Im Rausch - Arkadi Babtschenko - E-Book

Im Rausch E-Book

Arkadi Babtschenko

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Beschreibung

Arkadi Babtschenko kennt als ehemaliger Soldat die russische Armee aus ihrem Innersten; als kritischer, verfolgter Autor lebt er seit Jahren in der Ukraine und im Exil. Mit dieser einzigartigen Binnensicht beider Seiten schreibt er über die Situation seit 2014, wie niemand sonst es vermag – leidenschaftlich persönlich, stilistisch brillant und mit größter Kenntnis: Da sind die staatsnahen Medien, die mit Trash und Nationalkitsch einen «russischen Infantilismus» heranzüchten, ohne Würde und Scham. Die russischen Siegestage, die nur die Vergangenheit feiern – keine Zukunft. Diese wird, in Gestalt unzähliger toter Soldaten, doppelt totgeschwiegen. Babtschenko schreibt über Putins Verblendung, die ganz Russland ergriffen hat, über konkrete Schwächen in Material und Strategie und leitet daraus, von Anfang an, verblüffend genaue Vorhersagen ab. Vom 24. Februar 2022 an verdichten sich seine Texte in ein Tagebuch über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, den entscheidenden Konflikt der Gegenwart, der die Welt jetzt schon tiefgreifend verändert hat; es wirft Licht auf die Ereignisse und schildert sie mit einer sprachlichen Verve, die ihresgleichen sucht, klarsichtig und doch mit größter Nähe.

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EPUB

Seitenzahl: 354

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Arkadi Babtschenko

Im Rausch

Russlands Krieg

 

 

Aus dem Russischen von Olaf Kühl

 

Über dieses Buch

Arkadi Babtschenko kennt als ehemaliger Soldat die russische Armee aus ihrem Innersten; als kritischer, verfolgter Autor lebt er seit Jahren in der Ukraine und im Exil. Mit dieser einzigartigen Binnensicht beider Seiten schreibt er über die Situation seit 2014, wie niemand sonst es vermag – leidenschaftlich persönlich, stilistisch brillant und mit größter Kenntnis: Da sind die staatsnahen Medien, die mit Trash und Nationalkitsch einen «russischen Infantilismus» heranzüchten, ohne Würde und Scham. Die russischen Siegestage, die nur die Vergangenheit feiern – keine Zukunft. Diese wird, in Gestalt unzähliger toter Soldaten, doppelt totgeschwiegen. Babtschenko schreibt über Putins Verblendung, die ganz Russland ergriffen hat, über konkrete Schwächen in Material und Strategie und leitet daraus, von Anfang an, verblüffend genaue Vorhersagen ab. Vom 24. Februar 2022 an verdichten sich seine Texte in ein einzigartiges Tagebuch über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, den entscheidenden Konflikt der Gegenwart, der die Welt jetzt schon tiefgreifend verändert hat; es wirft Licht auf die Ereignisse und schildert sie mit einer sprachlichen Verve, die ihresgleichen sucht, klarsichtig und doch mit größter Nähe.

Vita

Arkadi Babtschenko, 1977 in Moskau geboren, kämpfte in den Tschetschenienkriegen. Später schrieb er für die «Nowaja Gazeta», u. a. als Kriegskorrespondent. Seit 2017 lebt er im Exil. 2018 wurde ein tödlicher Anschlag auf Babtschenko in Kiew gemeldet – laut ukrainischem Geheimdienst eine Inszenierung zum Schutz vor russischen Verfolgern; der Fall sorgte international für Aufsehen. Babtschenkos Bücher wie «Die Farbe des Krieges» (2007) zählen zu den bedeutendsten Werken der jüngeren Kriegsliteratur.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Copyright © 2022 by Arkadi Babtschenko

Diese Ausgabe folgt der von Ola Wallin edierten schwedischen Ausgabe im Ersatz Verlag, Stockholm, August 2022

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Colin Hutchings/Arcangel

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01662-0

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Inhaltsübersicht

Prolog

14. April 2014

Erster Teil Das Virus des Krieges

Das Virus des Krieges

Dämmerung

Nächste Haltestelle Blutbad

Willkommen, Krimbewohner!

Geburt einer Armee

Wiedergänger

Früher in solchen Fällen

Ist da noch wer?

