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Sechs Haushalte, eine Putzhilfe – bis ein Sommer alles verändert …
Montag: der Witwer mit dem gebrochenen Herzen
Dienstag: die Älteste, sehr neugierig
Mittwoch: die Herrischen
Donnerstag: die Wahrsagerin
Freitagmorgen: die wohlhabenden Verzweifelten
Freitagnachmittag: der Unsichtbare
Zwischen all den Haushalten und ihren Teenager-Zwillingen hat Eléonore keine Zeit, das Dolce Vita in Salerno zu genießen. Auch Marco, von dem sie sich gerade getrennt hat, geht ihr nicht aus dem Kopf. Doch als Eléonore immer mehr in das Privatleben ihrer Kunden hineingezogen wird, gerät ihr routinierter Ablauf außer Kontrolle. Könnte das die langersehnte Chance für einen Neuanfang sein?
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Seitenzahl: 206
Veröffentlichungsjahr: 2025
Serena Giuliano
Ein Sommer in Salerno
Roman
Aus dem Französischen von Christiane Landgrebe
Insel Verlag
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Die französische Originalausgabe erschien 2023 unter dem TitelUn Coup de Soleil bei Éditions Robert Laffont, S. A. S., Paris.
eBook Insel Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 5101.
© der deutschsprachigen AusgabeInsel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2025© Éditions Robert Laffont, Paris, 2023
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Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagabbildungen: FinePic®, München; Aygul Sarvarova/Alamy/mauritius images; Marina Tikhonova/iStock/Getty Images Plus
eISBN 978-3-458-78322-0
www.insel-verlag.de
Für meine Nichte
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
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Danksagung
Éléonores Playlist
Informationen zum Buch
Ein Sommer in Salerno
Ich kann mich nicht von dir trennen, ohne dir zu sagen,
dass mein Herz jetzt schon blutet.
George Sand
Wenn eine Liebe zu Ende geht, leidet einer der beiden.
Wenn keiner von beiden leidet, hat sie nie begonnen.
Wenn beide leiden, ist sie nicht vorbei.
Marilyn Monroe
Ich habe schrecklichen Liebeskummer.
Das tut weh und kommt mir vor wie langsame Folter.
Manchmal gelingt es mir, ein paar Stunden nicht daran zu denken. So zu leben, als hätte es ihn nie gegeben. Dann kehrt der Schmerz zurück. Er liegt mir im Magen, meine Beine werden taub, mein Geist ist wie gelähmt.
Ich möchte einfach nur schlafen, damit es vorübergeht, damit es aufhört.
Ich möchte mich zusammenrollen, in ein Kissen schreien, endlos weinen wie ein Teenager. Aber ich bin nicht mehr sechzehn, sondern bald vierzig Jahre alt, habe zwei Kinder, eine anstrengende Arbeit und wirklich keine Zeit, Trübsal zu blasen.
So schleppe ich den Kummer mit mir herum; ich setze meine Kopfhörer auf und höre abwechselnd Francis Cabrel und Céline Dion.
Manchmal sogar Patrick Fiori.
Sein Lied »Komm doch zurück«.
Ich gebe mir Mühe, nach außen hin meine Würde zu bewahren. Im Innern aber will ich meinen Kummer voll ausleben.
Dottore Di Martino
Corso Giuseppe Garibaldi, Salerno
Es ist acht Uhr dreißig und ich komme genau pünktlich. Wie immer.
Ich hasse es, mich zu verspäten, ich hasse Leute, die zu spät kommen, ich finde es respektlos. Schon als meine Zwillinge noch klein waren, habe ich ihnen beigebracht, dass man sich immer etwas mehr Zeit nehmen soll, wenn man zu einer Verabredung geht, selbst für den Weg zur Schule. Man weiß ja nie, was unterwegs passieren kann, und es ist immer besser, selber zehn Minuten zu warten, als andere warten zu lassen.
Der Dottore ist wohl erst vor wenigen Minuten weggegangen, denn ich habe im Aschenbecher eine Zigarette gefunden, die vor sich hin brannte. Im Wohnzimmer riecht es unangenehm nach abgestandener Luft und kaltem Rauch. Ich öffne die Läden, um die frische Morgenluft und etwas Licht hereinzulassen. Dieser Mann lebt im Dunkeln, kein Wunder, dass alle Pflanzen hier eingehen.
