Luna - Serena Giuliano - E-Book
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Serena Giuliano

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Beschreibung

»Gleich bei der Ankunft am Flughafen, wird mir bewusst, wie wenig mir diese Stadt gefehlt hat.«

Luna kehrt widerwillig nach sieben Jahren in ihre Heimatstadt zurück, die sie nicht ohne Grund verlassen hat. Die Stadt ist ihr ebenso fremd geworden wie der Vater, den sie und ihre Mutter verlassen haben, um in Mailand ein neues Leben zu beginnen. Doch in ihrem alten Zimmer im legendären Palazzo DonnʼAnna, mit Blick auf das Meer und den Vesuv, entdeckt Luna – mithilfe ihrer Cousine Anna und der Nachbarin Filomena – nicht nur ihre Liebe zu Neapel wieder. Je länger sie in ihrer Heimatstadt verweilt, desto tiefer taucht sie in ihre Erinnerungen ein, setzt sich mit ihrer Familiengeschichte auseinander. Nach und nach gewinnt sie neues Selbstvertrauen und beginnt, ihre eigenen Wünsche und Träume zu leben.

Für alle Fans von Elena Ferrante.

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EPUB
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Seitenzahl: 219

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


Cover

Titel

Serena Giuliano

Luna

Rückkehr nach Neapel

Roman

Aus dem Französischen von Christiane Landgrebe

Insel Verlag

Impressum

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Die französische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Luna bei Éditions Robert Laffont, S. A. S., Paris.

eBook Insel Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 5052.

© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2024© Éditions Robert Laffont, Paris, 2021

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung/Umschlagabbildungen:Michaela Spatz für FinePic®, München

eISBN 978-3-458-77984-1

www.insel-verlag.de

Widmung

Für meine Freundinnen, vi voglio bene.

Napule è mille culture

Napule è mille paure

(…)

Napule è nu sole amaro

Napule è addore e' mare

Napule è na' carta sporca

E nisciuno se ne importa

E ognuno aspetta a' sciorta

Neapel ist tausend Farben

Neapel ist tausend Ängste

(…)

Neapel ist eine bittere Sonne

Neapel ist der Geruch des Meeres

Neapel ist schmutziges Papier

Das kümmert niemanden

Und jeder erwartet sein Schicksal

Pino Daniele, Napule è

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

1

2

3

4

Herbst 1994

5

6

7

8

Sommer 1999

9

10

Winter 1998

11

12

Frühjahr 1996

13

14

15

Sommer 1991

16

17

18

Frühjahr 1996

19

20

Winter 1993

21

22

23

Winter 1999

24

25

26

27

28

Frühling 1997

29

30

31

32

Sommer 2000

33

34

35

36

37

38

39

40

Herbst 1999

41

42

43

44

45

Winter 2018

46

47

48

49

50

Epilog

Dank

Italienisch-deutsches Lexikon

Vokabular

Neapolitanische Sprichwörter

Italienisches Sprichwort

Im Roman erwähnte Sehenswürdigkeiten, Gebäude und Stadtviertel von Neapel

Informationen zum Buch

Luna

1

Sieben Jahre lang bin ich nicht in Neapel gewesen.

Ich hatte mich strikt geweigert, mit meinen Füßen in Scheiße zu treten.

Gleich bei der Ankunft am Flughafen wird mir bewusst, wie wenig mir diese Stadt gefehlt hat. Alles geht mir sofort auf den Geist: der Lärm, die ungezogenen Neapolitaner, im besten Fall anbiedernd, im schlimmsten Fall rüpelhaft. Vor dem Gebäude haben zwei Männer versucht, mir Socken zu verkaufen.

Seit dreißig Sekunden bin ich hier, hatte nicht einmal Zeit, mir die Beine zu vertreten, und da wollen diese Typen mir Socken andrehen!

