Ein Tag wie ein Leben - Arkadi Babtschenko - E-Book

Ein Tag wie ein Leben E-Book

Arkadi Babtschenko

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Beschreibung

Ein Soldat der U. S. Army, der offen über die amerikanische Folterpraxis im Irak spricht. Ein Terroristenführer im Kaukasus, der seinen schwer verwundeten Gegner, einen Glaubensgenossen, rührend pflegt, aber bei dessen ungläubigen Kameraden keine Gnade kennt. Oder der Gefangene, der sich freiwillig zum Strafbataillon meldet, um den unmenschlichen Verhältnissen zu entkommen. Der Krieg trifft die Menschen radikal, zerstört oft auch die, die überleben, seit jeher und überall. Es ist das Bild einer kriegsversehrten Menschheit, das Arkadi Babtschenko in seinen Texten zeichnet, die zugleich Reportage wie große Literatur sind: Eindringlich schildert er den Alltag in gegenwärtigen und ehemaligen Krisengebieten, ob Tschetschenien oder Georgien, ob Vietnam, Afghanistan oder Gegenden, die heute noch unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs leiden. Er porträtiert gebrochene Existenzen, Überlebende, verzweifelte Spieler und, wie nebenbei, verschiedene Charaktertypen der Soldaten, vom ängstlichen Rekruten über den Zyniker bis zum kühlen Berufsmilitär. In «Ein Tag wie ein Leben» zeigt Arkadi Babtschenko, der mit Remarque und Hemingway verglichen wird, eine Welt, in der der Krieg Gesellschaften zerstört – und jeden Einzelnen, den er berührt, mit schicksalhafter Wucht verändert.

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Arkadi Babtschenko

Ein Tag wie ein Leben

Vom Krieg

Aus dem Russischen von Olaf Kühl

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Inhaltsübersicht

Ein kleiner, siegreicher KriegDer Ermittler aus Abu-GhraibKrieg und TrugDem Unrecht ein Feind bis zum letzten TagIch als MahnrufSaschka LajsEin Tag wie ein LebenHeimatland, verrat mich nichtEin Leben auf der WaagschaleSteh auf und fliegRussland und der KriegDer überflüssige Mensch aus der PretschistenkaDer neunte MaiWenn morgen Krieg istDer IdealistDer WehrpflichtigeDer ProfiDer MilitärStalins GegenspielerDer Gauner aus dem StrafbataillonWas kostet ein Soldat?Editorische Notiz
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Ein kleiner, siegreicher Krieg

Der Krieg um Südossetien begann nicht, wie allgemein angenommen, in der Nacht vom siebten auf den achten August 2008, sondern schon etwa eine Woche vorher. Beiderseitigen Beschuss gab es bereits am ersten oder zweiten August, anfangs allerdings nur mit Gewehrfeuer. Georgien verfolgte eine Taktik der Zurückhaltung und war bemüht, sich nicht provozieren zu lassen. Zur Eskalation kam es, als am sechsten August ein georgischer Panzerwagen mit sechs Polizisten in die Luft flog. Die ossetische Seite erklärte, der Panzer sei auf eine Mine gefahren – einen Tag zuvor waren ossetische Zhigulis explodiert, die auf demselben Feld anrollten. Die Georgier sind bis heute überzeugt, dass der Panzerwagen abgeschossen wurde – vermutlich als Rache für die Zhigulis.

Wie dem auch sei, am siebten August setzte Georgien seine Panzerkolonnen in Richtung Südossetien in Bewegung. Wie mir der Journalist Dmitrij Steschin, der sich an diesem Tag auf georgischer Seite befand, später erzählte, hat er diese Kolonnen gefilmt, bis die Flashcard seiner Kamera voll war. Um 23.30 Uhr begann die massive Beschießung Zchinwalis, der Hauptstadt Südossetiens.

Auch Moskau hatte sich frühzeitig auf den Krieg vorbereitet, vor allem in Abchasien. Russische Bahnpioniere hatten die Sanierung der Abzweigung in die abchasische Hauptstadt Suchumi – offenbar zur künftigen Verlagerung von Technik – schon lange vor den Ereignissen begonnen. Auch Zchinwali hatte man nicht abgeschrieben – russische Truppen wurden schon 2007 in Nazran zusammengezogen. Man wartete nur auf einen schwerwiegenden Anlass, um die Armee in die Region schicken zu können.

Und diesen Anlass hat der georgische Präsident Micheil Saakaschwili Moskau zweifellos gegeben.

Nach den Worten des stellvertretenden Generalstabschefs Anatolij Nogowizyn betrugen die russischen Verluste insgesamt vierundsiebzig Gefallene, hunderteinundsiebzig Verwundete und neunzehn Verschollene. Diese Zahlen halte ich für ziemlich genau. Ist das viel oder wenig angesichts der Größe Russlands und der Vertreibung der NATO vom weichen Unterleib?

Ich weiß es nicht. Urteilen Sie selbst.

***

Das nächtliche Wladikawkaz liegt ruhig. Kaum Menschen auf den Straßen, fast keine Militärs, auch wenn Posten an den Kreuzungen stehen. Flüchtlinge sind auch nicht zu sehen. Die Cafés und Restaurants sind geöffnet wie immer. Nur die unmäßig gestiegenen Preise der Flugtickets – es ist sehr schwer geworden, überhaupt einen Flug hierher zu bekommen – zeugen davon, dass jenseits des Gebirgspasses Krieg ist. Und die um das Doppelte gestiegene Flugzeit: Man braucht fast vier Stunden statt der üblichen zwei, schon über Beslan lassen sie Militärflugzeuge vor.

Am Flughafen begrüßt mich Alan, ein Bursche von fünfundzwanzig Jahren. Den Kontakt hat mir Olga Borowa verschafft, eine Kollegin, die nach Georgien geflogen ist. Die beiden haben sich noch in Beslan kennengelernt – Alan hat bei der Geiselnahme damals Kinder aus der Schule getragen.

Unterwegs erzählt er, dass der Tunnel wohl noch nicht gesprengt und nicht besetzt sei, die Lufthoheit habe aber die georgische Luftwaffe – Jagdbomber verfolgen Maschinen mit Volkssturmsoldaten. Bis Dzhawa komme man noch, dahinter sei die Straße gesperrt. Heute sei sein Vater aus Zchinwali zurückgekehrt. Er sei mit seinem Scharfschützengewehr dorthin gefahren. Habe dreizehn Ohren mitgebracht. Das nehme ich ihm nicht ab.