Talkshow

Zurück in die Steinzeit

Russischer Infantilismus

Tag des Sieges

Russische Feiertage

Marsch der auferstandenen Toten

Der Nächste bitte

Höflichkeiten

Totale Entspannung

Sterbensangst

Neue Staaten

Cargo-Kult

Worauf Russland stolz sein kann

Moskowien

Zweiter Teil Die Invasion

23. Februar 2022, 23.31 Uhr

24. Februar 2022, 8.43 Uhr

24. Februar, 10.13 Uhr

24. Februar, 11.09 Uhr

24. Februar, 12.53 Uhr

24. Februar, 13.39 Uhr

24. Februar, 14.13 Uhr

24. Februar, 15.26 Uhr

24. Februar, 16.14 Uhr

24. Februar, 18.01 Uhr

24. Februar, 22.37 Uhr

25. Februar, 10.36 Uhr

25. Februar, 12.26 Uhr

25. Februar, 16.20 Uhr

25. Februar, 21.35 Uhr

25. Februar, 23.15 Uhr

26. Februar, 8.14 Uhr

26. Februar, 13.02 Uhr

26. Februar, 14.19 Uhr

26. Februar, 20.46 Uhr

26. Februar, 23.12 Uhr

27. Februar, 9.14 Uhr

27. Februar, 14.19 Uhr

27. Februar, 16.21 Uhr

27.  Februar, 17.27 Uhr

27. Februar, 19.07 Uhr

27. Februar, 21.27 Uhr

28. Februar, 0.04

28. Februar, 8.26 Uhr

28. Februar, 10.10 Uhr

28. Februar, 18.56 Uhr

28. Februar, 22.20 Uhr

1. März, 8.49 Uhr

1. März, 10.30 Uhr

1. März, 12.23 Uhr

1. März, 13.13 Uhr

1. März, 15.34 Uhr

1. März 16.26 Uhr

1. März, 18.23 Uhr

1. März, 21.22 Uhr

2. März, 6.49 Uhr

2. März, 9.37 Uhr

2. März, 11.03 Uhr

2. März, 13.41 Uhr

2. März, 15.29 Uhr

2. März, 17.02 Uhr

2. März, 17.46 Uhr

2. März, 22.27 Uhr

3. März, 13.58 Uhr

3. März, 14.48 Uhr

3. März, 17.02 Uhr

3. März, 20.26 Uhr

4. März, 8.49 Uhr

4. März, 10.47 Uhr

4. März, 12.10 Uhr

4. März, 15.40 Uhr

4. März, 19.07 Uhr

4. März, 21.58 Uhr

5. März, 0.06 Uhr

5. März, 9.39 Uhr

5. März, 11.25 Uhr

5. März, 13.24 Uhr

5. März, 14.36 Uhr

5. März, 16.37 Uhr

5. März, 19.50 Uhr

5. März, 23.36 Uhr

6. März, 10.35 Uhr

6. März, 13.09 Uhr

6. März, 16.07 Uhr

6. März, 20.08 Uhr

7. März, 09.54 Uhr

7. März, 13.33 Uhr

8. März, 14.03 Uhr

8. März, 20.19 Uhr

9. März, 9.59 Uhr

9. März, 16.13 Uhr

9. März, 17.17 Uhr

9. März, 18.16 Uhr

9. März, 20.51 Uhr

9. März, 22.45 Uhr

10. März, 8.13 Uhr

10. März, 22.36 Uhr

11. März, 11.05 Uhr

11. März, 19.08 Uhr

12. März, 0.27 Uhr

12. März, 13.36 Uhr

12. März, 16.33 Uhr

12. März, 18.51 Uhr

12. März, 19.59 Uhr

13. März, 5.26 Uhr

13. März, 10.58

13. März, 19.53 Uhr

14. März, 10.16 Uhr

14. März, 12.52 Uhr

14. März, 19.24 Uhr

15. März, 11.38 Uhr

15. März, 14.45 Uhr

15. März, 17.57 Uhr

16. März, 11.19 Uhr

16. März, 12.19 Uhr

16. März, 13.25 Uhr

16. März, 14.29 Uhr

16. März, 20.16 Uhr

16. März, 22.02 Uhr

16. März, 22.31 Uhr

20. März, 9.57 Uhr

22. März, 11.10 Uhr

26. März, 12.36 Uhr

27. März, 14.00 Uhr

27. März, 22.38 Uhr

30. März, 8.01 Uhr

30. März, 11.17 Uhr

31. März, 12.24 Uhr

1. April, 11.02 Uhr

1. April, 13.03 Uhr

1. April, 17.20 Uhr

2. April, 0.37 Uhr

2. April, 12.55 Uhr

2. April, 20.50 Uhr

4. April, 7.50 Uhr

4. April, 14.50 Uhr

5. April, 12.30 Uhr

6. April, 14.18 Uhr

7. April, 7.55 Uhr

7. April, 9.54 Uhr

8. April, 12.15 Uhr

9. April, 5.12 Uhr

11. April, 11.18 Uhr

11. April, 17.03 Uhr

12. April, 12.32 Uhr

13. April, 12.55 Uhr

14. April, 8.27 Uhr

17. April, 17.15 Uhr

18. April, 11.18 Uhr

22. April, 12.08 Uhr

26. April, 11.50 Uhr

26. April, 18.31 Uhr

27. April, 7.22 Uhr

29. April, 12.00 Uhr

30. April, 13.51 Uhr

1. Mai, 8.23 Uhr

1. Mai, 14.24 Uhr

2. Mai, 7.39 Uhr

2. Mai, 12.09 Uhr

6. Mai, 10.21 Uhr

7. Mai, 9.38 Uhr

9. Mai, 12.16 Uhr

9. Mai, 21.34 Uhr

Epilog

I will survive

Anmerkungen

Prolog

14. April 2014

Ich heiße Arkadi Arkadjewitsch Babtschenko. Ich bin siebenunddreißig Jahre alt, Hochschulabschluss, verheiratet, erziehe eine Tochter.

Mit neunzehn steckte mich die Heimat in Filzstiefel, drückte mir eine Maschinenpistole in die Hand, setzte mich auf den Panzerwagen und sagte: «Fahr los.» Und ich fuhr. «Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung» – so nannte sich dieser Krieg damals.

Mit zweiundzwanzig ging ich zum Kreiswehrersatzamt und meldete mich, diesmal freiwillig, zur Armee – und zog ein zweites Mal in den Krieg. «Antiterroristische Operation», so nannte sich das im Jahr 1999. Dabei nahm ich «im Laufe von einhundertzwei Tagen direkt an Kampfhandlungen teil», wie es in meinem Wehrpass heißt.

Für diese zwei Kriege hat die Heimat mir eine Freifahrkarte ausgestellt und zweitausend Rubel geldwerter Vergünstigungen gewährt. Danke auch dafür.

Mein Vetter Sergej Babtschenko ist in Tadschikistan gefallen. An der Grenze. Schon nach der Mobilisierung. Als Nachschub hatten sie ihnen junges Volk geschickt. Die mussten sofort ins Feld. Er hatte sich angeboten, anstelle der Jungen zu gehen. Sie stießen auf eine Bande, die Heroin schmuggelte. Er war MG-Schütze. Sie töteten ihn mit einem Kopfschuss. Als Einzigen in diesem Kampf. Ein Scharfschütze. Jetzt steht sein Name auf einer Gedenktafel für die Gefallenen in Baschkirien, seiner Heimat.

Mein Vater Arkadi Lawrentjewitsch Babtschenko schoss Raumschiffe ins All. Er war Entwicklungsingenieur, arbeitete im sogenannten Kasten – dem ZKB SM. Zentrales Konstruktionsbüro für den Schwermaschinenbau. Er baute Kabelmasten für die Raketen. Seine letzte Arbeit war ein Kabelmast für den «Buran». Auf Dienstreisen verschwand mein Vater manchmal für ein halbes Jahr. In Baikonur lebte er in einem Wohnheim. In Moskau dagegen in einer Zweizimmer-Durchgangswohnung zusammen mit seiner Frau, dem Sohn, seiner Mama, dem Vater, Bruder und seiner Familie. Diese zwei Zimmer sind das einzige Erbe. Mehr hatten wir nicht. Kein Auto, keine Garage, keine Datsche.

In den Neunzigerjahren, als der «Buran» ein einziges Mal in den Weltraum flog, bevor alles in die Brüche ging, ging mein Vater nicht handeln und nicht stehlen. Er war dazu überhaupt nicht geeignet. Er war geboren dafür, Raumschiffe ins All zu schicken. Bis zu seinem Tod zeichnete er seine Kabelmasten, die niemand mehr benötigte. In fast völliger Armut.

Er starb an einem Schlaganfall. Im Jahr 1996. Ich war damals im Krieg. Wir konnten uns nicht einmal verabschieden.