Ich weise sie mit einer Handbewegung und einem düsteren Blick zurück. Klar, dass sie da zu mir sagen: »Oh, là, là, ganz schön empfindlich, die signorina!«

Wer sollte denn, wenn er im Mai bei 25 Grad aus dem Flugzeug steigt, denken: Ich brauche unbedingt Socken? Verkauft was anderes, ihr Kerle! Bei dem, was mich erwartet, gibt es nur eins, was ich sofort brauche: einen Schluck grappa.

Ich steige in das erste Taxi der Schlange.

»Ospedale del Mare, bitte!«

Ich weiß, das ist ein Fehler, aber ich habe keine Wahl. Einem Neapolitaner darf man nie sagen, dass man ins Krankenhaus möchte, niemals!

Der Mann muss so um die sechzig sein. Er scheint aufrichtig besorgt, dreht sich um und fängt an, mich auszufragen.

»Oh Gott, du musst ins Krankenhaus, Mädchen? Bist du krank? Oder einer aus deiner Familie? Das tut mir leid, ich bete für dich zu Gott, zu San Gennaro. Willst du etwas essen? Wir können bei der Konditorei meiner Frau anhalten, wenn du willst, die liegt am Weg. Sie macht sfogliatelle, die dich umhauen werden. Damit wirst du von jeder Krankheit geheilt!«

Siezen kennen die hier nicht, man wird einfach rücksichtslos geduzt.

Ich beende das Gespräch – oder besser gesagt den Monolog – etwas abrupt.

»Nein danke. Fahren Sie jetzt bitte, ich habe es eilig!«

Ich stecke die Nase in meinen Laptop und Kopfhörer in die Ohren, damit der Taxifahrer nicht weiter nachfragt. Die Fahrt dürfte nicht sehr weit sein. Mein Herz gerät in Wallung. Ich stelle die Musik lauter, um meine Angst zu übertönen. Leider funktioniert es nicht besonders gut.

Ich öffne ein wenig das Fenster. In diesem Taxi erstickt man beinahe.

»Du wirst dich erkälten, signurì. Die Wärme im Frühling täuscht. Man muss sich in Acht nehmen. Ich sage das nur dir. Weil du doch krank bist … Nicht, dass du auch noch eine Bronchitis kriegst. Ich trage bis Juni immer noch einen Pullover, und dadurch habe ich nie etwas, nicht mal eine Erkältung!«

Das kann doch wohl nicht wahr sein! Auf mir liegt ein Fluch! Ich öffne das Fenster noch weiter und sehe den Chauffeur herausfordernd an. Er grinst mir zu. Blicken die hier beim Fahren jemals auf die Straße?

»Du bist Mailänderin, das ist ganz klar. Bei so etwas täusche ich mich nie. Du bist nicht aus Neapel, das sieht man.«

Bestes Kompliment.

»Ist nicht schlimm, signurì. Niemand ist perfekt.«

»Meereskrankenhaus« … Ein Name zum Träumen schön; man könnte meinen, dort werden Delphine behandelt. Aber die drückende Stille auf der neurochirurgischen Station verheißt nichts Gutes. Man könnte meinen, alle flüstern aus Angst, der Tod könne sie erwischen. Es erinnert an ein Versteckspiel, das alles andere ist als amüsant. Nur der Sensenmann kann Neapolitaner dazu bringen, leise zu sprechen.

Seit ein paar Minuten stehe ich vor Zimmer 217 und habe nicht den Mut, die Tür zu öffnen.

»Von selber geht sie nicht auf …«

Die Krankenschwester lächelt mir wohlwollend zu, dann geht sie weiter. Ich hole tief Luft und tauche unter, mit dem Kopf zuerst.

2

Mein Onkel eilt auf mich zu, umarmt mich fest, mustert mich und sagt mir eine Menge Dinge, die ich nicht verstehe. Ich bin wie erstarrt. In dem Bett vor mir liegt ein bleicher Mann mit geschwollener Nase, tiefliegenden Augen und schwarzen Augenhöhlen. Das soll mein Vater sein, aber ich erkenne ihn nicht. Sein Gesicht ist aufgedunsen, sein Kopf in einen Verband gewickelt, seine Hände sind voll blauer Flecken und mit Schläuchen verbunden. Er sieht aus, als sei er tot.