Trubel in der Stadt ist einzig im Regierungsgebäude. Alle Fenster erleuchtet, die Flure verstopft von Menschen, obwohl fast Mitternacht ist, auf dem Platz eine Demonstration – etwa fünfhundert Personen. Alles Frauen. Manche am Rande des Nervenzusammenbruchs. Ich frage Alan, was sie wollen. Sie wollen Krieg.

Ich bekomme Izrail Totoonti, Berater des stellvertretenden Parlamentspräsidenten von Nordossetien, zu fassen. Er skizziert die Situation:

«Die Aushebung der Reservisten läuft, aber nicht unter Zwang, sondern freiwillig. Wir sammeln die Leute über die Wehrkreisämter. Wir nehmen längst nicht alle. Spontane Freiwilligenbewegungen versuchen wir zu stoppen. Es gibt Altersgrenzen – zwanzig bis fünfundvierzig Jahre, jeder Mann muss behördlich erfasst sein und eine Grundausbildung haben. Wenn er geeignet ist, bekommt er den Gestellungsbefehl. Die Weisung dazu stammt vom russischen Verteidigungsministerium. Ich habe diesen Ukaz nicht gesehen, aber ich glaube, es ist tatsächlich so. Das geschieht zur sozialen Absicherung: Wenn, was Gott verhüte, einem der Soldaten etwas passiert, hat die Familie Anspruch auf alle Zahlungen und Vergünstigungen. In Wladikawkaz bekommen die Leute Uniformen, die Waffen selbst werden erst in Dzhawa ausgegeben. Zum Stand Sonnabendmorgen sind ungefähr anderthalbtausend Mann losgeschickt worden. Jetzt werden Munition und Schusswaffen dorthin transportiert – Maschinengewehre, Maschinenpistolen, Granatwerfer. Was die Gefallenen angeht, haben wir keine genauen Zahlen – ich gehe von etwa hundert aus. Neben den offiziell einberufenen Reservisten gibt es auch Freiwillige. Sie werden nicht den ossetinischen Einheiten eingegliedert. Etwa dreihundert Tschetschenen sind auf dem Weg, wir werden sie vielleicht beim Wehrkreisamt von Nordossetien registrieren können. Es gibt Freiwillige aus Wolgograd, Afghanistan-Veteranen. Dreitausend Dagestaner warten auf offizielle Genehmigung – ihr Vertreter ist gerade hier und spricht mit der Regierung. Wie durchlässig die Grenze ist, kann ich nicht sagen, aber Reservisten konnten sie bislang problemlos passieren.»

Morgens um zehn am Freiwilligensammelpunkt das übliche Durcheinander. Nach Zchinwali melden sich weniger, als man hätte erwarten können, vielleicht zweihundert Mann. Überhaupt hat man in Wladikawkaz den Eindruck, dass die Leute Südossetien in jeder Hinsicht unterstützen – übrigens wird hier nicht nach Süd und Nord geteilt, man sagt einfach Ossetien, Alanien –, aber nicht den eigenen Kopf riskieren wollen. Eine Massenbewegung ist nicht zu beobachten. Die Mehrzahl der Leute fährt übrigens nicht über die Wehrkreisämter, sondern auf eigene Faust; aber auch hier kann von einem Andrang nicht die Rede sein.

Ich ziehe Uniform an und melde mich als Freiwilliger beim dritten Zug. In der Liste habe ich die Nummer zwölf. Ich bin der Letzte. Insgesamt werden vier Züge aufgestellt. Die restlichen werden morgen losgeschickt.

Nach den Worten von Zilim Watajew, Chef des gesellschaftlichen Stabs, ist die Aushebung von Freiwilligen für Zchinwali zurzeit eingestellt. Die Weisung dazu kam in der Nacht zuvor. Offiziell sind wir jetzt eine Rettungsbrigade. Unsere Aufgabe ist, die Zivilbevölkerung zu unterstützen und bei der Evakuierung von Flüchtlingen und der Wiederherstellung der Infrastruktur der Stadt Hilfe zu leisten.

Die Freiwilligen bestehen hauptsächlich aus Osseten, wenngleich auch ein paar Kosaken mit Mützen und Peitschen dabei sind sowie der ein oder andere Russe. Drei oder vier davon mit eigener Waffe – Kalaschnikoff-Maschinenpistolen. Allgemeine Stimmung: Wir ziehen für unsere Heimat in den Kampf.

Die bemerkenswerteste Figur – ein russischer Friedenssoldat mit blauem Auge, Matrosenhemd, Barett, greller Tarnjacke und Schnapsfahne. Er war im Urlaub und versucht jetzt, zu seinen Leuten zurückzukommen. Ausländische Journalisten fliegen auf ihn wie Bienen auf den Honig. Er gibt bereitwillig Interviews. Das Gesicht Russlands, sozusagen.

Im Stab gucken sie ihn schief an, verstecken ihn aber nicht vor den Journalisten – dreht ruhig, zum Teufel, wir sind offen für die Medien. Mir als Journalist sagt das viel. Wenn die Menschen sich nicht vor Fragen drücken und nichts verbergen wollen, heißt das, sie fühlen sich im Recht.

Schon in der zweiten Tageshälfte fahren wir los. Fünf, sechs Busse. Sie kursieren ständig, auf der Hinfahrt mit Freiwilligen, Brot und – vor allem – Wasser, auf der Rückfahrt mit Frauen und Kindern. Für unseren Fahrer ist es schon die zweite Tour heute und bestimmt nicht die letzte.

Die schmale, zweispurige Straße schlängelt sich durch eine Gebirgsschlucht. Ossetien ist wunderschön. Die Berge sind niedriger als in Tschetschenien, deshalb weniger streng. Irgendwie ist mehr Leben hier, mehr Friedlichkeit. Alles begrünt. Viel Sonne.

Ab Alagir ist die Straße von Militärgerät versperrt. Die 58. Armee ist unterwegs. In voller Stärke, glaube ich. Die Kolonne erstreckt sich über hundert, wenn nicht mehr Kilometer. Viele liegengebliebene Fahrzeuge. Alles wie immer – die Technik ist in beschissenem Zustand. Ich habe etwa zehn umgekippte Fahrzeuge gezählt. Zwei zivile Ural-Laster, die zusammen vom Steilhang gekippt sind. Die Fahrerkabinen aufgeschlitzt. Das heißt, es gibt schon nichtmilitärische Verluste.

