0,99 €
Zwischen Gipfeln und Gefühlen.
Der Alltagsstress bestimmt schon zu lange Tines Leben. Da der zweifachen Mutter Ende vierzig ein Burnout droht, muss sie dringend zur Kur. Doch statt ans Meer geht es für sie ins idyllische Allgäu.
Im luxuriösen Haus Sonnengold findet Tine durch den attraktiven Psychologen Phil Impulse für neuen Mut und mehr Entspannung. Im Gegensatz zu den anderen Bewohnern von Haus Sonnengold hat sie allerdings kein Interesse an zeitweiligen Kur-Liebeleien, die “Sternschnuppen” genannt werden. Auch wenn es verlockend ist, sich von dem charmanten Christian zu mehr als nur zum Gleitschirmfliegen überreden zu lassen.
Während Tine neue Seiten an sich entdeckt, bringt unerwarteter Besuch aus der Heimat erneutes Chaos. Plötzlich steht sie vor einer Entscheidung, die weit über ihre Auszeit in den Bergen hinausgeht: Soll sie zurück in ihr gewohntes Leben oder einem neuen Glück eine Chance geben?
Ein erfrischender Age Gap Liebesroman über Selbstfindung und die Magie ungeahnter Begegnungen. Dies ist die komplett überarbeitete Neuauflage von "Sternschnuppenküsse" (2016 erschienen).
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Verlag:
Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH
Werinherstr. 3
81541 München
_____________________
Texte: Rita Roth
Cover: MT-Design
Korrektorat: TE Language Services – Tanja Eggerth
Satz: Zeilenfluss
_____________________
Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
_____________________
ISBN: 978-3-96714-532-8
Das Einzige, das ich fest im Griff hatte, waren meine Walkingstöcke. Krampfhaft umklammerte ich sie, während Markus neben meinem Pink Panther – so nannte ich meinen rosafarbenen Monstertrolley – unruhig von einem Bein auf das andere trat. Der Zug hatte bereits fünf Minuten Verspätung, und unser kleiner Knuddelhund Moppel sah mich verstört mit seinen schwarzbraunen Knopfaugen an. Er winselte leise, was mir den Abschied nicht gerade leichter machte.
»Ach Moppelchen«, flüsterte ich tröstend. »Ich werde dich auch vermissen. Aber Frauchen kommt bald wieder.« Sanft kraulte ich unserem süßen Mopsmischling das Köpfchen. Mein kleiner Liebling würde mir schrecklich fehlen, das spürte ich schon jetzt.
»Frauchen ist bald wieder da, es sind ja nur drei Wochen. Mit Herrchen wirst du auch viel Spaß haben. Nicht wahr, Markus?«
Markus nickte zustimmend. »Wir kommen schon klar, Christine. Die paar Wochen schaffen wir auch ohne dich.«
Etwas unbeholfen legte er die Arme um mich. Ich wusste, wie schwer ihm der Abschied fiel. Markus hasste Abschiede jeglicher Art, umso mehr schätzte ich es, dass er am Bahnhof mit mir auf den Zug wartete. Vielleicht befürchtete er aber auch, ich würde nicht einsteigen, und in letzter Minute einen Rückzieher machen.
Eine blecherne Stimme aus dem Lautsprecher ließ meine albernen Frauchengespräche verstummen. »Vorsicht an der Bahnsteigkante, der Zug nach Berlin, über Hannover fährt jeden Moment ein!«
»Erhol dich gut, mein Schatz und bring deine Power und dein Lachen wieder mit, wenn du zurückkommst. Und melde dich nach deiner Ankunft sofort bei mir.«
Ich nickte und versprach es. Der Rest von Markus’ guten Ratschlägen und Wünschen ging im Bremsenquietschen des einfahrenden ICE unter. Hatte er tatsächlich etwas von Kurschatten gesagt? Das Wort, auch Moppelchens schmerzliches Gejaule, klang mir noch in den Ohren, als sich die Türen des Zuges hinter mir schlossen.
Von nun an lockten also Freiheit und Abenteuer. Mir stand der Sinn weder nach Verlockung noch nach Abenteuer. Einige meiner Freunde beneideten mich um die Auszeit im Allgäu. Sie erzählten mir pikante Einzelheiten von Kurabenteuern, die ihnen zu Ohren gekommen waren. Selbst langjährige Ehen konnten durch das Auftauchen eines Kurschattens gefährdet werden, nicht selten kam es danach zu einer Trennung vom Partner, sogar zu Scheidungen. Meiner Meinung nach war das alles vollkommener Quatsch.