Doch dann wäre er sicher im Leichenschauhaus zwei Etagen tiefer. Dann wäre alles vielleicht etwas einfacher. Ich versuche, mich auf die Worte von zio Gerardo zu konzentrieren.

Mein Gehörsinn ist vom Flug noch gedämpft, und ich merke, dass ich immer noch die Ohrstöpsel trage. Er gestikuliert wild herum, sein Gesicht ist röter, als ich es in Erinnerung habe, und er ist noch kleiner geworden. Vielleicht ist es auch umgekehrt und ich hatte einen verspäteten Wachstumsschub. Das ist unwahrscheinlich, ich bin schließlich dreiunddreißig.

Ich verstehe so viel wie: »Seit drei Tagen kann er nicht mehr sprechen«, »flüssig«, »Gehirn«, »Tumor«, »Operation«, »Wunder«.

Als ich letzten Donnerstag einen Anruf des einzigen Bruders meines Vaters erhielt, habe ich ihn ignoriert. Mit den zehn nächsten habe ich es genauso gemacht. Eine Nachricht meiner Mutter hat mich dazu gebracht, endlich dranzugehen.

»Meine Liebe, geh ans Telefon, wenn Gerardo anruft. Dein Vater ist im Krankenhaus. Irgendwer muss hinfahren.«

Sie jedenfalls nicht, hieß das.

Nach der Scheidung war klar, dass es nie wieder sie sein würde. Zwar kann man sich von seinem Mann scheiden lassen, aber leider nicht von seinem Vater. Deshalb musste ich mich dazu überwinden.

Es ist seltsam, aber ich spüre eine Art Schmerz in der Brust. Was es genau ist, weiß ich nicht. Für einen Herzinfarkt ist es etwas zu früh, oder?

Je näher ich dem Bett komme, desto heftiger wird der Schmerz. Ihn in diesem Zustand sehen zu müssen, tut mir weh. Seit Jahren war ich überzeugt, dass mir der Typ vollkommen egal ist, doch jetzt sagt mir mein Körper das Gegenteil.

Ich habe diesen tapferen Mann immer gekannt, und dass ich mich um mein kleines Selbst kümmere, jeden Morgen Sport mache, auf meine Ernährung achte (Letzteres ist in dieser Stadt eine Heldentat) …, hat nichts mit diesem sterbenden Objekt auf dem Krankenhausbett zu tun.

»Vor einer Viertelstunde habe ich mit dem Professor gesprochen, vor morgen früh kannst du ihn nicht treffen, er sagt, die letzte Operation sei gut verlaufen und dass dein Vater jetzt Ruhe braucht. Die Besuchszeit ist gleich zu Ende, geh nach Hause. Gina hat dein Zimmer schon gemacht und eingekauft, damit es dir an nichts fehlt. Ich setze dich dort ab.«

»Ich schlafe lieber im Hotel.«

»Rede keinen Unsinn, Luna! Los, komm schon, deine Cousine erwartet dich.«

3

Auf dem Weg nach Posillipo, Neapels vornehmem Viertel, sehe ich demonstrativ aus dem Fenster, um mich nicht unterhalten zu müssen. Mein Onkel hat einen alten Fiat Panda, der einen fürchterlichen Lärm macht. Wir brauchen vierzig Minuten, um durch die Stadt zu fahren. Der Verkehr in Neapel, das ständige Gehupe, die brennende Sonne, die keinen Frühling kennt. In Neapel macht man keine halben Sachen. Ich spüre, wie sich langsam, aber sicher eine Migräne einstellt. Ich träume von einer kalten Dusche, einer Massage und hoffe, aus diesem Alptraum aufzuwachen.

Nach einer Ewigkeit erreichen wir den Palazzo Donn'Anna. Auch wenn ich diese Gegend hasse, bin ich doch jedes Mal wieder von seiner Schönheit fasziniert.