An der Grenze lassen sie jeden durch, ohne Fragen zu stellen, Hauptsache, man hat einen Pass. Die einzige Frage ist die nach Waffen. Aber nicht um sie einem wegzunehmen: Auf dem Rückweg wird man mit der Waffe nicht wieder durchgelassen.

Vor der Teufelsbrücke steht eine Raketeneinheit. Aus der Entfernung ist nicht zu erkennen, ob es sich um Iskander oder um eine Totschka-U handelt, aber es sind beeindruckende Waffen.

Der Rok-Tunnel ist verstopft. Staus in beiden Richtungen. Solange die Armee dort durchzieht, ist er für Zivilfahrzeuge gesperrt. Unsere Kolonne wird problemlos durchgelassen. Der drei Kilometer lange Tunnel ist praktisch unbelüftet. So viel Staub und Abgase, dass man die Fahrbahn nicht einmal im Scheinwerferlicht erkennt. Das Atmen fällt schwer. Zwei havarierte Selbstfahrlafetten stehen im Tunnel. Die Besatzung macht sich an den Motoren zu schaffen, die Gesichter mit Tüchern verhüllt, um die Luft irgendwie zu filtern. Lange werden sie es hier nicht aushalten. Aus der Tragödie im Salang-Tunnel, bei der mehr als zweihundert Menschen erstickten, hat niemand etwas gelernt.

Hinter dem Pass verwandelt sich die Straße in einen einzigen Stau von vielen Kilometern Länge. Wir stehen mehr, als dass wir fahren. Bei den Alanen gelten keine Verkehrsregeln. Jede entstehende Lücke wird sofort genutzt und der Verkehr völlig stillgelegt. Ein Offizier lenkt die Fahrzeuge auf den Randstreifen – eine Kolonne Krankenwagen kommt aus der Gegenrichtung. Verwundete und Flüchtlinge. Fünfundzwanzig Fahrzeuge. Alle zum Bersten voll. Soweit ich erkennen kann, sind es überwiegend Flüchtlinge. Sie werden rausgebracht auf allem, was Räder hat. Die von dort kommenden Fahrzeuge haben zumeist keine Fenster, die Scheiben sind von Splittern zertrümmert. Die Leute hängen wie Trauben an den Lkws.

***

Wenn es stimmt, dass jeder Krieg seinen eigenen Radius hat, dann beginnt der von Südossetien in Dzhawa. Das erste große Dorf hinter dem Tunnel, ein Umschlagplatz. Hier hast du das Gefühl, dass du den Kreis betrittst, die Linie überschreitest.

Alles ist verstopft von Menschen, Bündeln, Kühlschränken, Panzern, Teppichen, Ziegen, Panzerwagen, Autos, Freiwilligen, Soldaten, Taxifahrern, Bettlaken … ein einziges Shanghai. Alle brüllen, rennen, wollen los – dorthin und weg von dort –, klettern in Busse und auf Panzer, man verabredet sich, sitzt starr und verloren herum oder schläft.

In einem Laden kaufen drei Soldaten einen Sack Zwiebeln und einen Sack Tomaten. Erbost und erregt. Die Osseten nennen sie «Ossitiere», die Georgier «Nagetiere». Sie erzählen, dass sie gerade aus der Stadt kommen. Haben Kameraden aus den Kellern geholt – die Vorhut hat schon gestern versucht, nach Zchinwali zu gelangen und ist in einen Hinterhalt geraten. Die Stadt ist bis jetzt nicht genommen. Es gibt lokale Gefechte.

In den Obstgärten pflücken junge, unerfahrene Rekruten Äpfel. Schmutzig, unausgeschlafen, hungrig. Rufe vom Panzerdeck treiben sie zusammen.

In Dzhawa werden die Freiwilligen angehalten. Die Transkam, die einzige Straße, die Nordossetien mit dem Süden verbindet, führt vor Zchinwali durch georgische Dörfer, und die anliegenden Höhenzüge sind immer noch vom Gegner besetzt. Da kommt man nicht durch, die Georgier schießen alles in Brand, was sich bewegt. Heute früh haben sie einen Schützenpanzer und zwei Schischigas (Gaz-66) der 58. Armee abgeschossen – nach dem Abschuss des dritten Flugzeugs unserer Flotte wurde die Luftunterstützung der Kolonnen eingestellt.

 

Ich erwische Zhorik in einem durchschossenen Sanitätsfahrzeug, dem die Windschutzscheibe fehlt.

«Nach Zchinwali?»

Er nickt.

«Durch den Wald?»

Er nickt.

«Werden wir da durchkommen?»

Er zuckt nur mit den Schultern.

Sehr gesprächig ist er nicht. Wir nehmen die Umgehungsstraße von Zar. Hier sagt man aus irgendeinem Grund «durch den Wald», obwohl sie über die Berge verläuft. Es ist ein ganz normaler, ungepflasterter Weg, von Panzerketten gründlich zerfahren. Die Räder wirbeln das feine Staubgemisch auf, durch die zertrümmerte Frontscheibe fliegt es direkt ins Auto. Der zentimeterdicke Staub gelangt in Augen, Mund, Nase und Ohren.

Hier sind wir in fast völliger Einsamkeit unterwegs. Wilde Ortschaften, man weiß nicht, wer dort haust. Heute Morgen – vor zehn Stunden – wurde hier, auf dieser Straße, eine Bataillonskolonne der 58. Armee in Brand geschossen. Fast vollständig vernichtet. Fünfundzwanzig Fahrzeuge. Fünf verwundete Journalisten.

In einer Kurve rammen wir beinahe einen weiteren vom Hang gestürzten Schützenpanzer. Auch hier zusammengebrochene Technik am Randstreifen. Und die Besatzung auf dem Asphalt.

Zhorik ist fünfzig. Die MP auf den Knien, finsterer Gesichtsausdruck, der Wagen voller Gerümpel. Die ganze Fahrt über hat er vielleicht zehn Worte gesagt. Er fährt so schnell er kann, um es vor Einbruch der Dunkelheit zu schaffen. Kaum zu glauben, dass er durch diesen Staub überhaupt etwas sieht. Kamikadse. Ich mag solche Kerle.

Im Laderaum ein Fernseher, in eine Decke gewickelt.