Ich fange meine Arbeitswoche gern in dieser Wohnung an. Ich kümmere mich um das Innere seiner Wohnung, er kümmert sich um das Innere von Menschen. Signor Di Martino ist Kardiologe.
Da er sich schon um Herzen kümmert, sollte ich ihn vielleicht bitten, sich meins mal anzuschauen.
Ich schalte eine Waschmaschine mit den Sachen der letzten Woche an, danach kommt die Bettwäsche dran. Ich bleibe vier Stunden hier und bringe die neunzig Quadratmeter in Ordnung.
Ich beginne immer in der Küche, die er ziemlich selten benutzt. Dann mache ich das Bad, sein Arbeitszimmer, das Schlafzimmer und schließlich das Wohnzimmer.
Seit zwei Jahren arbeite ich bei Dottore Di Martino. Als ich bei ihm anfing, war gerade seine Frau gestorben und er schaffte es nicht, neben seiner Praxis noch den Haushalt zu machen und seinen Schmerz zu verarbeiten. Ich bin ihm nur selten begegnet. Er gab mir bald einen Zweitschlüssel, denn er vertraut mir.
Ich bemühe mich, mein Telefon in der Handtasche zu lassen. Wenn ich es in meiner Nähe habe, schaue ich alle zwei Minuten nach, ob eine Nachricht von Marco da ist, und wenn ich sehe, dass ich nichts bekommen habe, ist es wie ein Fausthieb in den Magen.
Neulich habe ich den Wecker auf eine Stunde gestellt. Bevor es klingelte, durfte ich nicht auf mein Telefon schauen.
Vor Ungeduld war ich fix und fertig, und meine Enttäuschung war groß, da ich gerade einmal die Erinnerung an den Geburtstag meiner Cousine auf Facebook verpasst habe.
Seit zwei Wochen probiere ich alles Mögliche aus, um von diesem Mann loszukommen. Bisher hat nichts funktioniert. Und ich habe die Befürchtung, dass ich aus diesem schmerzlichen Zustand nie herausfinden werde.
Während ich die Sofakissen absauge, entdecke ich einen Ohrring. Offenbar hatte der Dottore Besuch. Ich lege das Schmuckstück sorgfältig auf der Frisierkommode im Schlafzimmer ab. Ich freue mich für ihn, wenn er eine Freundin hat, jemanden, der sich um sein Herz kümmert.
Um elf Uhr genehmige ich mir, im Auftrag meines Montagschefs, eine Pause und trinke auf dem Balkon einen Kaffee. Wenn ich die Wohnung verlasse, schicke ich ihm eine Nachricht und berichte, was ich diesen Vormittag gemacht habe. Jede Woche antwortet er mir das Gleiche:
»Danke, Éléonore. Ich hoffe, Sie haben sich Zeit für einen Kaffee genommen.«
Mir diese fünf Minuten nicht zu gönnen, wäre ein Affront.
Von der dritten Etage aus kann ich die ganze Straße überblicken. Unten reden zwei Frauen miteinander. Sie sprechen sehr laut – Italienerinnen eben. Man könnte meinen, sie streiten sich, aber ich lebe lange genug in diesem Land, um zu wissen, dass es eine ganz gewöhnliche Unterhaltung ist.
Meine Tasse ist leer. Bevor ich weitermache, kann ich nicht widerstehen: Ich mache die übliche Tour, suche auf Facebook und Instagram, Snapchat und sogar dem LinkedIn meines Ex …
Nichts Neues.
Ich habe schon um sechs Uhr morgens nachgeschaut, einmal in der Nacht und natürlich gestern Abend, kurz bevor ich schlafen ging. Es ist mir etwas peinlich, vor allem weil ich meistens von Fake-Konten aus spioniere.
Ich bin Waage, Aszendent Psychopath.
Aber ich brauche meine tägliche Dosis von ihm. Er ist meine Droge und ich bin ein Junkie. Total abhängig von einem Typ, von dem ich vor einem Jahr noch gar nichts wissen wollte.
Sich zu verlieben ist schlimmer, als krank zu werden.
Was mich zuerst überrascht hat, ist die Ruhe.
Mehrere Minuten lang blieb ich dort und fragte mich,
was für Geräusche fehlten.
Ich brauchte etwas Zeit, um es zu begreifen.