Der Zug war brechend voll, stellte ich entsetzt fest, als ich mich durch den schmalen Gang zu meinem Platz schlängelte. Auf dem Sitz neben mir hatte sich ein korpulenter Mann ausgebreitet. Er beanspruchte beide Armlehnen für sich und hielt es nicht einmal für nötig, meinen Gruß zu erwidern. Das fing ja gut an. Erst die Verspätung und dann so ein Piesepampel. Ich lehnte mich in meinem Sitz zurück und nahm mit dem Ellenbogen so lange Kontakt zu dem Dicken auf, bis er seinen Arm von der Lehne nahm. Bei meiner letzten Bahnfahrt war alles viel entspannter gewesen, dachte ich. Dass mein Sitznachbar mich angesprochen hatte, merkte ich erst, als er seine Frage wiederholte.
»Wie bitte? Haben Sie etwas gesagt?« Ich unterzog den Herrn einer eingehenden Musterung, so, wie ich es auch im Job machte. Überrascht nahm ich sein freundliches Lächeln wahr.
»Wohin geht die Reise denn?«, fragte er mit Blick auf meine Walkingstöcke.
»Ins Allgäu, in die Nähe von Füssen«, erwiderte ich kurz angebunden. »Hoffentlich bekomme ich den Anschlusszug noch.« Als ob ihn das wirklich interessierte. Der wollte wahrscheinlich nur herausfinden, wann er sich wieder breitmachen konnte.
»Da drücke ich Ihnen die Daumen, dass Sie den Zug noch erwischen«, sagte er. Sein Kommentar war wohl nett gemeint, doch bei der Vorstellung, stundenlang auf den nächsten Anschluss warten zu müssen, breitete sich Panik in mir aus. Der Kontrolleur beruhigte mich jedoch, er versicherte mir, der Anschlusszug würde auf uns warten.
So war es auch. Kaum hatte ich den Zug gewechselt, fuhr er auch schon an. Mit einem hörbaren Seufzer kuschelte ich mich in meinen Sitz, stellte die Lehne zurück und schloss die Augen. Meine Gedanken kreisten um die Arbeit, aber auch um meine Beziehung zu Markus. Die Landschaft zog wie ein Film an mir vorüber, ebenso mein knapp fünfzigjähriges Leben. Für die Zeit der Kur wollte ich alles hinter mir lassen, das hatte ich mir ganz fest vorgenommen.
* * *
Unsere Betriebsärztin hatte bei mir Anzeichen eines Burnouts diagnostiziert, die ich ernst nehmen sollte. Ich belächelte ihren Befund, das war doch maßlos übertrieben. Okay, seit einigen Monaten lief ich nur noch mit hängenden Mundwinkeln durch die Welt, außerdem war ich dauernd genervt, reizbar und müde. Vor allem müde! Mein kleiner Knuffelhund war der einzige Lichtblick, an dem ich mich erfreuen konnte. Mein Lachen, das man so sehr an mir liebte, war mir abhandengekommen. Ich wünschte mir sehnlichst, es wiederzufinden.
Vor ungefähr zwei Jahren fing es an. Umstrukturierungsmaßnahmen stellten mich vor die Wahl, entweder täglich zu pendeln oder mich auf einen anderen Job zu bewerben. Ich entschied mich für einen neuen Arbeitsplatz vor Ort und fand mich auf einer Stelle als Jobvermittlerin einer Arbeitsagentur wieder.
Mit Herzblut ging ich meine neuen Aufgaben an. Zu meinem eigenen Erstaunen konnte ich viele Arbeitsuchende gut vermitteln. Meine Statistik sah super aus, meine Zuverlässigkeit und mein verantwortungsvolles Handeln wurden lobend erwähnt. Einige Kollegen kommentierten meine Erfolge mit spitzen Bemerkungen und sorgten dafür, dass mein Aufgabenbereich erweitert wurde. Die nötige Zeit für eine Vermittlung fehlte, ich wurde zunehmend gestresst und versuchte, mit meinem Chef eine Lösung zu finden. Er reagierte wenig verständnisvoll. Schulterzuckend verwies er auf die Dienstvorschriften.
Als mein Kopf zur Seite kippte und ich auf meinem Sitz einschlief, tauchte das Bild von meinem Ausraster im Büro wieder auf. Noch heute schämte ich mich in Grund und Boden, dass mir so etwas passieren konnte. Ich hatte eine Kundin angeschrien, auf den Tisch gehauen und gerufen: »Was glauben Sie denn, wer Sie sind? Meinen Sie, ich sitze zum Spaß hier und warte nur auf Leute wie Sie, die den lieben langen Tag ihren Bauch in die Sonne halten?« Normalerweise brachte mich so schnell nichts aus der Fassung. So kam es also dazu, dass ich jetzt hier im Zug saß, auf dem Weg zur ersten Kur meines Lebens.