Mein Großvater, Lawrentij Petrowitsch Babtschenko, hundertprozentiger Zaporoschjer Kosake, war Panzerfahrer. Er kämpfte in Chalchin Gol. Dreifach verwundet. Einmal schwer. Diese Verwundungen machten ihn dann fertig – er starb 1980, als ich drei war.

Seine Frau, Elena Michajlowna Kupzowa (nach ihrem ersten Mann, ihren richtigen Namen kenne ich nicht, weil meine Großmutter ihn sorgfältig geheim hielt – eine Jüdin, ja), war während des Krieges auf den Dächern im Einsatz und löschte Brandbomben. Als sie die Gelegenheit bekam, wanderte sie dennoch nicht aus Russland aus, nirgendwohin. Sie arbeitete ihr ganzes Leben, bis zum Tode. Im Heizraum. In unserem Haus, im Keller. Drei Tage die Woche.

Sie starb etwa zwei Monate nach ihrem Sohn. Ich war damals noch im Krieg. Ich weiß nicht einmal, wie sie beerdigt wurde.

Meine Urgroßmutter mit Namen Bachtijarowa (mit tatarischen Anteilen, jaja) war in den Dreißigerjahren nach Moskau gekommen. Mit zwei Kindern lebte sie in einem Nebenraum der Schule. Später hat sie ihr ganzes Leben darin gearbeitet.

Ihre Tochter, meine Großmutter, fabrizierte den ganzen Krieg, seit sie vierzehn war, Jodoform – Jodkristalle zum Verätzen von abgerissenen Gliedmaßen. Später, im Rahmen der Arbeitsfront, ging sie Kohlewaggons entladen. Oder Holz fällen.

Ihr Bruder, mein Onkel, büxte in den ersten Kriegsmonaten im Alter von fünfzehn Jahren an die Front aus und kehrte erst 1950 zurück – aus dem Fernen Osten.

Ihre Enkelin, meine Mama, fuhr mit mir nach Tschetschenien. Sie hat sich alles mit eigenen Augen angesehen. Dann hat sie sechs Kinder adoptiert.

Das erste Kind in meiner eigenen Familie war ein Adoptivkind. Das zweite ebenso. Erst das dritte, unsere Tochter, war unser leibliches Kind.

Heute hat meine Mama ein Kinderheim zu Hause. Alle Kinder stammen aus Lipjezk. Aus benachteiligten Familien. Alkoholismus, ja.

Der Großvater meiner Frau, Petr Gorkanov, ist ein reinblütiger Mordwine, im Großen Vaterländischen kämpfte er bei den Chemischen Truppen, dort hat er auch sein Augenlicht verloren. Bis zu seinem Tod lebte er auf dem Land. Er heizte mit Holz. Einen Gasanschluss bekam er zu Lebzeiten nicht.

Mein Schwiegervater, Fähnrich, reinblütiger Mordwine, diente in Deutschland. Als alles zusammenbrach, fand er mit Frau und Kindern irgendwie Unterschlupf in Kasernen und Wohnheimen.

Alle neunzehn Jahre meines Erwachsenenlebens – und sogar früher, seit 1993 – habe ich die ganze Scheiße mit meinem Land durchgezogen. Immer war ich dort, wo es meinem Land schlecht ging. Zum Weißen Haus beim Beschuss 1993, gut, dann zum Weißen Haus. In Tschetschenien, dann eben in Tschetschenien. In Südossetien – dann in Südossetien. In Krymsk – dann in Krymsk. In Blagoweschtschensk – dann eben in Blagoweschtschensk.

Die ganze Zeit waren ich, meine Familie, meine Vorfahren und meine Verwandten für mein Land Russen, so wie es sich gehört.

Wenn es galt, in Chalchin Gol zu brennen, für ein paar Kopeken den Weltraum zu erobern, im Keller zu hungern, Jodoform für die Front zu produzieren, mit den Kindern durch die Kasernen zu vagabundieren, in Tadschikistan zu sterben, in Tschetschenien die Läuse zu füttern, verlassene Kinder zu adoptieren– dann waren wir Russen.

In Tschetschenien hat mir kein einziges Mal jemand vorgeschlagen, die MP abzulegen und mich in mein Chochol-Land zu verpissen und in der verdammten Ukraine zu verrecken. Solange man für die russische Heimat verrecken soll, pfeift die russische Heimat darauf, ob du Jude bist oder nicht.

Da kennt die Heimat nur eine Nationalität: das Kanonenfutter.

Mich nach Chochol-Land zu verpissen, schlugen sie mir erst nach dem Krieg vor.

Natürlich diejenigen, die kein einziges Mal in irgendeinem Krieg gewesen waren.

Eine solche Masse Dreck über mich und meine Angehörigen wie in den letzten paar Monaten habe ich nie im Leben zu hören bekommen.

Auf dem «faschistischen Bandera-Juden»-Maidan hat mich niemals irgendwer nach meiner Nationalität gefragt. Dem «rechten Sektor», der auf den Barrikaden Seite an Seite mit Russen, Juden, Krimtataren und Armeniern kämpfte, war das piepegal. Schnurzpiep. Darum geht es ihnen nicht.

In der Heimat dagegen: Jener Mensch, um dessen Thronbesteigung willen der Zweite Tschetschenienkrieg angezettelt wurde und der selbst kein einziges Mal für seine Heimat gekämpft hat, nirgends, der sich glücklich um Afghanistan gedrückt hat und später, als er schon an der Macht war, an seiner Stelle und der seiner Kinder all diese jungen Rekruten in die von ihm selbst angezettelten Kriege in Georgien und auf der Krim geschickt hat, sagt mir von der Tribüne herab – mir, der ich als Freiwilliger in seinen Krieg gegangen bin –, dass ich ein Verräter sei, ein Agent des Feindes und zweitklassig.

Heute bin ich für meine Heimat ein Jude, ein ukrainischer Faschist, fünfte Kolonne und Nationalverräter.

Wundersam ist deine Welt, o Herr.

Erster TeilDas Virus des Krieges

Das Virus des Krieges

13. Juni 2012

Der Krieg ist ein Virus. Eine umfassende pandemische Erkrankung. Kein Politiker, keine wirtschaftliche Situation, kein Hitler allein ist in der Lage, die Menschen nach Osten in Bewegung zu setzen, wenn die Zahl der Virusträger in der Gesellschaft nicht groß genug ist. Dazu muss es in den Menschen inkubieren. Sie müssen erkranken. Zu Virusträgern werden.

Russland ist ein Land im permanenten Kriegszustand. Seit Napoleon haben bei uns durchschnittlich alle fünfundzwanzig Jahre mehr oder weniger große Kriege stattgefunden. Somit kam ein Krieg auf jede Generation unseres Landes. Aus diesem Grunde ist der Krieg in den genetischen Code der Nation eingeschleust worden, er hat uns genetisch verändert.