Der Hausmeister, der den Eingang dieses besonderen Ortes überwacht, kann seine Abscheu nicht verbergen, als er zio Gerardos altes Auto vorfahren sieht, doch als er uns erkennt, nimmt er Haltung an. Er hat diesen Posten seit Jahren und kennt uns alle.

»Buongiorno«, begrüßt er uns, »was für eine Freude, Sie zu sehen, signorina Luna. Wie geht es Ihrem Vater? Ich hab gehört, dass er im Krankenhaus ist, das tut mir sehr leid. Ich hoffe, er kommt bald zurück!«

»Guten Tag, Salvatore, bisher ist er noch am Leben.«

Mein Onkel hustet verlegen, der Hausmeister öffnet uns das Tor und dann stellen wir endlich das Auto ab.

Der Panda fällt auf neben all den Luxuswagen. Wie ein alter Zahn mit Karies im Mund eines Hollywood-Schauspielers. Zio Gerardo scheint dieser Kontrast jedoch nicht zu stören.

Meine Cousine Gina empfängt uns an der Tür.

»Luna, ich freue mich sehr, dich zu sehen! Wir haben ja solche Angst um deinen Vater … Und sag mal, wie geht es dir? Du warst so lange nicht mehr hier. Ich habe den Eindruck, du bist in Mailand glücklich. Läuft es gut mit der Arbeit? Und wie geht es deiner Mutter? Wie war deine Reise?«

Sie lässt mich keinen Moment durchatmen, umarmt mich fest und presst mir zwei Küsse auf die Wangen. Angesichts ihres Lippenstifts, er ist violett, habe ich das Bedürfnis, mir gleich das Gesicht abzuwischen. Sie drückt mich an ihre füllige Brust, nimmt meine Sachen, gestikuliert herum. Ich komme gar nicht zu Wort. Ich sehe, wie ihre ausgebleichten langen Haare in ihrem Rücken wippen, während sie um mich herumwirbelt. Sie ergreift meine Hand, zerrt mich in die Küche, zeigt mir einen Stuhl und reicht mir eine Tasse Kaffee. Die führe ich mechanisch an den Mund und verziehe unwillkürlich das Gesicht, als ich all den Zucker darin schmecke. All das hat keine Minute gedauert, mir ist ganz schwindelig.

»Ach ja, du nimmst ja keinen Zucker! Wie schaffst du das nur? Ist es wegen der Linie? Das ist doch, als tränke man Erdöl, so schrecklich bitter … Ich habe eine parmigiana di melanzane für dich gemacht, sie ist im Ofen, du brauchst sie nur warmzumachen. Ich habe auch eingekauft. Wir haben immer etwas zu essen im Haus. Dein Vater geht meist in die Bar oder ins Restaurant, das weißt du ja. Ich habe auch Futter für Filomena mitgebracht.

»Wer ist denn das?«

»Die Katze deines Vaters.«

»Er hat eine Katze?«

»Oh ja, sie ist die Liebe seines Lebens. Wusstest du das nicht?«

»Nein.«

»Sie bringt mich zur Weißglut! Überall hinterlässt sie ihre Haare, wusstest du, dass ich hier saubermache? Zio bezahlt mich gut dafür, er weiß, dass es mit den drei Kindern nicht einfach ist, ich muss Geld verdienen. Antonio hat zwar zwei Jobs, aber es reicht nicht für den ganzen Monat. Zum Glück ist dein Vater da.«

»Oh ja, ein Glück, dass es ihn gibt, den wunderbaren Mann.«

Sie scheint die Ironie meiner Antwort nicht zu bemerken und setzt ihren endlosen Monolog fort, macht mir Komplimente für meine Figur, meine Haare und meinen Nagellack, für überhaupt alles. Ihr Vater unterbricht sie, und da ist sie sofort still. »Gina, komm, wir lassen Luna sich ausruhen. Sie muss müde sein.«

Dann sagt er zu mir:

»Wenn du irgendwas brauchst, meine Liebe, kannst du mich immer anrufen, okay? Deine Cousine kommt jeden Tag vorbei, um nach dir zu sehen.«

»Ach wirklich?«

»Die Autos deines Vaters stehen auf dem Parkplatz. Wenn du eins brauchst, findest du die Schlüssel auf der Konsole im Eingang. Wir sehen uns morgen im Krankenhaus.«

Er umarmt mich, meine Cousine tut es ihm gleich und verspricht mir, bald wiederzukommen. Dann gehen sie endlich. Ich habe das Gefühl, dass ein Sturm über mich hinweggezogen ist.