Das Kurhaus und auch der Kurort waren mir wärmstens empfohlen worden. Eigentlich wäre ich viel lieber ans Meer gefahren, doch dann habe ich mich von einer Kollegin belatschern lassen. Sie schwärmte mir von der zauberhaften Landschaft, dem See, den sanften Ausläufern der Alpen und dem exzellenten Therapieangebot so sehr vor, dass ich mich schließlich für die Berge entschied. Außerdem wäre das Essen wie in einem Fünf-Sterne-Hotel, und man würde interessante Menschen kennenlernen, versicherte sie mir mit einem Augenzwinkern. Vor allem Männer.
Bei dem Gerede über Kurschatten, sie bezeichnete sie als Sternschnuppen, stellte ich meine Ohren auf Durchzug. Diese Sterne waren mir so was von schnuppe. Ich war weder an einem Flirt noch an Kurbeschattung interessiert. Ich hatte meinen Markus, meinen liebevollen und netten Lebensgefährten, der mir kurz nach unserem Kennenlernen das Möpschen mit dem treuen Blick und dem Temperament eines Terriers geschenkt und damit mein Herz gewonnen hatte.
Eigentlich gab es nur eine Sache, die mich an ihm nervte. Seine Campingbesessenheit. Jede Woche Freitag ging’s mit dem Wohnmobil auf den Campingplatz. Die Aufgaben waren klar verteilt, ich kochte und kümmerte mich um den Haushalt, während Markus an unserer Schrottkarre schraubte und werkelte. In unseren Campingnächten erhoffte er sich leidenschaftlichen Sex in der schmalen Koje. Mein Bedürfnis nach inniger Zweisamkeit war mir jedoch, genauso wie mein Lachen, abhandengekommen. Am Anfang unserer Beziehung war das völlig anders. Wir liebten uns immer und überall. Markus hatte eine Schwäche für Outdoorsex, die ich später mit ihm teilte. Es war unsere Art, die Natur zu erkunden.
Meine schwächelnde Libido konnte natürlich auch mit den Wechseljahren zusammenhängen. Auch dieser Punkt stand auf meiner Liste der Themen, die ich in der Therapie ansprechen wollte. Hin und wieder vermisste ich die Zeiten, in denen wir unsere Leidenschaft kaum zügeln konnten. Aber das war äußerst selten der Fall.
Die Bimmelbahn ruckelte. Aufseufzend griff ich nach meinen Stöcken und schnappte mir mein pinkes Monster. Ich hatte mein Ziel erreicht.
Haus Sonnengold
Das stand auf dem Schild, das ein grauhaariger älterer Mann in die Luft hielt, um seine Schäfchen einzusammeln. Mit geübtem Blick sichtete er die Ankömmlinge. Vermutlich erkannte er von Weitem seine Kurgäste.
»Grüß Gott die Damen«, begrüßte er mich und die andere Frau, die mit mir angereist war, griff zu unserem Gepäck und verstaute es im Kofferraum. Kurz zuckte seine Augenbraue, als er meinen Pink Panther ins Auto hievte. Meine Walkingstöcke überließ ich allerdings nicht seinen zupackenden Händen, die hielt ich eisern umklammert. Immerhin waren sie das Einzige, das ich überhaupt noch einigermaßen fest im Griff hatte.
Meine Freude über die nette Begrüßung hielt sich in Grenzen. Viel lieber hätte ich mich erst einmal allein ein wenig umgesehen und in Ruhe einen Zigarillo geraucht. Seit mindestens fünf Minuten umklammerte ich die Schachtel in meiner Jackentasche. Von Sucht konnte bei mir allerdings nicht die Rede sein, ich war Genussraucherin. Das Paffen war mein kleiner Luxus und das einzige Laster, das ich mir gönnte. Seit meiner Abreise hatte ich mich auf diesen Moment gefreut. Ich stellte mir vor, noch einmal tief durchzuatmen, ehe meine Kur richtig anfing.
Unser Fahrer plauderte so lange fröhlich mit uns, bis die andere Dame ihm ins Wort fiel und drauflosschnatterte. »Ich bin die Iris«, stellte sie sich vor. Ungefragt fügte sie hinzu, dass ihr Vater den Namen ausgesucht hatte, da ihre Augen so blau waren wie die gleichnamige Blume.