Die Autos. Es gibt keine Autos.
Signora Rizzo
Via Spinosa, Salerno
»Ich bin noch im Bett, meine Liebe. Kommst du mal?«
»Bin gleich da!«
Sie sitzt mit dem Rücken an ihre Kissen gelehnt, trägt ihr weißes Nachthemd mit den Stickereien und zeigt mir ihr zahnloses Lächeln.
Sie wartet auf den Dienstagmorgen wie ein Kind auf Weihnachten, für sie bin ich der alte Mann mit Bart.
»Wie geht es Ihnen heute?«
»Jetzt, wo du da bist, geht's mir gut.«
»Während der Kaffee heiß wird, kümmere ich mich um die Wäsche. Bleiben Sie noch ein bisschen im Bett, ich helfe Ihnen dann beim Aufstehen.«
Die Signora ist meine älteste Kundin. Sie nickt und ich gehe in die Waschküche, in der sie immer am Abend, bevor ich komme, eine Maschine wäscht. Ich hole sieben Kleider aus der Trommel – für jeden Tag der Woche eins – und bringe alles auf den Balkon vor der Küche, um meiner Lieblingsbeschäftigung nachzugehen: Wäsche aufhängen.
Ich folge hierbei einem ganz bestimmten Ritual: vom kürzesten bis zum längsten Kleidungsstück hänge ich sie auf, wie man liest: von links nach rechts. Im Rahmen des Möglichen achte ich darauf, dass die Wäscheklammern zu den Stoffen passen, die sie festhalten sollen, damit alles harmonischer aussieht, bis Wind und Sonne ihre Arbeit getan haben.
Nach Erfüllung dieser Aufgabe betrachte ich mein Werk und hole tief Luft. Ich liebe den Geruch von frischer Wäsche ebenso sehr wie den Geruch meiner Kinder (ich meine, als sie klein waren, denn ich muss sagen: Mit der Pubertät geht er verloren).
Der Espressokocher pfeift. Ich mache das kleine Silbertablett zurecht, nehme die Zuckerdose und zwei Tassen und stelle alles auf das niedrige Tischchen.
»Sind Sie so weit, Geraldina? Können wir aufstehen?«
»Ich bin bereit!«
Menschen zu pflegen, gehört nicht zu meinen Aufgaben, aber bei dieser alten Dame mache ich eine Ausnahme. Jeden Morgen kommt eine Krankenschwester zu ihr, um sie zu versorgen, nur dienstags nicht. Am Dienstag möchte sie, dass ich es mache. »Élé«, wie sie mich nennt, was klingt wie ailé, auf Französisch »geflügelt«.
»Mit dir ist es angenehmer«, behauptet sie.
Dann stelle ich sie auf ihre beiden leicht zitternden Beine, helfe ihr beim Anziehen, lege ihr den Schmuck an und setze ihr das Gebiss ein, kämme ihre langen weißen Haare, flechte einen Zopf und stecke ihn zu einem tiefsitzenden Knoten zusammen. Dann schlürfen wir unseren Kaffee und gehen Geraldinas Lieblingsbeschäftigung nach: Wir erzählen uns unser Leben.
Eigentlich erzähle ich ihr vorwiegend aus meinem, in dem etwas mehr passiert als in dem einer alleinlebenden Frau von zweiundneunzig.
»Gibt's was Neues?«
Die Frage brennt ihr auf der Zunge, das habe ich gleich bemerkt, als ich kam. Ihre Augen sprühen vor Ungeduld und Hoffnung.
Geraldina ist die einzige Kundin, mit der ich über mein Privatleben spreche; sie kennt auch die ganze Marco-Geschichte.
Was sie dienstags erwartet, ist weniger die Begegnung mit mir als der Genuss einer neuen Folge ihrer Lieblingsserie, die ich »Mein Liebesleben« nenne.
Ich schüttele den Kopf.
»Nichts.«
»Der Schweinehund! Spionierst du ihm immer noch nach?«
»Aber Geraldina, ich spioniere doch nicht … ja.«
Sie lacht, dann sagt sie ganz betroffen:
»Also wirklich, was für ein Arschloch! Merkt er denn nicht, was er verliert? Ein Bonbon wie dich … Der geht mir wirklich auf die Nerven. Na ja, eigentlich muss man ja sagen, dass du ihn verlassen hast, meine Liebe.«
Ja, ich habe ihn verlassen, aber ungern. Weil unsere Beziehung und das, was er zu bieten hatte, mir nicht mehr genügte.