»Miau.«

4

Und da ist noch was.

Eine Katze.

Eine dicke Katze.

Eine sehr dicke Katze.

Bei meinem Vater hätte ich eher mit einem Rassetier gerechnet, aber es ist eine ganz gewöhnliche Straßenkatze. Ungewöhnlich ist nur ihr Umfang. Ihr Bauch berührt fast den Boden, und ich fürchte, dass mein Vater das arme Tier mästet.

Es sieht mich böse an.

Besser gesagt, sie.

Sie starrt mich an.

»Filomena« hat Gina sie genannt, was für ein komischer Name für eine Katze. Der passt doch eher zu einer alten Dame.

Ich mag Tiere gern, vielleicht sogar mehr als Menschen, deshalb strecke ich spontan die Hand aus, um sie zu streicheln, aber sie faucht und macht einen Buckel, um mir ihre Unzufriedenheit zu demonstrieren. Dann springt sie aufs Sofa und lässt sich dort nieder.

Okay, die Botschaft ist angekommen, wir werden keine Freundinnen, Filomè. Du hast es nicht besser verdient.

Jetzt finde ich endlich Zeit, Jacke und Schuhe auszuziehen, ich nehme meinen Koffer und gehe in mein früheres Zimmer. Ich dachte, es sei jetzt ein Gymnastikraum, ein Ankleidezimmer oder etwas in der Art, aber zu meiner Überraschung stelle ich fest, dass sich nichts geändert hat. Alles ist unversehrt – das Bett, die alten Fotos an der Wand und sogar mein Ballett-Diplom.

Ich öffne die Fensterläden: Da ist der Balkon, das Meer, der Vesuv und die ganze Bucht von Neapel. Ich stehe vor meiner Kindheit und meinen Erinnerungen und denke an den Tag zurück, an dem wir hier eingezogen sind.

Ich war ungefähr zehn … Wir kamen aus einer kleinen, düsteren Wohnung in einem alten heruntergekommenen Viertel von Neapel in dieses vornehme Gebäude, eines der schönsten der Stadt, auf einem Felsen oberhalb des Mittelmeers gelegen. Mein Vater schien so stolz zu sein, uns so etwas bieten zu können, meiner Mutter und mir!

Aber ich habe ein paar Monate gebraucht, bis ich mich hier wirklich zu Hause fühlte. Meine frühere Wohnung fehlte mir nicht, aber meine Straße, die Freunde in meinem rione, meinem Viertel – und Gina, meine Cousine, die in der Wohnung über uns wohnte. Hier gab es auch Kinder, aber sie waren anders. Sie sprachen perfekt Italienisch, während wir nur Neapolitanisch redeten. Ich hatte das Gefühl, minderwertig, dumm, am falschen Ort zu sein. Unsere abgenutzten Möbel passten nicht zu der Umgebung, sie waren zu klein in diesen weiten Räumen. Mein Vater hatte uns brandneue versprochen. Und tatsächlich, nach und nach wurde das alte Holz bald durch Marmor ersetzt, an die Stelle der alten recycelten Becher traten Kristallgläser ‌…

Ich konnte mir die Traurigkeit meiner Mutter nicht erklären. Sie hatte unsere alte Wohnung gehasst, aber diese neue verabscheute sie noch mehr. Sie war unglücklich, trotz der atemberaubenden Aussicht und der edlen Einrichtung. Ich hörte oft, wie sie sich stritten. Und lange habe ich mich sehr bemüht, so zu tun, als verstünde ich nicht warum.