Unauffällig beobachtete ich sie von meinem Platz auf der Rückbank und steckte sie sofort in die Schublade ›Sternschnuppe‹. Zu Iris hätte mein pinkes Monster viel besser gepasst. Ihr Nagellack leuchtete in der gleichen Farbe, ebenso ihre Jacke. Iris war nicht nur blauäugig, sie war auch noch superblond, mit reichlich Dekolleté und einem sinnlichen Mund, der in Pink leuchtete.
»Ich bin Christine, kannst aber Tine zu mir sagen«, nahm ich das Gespräch auf und gab bereitwillig Auskunft darüber, wie günstig ich mein pinkes Monster erstanden hatte. Mit treuer Miene gestand sie mir allen Ernstes, dass sie mich um dieses Gepäckstück beneidete.
»Und weshalb bist du hier, Tine?«
»Ähm …« Hektisch griff ich zu meiner Tasche und wühlte darin, als ob ich etwas suchte. Auf so indiskrete Fragen war ich nicht vorbereitet. Auf keinen Fall wollte ich den wahren Grund meines Aufenthalts verraten. Es schien Iris zum Glück auch nicht ernsthaft zu interessieren. Als ich zu einer Antwort ansetzte, plapperte sie bereits munter weiter.
»Ich muss unbedingt etwas für meinen Rücken tun, das ewige Sitzen am Computer vertrage ich einfach nicht. Man wird schließlich auch nicht jünger.« Dann senkte sie die Stimme und flüsterte, dass sie gemobbt würde und aus diesem Grund das Angebot der psychologischen Beratung in Anspruch nehmen müsse. »Die Therapie wird von einem sehr einfühlsamen und sehr gutaussehenden Psychologen durchgeführt«, ließ sie in einem Nebensatz durchblicken.
Als wir wenige Minuten später ankamen, kannte ich das halbe Leben von Iris. Ich wusste, dass sie immer Pech mit den Männern hatte, sie aber trotzdem liebte. »Ich hatte in meiner Kindheit ein wirklich problematisches Verhältnis zu meinem Vater. Er hat mich nie so geliebt, wie ich mir das gewünscht hätte.«
Damit ließen sich all ihre Männerprobleme erklären und nun meinte sie wohl, dieses tragische Schicksal durch zahllose Liebschaften kompensieren zu müssen.
Mir lag ein bedauerndes ›Oh‹ auf der Zunge, als Ferdi, unser Fahrer, vor dem Portal des Kurhauses anhielt und uns einen erholsamen Aufenthalt wünschte. Beflissen schleppte er Iris’ Koffer bis zur Rezeption. Mich und meinen Trolley beachtete er nicht weiter, ich konnte selber schleppen.
So war das also. Neben diesem Typ Frau war ich unsichtbar. Das war so einer der wenigen Momente, in denen ich mich dafür verfluchte, mich nicht wenigstens minimal geschminkt zu haben, auch wenn ich mehr der Typ für einen natürlichen Stil war. Das Einzige, bei dem ich der Natur nachhalf, war meine Frisur. Meinen Kurzhaarschnitt färbte ich seit vielen Jahren schon mit pflegendem Henna und erzielte damit einen herrlich leuchtenden Rotton, der meine grünen Augen hervorhob und von meiner dicken Nase ablenkte.
* * *
Mein Zimmer im Sonnengold war noch schöner als im Prospekt abgebildet. Da ich bereit war, etwas mehr Geld auszugeben, hatte ich mich für eines der Luxuszimmer mit Balkon und Seeblick entschieden. Es war recht groß und gemütlich, wahrscheinlich hatte ich sogar Sonnenuntergangsgarantie.
Ich schaute mich um, dabei kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Herrlich! Das Abenteuer konnte losgehen. Eine erste Euphorie breitete sich in mir aus. Alles wirkte so freundlich und hell. Unwillkürlich musste ich an ›Heidi auf der Alm‹ denken. Diese Geschichte konnte ihren Ursprung nur hier oben in den Bergen gehabt haben.
Gespannt auf das, was mich erwarten würde, eilte ich zu meinem ersten Termin, zur Hausführung. Die Chefin begrüßte die Neuankömmlinge höchstpersönlich. Ein junges Mädel im Dirndl bot uns Willkommensgetränke an. Es gab sogar Alkohol. Es war unglaublich. Ich griff zu einem Glas Sekt, ohne O-Saft. Meine Vorstellung davon, wie eine Kur zu sein hatte, geriet mächtig ins Wanken. Vielleicht war dieser Aufenthalt gar keine so schlechte Idee gewesen.