Dieses Virus sitzt in jedem von uns, aber es schläft. Die Pandemie bricht erst dann aus, wenn es in die akute Phase übergeht. Das geschieht keineswegs so häufig, wie man annehmen könnte. Manchmal aber wird es grauenhaft.

Wenn in einer Gesellschaft, die dem Anschein nach sich keineswegs im Zustand der Agonie oder gar des Zerfalls befindet, Dinge geschehen, die einem die Haare zu Berge stehen lassen. Dinge, die in einer gesunden Gesellschaft völlig, absolut undenkbar sind.

Zum Beispiel wenn in einem Land, das den schrecklichsten Krieg in der Menschheitsgeschichte durchgemacht hat, Leute ganz unverhohlen in SS-Uniform zum Freiheitsmarsch kommen. Und ihnen nichts dafür passiert. Als wäre das völlig in Ordnung. Ganz normal.

Oder wenn Menschen in einem anderen Land, an dessen Zerfledderung wir beteiligt waren und dessen Offizierskorps in unseren Wäldern erschossen worden ist – wenn Menschen in diesem Land mit Reichsflaggen demonstrieren. So als würden, sagen wir, deutsche Fans am deutschen Nationalfeiertag mit NSDAP-Fähnchen durch die Straßen von Rschew ziehen.

Und ganz schlimm ist es, wenn der übrige Teil der Bevölkerung dieses Landes mehrheitlich Kommentare wie «Diese Polen sind ja völlig durchgeknallt» hinterlässt. Und der Staat in keiner Weise auf so etwas reagiert.

Solche Dinge – in einer gesunden Gesellschaft, betone ich noch einmal, undenkbar – sind in einer kranken Gesellschaft Gradmesser ihres moralischen Verfalls. Und dieser Verfall nähert sich bei uns, liebe Freunde, mit Siebenmeilenstiefeln dem Extrem.

Wir sind beinahe schon bereit für das Kriegsvirus. Sind beinahe bereit zu kämpfen. Beinahe WOLLEN wir den Krieg. Das lässt sich ganz deutlich an den Gesichtern ablesen. Die Anzahl der Virusträger im akuten Stadium steigt bei uns nicht über die Jahre, sondern über die Monate. Später, wenige Jahre danach, werden diese Leute wie üblich behaupten, sie hätten nur Befehle ausgeführt, hätten nicht begriffen, was sie tun, und überhaupt war er das alles, nicht ich. Dann werden wir wieder einmal die einfache und banale Wahrheit verstehen (so wie nach Tschetschenien, zum Beispiel) – dass man nicht töten darf. Eine Wahrheit, die wir mit so schöner Regelmäßigkeit alle fünfundzwanzig Jahre vergessen.

Aber um uns diese banale Wahrheit wieder bewusst zu machen, müssen wir erst eine weitere Katastrophe durchleben. Deren Anzeichen sich mit mörderischer Regelmäßigkeit schon hier und dort abzeichnen.

Das lässt sich einstweilen noch behandeln. Zum Beispiel durch gute Bildung. Durch den Aufbau des Staates. Eröffnung von sozialen Aufstiegsmöglichkeiten. Integration der Gesellschaft. Durch Arbeit und angemessenes Einkommen. Und natürlich, in erster Linie, durch Freiheit.

Noch ist Zeit für diese Behandlung.

Aber nicht mehr viel.

Der Weg, den das Land jetzt gerade nimmt, führt in den sicheren Abgrund.

Dämmerung

10. April 2013

Ich bin bekümmert, meine Herren. Nicht wegen der Popen oder der Vertrauenspersonen oder ihrer verletzten Gefühle, um Gottes willen. Ich habe schon gesagt, woher ich das alles kenne: die mit ihren verletzten Gefühlen und den Gesetzen, die sie aus diesem Grund zu verabschieden versuchen. Was die Popen und Zaren angeht, bin ich vollkommen solidarisch mit Alexander Sergejewitsch.

Bekümmert bin ich darüber, was sie aus meinem Land gemacht haben. Was sie aus sich selbst gemacht haben, mit Billigung meines Landes. Wie rasch sie einer so gigantischen Zahl von Menschen das Kreuz des Obskurantismus ins Hirn nageln konnten und was für eine gigantische Anzahl von Menschen wirklich froh ist über dieses neu erworbene Sklaventum.

Mich ärgert, dass der Anteil der Physiker, Ingenieure, Philologen, Astronomen, Botaniker, Linguisten, Mathematiker, Bibliothekare und überhaupt einfach gebildeter Menschen katastrophal und verschwindend gering ist im Vergleich zum Anteil der Xenophoben, Dunkelgeister, Schweinehunde und einfach nur Dummköpfe. Ich bin betrübt davon, dass ich in der Metro fast keine intelligenten Gesichter mehr sehe. Dass aus meinem Leben die Schicht der beseelten, Brillen tragenden Physiker und Lyriker verschwunden ist, die hitzig streiten und nur an die Wissenschaft glauben, weder ans schnelle Geld noch an den Popen noch den Zaren. Dass das Land die Klugen vertrieben hat und dabei ist, auch noch ihre letzten Reste zu vertreiben. Dass der Astrophysiker Alexej Fillipenko, den ich immer auf Discovery gucke, Englisch spricht und nicht Russisch.

Na gut, die Dummköpfe – da ist nichts anderes zu erwarten. Aber dass man diesen Nagel auch gebildeten Menschen einhämmern konnte – das ärgert mich am meisten. Im Krieg habe ich die Erfahrung gemacht, dass der Mensch sich innerhalb weniger Wochen zum Tier machen lässt. Aber dass sich ein ganzes Volk innerhalb weniger Jahre in eine Masse von Charakteridioten verwandeln lässt – das war für mich eine Entdeckung. Wie hat Joseph Goebbels noch gesagt – gebt mir die Massenmedien, und ich verwandele jede Nation in eine Herde Schweine? Auch das verstimmt mich.

Es bedrückt mich, dass sie so viele sind. Mit welchem Tempo sie sich vermehren und mit welchem Tempo sie ihren Obskurantismus im Land verbreiten. Es bedrückt mich, mit welcher Leichtigkeit sie die Zivilisation ablegen und wie bereitwillig sie wieder ins Mittelalter eintauchen. Wenn wir die kritische Masse erreichen, gibt es kein Zurück mehr. Das ist eine Einbahnstraße. Ein Cambridge oder auch nur Skolkowo im orthodoxen Iran errichten zu wollen, ist unmöglich.