Ich packe meinen Koffer aus. Ich habe Sachen für zwei Wochen mitgebracht, hoffe aber, dass ich früher nach Hause fahren kann. Ich stelle mich unter die Dusche, versuche, unter dem Wasserstrahl auf andere Gedanken zu kommen; ich ziehe einen Morgenrock an und gehe in den Weinkeller meines Vaters, um mir ein Glas zu genehmigen.

Filomena sieht mich immer noch schräg an.

»Was ist dein Problem?«

Ich höre mein Telefon in meiner Tasche vibrieren. Der Chat mit meinen Freundinnen beginnt wieder. Diese Gruppe ist für mich wie ein Logbuch, in das man seine Gedanken und Gefühle niederschreibt. Es ist zusammenhanglos, ohne roten Faden, aber wir sind seit mehreren Jahren eng befreundet. Es ist spontan, ungefiltert, ehrlich. Wir sagen uns alles. Jedenfalls beinahe.

Francesca fragt mich, ob ich gut angekommen bin, wie ich mich fühle. Alessandra und Fatima schicken mir Smileys, um mich aufzumuntern. Ich fange an, eine Antwort zu schreiben, aber da ich fürchte, dass es zu lang werden könnte, nehme ich die Nachricht kurz auf.

Luna: Gut angekommen. Im Krankenhaus war es schwierig. Morgen muss ich die Ärzte meines Vaters treffen, um zu verstehen, was los ist. Ich bin wieder in dieser Wohnung, die ich so hasse. Ein ganz komisches Gefühl. Ich würde gern überall sonst sein, nur nicht hier. Ihr fehlt mir schon.

Francesca: Ich werde es nie verstehen, Luna. Der Palazzo Donn'Anna ist doch eine Institution. Ich träume davon, ihn von innen zu sehen, und würde alles darum geben, dort zu wohnen!

Fatima: Weißt du, dass der Legende nach Königin Giovanna dort ihre Liebhaber empfing und sie nach dem Ende der Affäre durchs Fenster ins Meer warf? Sie hat schon damals versucht, das Patriarchat zu stürzen!

Ich lächele und lege mein Telefon beiseite. Natürlich kenne ich all diese Legenden – die Geschichte dieses palazzo ist faszinierend. Ich finde nur, dass wir es nicht verdienten, dort zu wohnen.

Herbst 1994

Ich sitze auf dem Balkon vor meinem Zimmer, am Boden. Er ist kühl unter meinen Beinen, weiß und voller Flecken. Ich könnte mich hier hinsetzen, um zu zeichnen, aber dafür bräuchte ich einen kleinen Tisch.

In der Wohnung räumen Mama und Papa die Kartons aus. Keiner ist gekommen, um zu helfen. Das finde ich nicht richtig. Die beiden haben anderen immer geholfen.

Heute Morgen hat Mama im Umzugswagen geweint. Sie war traurig darüber, die andere Wohnung zu verlassen. Im Winter war es dort kalt, im Sommer zu warm; an den Wänden meines Zimmers tauchten schwarze Flecken auf. Ich hatte große Angst davor. Mein Vater hatte mir geraten, sie als Wolken zu betrachten, da hab ich drum herum den Himmel, Sonne und den Regen gemalt, der die Bäume wässerte und die Blumen kaputt machte. Er wurde böse, denn ich malte mit Filzstiften, doch er hat mich nicht bestraft und gab zu, dass es so schöner aussah. Vor allem würde ich jetzt in der Nacht keine Angst mehr haben.

Ich hätte mir gewünscht, dass Gina mit uns umzog, aber ihre Eltern haben kein Geld, deshalb bleiben sie dort und wir können nicht mehr jeden Tag zusammen sein.

Wie werde ich ohne sie klarkommen? Sie schützt mich immer vor den Jungen, die mich ärgern, und schenkt mir Bonbons.

Manche sagen, Papa hätte im Lotto gewonnen. Ich kaufe mit den Münzen aus meiner Sparbüchse für meine Cousine einen Lottoschein, dann können wir wieder zusammenwohnen.

Ich verstehe die Geschichten der Erwachsenen nicht. Zio Gerardo und Papa schreien sich spätabends an.