Dabei hatte ich von Anfang an gewusst, worauf ich mich einließ. Alles war sehr klar, und ich habe, dumm, wie ich war, gedacht, ich könnte mich daran gewöhnen. Wie konnte ich nur so naiv sein?
An dem Tag, an dem ich anfing, schon beim Erhalt einer Nachricht von ihm töricht zu lächeln, hätte ich die Beine in die Hand nehmen sollen. Das ist ein untrügliches Zeichen, doch meistens ist es dann schon zu spät.
Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich ihn in der Hoffnung verlassen habe, dass er mich zurückhalten und mir sagen würde, er liebe mich mehr als alles sonst und könne ohne mich nicht leben, ohne meine Liebe herrsche große Leere, und das Leben sei sinnlos.
(Ja, nicht weniger als das!)
Aber das war eine sehr, SEHR schlechte Strategie, denn er hat nur geantwortet: Okay Éléonore, ich verstehe. Ich selbst verstehe das leider kein bisschen.
Éléonores Wohnung
Via Camillo Sorgente, Salerno
Mit Einkäufen beladen öffne ich die Tür und rufe meine Tochter; ich weiß, dass sie um diese Zeit zu Hause ist, aber wie so oft kriege ich keine Antwort. Ich beschließe, alles in der Küche allein wegzuräumen, betrete dann ihr Zimmer und finde sie am Schreibtisch sitzend vor, den Kopfhörer auf den Ohren, der sie vor der Welt isoliert.
Ich könnte mich im Zimmer nebenan umbringen, ohne dass sie etwas von meinem Todeskampf hören würde.
Während ich ihr einen Kuss auf den Kopf gebe und sie am Nacken tätschele, nutze ich den Moment, um einen Blick auf ihren Bildschirm zu werfen. Sie spielt ein Computerspiel und verkauft nicht etwa Bilder von ihren Füßen an Perverse im Netz, also bin ich beruhigt.
»Alles okay, Mama?«
»Ja, und wie geht's bei dir, mein Spatz? Komm, lass uns Mittag essen. Ich mache piadine. Wo ist dein Bruder?«
Sie zuckt die Achseln.
»Ist er schon lange weg?«
»Keine Ahnung, Mama, ich bespitzele ihn nicht.«
»Das solltest du aber. Er ist noch wie ein Baby. Man muss auf ihn aufpassen.«
Meine Kinder sind am selben Tag im Abstand von fünf Minuten geboren. Andrea zuerst. Aber Élise ist die reifere von beiden. Mit sechzehneinhalb hat diese Frau im Kleinformat schon alles, was eine große besitzt. Sie ist ruhig, bedächtig, humorvoll und intelligent. Ich weiß nicht, wie ich so ein Werk zustande bringen konnte. Sogar zwei, denn ihr Bruder steht ihr in nichts nach, nur dass er noch Mamas großes Baby ist.
»Wie war's auf der Arbeit?«
»Wie immer. Madame Rizzo war heute gut in Form. Das hat mich gefreut, denn in letzter Zeit hatte ich mir Sorgen um sie gemacht.«
»Heute Morgen kam Papa vorbei. Er geht heute Abend mit uns essen. Bist du mir böse, wenn ich dich allein lasse?«
Der Ton einer Snapchat-Nachricht nimmt mir plötzlich den Atem.
So haben wir immer kommuniziert, Marco und ich. Damit es keine Spuren unserer Gespräche gab.
Ich ziehe das Telefon aus der Tasche und schaue darauf, in der Hoffnung, dass dort sein Name auftaucht.
Nichts. Es muss Élises Telefon gewesen sein.
Achterbahn der Gefühle.
Ich könnte vor Wut heulen.
Ich bin wirklich unverbesserlich dumm. Wie kann mich ein so leises Signal in einen solchen Zustand versetzen?
»Mama, hallo, bist du noch da? Ist das mit heute Abend okay?«
Ein Labyrinth unter freiem Himmel,
ich habe mich schon hundertmal verirrt,
ich würde meinen Weg gern nie wiederfinden.
Signor und Signora Ferrara
Via Roma, Salerno
DEN KÜHLSCHRANK SAUBER MACHEN.