«Wozu brauchst du den Fernseher?»

«Wo soll ich sonst hin mit ihm?»

All meine Habe am Leibe ich trage.

Zwei Typen mit Maschinengewehr treten vor uns auf die Straße und halten uns an. Irgendwie zu gut ausgerüstet für Freiwillige – die laufen immer öfter in gewöhnlicher Tarnkleidung oder Gebirgsjacken herum, die hier haben schusssichere Westen, Helme, Munitionstaschen, Plastikflaschen.

Ich schaue Zhorik an.

«Alles in Ordnung. Die sind von uns.»

Junge Kerle, um die fünfundzwanzig. Gut drauf. Sie haben in der Stadt gekämpft, sind kurz nach Hause gefahren, jetzt zurückgekommen in die vorderste Linie. Siegesstimmung, gerade erst haben sie die Stadt wieder unter Kontrolle gebracht. Auf dem Handy zeigen sie uns eine Aufnahme von georgischen Gefangenen – zehn bis fünfzehn Mann in einem Keller, wegen des Staubs konnte ich nicht viel erkennen. Aber sie erzählen, dass es mehr von ihnen gibt.

Schon an der Stadteinfahrt ein Obelisk am Randstreifen. Im letzten Krieg haben die Georgier hier einen Bus mit Kindern beschossen. Jedes Jahr wird an dieser Stelle eine Totenmesse abgehalten. Solche Sachen.

***

Zchinwali liegt wie ein dunkler, toter Fleck in einer Senke zwischen den Bergen. Schon von weitem erkennt man, wie stark es zerstört ist. Luftwaffe, Artillerie, die Grad-Waffen haben ganze Arbeit geleistet. Gestern soll noch alles gebrannt haben. An manchen Stellen schwelt es bis jetzt.

Immer wieder hämmern die Haubitzen, werden Scharfschützen aktiv. Die Haubitzen dürften von uns sein, sie beackern die umliegenden Hügel. Die Scharfschützen eher nicht – die schießen von den Hügeln aus auf die Stadt.

Ich bitte Zhorik, den Stab der Friedenstruppen zu suchen. Er erklärt sich bereit, wenn auch ungern – offensichtlich kann er sich nur schwer dazu durchringen, uns nachts durch die zerstörte Stadt zu kutschieren. Zu leicht wird man hier beschossen; wer in den Kellern sitzt, weiß man nicht.

Kaum haben wir die lädierten Panzer erreicht, setzt erneut die Artillerie ein. Die Geschosse pfeifen über unsere Köpfe hinweg und schlagen etwa anderthalb Kilometer weiter ein. Ein intensiver Schusswechsel beginnt.

«Verflucht, weg hier.»

Wir springen in den Sanitätswagen und verdrücken uns … in die Nachbarstraße. Zu ihm nach Hause.

Das Haus ist mehr oder weniger unversehrt. Zwar ohne Fenster und Türen und von Splittern gezeichnet, aber es steht noch. Zhorik wohnt allerdings nicht dort, er übernachtet bei einem Nachbarn auf der anderen Straßenseite – der hat einen Keller.

Dem Nachbarn ist nur der Keller geblieben. Zwei Raketeneinschläge – eine flog in den Hof, die andere zielgenau ins Haus. Auf dem Hof ein ausgebrannter Lada 110, im Haus schwelt es noch immer – die Glut, die von der Zimmerdecke fällt, krempelt die Nüstern auf, wie in einer guten Sauna, man muss sich ducken. Im Licht eines Streichholzes steigen wir die Treppe hinunter.

Der Keller ist eher eine unterirdische Speisekammer. Eng und klein. Alles vollgestellt mit Kompottgläsern – nach hiesigen Maßstäben ein Reichtum. Sonst nichts; kein Wasser, kein Licht, keine weiteren Lebensmittel. Die Menschen ernähren sich ausschließlich von der humanitären Hilfe, die von Freiwilligen gebracht wird – jeder, der nach Zchinwali fährt, lädt sein Auto voll, auch die russische Armee.

Am schlimmsten ist der Wassermangel. Die Rohrleitung ist schon zwischen den Mauern zerschossen, dort plätschert ein kräftiger Wasserfall heraus. Kaltes Wasser, schmackhaftes … Man will endlich trinken.

Zwischen den Gläsern ein Holzgestell mit Matratze für eine Person, Tischchen und Kerze.

«Guten Abend», grüße ich.

«Was heißt hier gut? Das haben sie geschafft, die Schweinehunde. Die ganze Stadt in Trümmern.»

Der Hausherr – ein Mann von sechzig Jahren. Intelligent. Anders als die Jugend spricht er ungezwungen und fehlerfrei Russisch. Und ohne Mutterflüche.

Man bietet mir an zu bleiben, aber ich will lieber auf die Suche nach den Friedenstruppen gehen. Ich will Zhorik Geld geben – nimm, schließlich musst du tanken. Er nimmt es nicht. Ist aber hin- und hergerissen, sieht aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Ich lege das Geld auf die Bank und gehe. Wenn ich niemanden finde, komme ich zurück, verspreche ich.

Bei den Panzern ein Zug Volkssturm. Es sind nicht zwei Panzer, sondern drei. Einen hat der Sekretär des Sicherheitsrats von Südossetien, Anatolij Barankewitsch, persönlich abgeschossen. Von ihm ist nicht mehr geblieben als die Raupenkette, ein Stück Stahlplatte mit zwei Walzen, und Bodentrichter. Der von der Explosion abgesprengte Turm hat das Vordach des Hauses aus zwanzig Meter Höhe durchschlagen. Der Rest ist in kleinen Fetzen in einem Umkreis von zweihundertfünfzig Metern niedergegangen. Die beiden anderen sind von der Explosion des ersten Panzers detoniert.

«Ej, Arkan, dort ist der georgische Panzerfahrer», zeigt man mir mit den Füßen. «Der dient jetzt als Hundefutter. Willst du fotografieren?»

Leichenschänder habe ich nie gemocht. Über den Tod macht man keine Witze. Ich habe das alles nicht miterlebt. Habe ich das Recht? Am Ende entschließe ich mich doch zu den Aufnahmen. Schließlich bin ich genau deshalb gekommen. Moralisieren kann man in Moskau. Ich mache ein paar Fotos. Im Blitzlicht erkennt man noch einen menschlichen Brustkorb ohne Körper. Rote, verschmorte Haut straff über den Rippen.