Warum bin ich so traurig? An den Wänden meines Zimmers gibt es doch keine grauen Wolken mehr.

5

Ich habe recht gut geschlafen. Schlafmittel und Wein sei Dank. Aber das Aufwachen war brutal. Ich träumte gerade, ich wäre am Strand und tauchte ins Meer, und das war ganz verrückt, denn ich meinte wirklich zu fühlen, wie das warme Wasser meinen Bauch flutete. Doch war es weder nur ein Eindruck noch war es Wasser. Es war die Pisse von Filomena, die, falls ich es immer noch nicht begriffen hatte, mich nicht ausstehen kann.

Ich öffne die Augen und sehe, wie sie auf mich pinkelt. Ich schreie, sie faucht, ergreift die Flucht und hinterlässt mir diesen scheußlichen Geruch.

Einen schönen Tag auch!

So fängt der Morgen mit Duschen und Wechseln der Bettwäsche an. Ich koche Tee und lese meine Mails. Es ist noch früh, sieben Uhr siebenundzwanzig.

Der Strand unten ist menschenleer. Ich habe große Lust, an die frische Luft zu gehen.

Als Kind habe ich dort sehr gern gespielt. Ich ging allein mit meinem Eimer, meiner Schaufel und dem großen Lastwagen, den mir zio Gerardo geschenkt hatte, hinunter. Ich baute Burgen, während meine Mutter auf dem Balkon las und von dort auf mich aufpasste.

Ich ziehe meine Schuhe aus, um den Sand unter meinen Füßen zu spüren. Das Meer ist das Einzige, was mir in Mailand fehlt. Es hat etwas Beruhigendes, überall, selbst hier in Neapel. Ich gehe langsam darauf zu, es umspült meine Füße. Es ist eindeutig kälter als Filomenas Pisse! Es tut mir gut. Sein Geräusch beruhigt mich sofort.

Ich habe das Gefühl, der Vesuv starrt mich von drüben an. Ich wende den Blick ab. Mir ist, als begegnete ich einer früheren Liebe, die mir Kummer bereitet hat, und als wüsste ich nicht, wie ich reagieren soll.

Da springt mich überraschend jemand an. Ich unterdrücke einen Schrei: Es ist Gina. Sie schenkt mir ein Lächeln und einen Kuss, zieht ihr mit Pailletten besetztes T-Shirt und ihre quasi durchsichtigen Leggins aus und wirft sich mit String und BH ins Wasser.

»Los komm, es ist herrlich!«

»Nein, du spinnst, es ist kalt! Und ich habe keinen Badeanzug ‌…«

»Den brauchen wir nicht, Luna, komm, genieß es!«

Ich muss über ihre Kühnheit lachen, aber ich schaffe es nicht, ihr ins Wasser zu folgen. Ich sehe, wie sie wild ihre Arme bewegt, sie kann offenbar nicht schwimmen, aber das ist ihr gleichgültig. Sie legt sich gerade auf den Rücken, schließt die Augen und lässt sich schaukeln.

Ein paar Minuten später kommt sie aus dem Wasser, nimmt ein altes Handtuch aus ihrer Einkaufstasche, wickelt sich darin ein und setzt sich neben mich.

»Wenn ich zum Saubermachen komme und schönes Wetter ist, versuche ich immer, genug Zeit zu haben, um mit dem Kopf unterzutauchen. Bei uns ist das Wasser ekelhaft. Letzten Sommer hatten die Kinder jede Menge Flecken auf der Haut, weil sie mitten im Müll geplantscht haben.«

»Wie geht es ihnen? Wie alt sind sie jetzt?«

»Gut, aber sie treiben mich zur Weißglut. Lucia ist sieben, die Zwillinge fünf. Die reinsten Tornados, Luna. Ich könnte mir die Haare ausreißen, das schwör ich dir! Aber sie bedeuten mir alles. Es ist wunderbar, Mutter zu sein. Wann willst du anfangen? Die Uhr tickt, meine Liebe, wir sind nicht mehr so jung!«