DIE WÄSCHE DER KINDER ZUERST BÜGELN.
VORSICHT MIT MARKEN-T-SHIRTS!!!
STAUB UND BODEN. ÜBERALL.
BADEWANNE GRÜNDLICH, DENN LETZTE WOCHE
WAREN DA NOCH KALKSPUREN!
Weder guten Tag noch ein Dank, also wie immer.
Signora Ferrara hat zwei Besen: einen im Schrank und einen im Hintern.
Jede Woche legt sie mir eine Liste mit Anweisungen hin und hat immer etwas auszusetzen. Noch nie bin ich einer so unangenehmen Person begegnet. Wenn ich nicht so viel Geld brauchte, hätte ich sie schon lange zum Teufel geschickt.
Ihr kleiner Hund, den sie überall hinschleppt, ist genau wie sie: arrogant und blöd.
Außerdem ist er hässlich.
Was dem Ganzen die Krone aufsetzt: Ich arbeite hier heimlich, weil ihr Mann nicht weiß und nicht wissen darf, dass seine Frau mich beschäftigt. Er ist der Meinung, sie müsse den Haushalt allein schaffen.
Dabei arbeitet die Signora. Ich habe nie richtig verstanden, wo, aber sie hat mehr oder weniger dieselben Arbeitszeiten wie ihr Mann.
Sie ist übrigens die Einzige, die sich um die beiden Kinder kümmert, sie sind elf und siebzehn Jahre alt. Der Macho, der ihr Leben teilt, ist der Auffassung, sie sei dafür zuständig, die Kinder in die Schule zu bringen, ihnen bei den Hausaufgaben zu helfen, ihre Arzttermine und außerschulischen Aktivitäten zu organisieren.
Für die Küche gilt dasselbe.
»Mein Mann kann nicht mal ein Ei kochen«, hat sie mir mehrmals gesagt.
Sicher ist sie so verbittert, weil sie solch einen rückständigen Dummkopf geheiratet hat.
Manchmal verspüre ich sogar etwas wie Mitleid. Aber ein x-ter Zettel wie der, den ich heute gefunden habe, reicht, damit ich Lust hätte, die Toilette mit ihrer Zahnbürste sauber zu machen (und umgekehrt).
Als ich in die Waschküche komme, sehe ich, dass nicht etwa ein Berg Wäsche auf mich wartet, sondern der Everest. Diese Verrückten ziehen sich mehrmals am Tag um, es kann gar nicht anders sein!
Ich brauche dafür mindestens drei Stunden, sie bezahlt mir fünf. Ich werde es niemals schaffen, alles auf ihrer verdammten Liste zu erledigen.
Signor Ferrara muss denken, dass seine Hemden wie durch Magie wieder in seinem Schrank landen. Oder dass seine Frau nachts bügelt.
Es ist unerträglich heiß, und die Aussicht, ein Bügeleisen zu verwenden, weckt in mir Selbstmordgedanken.
Ich fülle Wasser für den Dampf ein, und während es aufheizt, staube ich im Wohnzimmer ab. Gott sei Dank sind sie hier eine Familie von Minimalisten; es stehen weder tausend Nippsachen herum, die man hochheben, noch jede Menge Rahmen mit Fotos, die man abstauben muss. Man könnte meinen, sich in einem Musterhaus zu befinden: Hier ist es kalt und seelenlos. Wie das Ehepaar Ferrara selbst. Aber so spare ich kostbare Zeit.
Papst Pius überwacht alles, was ich tue. Ich habe festgestellt, dass dieser Heilige sich in Italien besonderer Beliebtheit erfreut. Auf den Straßen, in Schulen, Krankenhäusern und sogar in Geschäften: Er ist überall! Bei den Ferraras hat er es sogar bis ins Badezimmer geschafft, er hängt über der Toilette. Vermutlich zum Schutz der Hygiene und Förderung der Verdauung.
Ich hole mein Telefon aus der Tasche. Nichts hat sich getan.
Manchmal verwandelt sich meine Enttäuschung in Wut, und ich muss mich beherrschen, um das Telefon nicht gegen die Wand zu werfen. Auf das kleinste Signal von ihm zu warten, ist wie eine lange Agonie.
Ich atme aus. Ich beruhige mich.
Ich konzentriere mich auf meine Arbeit.