Weiter in die Stadt hinein soll ich mich nicht wagen – eingenommen sei sie schon, aber die endgültige Säuberung stehe noch aus. Über unseren Köpfen rascheln wieder Geschosse, gehen am Stadtrand nieder. Die Alanen bieten an, bei ihnen im Keller zu übernachten. Vermutlich die beste Lösung. Aber erst muss ich noch das Tor mit dem Emblem der Friedenstruppen hundert Meter weiter überprüfen.

Hinter der Tür sind schon Leute. Ein halber Zug Volkssturm.

«Jungs, wo sind die Journalisten, wisst ihr das nicht?»

«Liefen noch in der Stadt rum …»

«Und das Pressezentrum, der Stab oder wenigstens irgendein Kommando?»

«Dort, das erleuchtete Haus. Alles dort.»

Am Eingang gut zehn Offiziere. Ich stoße sofort auf Wladimir Iwanow, den Pressesekretär der Friedenstruppen. Er ist zu Tode erschöpft. Er trägt meinen Namen in sein Heft ein.

«Woher?»

«Von der Nowaja Gazeta.»

«Oh, die kennen wir. Wieder die Armee mit Scheiße übergießen, was? Was wirst du schreiben?»

«Keine Ahnung. Ich werde schreiben, was ich sehe.»

«Na egal … Wegjagen werde ich dich nicht. Zieh los.»

Man führt mich in die Kantine. Gibt mir einen Teller Weizengrütze, Fleisch und ein Ei. Tee gibt es nicht. Ich hätte in Wladikawkaz eine Kiste Mineralwasser kaufen sollen. Aber wer konnte das wissen.

Ich setze mich zu einem Major an den Tisch, der ebenfalls völlig am Ende ist. Er erzählt, wie sie zwei Tage lang beschossen wurden.

«Viele Gefallene?»

«Ja.»

«Wie viele?»

Der Major windet sich: «Das Bataillon existiert nicht mehr …»

«Also wie viele? Dutzende? Hunderte?»

«Dutzende. Zwei Schützenpanzer standen auf der Straße. Sie hatten den Befehl, nicht das Feuer zu eröffnen. Sie verbrannten. Dort waren fünfundzwanzig Mann. Und dann noch welche …»

Offiziell spricht man von achtzehn Gefallenen. Spätere Angaben gehen auf elf runter.

Den Schlafplatz richte ich mir auf dem Kantinenboden ein. Es ist kühl, aber der Raum wirkt stabil – Betondecke über dem Kopf, feste Wände. Ich breite meine Matratze in einer Ecke aus, lege mich hin, lockere für die Nacht nur die Schnürsenkel. Meine Flanke versuche ich mit einem Tisch zu schützen – er ist stabil, mit Metallbeinen. Sorgen macht mir das Fenster – bei einer Explosion können Glassplitter fliegen, aber dann sehe ich genauer hin und stelle fest, dass schon längst keine Scheiben mehr darin sind.

***

Nachts nimmt ein Scharfschütze einen Soldaten auf dem Abort ins Visier. Mit dem einzigen Erfolg, dass der Soldat sich einmal richtig erleichtert.

***

Schon am frühen Morgen fährt Wladimir eine Gruppe Journalisten zum Filmen durch Zchinwali. Getötete friedliche Zivilisten, die Zerstörung der Stadt, das Krankenhaus mit Verwundeten, Vergabe von Wasser durch die russische Armee. Unsere Antwort auf Chamberlain, kurz gesagt.

Bei Tageslicht sieht man, dass die Stadt nicht so stark zerstört ist, wie es ursprünglich schien. Kein Vergleich mit Grozny. Aber abgekriegt hat mehr oder weniger jedes Gebäude etwas. Die Straßen sind übersät von Eisenteilen, Ästen, Ziegelsteinen oder sogar Mauerstücken. An manchen Orten strömt Wasser. Hier und da Erschossene und verbrannte Fahrzeuge. Und Krater, Krater, Krater …

Humanitäre Hilfe wird in der Nähe des Bahnhofs geleistet, vor einem Hotel. Hier sind bis jetzt Kinder zu finden. In den Wänden Einschusslöcher, auf dem Boden Schrott, Glassplitter, irgendwo ist eine hängende Decke heruntergestürzt, überall Zementstaub. Brandgeruch. Am Registrierungsstand Brotscheiben und leere Wasserflaschen. Die Evakuierung läuft, Lastwagen werden mit Flüchtlingen beladen.

Auf dem Fensterbrett ein Fernsehgerät. Die Olympischen Spiele. Alles grell und bunt. Die Moderatorin verzückt. Die Kommentatoren verzückt. Die Leute teuer gekleidet, lächelnde Gesichter, aufgeblasene Wangen. In welcher Welt leben diese Menschen?

An der Stadtausfahrt erneut zwei abgeschossene Panzer. Ein Stück weiter, an der Kurve, verbrennen zwei Volkssturmsoldaten die Leiche eines gefallenen Georgiers. Nicht aus Hass. Ihnen gefällt selbst nicht, was sie da tun. Aber die Hitze lastet, niemand beerdigt die Leichen, und schon wabert Gestank durch die Straßen.

Die Beugemuskeln sind stärker als die Streckmuskeln; wenn sie sich verkürzen, verkrümmt sich der Körper zu einem gespannten Bogen. Vom Feuer ist der Bauch des Gefallenen aufgebläht wie ein Ballon. Der Mann will nicht brennen, sie legen Zweige ins Feuer. Bislang sind nicht einmal die Beine verbrannt.

Fotografieren? Nein. Ach, zum Teufel … Ihr habt eure Sorgen, ich habe meine. Das hier müssen alle sehen. Ich stelle mich auf den Bordstein und fotografiere in Großaufnahme. Mit Augenhöhlen und allen Einzelheiten. Rotes, angebranntes Fleisch kriecht ins Objektiv.

Empfindungen? Absolut keine. Wie schnell sind alle moralischen Verbote in mir abgestumpft. Das ist das Abscheulichste – dass man den Tod wie einen Job betrachtet.

Zerstörungen wollen wir im Bezirk der Schule Nr. 12 aufnehmen. Fünf, sechs fünfgeschossige Plattenbauten am Stadtrand. In einem Hauseingang Geheul. Man ruft uns dorthin. Keiner der Journalisten will gehen.

«Wozu seid ihr dann hergekommen?»