Mich ärgert, dass es so unglaublich wenig Zeit brauchte – ein Jahrzehnt –, damit all diese Judenitschs, Im-Klo-Zerquetscher, Gundjajews, Surkows, Bannerträger, Kosaken, patriotischen Patrouillen und dergleichen mehr hier auftauchen. Es ärgert mich, dass dieses Land sie schalten und walten lässt, dass sie ihr Unwesen treiben und Speichel verspritzen können, immer mehr. Ärgert mich, dass das Land es zugelassen hat, dass diese Schweine, Idioten und Charakterkastraten die Macht ergreifen und tun und lassen können, wie ihnen beliebt.

Ich habe die Schnauze voll von all diesen geistlichen Banden, den Popentreffen im Kreml, dem Petersburger Dieb dortselbst, dem Jargon des Gossenpräsidenten, laodizeischen Kodizes, den angeblichen Beleidigungen von irgendwelchen Gefühlen – die ich, ich wiederhole es zum dritten Mal, sonst wo habe –, den Bannerträgern, die jetzt bestimmt hellhörig werden, und so weiter und so weiter.

Ich habe diesen undefinierbaren Schwebezustand satt. Ich will, dass das endlich aufhört. Egal auf wessen Kosten, aber es soll endlich Klarheit herrschen. Orthodoxer Iran – gut, dann eben orthodoxer Iran. Freies Russland, dann freies Russland. Ich will die Lösung.

Nein, mir liegt gar nicht daran, dass alles schlecht wird, alles untergeht. Ich definiere einfach den Frontverlauf. Russland wird frei sein, so oder so. Und nicht nur frei von Dieben und Usurpatoren. Auch von Obskurantismus und Unwissenheit.

Aber das Tempo, mit dem wir uns dem Mittelalter nähern, ist geradezu erschreckend, meine Herren.

Wirklich.

Nächste Haltestelle Blutbad

24. Oktober 2013

Ich habe überhaupt keine Lust mehr auf große ernsthafte Texte. Hat gar keinen Sinn. Hat keinen Sinn, jemandem noch etwas erklären zu wollen. Keinen Sinn, Beweise vorzubringen. Keinen Sinn, an die Vernunft zu appellieren oder auch nur die einfache, elementare Logik.

Die Migrantenhysterie hat alles überschwappt – von einem Ende zum anderen. Der Oppositionsführer (einer demokratischen, verdammt, Opposition!) tritt mit nationalistischer Rhetorik zur Wahl an. Die Kolumnisten des liberalsten aller Rundfunksender unterstützen einen Teilnehmer der russischen Märsche. Der beste Nachrichtenticker Russlands postet auf VKontakte rassistische Bilder, die unter aller Sau sind. Die üblichen Nazi-Überfälle hat nur eine (!) einzige Partei verurteilt. Vor diesem Hintergrund mischen die Skin-Brigaden die Märkte auf und überfallen Menschen anderer Nationalität in den Hauseingängen. Das Volk schlägt nichtrussische Passagiere in den Routentaxis blutig.

Schriftsteller, Journalisten, Regisseure, Wissenschaftler, die Anführer der öffentlichen Meinung – also all jene, die sich dem widersetzen, die ihre Stimme gegen diesen Wahnsinn erheben, die aufstehen und sagen sollten: «Leute, was tut ihr, besinnt euch!» –, sie alle schweigen. Nur vereinzelte Stimmen melden sich hier und da. Aber sie werden kaum noch gehört.

Vor diesem Hintergrund noch etwas zu sagen, ist völlig sinnlos. Was immer man vorbringt, man erntet nur: «Sie sitzen eben in der Hocke!»

Die Gesellschaft hat keinen Bedarf mehr nach einer Deutung des Geschehens und dem Versuch, die Zukunft zu verändern. Die Bremsen sind gelöst, die Gesetze aufgehoben, Denken ist nicht mehr obligatorisch.

Wie mir neulich eine Bekannte nach Birjulewo sagte: Was willst du, jetzt ist alles klar, nächste Haltestelle – Blutbad.

Ich habe einmal einen Artikel mit dem Titel «Das Virus des Krieges» geschrieben. Die Aussage war, dass kein einzelner Mensch einen Krieg anfangen kann. Kein Hitler allein könnte das heutige Deutschland zum «Drang nach Osten» bewegen. Dazu muss die Nation selbst heranreifen. Dafür muss der Anteil der Träger des Kriegsvirus in der Bevölkerung die kritische Masse erreichen. Und dann braucht es keinen Hitler mehr – von ganz allein werden sie losziehen, die Gemüsemärkte zertrümmern, Moscheen anzünden, Menschen im Hauseingang niedermetzeln, Filterlager errichten, vor der Kamera verprügeln.

Und danach – nichts als Dunkelheit. Nur noch Dunkelheit. Eine andere Ausfahrt von diesem Weg gibt es nicht.

Und da sitze ich nun und sehe zu, wie es in meiner Nation reift, wie das Virus immer mehr Menschen erfasst, wie die Epidemie das Stadium der Hysterie erreicht, darauf folgt das Stadium des Wahnsinns, und mir wird klar, dass es jetzt vermutlich keine Heilung mehr gibt. Das muss durchlitten werden.

Behandelt werden kann so etwas nur prophylaktisch, vorbeugend, aber im Gegenteil, statt der Prophylaxe wurde noch Öl ins Feuer gegossen – und was jetzt kommt, zeichnet sich immer deutlicher ab.

Erst danach, in zehn, zwanzig Jahren, wenn die Epidemie vorbei ist, der Wahn verflogen, der Hass gestillt und der Schaum vor dem Mund getrocknet, werden die, die die völlige Zerstörung des Landes überlebt haben, aus ihren Kellern mit den Kanonenöfen und der Rattensuppe kommen, sich umsehen, einander anschauen und sagen: Mein Gott, was war das? Wozu haben wir das alles getan? Wer waren wir? Wie konnten wir zu so etwas werden?

Dann kommen vielleicht Bücher, Filme, wissenschaftliche Artikel. Vielleicht sogar normale Gesetze. Wie bei den Japanern. Die Japaner haben es doch geschafft. Auch wenn sie dafür erst zwei Atombomben abkriegen mussten.

Dann folgt die Deutung. Und der gesellschaftliche Bedarf nach einer Sinngebung wird sehr stark sein. Der «Archipel Gulag» hätte nicht im Jahr 1937 geschrieben werden können. Im Jahr 1937 hätte niemand den Samisdat versteckt. Dafür brauchte es Zeit. Abstand. Sinngebung.

