigenen Probleme mit seiner Familie, also sollte er lieber den Mund halten. Darüber sprach er genauso ungern wie sie über ihre ältere Schwester.

»Hier. Da stehen Neurologen. Ich kann gerne dort anrufen, sobald wir zu Hause sind.« Er zeigte ihr eine Liste. Sie nickte nur müde, legte den Kopf gegen die Lehne und blinzelte in das strahlende Licht der Sonne. »Mach das«, flüsterte sie. Dann schob sie die Verdunkelung vor dem Fenster nach unten, sie ertrug jetzt kein Licht. Sie ertrug auch keine Gespräche über ihre Schwester, über Ärzte oder über irgendwas. Max’ Tatendrang ehrte ihn; so war er schon immer gewesen. Es gab ein Problem? Er packte es an. Darin glichen sie einander.

Aber das hier. Das war eben mehr als nur »ein Problem«, das sich mit einem Arztbesuch beseitigen ließ. Ihre gute Nase war ihr wertvollstes Kapital. Wenn sie versagte, wäre sie auch als Duftdesignerin nichts mehr wert. Sicher, sie könnte sich eine Weile auf Dennis’ Akribie verlassen und hoffen, dass sie auch damit Düfte komponieren konnten, die ihre Kunden zufriedenstellten. Aber es genügte ein unzufriedener Auftraggeber. Der leise Zweifel an ihren Fähigkeiten. Vielleicht auch ein Gerücht, das in die Welt sickerte, das sie ehrlicherweise nicht dementieren konnte. Und schon würde sie in Schieflage geraten, finanzieller Natur, denn emotional fühlte sie sich jetzt schon aus dem Gleichgewicht gebracht.

Was sollte sie jetzt tun?

Zum Arzt gehen natürlich. Sie atmete tief durch. Und abwarten, was dieser Arzt ihr sagte. Danach musste sie eben alles neu bewerten, abhängig von der Diagnose.

Aber was konnte dieser Arzt ihr schon sagen, das sie nicht schon wusste? Sie hatte ihren Geruchssinn verloren, und jetzt, da sie das begriffen hatte, vermisste sie ihn schmerzlich mit jedem tiefen Atemzug. Sie war nicht mehr ganz, nicht länger sie selbst. Und das war nur die Spitze dieses Eisbergs, in den Tiefen lauerten Dinge, die sie nicht zu denken wagte.

***

»Also, Sie haben recht, Frau Richter. Ihr Geruchssinn ist offensichtlich abhandengekommen.«

Die Ärztin vor ihr schob ein paar Papiere hin und her, ein blank geputzter Schreibtisch, Kiefernholz. Nichts Glamouröses, Dr. Bieber mit ihrer HNO-Praxis im Süden von Hamburg hatte Max angeblich in einem Empfehlungsportal im Internet aufgetrieben, nachdem ein Neurologe ihr nicht hatte weiterhelfen können. Dr. Bieber hatte sich viel Zeit für sie genommen, hatte einige Untersuchungen vorgenommen und nun also ein Ergebnis für Alix. Das sie bereits kannte.

»Bei diesem recht seltenen und extremen Krankheitsbild sprechen wir von einer Anosmie. Grund dafür kann der Unfall sein, bei dem Ihr Riechnerv durch die Kopfverletzung beschädigt wurde. Sie haben ja selbst erzählt, dass Sie seit dem Unfall immer wieder Kopfschmerzattacken haben.«

Max saß neben ihr, und sie war in diesem Moment froh, nicht allein zu sein. Sie suchte seine Hand, er drückte sie mitfühlend.

»Welche Therapiemöglichkeiten gibt es?« Max räusperte sich. Dr. Bieber musterte ihn nachdenklich. Sie lehnte sich zurück, der Kugelschreiber tanzte zwischen ihren Fingern, das machte Alix ganz nervös.

»Bitte«, flüsterte sie. »Gibt es eine Prognose? Hoffnung? Irgendwas …«

»Ich wünschte, es gäbe irgendwas. Aber Sie können nur abwarten. Manchmal verheilen diese Nervenschäden wieder, das kann Wochen oder Monate dauern. Manchmal … nicht.«

Alix nickte. Nichts an dieser Antwort überraschte sie. Seit ihrer Heimkehr aus New York waren zwei Wochen vergangen. Zwei Wochen, die sie mehr oder weniger zu Hause gesessen hatte. Allein, denn Max musste natürlich wieder arbeiten. Mit sich und ihren Gedanken, mit Fragen, vor allem aber – leider – mit dem Internet, dem man noch so verrückte Fragen stellen konnte. Einfach bei Google eingeben, Enter drücken und sich seitenweise durch die Suchergebnisse wühlen. Nichts, was sie gelesen hatte, machte ihr Mut. Es gab ein paar dubiose Seiten von Heilpraktikern, die ihr Wunder was versprachen, aber die hatte sie immer schnell weggeklickt. Zuckerkügelchen gegen Verlust des Geruchssinns? Nein, danke. Sie hielt sich lieber an exakte Wissenschaften und nicht an irgendeinen Hokuspokus, der nur wirkte, weil die Leute es glauben wollten.