«Okay», ich spucke die Zigarette aus, «los.»

In zwei Wohnungen drei in Bettlaken verschnürte Menschen: Eduard Gaglojew, Zalima Gaglojewa-Tibilowa, Dina Kadschojewa. Fotos von oben. Das ist alles. Mehr ist nicht geblieben. Sie haben versucht, in Pkws aus der Stadt zu fliehen, sind erschossen und verbrannt worden.

Dieser Bezirk wurde anfangs von Grad-Geschützen bearbeitet, dann rückte die Infanterie ein – die Frauen erzählen, wie sie in den Kellern saßen, über ihren Köpfen gingen die Georgier vorbei, und sie konnten nur beten, dass kein Säugling schreien würde. Acht Menschen sind in diesem Haus gestorben.

Ich schätze, diese Zahlen kommen hin – die Grad hat weniger eine Spreng- als eine Splitterwirkung, die Häuser sind stark beschädigt, aber keines von ihnen so sehr, dass man von Dutzenden Leichen unter den Trümmern sprechen müsste. Von Tausenden Toten kann nicht die Rede sein. Nach meiner Schätzung sind es in diesem Bezirk hundertfünfzig, zweihundert, dreihundert Menschen. Keine Tausende.

Ich versuche nicht, irgendjemanden zu verteidigen oder zu entlasten. Die Beschießung einer Stadt mit Massenvernichtungsmitteln ist fraglos ein Verbrechen. Aber ich versuche, objektiv zu bleiben. Über Tote spekuliert man nicht.

Auch von Massenhinrichtungen oder ethnischen Säuberungen kann hier nicht die Rede sein. Auf die friedlichen Bewohner hat man einfach keine Rücksicht genommen – wer starb, starb, richtiger gesagt, je mehr starben, desto besser, aber was Russland in Tschetschenien angerichtet hat, gab es hier nicht: keine Filtrierpunkte, kein Tschernokosowo und nicht das berüchtigte Folterbüro ORB-2. Vielleicht reichte die Zeit dafür einfach nicht. Aber es bleibt eine Tatsache.

Ebenso wie am folgenden Tag keine Massenhinrichtungen und Massaker an Georgiern auf der Transkam stattfanden. Vielleicht weil sie alle schon weg waren. Aber auch das ist eine Tatsache. Wenngleich man alles gründlich geplündert und in Brand gesteckt hatte.

Wobei, immerhin – die drei mit einem Bettlaken Gefesselten. Immerhin, der Keller, in dem sich friedliche Menschen versteckten und in den von oben, von der Treppe her, die Georgier schossen. Immerhin, der Leichnam eines Achtzehnjährigen in einer Garage, von einem Scharfschützen erschossen, der nicht wissen konnte, auf wen er zielte. Immerhin, der von einem Panzer zu einem Fladen zerquetschte Lada Samara. Immerhin, meterlange Splitter der Grad, überall verteilt.

Auf dem Rückweg kommen wir am Standort eines Bataillons Friedenstruppen vorbei. Die Kaserne ist praktisch niedergerissen. Die verbrannten Schützenpanzer stehen weiterhin da – nicht nur zwei, drei. Gefeuert haben sie bis zuletzt nicht. Ein weiterer drinnen. Dazu der Panzer an der Kaserne. Die Georgier haben mit direktem Feuer draufgehalten, es gelang ihnen sogar, in den Standort einzudringen – sie näherten sich von der Seite des Fahrzeugparks und schossen aus Panzerkanonen. Brannten alles bis auf die Fundamente nieder. Hier hat ein grausamer Kampf stattgefunden. Die Friedenstruppen schickten Scharfschützen aufs Dach und beschossen die Infanterie. Als es im glutheißen Keller nicht mehr auszuhalten war, wagten sie den Ausbruch. Sie hatten gerade die erste Kette der Angreifer durchbrochen, da stießen sie schon auf die zweite. Durchbrachen auch sie. Dabei, heißt es, sei ein Mann gefallen. Verwundet wurden mehr oder weniger alle. Sie zogen sich in ein Gehölz zurück und hielten die Rundumverteidigung, bis die Armee anrückte.

Ich bitte Wladimir anzuhalten, damit ich die Schützenpanzer aufnehmen kann. Er ist unwillig: «Wozu das? Haben sie doch schon auf allen Sendern gezeigt.» Ich verstehe ihn. Wladimir ist ein guter, offenherziger Mensch. Er macht nur seine Arbeit. Der Führung ist nicht an einer objektiven Beleuchtung der Ereignisse gelegen. Gewünscht ist Agitprop – Bilder von der Aggression der Georgier, von getöteten Kindern, von der zerstörten Stadt. Dass die 58. Armee mit nur einem einzigen Bataillon in Marschkolonne einmarschiert ist, soll möglichst nicht erwähnt werden. Dass die Georgier fast zwei Tage lang die Lufthoheit innehatten, wird verschwiegen. Die Zahl der Getöteten wird nicht genannt. Verbranntes russisches Militärgerät soll besser nicht gefilmt werden. Getötete georgische Militärs sollen auch nicht gezeigt werden.

Die Korrespondenten vom Ersten Fernsehkanal interessieren sich für Lagerstätten mit den Leichnamen friedlicher Bewohner. Kinder am besten. Diese Sensationsgier ist so unübersehbar, dass sogar die uns begleitende ossetische Journalistin aus der Haut fährt: «Hört auf mit dem Unsinn! Was für Leichen? Die werden alle von ihren Verwandten abgeholt und begraben! Kein Wort mehr von Leichen!»

An der Mauer einer Schule liegt ein georgischer Soldat. Der Leib ist aufgedunsen, Kopf, Brust und Arme sind von der Hitze vollkommen schwarz geworden. Ein schwer erträglicher Geruch. Gut, dass ich seit dem Morgen nichts gegessen habe.

In der benachbarten Straße noch einer, neben einem weiteren ausgebrannten Panzer. Der Kopf durchstochen, eine Plastiktüte darübergezogen – damit man nichts sieht. Im umgekippten Helm daneben etwas Rot-Graues. Nicht weit davon noch fünf Leichen – jemand durchsucht sie der Reihe nach, mit abgewandtem Kopf. Er will die Papiere.