Iris, die Blauäugige, stand mir gegenüber. Es war nicht zu übersehen, dass sie ihren Blick bereits schweifen ließ und abcheckte, ob ein passender Schatten für sie dabei war. Ihre blauen Augen blieben an dem Mann neben mir hängen, einem ziemlich großen Kerl mit lockigen, längeren Haaren, die er offen trug. Sein Haar war grau, schon fast weiß, wodurch seine sonnengebräunte Haut noch dunkler wirkte. Der Typ gefiel sich in der Runde der Neuankömmlinge, die sich zum größten Teil aus Frauen zusammensetzte. Er unterhielt uns auch gleich mit zweifelhaften, zweideutigen Witzen.
»Ich bin Wiederholungstäter«, erzählte er stolz. Die Chefin des Hauses lobte ihn dafür. Ob ihm wohl das silberne oder goldene Duschbad oder die blauweiße Badelatsche mit in Gold graviertem Namen verliehen würde, fragte ich mich. Zwischen Iris und dem Witzbold flogen nicht nur Blicke hin und her, sondern auch Worte. Schnell war ich mir sicher: Da ging noch was. Wenigstens in diesem Punkt würde mein Klischee erfüllt werden.
Die lange Fahrt hatte mich mehr angestrengt, als ich mir eingestehen wollte. Obwohl ich ziemlich geschafft war, entwickelte ich bei der Hausführung den Ehrgeiz, mir alles zu merken.
Als wir die Bäderabteilung betraten, bildete ich mir ein, in einem Wellness-Tempel zu sein. Die Wände, die Fliesen, alles war in warmen Gelb- und Rosttönen gehalten und geschmackvolle Bilder zierten die Wände. Kleine, bunte Mosaikfliesen bildeten den Abschluss, aromatische Düfte nach Sauna und Massage stiegen mir in die Nase und verbreiteten eine entspannte Stimmung. Es war soo schön!
Inmitten des Wassertretbeckens ragte eine Säule empor, auf der eine nackte Schönheit einer Muschel entstieg. Daneben lag das kleine Schwimmbad, in das ich mich auf den ersten Blick verliebte. Marmorsäulen und dezente Deckenstrahler ließen es äußerst exklusiv wirken, die vorgewärmten, apricotfarbenen Badetücher unterstrichen den Eindruck. Auf der zugehörigen Terrasse konnte man relaxen, mit Blick auf sanfte Berge und auf Schloss Neuschwanstein, das sich in strahlendem Weiß vor dem Grün der Wiesen und Berge abhob.
Konnte die Wirklichkeit so kitschig schön sein? Manchmal fragte ich mich, ob das alles nicht nur ein Traum war. Falls es ein Traum wäre, wollte ich nicht mehr aufwachen. Die Menschen, die uns im Haus begegneten, lächelten allesamt. Ob das wohl ansteckend war? Vielleicht würde ich nach den drei Wochen auch wie ein grinsender Breitmaulfrosch durch die Gegend hüpfen? Bei dieser Vorstellung musste ich innerlich lachen. Ich sah das Bild genau vor mir. Fett grinsend hockte ich auf einem Seerosenblatt, Mücken umschwirrten mich und ab und zu ließ ich meine Zunge hervorschnellen und verspeiste eine von ihnen. So gesättigt gab ich ein rülpsendes ›Quak‹ von mir.
Der Lockenkopf schenkte mir ein smartes Lächeln und meinte: »Das ist aber unfair, dass Sie sich selbst Witze erzählen. Lassen Sie uns doch auch daran teilhaben.« Ich muss ihn wohl ziemlich dämlich angesehen haben, bis er mich schließlich auf mein Lachen ansprach. Oh je, ich hatte nicht nur still in mich hineingekichert.
Iris wickelte eine blonde Strähne um ihren Finger. Ihr Blick wanderte zwischen dem Typen und mir hin und her. Ich sah ihn mir genauer an und schätzte ihn auf Ende fünfzig, auch wenn er alles daransetzte, wie ein Mittvierziger rüberzukommen.
Wir setzten unseren Rundgang fort, bis wir uns im Speisesaal wiederfanden. Auch hier war alles freundlich und liebevoll hergerichtet. Weiße Tischtücher, gestärkte Stoffservietten und frische Blumen auf den Tischen ließen erst gar keine Kantinenatmosphäre aufkommen.
»Vroni wird Sie nun an Ihren Tisch begleiten. Für das Mittag- und Abendessen haben Sie dort immer Ihren festen Platz. Zum Frühstück können Sie sich hinsetzen, wo Sie möchten.« Die Chefin des Hauses trippelte klackernden Schrittes zurück in ihr Büro. Mein Stoßgebet, dass ich nicht mit Iris und dem Lockenkopf an einem Tisch sitzen musste, wurde erhört.