Dr. Bieber redete weiter. Über experimentelle Therapieformen, die ihnen hier aber nicht weiterhalfen, da sie nur bei einer chronischen Nasennebenhöhlenentzündung halfen. »Es gibt noch das Riechtraining.« Sie musterte Alix. »Das können Sie natürlich versuchen.«

Zehn Minuten später standen sie auf der Straße vor dem Ärztehaus; Alix hielt das Faltblatt zum Riechtraining umklammert, das Dr. Bieber ihr ausgehändigt hatte. Ihr Rettungsring, ihr letzter Strohhalm. Sechs bis neun Monate lang sollte sie zweimal täglich an vier Düften schnuppern – Rose, Eukalyptus, Zitrone und Gewürznelke. Aber was blieb, war ein Satz, den Dr. Bieber gesagt hatte.

Ein Satz, der all ihre Hoffnung hatte in sich zusammenfallen lassen.

»Heilung können nur zehn bis zwanzig Prozent aller Betroffenen erreichen. Einige Faktoren sprechen für Sie, Frau Richter, Sie sind jung, Nichtraucherin, eine Frau. Aber das ist ebenso keine Garantie wie Ihre bisherige Profession. Ihre geschulte Nase könnte vielleicht eher wieder etwas wahrnehmen. Aber haben Sie Geduld mit sich.«

Geduld. Das war nun ziemlich das Letzte, was sie hatte. Das tägliche Training wäre nach drei Minuten geschafft, pardon, zweimal drei Minuten, aber damit blieben immer noch zu viele Minuten, Stunden, in denen sie nichts tun konnte. Für ihre Arbeit gänzlich ungeeignet, und Dennis vor den Füßen herumstehen wollte sie auch nicht, denn sie wäre so gar nicht hilfreich. Im Gegenteil; sie fürchtete schon, sie würde ihm eher schaden als nutzen, wenn sie quengelte, dass seine Arbeit in ihren Augen nicht genügte, in ihrer Vorstellung – denn mehr blieb ihr nicht! – nicht funktionierte.

Max legte den Arm um ihre Schultern, und sie zuckte zurück, streifte ihn mit einer unwilligen Bewegung ab.

»Wollen wir was essen gehen?«, schlug er vor.

»Wozu?«, erwiderte sie heftiger als gewollt. Sie seufzte. »Ach Mann, sorry. Ich wollte nicht …«

»Verstehe schon.« Er ging neben ihr her, sie schwiegen ein bisschen. Das hatten sie bisher ganz gut gekonnt, das mit dem Schweigen, aber das war gewesen, bevor sie glaubte, an so vielem Ungesagten zu ersticken.

»Ich möchte jetzt allein sein. Nachdenken.«

»Soll ich dich nach Hause bringen?«

Sie nickte dankbar. Froh, dass sie nicht viel sagen musste, dass er sie trotzdem verstand. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich so unversehens in einer Lebenskrise befand. Aber damals war es anders gewesen … Damals hatten sie beide vor dem Nichts gestanden, sie hatten beide kämpfen müssen, um über diese traurige Episode hinwegzukommen.

Jetzt war alles anders. Es ging nur sie etwas an. Was sie mit ihrem Leben anfing. Oder auch nicht; sie fühlte sich wertlos. Nutzlos. Vom Grübeln bekam sie Kopfschmerzen. Dr. Bieber meinte, auch von zu viel Riechanstrengung könnte sie Kopfweh bekommen, das sollte sie also lieber vermeiden.

Zweimal täglich drei Minuten. Für sie war das Folter; manche Tage hatte sie acht Stunden im Labor gestanden. Früher. In einem anderen Leben, das sich anfühlte, als sei es unwiderruflich vorbei.

»Was hast du jetzt vor?« Max saß hinter dem Steuer seines schnittigen, teuren Mercedes, den er geschickt über die mehrspurigen Straßen lenkte.

»Ich weiß es nicht.« Sie seufzte, sah aus dem Fenster, in der Ferne die Kräne vom Hamburger Hafen, die Silhouette der Elbphilharmonie. Dafür hatte sie bisher nie Zeit gehabt, zu sehr absorbiert von der Arbeit, immer. Jetzt wäre Zeit, dachte sie, oder auch für die Fotoausstellung in den Deichtorhallen, für einen Kaffee im ZEIT-Café, obwohl, na ja, den würde sie kaum schmecken.