Ich könnte einen Podcast hören, eine Playlist oder beim Bügeln eine Serie gucken, aber mein Geist ist zu sehr mit Marco beschäftigt.
Ich habe nichts anderes im Kopf, bin geradezu besessen von ihm.
Ich denke an unsere erste Begegnung.
Im Wartezimmer beim Arzt.
Der war über eine Stunde im Rückstand, das Wartezimmer war voller Patienten. Unter ihnen dieser Mann, der mir bisher kaum aufgefallen war.
Als ein Stuhl neben mir frei wurde, ließ er sich darauf nieder. »Ich kenne Sie nicht, aber ich fühle mich heute Morgen sehr jung«, flüsterte er mir zu und warf einen diskreten Blick auf die anderen Leute im Raum.
Ich lächelte. Tatsächlich näherte sich deren Durchschnittsalter dem der 122-jährigen Jeanne Calment, und wir fielen in dieser Umgebung ziemlich auf.
»Ich bin wegen einer Röntgenaufnahme nach einem bösen Sturz hier. Und Sie?«
»Ich habe eine heftige Angina«, flüsterte ich.
Mir brannte der Hals, jedes Wort tat mir beim Sprechen weh. Trotzdem machte es mir Spaß, mit ihm zu reden, und in seiner Gesellschaft verging die Zeit schneller.
Als er an der Reihe war, bot er mir an, an seiner Stelle hineinzugehen. Ich lehnte ab. Das sei gegenüber den anderen Patienten nicht fair.
Als er das Behandlungszimmer verließ, schaute er noch einmal bei mir vorbei.
»Ich heiße übrigens Marco, Marco Ferrucci. Und Sie?«
»Éléonore.«
Ich sprach es französisch und nicht italienisch aus. Er schien ein wenig irritiert, ließ es sich aber nicht weiter anmerken. Er antwortete nur: »Bis demnächst, meine Liebe«, und winkte mir zu. Dann ging er.
Ich suchte ihn auf Instagram, während ich noch im Wartezimmer saß. Nicht weil er mir besonders gefiel – auch wenn er recht gut aussah –, ich hatte ihn sympathisch gefunden.
Ich habe einen – wie ich zugebe, nicht besonders gesunden – Reflex, im Leben anderer Leute herumzuschnüffeln.
Dank sozialer Netzwerke ist das ganz einfach … Drei Klicks und man kann sich eine eigene Telerealität schaffen mit allen Teilnehmern, die man sich wünscht. Warum soll man darauf verzichten?
Ich bin zu einer echten Online-Detektivin geworden. Mit nur wenig Hinweisen kann ich eine ganze Menge Informationen sammeln. Das ist mein kleines persönliches Hobby. Mein Umfeld nutzt jetzt mein Talent, um alles über einen crush, einen Ex, einen Arbeitskollegen zu erfahren. Ich sollte überlegen, ob ich mich nicht für meine Dienste bezahlen lassen sollte …
Was Marco anging, war die Sache schnell erledigt. Sein Insta-Konto war privat, und ich interessierte mich damals nicht genug für ihn, um meine Recherchen zu vertiefen. Ich hatte ihn irgendwo in meinem Kopf abgespeichert.
Doch zwei Tage später erschien auf meinem Bildschirm auf Facebook eine persönliche Nachricht:
Guten Tag, Éléonore. Ich werde dir jetzt eine sehr seltsame Nachricht schicken.
Ich sage dir etwas, das du vielleicht nicht glaubst (an deiner Stelle würde ich es nicht glauben).
(Sabotage an mir selbst, super), aber mir ist wirklich wichtig, dass du es weißt: Sowas habe ich noch nie unternommen. Niemals, das schwöre ich.
Ich mache heute eine Ausnahme, weil mir neulich etwas nie Dagewesenes passiert ist, im Wartezimmer, als ich dich getroffen habe.
Éléonore, ich glaube, mit fünfundvierzig habe ich mich zum ersten Mal Hals über Kopf verliebt.
PS. Ich habe sogar mit meinem Arzt darüber gesprochen. Er gab zu, dass es dagegen keine Arznei gibt. Ich bin unheilbar krank.