Deshalb sitze ich jedes Mal, wenn ich eine neue Seite öffne und etwas Ernsthaftes schreiben will, eine Weile so da, glotze auf den Bildschirm – und klappe ihn wieder zu. Denn mir wird klar, dass ich fast keinen Leser mehr habe. Niemanden, für den ich schreiben könnte. Alle sind unterwegs, die Gemüsestände zertrümmern. Und die wenigen, die geblieben sind, die noch bereit sind zuzuhören – denen ist sowieso alles klar. «Was willst du – nächste Haltestelle – Blutbad.»

Die Moral von der Geschichte – gibt’s nicht.

Willkommen, Krimbewohner!

17. März 2014

Nun denn, seid gegrüßt, liebe Krimbewohner! Schön, euch zu sehen. In den ersten Zeilen meines Briefes möchte ich euch dazu gratulieren, dass dies das letzte Referendum in eurem Leben war. Mit den «Willenserklärungen» war es das erst einmal bei euch. Eine freie Wahl werdet ihr nicht mehr haben – in keiner Frage mehr, nie. Nicht mal bei der Farbe der Bordsteinkanten auf eurem eigenen Hof. Das könnt ihr gleich vergessen.

Zweitens, verabschiedet euch schon mal von eurem Fernsehen. Tschüs, Direktübertragungen, tschüs, Talkshows und Diskussionen. Willkommen, Trash, Leichen, Debile und Urogenitalwitze. Nur noch Kiseljow, nur noch Hardcore! Und Live-Diskussionen mit Putin!

Drittens, die Wehrpflicht. Das ist überhaupt ein Thema für sich. In dreiundzwanzig Jahren Okkupation habt ihr natürlich schon vergessen, wie das ist, wenn sie eure Kinder zu den Soldaten holen. Na, macht nichts. Wird euch schon wieder einfallen. Besonders wenn eure Kinder in unserer – sorry, heute ja eurer – Armee an Krankheiten sterben, an denen sonst seit hundert Jahren niemand auf der Welt mehr stirbt. An Pneumonie zum Beispiel. Nach dem Krimklima irgendwo auf den Kurilen zu dienen, das ist es. Und dann natürlich der Schriftzug «Kaukas-Kraft» auf den kahl geschorenen Köpfen, das macht sich auch gut.

Sucht euch schon mal die Netzadresse von «Recht der Mutter». Der Verein unterstützt bereits seit zwanzig Jahren die Familien ums Leben gekommener Rekruten. Letztes Jahr hat die Stiftung den Familien von zweitausendvierhundertfünfundsechzig toten Rekruten geholfen. Davon waren, übrigens, zwanzig Prozent in den Selbstmord getrieben worden, fünfzehn Prozent an Krankheiten gestorben und fünf Prozent – zu Tode geprügelt. Mit einem Wort – «weine nicht, oh Mädel!».

Und ja, in Russland steht Soldatenmüttern bzw. Invalidinnen nach dem Verlust des Ernährers eine Rente von vierzig Dollar zu. Ihr habt euch nicht verhört. Dafür muss man allerdings jahrelang kämpfen. Willkommen in unserem Gerichtssystem. Das Gerichtssystem überhaupt ist ein weites Feld, deswegen erwähne ich nur kurz: Anfachen von Hass, Beleidigung der Gefühle von Gläubigen, Rechtfertigung von Terrorismus, extremistische Äußerungen, Verleumdung – das sind alles Straftaten. Und Verleugnung der Geschichte, Behinderung von Bürgern am Weitergehen, ungenehmigte Versammlungen von fünf Personen, amoralisches Benehmen – all das und sehr, sehr vieles andere – sind Ordnungswidrigkeiten.

Na, mit unseren Kosaken habt ihr ja das Vergnügen schon gehabt, wie man hört. Prachtkerle, nicht wahr? Aber das ist noch gar nichts, ihr kennt unsere Popen noch nicht.

Bei uns läuft hier übrigens gerade ein föderales Programm zur Förderung des geistlichen Lebens und zur Festigung der geistigen Zusammengehörigkeit. Unter der Losung «Kirchen überall, wo noch nichts ist!». Das heißt, falls ihr dachtet, irgendwo wird ein Kindergarten gebaut oder ein Autobahnkreuz – denkste, dort kommt erst mal eine Kirche hin. Genauso wie bei mir hier vor dem Fenster – auf der Brachfläche neben der Moskauer Ringautobahn, vor meinem Fenster, bauen sie jetzt eine hin statt einer Entlastungskreuzung. Hier ist jeden Morgen Stau, wozu da eine Entlastungskreuzung, nein, eine Kirche wird hier gebraucht. Egal, auch das werdet ihr mit der Zeit begreifen.

Und ja, der Beitrag für das Gotteshaus, da kommt keiner drum herum. Das Bürgermeisteramt von Elektrostal, das sich diese geistliche Innovation ausgedacht hat, wird es euch beibringen.

Und da wir schon bei Beiträgen sind. Uns steht hier ja auch noch die Reform des Wohnungswesens bevor. Sie dauert schon zehn Jahre und kommt jetzt gerade auf Touren. Sodass euer Wohngeld auch bald an die fünftausend Rubel betragen wird.

Ja, und die Vergünstigungen! Sind eure Vergünstigungen schon in Geldwert umgerechnet worden? Nein? Nun … Geradezu beneidenswert. Bei Gelegenheit, zum Thema «Auflösung von Rentnerprotesten» hat unsere Dzerschinskij-Division schon vor fünf Jahren Übungen abgehalten. Sie wird eurer Berkut-Spezialeinheit sehr gern bei der Weiterbildung behilflich sein.

Nun, von Bagatellen wie dem Abknapsen der begehrtesten Grundstücke für kleine Paläste und Chalets, die Neuverteilung des – gesamten! – Business sowie Abriss und Brandschatzung von Wohnhäusern, um dann dort Handelszentren zu errichten, und so weiter und so weiter, will ich gar nicht reden. Von der Steuerpolizei, dem Gesundheitsamt, Feuerwehr, Staatsanwaltschaft, Untersuchungskomitee, FSB, Verwaltung etc. etc. gleichfalls nicht. Ihr lebt dort, sagt man, vor allem vom Tourismus, ja? Schon gut, schon gut. Bei uns nennt man das «Geschäft versauen». Den kleinen Selbstständigen, damit die Großen übernehmen können. Werdet euch dran gewöhnen. Schwamm drüber.

Aber noch zum Thema Tourismus. Es gibt dort bei euch private kleine Hotels, stimmt’s? Direkt am Meer, oder? Auf der Krim? Na, jedenfalls: Ehe ihr euchs verseht, wird es dort keine privaten Hotels mehr am Meer geben.