Mit letzter Kraft hatte ich meine Koffer ausgepackt und mich für einen Moment auf den Balkon gesetzt. Mit meinem Krimi in der Hand schlief ich ein. Im Halbschlaf muss ich dann wohl noch den Weg ins Bett gefunden haben.
Mitten in der Nacht fuhr ich schlaftrunken hoch. Ich glaubte, den Schatten einer Person zu erkennen. Meine Hände ballten sich reflexartig zu Fäusten, bereit, gnadenlos zuzuschlagen. Ich konnte mich nicht sofort erinnern, wo ich war. Meine grauen Zellen waren noch nicht online.
»Grüß Gott Frau Landgraf, Sie müssen’s net erschrecke«, trällerte eine fröhliche Stimme. »Ich bin die Rosi, ich bringe Ihnen den Heusack.«
Das Mädchen legte mir einen kräuterduftenden, heißen Sack unter meinen Rücken, drückte mich resolut zurück in die Kissen und flüsterte mit seinem süßen Akzent: »So, nu schlafen’s noch a bisserl. Den Heusack bringen’s nachher einfach mit nunter in den Therapiebereich. Frühstück gibt’s ab acht Uhr.«
Lautlos huschte das Mädel davon, es war erst sechs Uhr früh. Konnte ich denn nicht einmal hier ausschlafen? Die wohlige Wärme im Rücken und der würzige Duft von frischem Heu taten ihre Wirkung. Ich fiel zurück in den Schlaf, bis mein Wecker unbarmherzig klingelte. Aus Angst, das Frühstück zu verschlafen, hatte ich ihn eingepackt. Auf die Weckfunktion meines Handys wollte ich mich nicht verlassen. Außerdem war ich unsicher, ob man in dem Haus überhaupt ein Handy benutzen durfte. Ich hatte ja die abenteuerlichsten Geschichten gehört.
* * *
Der letzte Traum war noch lebendig, als das Piepen des Weckers mich in die Wirklichkeit zurückholte. Das Ding in meinem Rücken half mir bei der Erinnerung, wo ich mich befand. Es war inzwischen abgekühlt, der Duft nach frischem Heu erfüllte den ganzen Raum.
In meinem Traum hatte ich mich fliegen sehen. Ganz frei und leicht erhob ich mich in die Lüfte, drehte Spiralen, flog höher und höher. Warme Winde trugen mich hinauf, weit weg von den Häusern der Stadt. Es fühlte sich an, als würde der Wind mich zärtlich streicheln, sanft umspielte er meinen Körper. Statt meiner Lieblingsjeans trug ich ein flatterndes, farbenfrohes Gewand. Ich kam mir vor wie ein exotischer Vogel in der Morgensonne, schillernd bunt und schön.
Von weit oben konnte ich mein Amt mit den herumwuselnden Menschen entdecken. Es wurde kleiner und kleiner. Plötzlich änderte sich die Szenerie. Ich kreiste über einem See, der ungewöhnlich ruhig und in tiefem Blau schimmerte. Funkelnde Lichter tanzten auf seiner Oberfläche, es sah aus wie ein Funkenregen.
Ich genoss den Anblick der Landschaft, die in saftigem Grün unter mir lag. Sanfte Berge schmiegten sich um den See und die Luft fühlte sich warm und frisch zugleich an. Ich atmete tief ein, ließ mich tragen und konnte mich nicht daran sattsehen. Mit spielerisch leichten Bewegungen landete ich am Ufer des Gewässers.
Das letzte Bild, das von meinem Traum hängengeblieben war, zeigte mir mein Spiegelbild in dem See. Ich war mir nicht sicher, ob die Person, die mich anlächelte, wirklich ich sein sollte. Die leuchtend roten Haare und die markante Nase konnten wohl meine sein. Aber die Augen sahen anders aus. Sie hatten das gleiche Grün wie meine Augen, doch in dem Spiegelbild glänzten sie und lachten mich an. Außerdem war das Gesicht glatt, mit Mundwinkeln, die nach oben zeigten. Ein süßes Grübchen in der Wange gab dem Spiegelbild eine frech fröhliche Lebendigkeit.
Was für ein schöner Traum! Mit einem Lächeln verschwand ich im Bad.
* * *
An meinem Tisch saßen außer mir noch zwei Männer und zwei Frauen. An die Namen und die dazugehörigen Gesichter konnte ich mich nicht mehr erinnern. Wir hatten uns zwar gestern Abend vorgestellt und waren zum Du übergegangen, leider hatte ich die Namen jedoch vergessen. Die wichtigsten Regeln konnte ich mir allerdings merken.