Ein Stück weiter noch einer. Auf dem Platz dann verbrannte Panzerfahrer. Dort bereits viel Volks, außerdem Soldaten und Volkssturm. Sie knipsen. Ich selbst fotografiere inzwischen ungehemmt, aus verschiedenen Blickwinkeln. Das Brustbein eines der Fahrer ist nicht mehr zu erkennen, über Nacht haben die Hunde es völlig zerbissen. Ich spüre überhaupt nichts mehr. Pfeif drauf.

An einem Pfosten das Schild: «Moderne Geisteswissenschaftliche Universität. Moskau. Zweigstelle Zchinwali.» An der Modernen Geisteswissenschaftlichen habe ich studiert. Bachelor für Internationales Recht. Lustig.

***

Insgesamt habe ich an diesem Tag sieben abgeschossene georgische Panzer und etwa dreißig Leichen gezählt. Dem Gestank nach zu urteilen liegen im Dickicht noch ein paar mehr. Dort hat unsere Luftwaffe die Georgier beharkt.

Zerpflückte Technik. Verbrannte Häuser. Das Krankenhaus überfüllt. Kinder auf Lastkraftwagen. Zhorik im Keller. Die Leiche in der Garage. Verbrannte Frauen in Stoffsäcken. Ein verbrannter georgischer Fuß in einem Panzer. Die brennende Leiche eines Georgiers. Fünfundzwanzig bei lebendigem Leib in Schützenpanzern verbrannte Soldaten. Zum Teufel, warum immer alles verbrannt? Hitze. Staub. Wenn es wenigstens Wasser gäbe … Russland im Krieg mit Georgien. In welchem Albtraum hätte man sich das je vorstellen können?

Ich springe auf den Panzerwagen zu den Jamadajew-Leuten und fahre zur Säuberung. Der Bildredakteur unserer Zeitung, Artem, gebürtig aus Tiflis. Ich komme mit dem Panzer zu dir, Artem! Und du empfange mich mit der Panzerbüchse …

Da haben sich ein paar Dumme gefunden.

***

Das tschetschenische Bataillon «Wostok» war schon vor drei Monaten in Zchinwali. Dieses Mal ist es am neunten August gekommen. Es hat den beherrschenden Gipfel «Pauk» eingenommen und die georgischen Sondereinheiten von dort vertrieben. Jetzt machen sie sich wohl daran, die georgischen Dörfer entlang der Transkam zu säubern und die Reste der dort verschanzten georgischen Armee zu vertreiben.

Die Stadt ist gerammelt voll von russischer Technik, sie verteilt sich jetzt auf die Positionen. Aber der Großteil ist immer noch auf dem Weg.

Sulim Jamadajew steht neben einem metallicfarbenen Minibus des Modells Barguzin mit getönten Scheiben. Ziemlich groß, etwa fünfunddreißig Jahre, das Gesicht von Pulvernarben übersät, wie nach einer Granatenexplosion in unmittelbarer Nähe. Ruhig, nicht auffahrend, wenngleich leicht posierend. An der Brust der Heldenorden.

In einer nicht sehr großen Kolonne setzen wir uns in Bewegung. Fallschirmjäger aus Pskow, 693. Regiment, selbstfahrende Artillerie, Panzer.

Der getötete Georgier ist noch immer nicht verbrannt – die Leiche liegt weiter an der Kurve. Die Bauchmuskeln sind durchgebrannt, und aus der Leiste ragt ein Knäuel verschmorter gelber Gedärme hervor. Der Geruch aus dem Dickicht ist ganz und gar übelkeiterregend geworden.

Die Luftwaffe bearbeitet derweil das Vorgebirge in Georgien. Die Jagdbomber werden sofort von Raketen begrüßt – zwei, drei, vier Stück. Das ist ein ernstzunehmender Angriff, Rauchspuren schwärzen den halben Himmel. Bestimmt wieder die ukrainischen «Buki». Sie verfehlen ihr Ziel. Doch von nun an steigen die Raketen ununterbrochen auf.

«Ja! Abgeschossen!» Auf dem neben uns fahrenden Motorschlitten springen sie auf, reißen die Köpfe hoch, starren in den Himmel. Ich gucke auch. Gegen die Sonne ist kein bisschen zu erkennen.

«Was ist dort?»

«Abgeschossen! Am Schwanz zerbrochen! Die Piloten haben sich rauskatapultiert – beide …»

In der Richtung, aus der die Raketen kamen, steigt eine schmutzig weiße Rauchsäule auf. Abgestürzt … Ich erwarte, dass wir uns sofort zu den Piloten aufmachen, doch das ist nur im amerikanischen Kino so – Rettungsaktionen und «Schwarze Falken». In der russischen Wirklichkeit: abgestürzt, na und?

Unterwegs verbrannte und zerstörte Pkws. Viele davon. Einer platt gewalzt von einem Panzer. Dann kommen ausgebrannte Schützenpanzer. Es sind unsere. Die besagten, von der 58. Armee, die in einen Hinterhalt geraten waren. Ich zähle insgesamt vier. Die übrigen sind offensichtlich an der Abzweigung nach links gefahren und erst dort in Flammen aufgegangen.

Von Zeit zu Zeit geraten wir in die Reichweite von Leichengeruch. Wenn wir in so einem Dunstkreis stehen bleiben, füllt eine klebrige Substanz Mund, Nase und Lungen.

Im Gebüsch noch zwei Leichen. Nicht von uns.

Das «Wostok» fährt auf drei Schützenpanzern, drei Motorschlitten und zwei Kamaz-Lastern. Die Motorschlitten und ihre Fahrer wurden von der russischen Armee gestellt. Die Schützenpanzer sind Beutestücke – die Georgier haben sie während der Säuberungen zurückgelassen. Auf der Panzerung steht mit weißer Farbe: «Tschetschenen», «Jamadajew-Leute», «Wostok».

Gemeinsam mit Tschetschenen auf einem Panzer zu fahren ist gelinde gesagt ungewöhnlich. Ich versuche, mich aus den Gesprächen herauszuhalten. Vom ersten Eindruck her sind es die reinsten Räubertypen: bärtige Gesichter, grüne Stirnbinden. Sie rufen: «Allahu akbar!»

Die Alanen begrüßen die Tschetschenen als Befreier. Ein alter Mann hat eine Fünfzig-Liter-Flasche Wein angeschleppt. Die russische Armee, ganz im Gegenteil, schaut unfreundlich. Antwortet nicht auf Zurufe. Im besten Falle blickt sie uns gleichgültig nach, öfter aber feindselig. Ganz selten, dass mal einer der Rekruten lächelt.