Signora Marino
Via dei Mercanti, Salerno
Ich gehe sehr gern zu meiner Donnerstagskundin in der Via dei Mercanti. Die Straße ist sehr lang (mehr als einen Kilometer), sehr alt, pittoresk und geschichtsträchtig durch ihre vielen Kirchen. Sie ist der Spiegel der Seele von Salerno.
Seit fünfundvierzig Minuten bin ich schon bei Signora Marino, putze gerade die Wohnzimmerfenster, als die Tür ihres Sprechzimmers aufgeht. Ich habe auf dieses Signal gewartet, um staubzusaugen. Wenn nämlich ein Kunde bei der Signora ist – oder ein Patient, ich weiß nicht, wie man Leute nennt, die zu einer Wahrsagerin gehen –, darf ich keine Arbeiten erledigen, die Lärm machen.
Das stört wohl ihre Konzentration, und so kann sie nicht mehr »die Wellen auffangen«.
Ich würde einer Hellseherin, die nichts mehr »sieht«, wenn sie nicht gut hören kann, kein Vertrauen schenken. Aber bitte sehr.
Ich arbeite erst seit kurzem hier. Signora Marino, mit Vornamen Linda, hat alle meine Vorgängerinnen rausgeworfen.
Hatten sie etwas zerbrochen? Nein.
Waren sie ihr zu teuer? Nein.
Waren sie ihr zu geschwätzig, nicht fleißig genug? Nein, schon wieder nein.
Eines schönen Morgens spürt Linda etwas Negatives und schwupp, weg mit ihnen!
Sie erklärt ihnen dann immerhin, dass sie nichts dafür können, dass es ihretwegen geschieht (wie bei einem Kerl, der eine dumme Entschuldigung gefunden hat, um sich zu trennen, »es liegt nicht an dir, sondern an mir«), aber das Urteil steht fest: Sie müssen sofort verschwinden.
Das heißt, dass ich jede Woche den Arsch zusammenkneife. Ich weiß, dass meine Tage im Dienst des Mediums bald gezählt sind.
Diese Wohnung zu reinigen ist keine leichte Aufgabe, ich brauche dafür sechs Stunden pro Woche. Schon zwei gehen damit drauf, das riesige Bücherregal abzustauben.
Die Dame legt Wert darauf, dass jedes Buch herausgenommen, sauber gemacht und vorsichtig an seinen Platz zurückgestellt wird. Das ist wirklich sterbenslangweilig.
»Guten Tag, Éléonore, wie geht es Ihnen heute?«
»Es geht mir gut, Linda, und Ihnen?«
»Was soll das heißen, gut? Ich spüre da doch Traurigkeit.«
Ich bin sprachlos und weiß nicht, was ich antworten soll. Will sie mich rauswerfen, weil ungute Schwingungen von mir ausgehen?
Ich gerate in Panik. Ich habe den Eindruck, dass ich mich rechtfertigen muss, deshalb denke ich mir was aus.
»Mein Hund ist tot.«
»Oh. Das tut mir leid … Ich hatte früher einen Deutschen Schäferhund. Er war mein bester Freund, mein Schatten. Ich habe sehr gelitten, als er mich verließ. Ich kann Ihren Kummer verstehen. Wenn ich Ihnen helfen kann, sagen Sie es mir bitte.«
»Danke Linda, ich schaffe es schon.«
Wie konnte ich das nur erzählen? Ich hatte noch nie einen Hund!
Dabei ist es nicht so, dass mich die Zwillinge nicht damit genervt hätten.
Mein Telefon fängt an zu vibrieren, als Signora Marino ihre Tür öffnet. Sofort blicke ich auf den Bildschirm: die Nachricht meines Telefonproviders mit einem Angebot, das ich nicht verpassen darf. Super!
Immer noch keine Nachrichten von dem anderen Hund.
Wenn ich es mir überlege, habe ich gar nicht richtig gelogen: Es gab ja einen Hund in meinem Leben …
Éléonores Wohnung
Via Camillo Sorgente, Salerno
Élise und Andrea sind bei ihrem Vater.
Wir haben keinen bestimmten Tag für die Betreuung der Kinder festgelegt. Sascha wohnt nur zehn Minuten zu Fuß von meiner Wohnung entfernt; unsere Kinder kommen und gehen seit Jahren, wie es ihnen gefällt.
Dies ist für die neue Frau meines Ex bestimmt nicht immer einfach. Aber bei ihm gehen die Zwillinge vor.