Erstens: Beim Essen wird nicht über Krankheiten gesprochen!
Zweitens: Gespräche über den Job sind tabu! Man durfte höchstens erzählen, wo man arbeitete, eventuell noch in welcher Position. Mehr nicht! Das kam mir sehr entgegen. Ich war gespannt, ob sich alle daran halten würden.
Nach dem Frühstück ging ich zur Eingangsuntersuchung. Frau Doktor verordnete mir Entspannung plus Bewegung, dazu Massagen, Bäder, Kneippsche Güsse und psychologische Beratung. Zwei Psychotermine pro Woche waren ihrer Meinung nach in meinem Fall angebracht. Dann bin ich wohl ein Härtefall, dachte ich, zog mir meine Laufschuhe an, schob mir die Hörer meines Smartphones ins Ohr und trabte los.
Der See lag gegenüber vom Kurhaus. Er hatte eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Gewässer in meinem Traum. Im Vorbeilaufen registrierte ich einen Campingplatz, der ziemlich gut und ziemlich teuer aussah. Er war sogar mit Sternchen ausgezeichnet worden. Akkurat reihten sich die Wohnmobile nebeneinander auf. Manche sahen richtig luxuriös aus. Unser in die Jahre gekommener Campingbulli konnte da nicht mithalten. Siedend heiß fiel mir Markus ein. Ich hatte vergessen, ihm nach meiner Ankunft eine SMS zu schicken. Dabei hatte ich ihm fest versprochen, mich sofort zu melden, wenn ich gut angekommen wäre. Aber eigentlich hätte Markus sich ja auch melden können.
Wenig später lief ich durch ein Wäldchen. Ich beschleunigte mein Tempo, dabei verschwanden allmählich auch die Gedanken aus meinem Kopf. Ich lief schön gleichmäßig und genoss den Anblick der Bilderbuchlandschaft. Die Luft im Allgäu war anders, sie war würziger und süß.
Der Typ in meiner Laufapp, ich nannte ihn Paule, feuerte mich an. Ich sollte einen Sprint einlegen, dann wieder gemächlich traben. Erste Schweißperlen standen mir auf der Stirn, als ich das Wäldchen verlassen hatte und in der Vormittagssonne zwischen den Wiesen hindurchlief.
Beinahe wäre ich gestolpert, als mich jemand an der Schulter berührte. »Gut so, weitermachen«, rief der Typ im Vorbeilaufen. Schmunzelnd sah ich einem knackigen Hintern und strammen Waden hinterher, die sich zügig entfernten. Der dazugehörige Mann drehte sich kurz um, winkte, zwinkerte und joggte weiter. Schnaufend erkannte ich, dass es einer meiner Tischnachbarn gewesen war. Nett sah er aus. Ich überlegte, wie er hieß, aber sein Name wollte mir beim besten Willen nicht einfallen. Beim Frühstück hatte ich ihn nicht gesehen, aber beim Mittagessen würde er mir nicht entkommen.
Verschwitzt und mit hochrotem Kopf huschte ich aufs Zimmer. Ich beeilte mich, pünktlich zum Essen zu erscheinen. Mein Interesse an der Umgebung, an den Menschen war erwacht. Der Traum in den Morgenstunden hatte mich beflügelt.
* * *
Als ich mich im Speisesaal umschaute, wurde mir klar, dass ich definitiv die falschen Klamotten eingepackt hatte. Sportkleidung wurde zu den Mahlzeiten nicht gern gesehen. Damit hatte ich mich für die Reise eingedeckt. Aber an etwas Schickes hatte ich nicht gedacht. In meinem Schrank hingen nur meine geliebten Jeans, dazu Shirts in allen Farben und zwei Blusen. Für heiße Tage sogar drei Sommerkleider.
Mit einem Blick auf meinen Kurplan stellte ich fest, dass mich hier wohl kein Urlaub erwarten würde.
»Hallo Tine, zeig mal deinen Terminplan! Wie früh geht’s denn bei dir immer so los?« Mit gekonntem Hüftschwung rauschte Iris an meinen Tisch.
»Hm«, erwiderte ich einsilbig.
»Zeig mal, hast du Termine bei PP?«, wollte sie wissen.
»PP? Was meinst du denn damit?« Ich glaube, ich schaute etwas dümmlich drein.
Schon hielt Iris meine Mappe in der Hand und bekam große Augen. »PP ist ›Psycho-Phil‹, du weißt ja, der von dem ich dir erzählt habe.« Iris schluckte. »Sag mal, Tine, ist das denn wohl richtig eingetragen, dass du zweimal in der Woche bei PP bist?«
»Wenn es da drinsteht, dann soll es wohl so sein. Habe ich mir noch nicht so genau angesehen.« Ich nahm ihr die Mappe aus der Hand, das ging diese blauäugige Quasselstrippe überhaupt nichts an.