Die kleine Wohnung in einer Seitenstraße der Langen Reihe, St. Georg, schick und alt. Sie liebte die zwei Zimmer, Küche, Bad, winziger Balkon hinten raus, und wenn sie sich ganz weit aus dem Schlafzimmerfenster lehnte, war da manchmal das tänzelnde Blitzen der Wellen auf der Binnenalster. Max wohnte in der Hafencity, mondän, wenn nicht gerade eine Sturmflut die Elbe hochdrückte und in der Tiefgarage der Mercedes absoff, ist ja alles schon mal vorgekommen. Er hielt in zweiter Reihe, beugte sich zu ihr herüber, um sie zum Abschied zu küssen. Sein Mund streifte ihre Wange, weil sie den Kopf rasch wegdrehte. Ihn nicht zu riechen, das war das Schlimmste. Oder doch die Unmöglichkeit, ihren Job auszuüben?

»Meldest du dich?«, fragte er.

Sie antwortete nicht, denn ehrlich gesagt wusste sie nicht, ob sie das schaffen würde. Sich bei ihm melden. Bei Dennis anrufen. Ihr Leben, wie es vor dem Unfall gewesen war, empfand sie als zu schmerzhaft. Zurückweichen in einen Schatten, den sie erst für sich definieren musste – das wollte sie jetzt. Etwas finden, das sie erfüllte. Ersatz für das, was sie bisher glücklich gemacht hatte.

Als könnte man einen Schalter umlegen, und danach wäre das Leben, das man vorher geführt hatte, das man so sehr geliebt hatte, nichts mehr wert, man würde es auch gar nicht vermissen.

Schön wäre das.

Schön, aber leider undenkbar.

Kapitel 3

Schlafen. Lesen. Eine Tüte Asianudeln mit heißem Wasser übergießen und ohne Genuss essen. Eine Tasse Kaffee aufbrühen und runterstürzen. Schokolade. Kekse. Das Einzige, was zu ihr durchdrang, war die Süße der Kekse.

Alix wusste, was sie da gerade mit ihrem Leben machte. Es gab Tage, an denen lag sie einfach im Bett. Sie konnte nicht aufstehen, sie ignorierte Anrufe ihrer Familie, sprach nicht mit Dennis oder Max. Sie wollte niemanden sehen, mit niemandem sprechen.

Sie wusste allerdings, dass sie sich nur so lange würde einigeln dürfen, bis ihre Mutter und ihre Schwestern genug davon hatten. Zwei Wochen gaben sie Alix, dann stand die Erste unangekündigt vor der Tür.

»Brauchst gar nicht wieder zumachen«, sagte Rosa, den Fuß bereits in der Tür. Ihre Haare waren aktuell knallpink mit schwarzen Spitzen und fielen über ihren Rücken. Da sie zu Weihnachten noch mit raspelkurzen blauen Haaren zum Essen bei den Eltern gekommen war, vermutete Alix, dass es eine Perücke war, mindestens aber Extensions.

»Was willst du?«, fragte sie genervt und schlurfte ins Wohnzimmer.

»Mit dir reden, Schätzchen«, trällerte Rosa.

Sie verdrehte die Augen. Das war Rosa – immer etwas überdreht. Aber sie hatte das Herz am rechten Fleck, das machte es dann irgendwie wieder wett.

»Außerdem habe ich uns was zu essen mitgebracht.« Rosa verschwand in der Küche. Es raschelte verheißungsvoll. Alix vergrub sich wieder unter der Bettdecke, die sie ins Wohnzimmer geschleppt hatte. Sie fühlte sich krank.

»Mama kommt auch gleich. Sie wollte noch irgendwas vom Markt holen. Obst und Spargel und so.«

Rosa trug einen Teller mit Pralinen und unter den Arm geklemmt drei DVDs ins Wohnzimmer.

»Ehrlich, Alix. Riechst du das nicht? Hier stinkt’s wie in ’nem Pumakäfig.«

»Nein, ich rieche nichts.«

Rosa hielt inne. »Ach ja.« Sie lachte. »Aber du hast nichts dagegen, wenn ich mal lüfte, oder?«

Sie zuckte nur mit den Schultern, als wollte sie sagen: »Würde es dich denn daran hindern?«

»Jette kommt morgen. Von Bea kam mal wieder nichts Eindeutiges. Du kennst sie ja. Jedenfalls habe ich ihr gesagt, sie soll auch mal nach dir gucken. Wir sind für dich da, Schätzchen.«