Aber dafür Tkatschows Datscha! Schojgus Datscha! Die Datschen aller Senatoren! Die aller Abgeordneten! Die Datschen aller FSB-Agenten! Und dahinter die des gesamten Untersuchungskomitees und der ganzen Staatsanwaltschaft! Was für Jachten werden dort bei euch an den privaten Piers liegen! Mit was für Zäunen werden sie euer Meer abgrenzen! Die verfluchten Banderowzen werden euch beneiden.

Ihr werdet euch dann mit dem Stadtstrand von Sewastopol zufriedengeben müssen.

Nebenbei empfehle ich euch auch, die Floskel «Ihr seid viele, ich bin allein!» zu lernen. Die Russische Post, Ein-Schalter-Dienst, Sberbank, Rentenfonds, Sozialversicherung – all das gehört jetzt euch. Herzlichen Glückwunsch.

Und apropos Sberbank. Da habt ihr auch wieder Schwein gehabt, bei uns treiben sie jetzt die Rentenreform voran. Wie sich diese Rente zusammensetzt, hat schon vorher niemand kapiert, jetzt ist noch der Letzte damit überfordert – ob es überhaupt eine gibt, oder nicht.

Und zwei weitere Ausdrücke solltet ihr euch auch noch einprägen. «ATO» – «Antiterroristische Operation» – und «Hexogen». Das ist wichtig. Wirklich verdammt wichtig. Und meidet in Zukunft Menschenansammlungen, Bahnhöfe, Flughäfen – besonders Bahnhöfe und Flughäfen –, Bushaltestellen, Märkte, Konzerte, und überhaupt: Seid gut drei Stunden vor Abflug am Flughafen. Metalldetektoren stehen jetzt an jedem Eingang. Keine Späße mit der Miliz! Bärte tragt besser nicht. Die Haarfarbe hellt auf. Stülpt eure Taschen nach außen und lasst euch auf die erste Aufforderung abtatschen. Und geht niemals – nie! – ohne Ausweispapiere aus dem Haus.

Und denkt an die Sanktionen unserer internationalen Freunde, jetzt Feinde. Ihr seid ja jetzt Russland.

So viel dazu, im Klein-Klein. Noch mal zusammengefasst:

Demonstrationen sind in Russland verboten.

Widerstand gegen widerrechtliche Festnahme und widerrechtliche Verhaftung ist verboten.

Selbstbestimmung der Nationen ist verboten. Austritt aus Russland verboten. Separatismus verboten.

Adoption von Kindern durch Ausländer ist verboten.

Sogenannte «Propaganda» für Homosexualität ist verboten.

Konzerte von Madonna oder Elsa and Emilies «Ocean» sind verboten.

Ungenehmigte Plakate sind verboten.

Der Fernsehsender Doschd ist verboten.

Online-Zahlungen werden in Kürze verboten.

Die Preise in Moskau sind doppelt so hoch wie in Kyiv. Für alles.

Und noch etwas. Zum Abschluss. Alkohol ist bei uns (und jetzt auch bei euch) von elf Uhr abends bis acht Uhr morgens auch verboten. Prohibition, versteht ihr.

Welcome home, mit einem Wort.

Willkommen.

Geburt einer Armee

23. April 2014

Im Osten der Ukraine wird eine nationale Armee geboren.

Die Anti-Terror-Operation, die die Ukraine vor drei Wochen im Osten des Landes begonnen hat, ist mangels sichtbarer Ergebnisse eingestellt worden. Die selbst gestellten Aufgaben sind nicht erfüllt worden, Militärtechnik ging verloren, Soldaten sind in Gefangenschaft geraten oder gefallen. Den Sieg in dieser Runde haben zweifellos die Vertreter der selbst ernannten Volksrepublik Donezk errungen. Bei den harten Einschränkungen, denen die Streitkräfte heute unterliegen, war ein Erfolg auch kaum zu erwarten gewesen. Am Dienstagabend, nachdem bei Slowjansk der Leichnam des wenige Tage zuvor entführten Stadtrats von Horliwka, Wolodymyr Rybak, gefunden worden war, forderte der amtierende Präsident Oleksandr Turtschynow die Wiederaufnahme der Militäroperation. Aber offenbar haben die Militärs, die jetzt zudem durch die Vereinbarungen von Genf von 2014 gebunden sind, bis heute kein Verständnis für Taktik. Indessen entsteht im Osten der Ukraine eine eigene Volksarmee und -miliz. «Volk» ist dabei wörtlich zu verstehen – die Bewegung kommt von unten. Die Leute errichten Kontrollposten, formieren Einheiten und rüsten sie aus, bereiten die Verteidigung der Städte vor. Von sich aus, auf eigene Initiative.

Am Eingang der Stadtverwaltung von Dnipropetrowsk stehen zwei Klaviere. Das eine ist schwarz und stumm. Das andere gelb-blau, in den Farben der ukrainischen Flagge. Der junge Mann, der daran sitzt, spielt aus irgendeinem Grund das Lied «Vladimir Central». An der Wand über seinem Kopf eine Bekanntmachung zur Aufnahme von Freiwilligen in das Regiment der Nationalverteidigung und das Bataillon «Dnipro». Ich gehe zur Pressekonferenz von Jurij Bereza, dem Kommandeur des Regiments der Nationalverteidigung. Er erzählt gerade, dass die ersten achtzigtausend Dollar für die Auslieferung von «grünen Männchen» ausgezahlt worden seien. Hintergrund ist, dass zuvor der Gouverneur des Gebiets Dnipropetrowsk, der Milliardär Ihor Kolomojskyj, eine Belohnung von zehntausend Dollar für jedes gefasste Mitglied der bewaffneten Gruppierungen ausgelobt hatte.

«Bis jetzt wurden uns elf Mann übergeben», sagt Bereza. «Bei acht von ihnen ist die Beteiligung an bewaffneten Gruppierungen nachgewiesen. Als Beweis dienen Fotos oder Videoaufnahmen. Sie alle haben mit der Waffe in der Hand an der Blockade oder dem Sturm auf unsere Militäreinheiten auf der Krim teilgenommen.»

Die Frage nach der Staatsangehörigkeit der Festgenommenen beantwortet Bereza nicht direkt, gibt jedoch zu verstehen, dass auch Russen darunter seien.

«Es werden schon Witze gemacht: Wir haben hier russische Touristen im Transit von Polen nach Belarus – sollen wir die auch bringen?», lacht er.

Alle Festgenommenen befinden sich derzeit in Kyiv. Der Sicherheitsdienst der Ukraine kümmert sich um sie.