Iris wollte wohl noch weiterlamentieren, über die Ungerechtigkeit, dass sie trotz Mobbing keine Therapie bei PP verordnet bekommen hatte, doch dann wurde die Suppe serviert. Ich hatte einen guten Platz, denn von hier aus hatte ich alles im Blick. Leider wurde ich andauernd abgelenkt. Der Sprinter, der mich am See überholt hatte, saß mir schräg gegenüber. Er entwickelte einen sportlichen Ehrgeiz darin, mich zu unterhalten.
»Du hast einen echt guten Laufstil, Tine. Ich habe das beobachtet, ziemlich locker. Außerdem hältst du die Stöcke richtig in der Hand. Das ist nämlich gar nicht so einfach. Die meisten Walker machen das verkehrt. Gehst du auch joggen?«
»Wie, du hast das beobachtet? Wie meinst du das denn? Bist du die ganze Zeit im Zeitlupentempo hinter mir her getrabt und hast meine Beinarbeit kontrolliert? Ich fasse es ja wohl nicht, Toni!«, sagte ich mit finsterem Blick. Wie gut, dass Namensschilder auf dem Tisch standen, so musste ich mir nicht die Blöße geben, mir seinen Namen nicht gemerkt zu haben. Der Typ war nicht von Bedeutung für mich, wieso sollte sich mein Gehirn also merken, wie er hieß? Bei näherer Betrachtung kam ich zu dem Schluss, dass er von hinten deutlich besser aussah als von vorne.
»Du kannst auch bestimmt gut joggen, da wette ich mit dir. Ich zeige dir mal, wie das geht, ich kann dich trainieren, dich richtig fit machen. Wandern wäre auch etwas für dich. Am Samstag, da wird wieder die große Wanderung zum Tegelberg angeboten. Da gehen wir hin, nicht wahr?«
Ohne Luft zu holen, unterbreitete er mir immer neue Vorschläge. Mountainbike fahren sollte ich auch mit ihm. Er würde eine einfache Strecke mit nur geringen Höhenmetern auswählen, mit höchstens vierzig Kilometern für den Anfang. Er würde mich schon mitziehen, schließlich sei er dreifacher Ironman! Da hatte ich den Salat.
Das Geschwätz des Superhelden nahm und nahm kein Ende, es konnte mich aber nicht beeindrucken. Meine Aufmerksamkeit galt dem Essen. Wenn ich Hunger hatte, war ich nicht für Späßchen zu haben, dann sollte man mich besser in Ruhe lassen. Das Einzige, was mich an ihm faszinierte, war die Kunst, ohne Pause zu reden, aber trotzdem den Teller leer zu bekommen. Nicht nur ein Marathonläufer war er, sondern auch noch ein Marathonschwätzer.
Zwischen gedünstetem Fischfilet an Safransoße und Salzkartoffeln wechselte er vom Laufsport zum Radsport und erzählte stolz, dass er drei Räder mitgebracht hatte. Die Route für nachmittags hatte er gut ausgearbeitet, nur das Wetter war ihm drei Grad zu heiß. Anschließend wollte er in den See springen, um zur Abkühlung noch ein paar tausend Meter zu schwimmen.
»Sag mal, Toni, hast du denn nachmittags überhaupt keine Anwendungen?«
Meine restlichen Tischnachbarn grinsten. Angie, die mir gegenübersaß, verdrehte die Augen. Diese Frage hätte ich mir besser verkneifen sollen. Toni holte aus und erzählte mit verschmitzter Miene, während er hastig sein Dessert löffelte, dass er mit seinem Charme die Damen in der Therapieplanung davon überzeugen konnte, dass er nachmittags seine eigene Bewegungstherapie absolvierte und seine Termine nach Möglichkeit auf den Vormittag gelegt werden sollten.
»Der Toni ist schon ein schlauer Fuchs«, meinte Angie. Sie zwinkerte mir zu. »Du glaubst gar nicht, was der sonst noch für Tricks draufhat. Das lernt man alles bei der Polizei.«
Um mich nicht weiter von ihm zutexten lassen zu müssen, widmete ich mich hingebungsvoll meinem Dessert, einer Erdbeercreme mit Schokostreuseln.
»Also Tine, mein Angebot steht«, wandte er sich an mich, dann machte er einen Abstecher an den Nebentisch, an dem er einen neu gewonnenen Sportpartner zum Aufbruch drängte.