Neben mir sitzen: Wacha mit Bart und grüner islamischer Mütze; Artur mit Goldkronen anstelle der Vorderzähne; Ibrahim, ein finsterer Scharfschütze mit dem Gesicht eines Banditen; und Chitryj, ein drolliger junger Kerl. Alle ganz jung, keiner über dreißig, alle sind 2003 ins Bataillon gekommen und haben noch keinen Krieg erlebt. Mit Chitryj werde ich besonders rasch warm.

Es gibt aber auch welche, die schon im Ersten Tschetschenienkrieg gekämpft haben. Mit denen rede ich nicht.

Den Namen eines anderen Burschen kann ich beim besten Willen nicht verstehen. Kumyk von Nationalität, spricht er nur Russisch, aber das Dröhnen des Motors übertönt alles.

«Hör mal, hast du den Hadschi Murat überhaupt gelesen?», fragt er. «Genauso heiße ich. Nur Gadschi.»

Da hast du die Kinder der Berge. Gleich wird er dich nach dem Dualismus des Wolkonskij fragen. Den Hadschi Murat habe ich nicht gelesen.

Zwei Wagen überholen uns. Auch darauf bärtige Männer mit grünen Binden. Die Tschetschenen grüßen einander unterkühlt. Die Beziehungen sind sichtlich angespannt.

«Wer sind die?», frage ich Wacha.

«Kadyrow-Leute. Das Bataillon ‹Zapad›. Sind auch hier …»

Mehr war vom «Zapad» nicht die Rede. Später sagte einer von Jamadajews Vertretern, dass die Kadyrow-Leute nicht nach Georgien gegangen seien: Sie hätten auf alles gespuckt und seien mit den Worten «Das ist nicht unser Krieg» wieder abgehauen.

Der Motorschlitten will nicht geradeaus fahren, ruckelt immer wieder. Der Fahrer fummelt ständig am Motor. Schließlich geht er endgültig kaputt. Und wir sind gerade mal drei Kilometer weit gekommen.

Ich steige in einen anderen um. Den Fahrer lassen wir mit dem Fahrzeug zurück. Er ist nicht der Einzige. Die Kolonne fährt weiter, wie Schlammfetzen von der Raupenkette fliegt versagendes Material von ihr ab und bleibt am Straßenrand liegen. Der nächste Panzer ist nur dreihundert Meter entfernt. Ganz in der Nähe eines weiteren ausgebrannten Schützenpanzers.

Bei diesem Motorschlitten ist der Antrieb in Ordnung, dafür gibt es Probleme mit den Bremsen – sie blockieren sofort. Wir werden auf der Panzerung herumgeschleudert wie Socken in der Waschmaschine. Dafür ist unser Fahrer ein toller Kerl – Anton Tocha.

«Dein eigenes Fahrzeug oder von der Armee?»

«Meins.»

«Wieso dann in so einem Zustand?», frage ich geradeheraus, weil ich sehe, dass er den Wagen liebt.

«Aaah», winkt Tocha ab. Die technischen Mängel kompensiert er durch seine Fahrkünste. Tocha ist Zeitsoldat, aber auch erst etwa zwanzig Jahre alt. Anderthalb Jahre hat er schon gedient, bleiben noch weitere anderthalb.

«Diesel gibt’s auch nicht», brummelt er. «Und die Tanks schalten nicht immer um.»

Wir versuchen, die vorbeifahrenden Tankwagen anzuhalten, aber sie hören nicht – für die Abgabe von Treibstoff ist ein Befehl nötig.

Hetagurowo, ein großes ossetisches Dorf, das letzte vor der georgischen Enklave, erreichen wir ohne Probleme. Das Dorf ist aufgegeben, alle Häuser sind zugesperrt, die Bewohner über alle Berge. Erst war es von den Georgiern aus Minenwerfern beschossen worden, nach den Georgiern beharkten es unsere Leute mit der Grad. Offensichtlich ging alles auf die Ortsränder, denn man sieht keine Zerstörungen, die Hauptstraße ist absolut unversehrt. Nur leer. Und die Kirche steht noch.

Wir durchstöbern die Höfe, suchen nach Brunnen. Niemand betritt die Häuser. Einen Brunnen finden wir ein Stück weiter. In Eile nehme ich Wasser auf, die Kolonne setzt sich schon in Bewegung. Es werden gerade mal siebenhundert Gramm. Für jeden nur ein Schluck.

Als wir schon fast abfahren, taucht die Aufklärung auf – vom Ende der Kolonne. Rechtzeitig. Was immer hier jemand hätte in die Luft jagen wollen, sie hätten es längst in die Luft gejagt.

An der Kolonne auf und ab fährt ein Offizier auf einem gepanzerten Truppentransporter, auf der Suche nach den Artilleristen.

«Männer, wo sind die Selbstfahrlafetten?»

«Weiß der Teufel. Irgendwo waren sie.»

«Mist, hab doch gesagt, das ist nicht unsere Kolonne!»

Mit einem Wort, alles so wie immer. Keine Funkverbindung, keine Geländeorientierung, kein Verständnis der Lage und der Aufgaben. Hetagurowo – wo liegt das überhaupt? Ist der Gegner hier oder nicht? Sind unsere Leute hier oder nicht? Ja, weiß der Teufel, Genosse Fähnrich.

Hinter dem Dorf aufgegebene Posten der Friedenstruppen. Offene Schützengräben, ordentliche Zelte, gehisste Flaggen, aber keine Menschenseele. Zwei Hubschrauber geben Geleitschutz und beschießen die Heuhaufen am Wegrand. Für alle Fälle offenbar. Das beruhigt ein bisschen. Obwohl eine dauerhafte Luftunterstützung nach wie vor fehlt.

Furchtbarer Staub. Die graue Substanz sträubt die Haare wie im Raureif. Zwischen den Zähnen knirscht es. Ich ziehe die Kapuze über und lasse den Mückenschutz herunter. Das hilft ein bisschen.

Wir kommen nur mühsam voran. Zehn Minuten fahren, eine halbe Stunde Stillstand. An einem kaputten Bewässerungsgraben können wir endlich einmal anständig trinken. Das Wasser ist sauber, auch wenn es über die Erde fließt – der Graben muss ganz in der Nähe aufgebrochen sein.

«Männer, vielleicht trinken wir Wein?», schlage ich vor.