Gina und ich sind gleich alt. Wir haben unsere ganze Kindheit gemeinsam verbracht. Als wir hierher umzogen, hat sie ihren Vater gebeten, ihre Lieblingscousine wiederzutreffen. Das hat er ihr lange verweigert. Also verschwand sie einfach. Mit zehn Jahren nahm Gina allein den Bus, um zu mir zu kommen. Schließlich hat zio Gerardo nachgegeben. Ich war meinem Onkel böse. Ich konnte nicht verstehen, warum er uns nicht mehr sehen wollte. Dann bin ich älter geworden.

Gina schüttelt ihre Haare und steckt sie mit einer neonblauen Klammer zusammen. Ich sehe sie an – ihre langen pinkfarbenen Fingernägel, ihre ausgelaufene Wimperntusche, ihren abgeblätterten Nagellack an den Zehen … Sie erinnert, wenn man sie so betrachtet, an einen Regenbogen. Sie mochte schon immer alles, was schrill war, Pailletten, Spitzen, grelle Farben. Es ist, als wollte sie auf nichts verzichten, also trägt sie alles auf einmal.

Neulich sah ich ihre Fotos auf Facebook und habe mich über sie amüsiert, ich habe meine auffällig gekleidete Cousine sogar meinen Freundinnen gezeigt. Aber jetzt, da ich sie neben mir sehe mit ihrem einladenden Lächeln und ihrer Freude, mich wiederzusehen, schäme ich mich. Ich bin sicher, dass sie sich mir gegenüber nie so benommen hätte. Gina lässt sich von keinem etwas gefallen, aber sie hat ein goldenes Herz.

Ich helfe ihr aufzustehen, und wir gehen wieder in die Wohnung.

Ich erzähle ihr, dass Filomena mich heute früh getauft hat. Gina lacht darüber. Jetzt öffnet sie alle Fenster und fängt an aufzuräumen. Sie kennt die Wohnung meines Vaters wie ihre Westentasche und putzt bis in alle Ecken. Dazu singt sie einen Song von Gigi d'Alessio. Mit Bedauern stelle ich fest, dass ihr Musikgeschmack unverändert ist.

Wenn man sie so betrachtet, könnte man meinen, dass sich für sie nichts geändert hat. Es ist, als setzten wir unser Leben genau an der Stelle fort, an der wir es vor Jahren unterbrochen haben. Ich habe Gina seit sieben Jahren nicht gesehen. Ich habe die Beziehung zu ihr aufgegeben, als hätte ich sie hiergelassen mit allen anderen Dingen, den Erinnerungen, den alten Fotos, den Gewissensbissen und der Schuld.

6

Als ich im Krankenhaus ankomme, ist es zehn Uhr. Ich habe mich geweigert, in einem der Wagen meines Vaters zu fahren, und habe ein Taxi genommen, was ich sogleich bereut habe. Der Fahrer hat auf der gesamten Fahrt geschwätzt und mich ausgefragt. Man müsste den Kindern in allen Schulen Neapels beibringen, dass es so etwas wie Privatsphäre gibt.

Es soll eins der besten Krankenhäuser der Stadt sein, es ist auch das neueste, aber der Geldmangel und frühe Schäden am Bau springen einem ins Auge. Ich bin schockiert.

Als ich das Zimmer meines Vaters betreten will, hält eine Schwester mich auf. Ich erkenne das Lächeln von gestern.

»Sie ziehen ihn gerade um, warten Sie hier einen Moment. Er ist wach, Sie können mit ihm sprechen, aber im Augenblick fällt ihm das Antworten noch schwer.«

Da kommt ein Arzt auf mich zu und reicht mir die Hand.

»Signora Esposito?«

Ich nicke.

»Wir haben Sie erwartet. Kommen Sie mit in mein Büro.«

Ich folge ihm. Er ist ein hochgewachsener, gutaussehender Mann, wir dürften ungefähr gleich alt sein. Er sieht müde aus, offenbar hatte er in der letzten Nacht Dienst.