Jurij Bereza ist heute wohl eine der Schlüsselfiguren im Gebiet. Erstens ist er der Kommandeur des Regiments der Nationalverteidigung (nicht zu verwechseln mit der Nationalgarde). Und zweitens der Kommandeur des in Entstehung begriffenen Spezialbataillons «Dnipro». Das ist weniger kompliziert, als es klingt. Das «Regiment der Nationalverteidigung» ist kein Regiment. Es ist eine gesellschaftliche Vereinigung, die Regiment im Namen trägt. Ein militär-patriotischer Klub, der schon vor den Ereignissen existierte. Weder eine staatliche noch eine bewaffnete Struktur. Wenn auch zahlenmäßig schon mit einem Regiment vergleichbar.

Auf der Basis des «Regiments» werden jetzt auf Initiative der Gebietsverwaltung die zwei Bataillone «Dnipro-1» und «Dnipro-2» formiert. Hier wird es sich bereits um vollwertige staatliche Kampfeinheiten handeln. Zum Kommandeur des ersten ist ebenfalls Jurij Bereza ernannt worden. In das «Regiment» wird praktisch jeder aufgenommen, der will, die «Dnipro»-Bataillone treffen ihre Auswahl nach strengeren Kriterien.

Sowohl das «Regiment» als auch «Dnipro-1» und «Dnipro-2» sind regionale Untereinheiten, die nur im Gebiet Dnipropetrowsk tätig sind. Sie stehen nicht in irgendeiner Beziehung zur Nationalgarde – die ist eine föderale Struktur, die die Regierung der Ukraine jetzt im ganzen Land aufzubauen versucht. Aber angefangen hat alles mit dem Regiment. Und dieses kommt jetzt dem Begriff der «Volksarmee» am nächsten.

Im Grunde ist hier alles genauso wie auf dem Maidan. Da begann auch alles mit dem Bau von Barrikaden. Genauer gesagt, Kontrollposten. Nachdem Föderalisierungsanhänger erfolglos versucht haben, die Gebietsverwaltung einzunehmen, haben die Leute einfach angefangen, Dnipropetrowsk mit Kontrollposten zuzupflastern. SÄMTLICHE Zufahrten zur Stadt wurden gesperrt. Am Anfang handelte es sich um auf die Fahrbahn geschütteten Müll, der zufällig zur Hand war und der von einer Handvoll Leute bewacht wurde.

Danach ging man ernsthafter an die Sache heran. «Da kommt ein Typ und fragt, was wir brauchen», erzählt Wladimir, einer der Kämpfer des Regiments. «‹Eisen und Sand›, antworte ich. Und dann kommt der mit einem Wagen voll Eisen und zwölf Tonnen Sand an. Danach erschienen Militärs außer Dienst. Offiziere der Ingenieurs- und Pioniertruppen. Sie sagten, das alles sei ein Sandkastenspiel. Und zeichneten ordentliche Pläne. Einer davon war fast eine Diplomarbeit – mit Unterständen, MG-Nestern, Zellen, ideal in die Umgebung eingepasst. Fotografieren war, natürlich, nicht erlaubt.»

Die Kontrollposten wirken. Kürzlich haben sie einen voll besetzten Autobus zurückgeschickt, in dem fünfzig junge Burschen unterwegs waren, allesamt, man stelle sich vor – Mitarbeiter bei der Post, klar, die werden hier gebraucht. Aber die Befestigungen haben natürlich vor allem eine psychologische Bedeutung.

«Mir ist klar, dass Profi-Agenten, ob FSB oder GRU, trotzdem einzeln in die Stadt gelangen. Alle kannst du nicht herausfischen. Aber darum geht es nicht. Entscheidend ist, dass man die Situation nur dort hochschaukeln kann, wo die Bevölkerungsbasis dafür vorhanden ist. Und diese «Basis» gar nicht erst hier einschleppen zu lassen – das ist die Hauptaufgabe. Zweite Aufgabe: den Leuten Selbstvertrauen geben. Ihnen zeigen, dass hier jemand ist, der die Situation unter Kontrolle hat. Der bereit ist, sie zu verteidigen. Der bereit ist, dem Chaos zu widerstehen. Wenn jemand Starkes offen zeigt, dass er bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, dann folgen die Leute. Am Anfang hatten sie Angst, klar. Inzwischen rufen sie schon an, wenn irgendwo betrunkene Hooligans ruhiggestellt werden müssen. Kannst du dir das vorstellen? Nicht bei der Miliz, sondern bei uns rufen sie an. Dabei ist das überhaupt nicht unsere Aufgabe. Wir rücken trotzdem aus. Damit die Leute das Vertrauen nicht verlieren. Zudem lässt das Gesetz es jetzt auch zu. Gerade in diesen Tagen sind Änderungen über die Festnahme durch Zivile verabschiedet worden.»

Es gibt auch überhaupt keine Antagonismen zwischen den Gesetzeshütern und der Volkswehr. Sie halten zusammen Wache. Die Miliz mit Maschinenpistolen. Die Volkswehr mit den Waffen, die sie als Bürger besitzen. Vom Luftgewehr bis zur «Saiga», was man gerade hat. Waffenführungsgenehmigung vorausgesetzt, natürlich. An einem der Kontrollposten steht sogar ein gepanzertes Aufklärungspatrouillenfahrzeug. Das gehört auch jemandem, ist also Privateigentum, unbewaffnet. Damit kann notfalls rasch die Straße gesperrt werden.

«Eine Zeitlang war es wirklich zum Fürchten», sagt Wladimir. «Ich hatte Angst, mein Auto nachts zu parken. Ich dachte, sie könnten es anzünden. Außerdem fingen sie damals an, die Tituschkos hier reinzubringen. Die Vorbereitungen auf die Eskalation fingen damals schon an. Aber Dnipropetrowsk ist immerhin nicht Donezk. Schau, an jedem fünften Auto weht schon die ukrainische Flagge.»

Das stimmt. An ukrainischen Flaggen herrscht kein Mangel in der Stadt. Zwei junge Mädchen verteilen sie an einer Kreuzung. Die Autos, die am Kontrollposten vorbeifahren, hupen zur Unterstützung. Bewohner der umliegenden Viertel bringen Essen.

«Sie bringen uns so viel zu essen, dass wir das schon an die Kinderheime weiterverteilen müssen.»

Und das, obwohl Dnipropetrowsk eine fast komplett russischsprachige Stadt ist. Ukrainisch hört man hier so gut wie gar nicht auf den Straßen. Der ideologische Kampf ist in dem Gebiet bereits gewonnen. Die russischsprachige ukrainische Stadt hat sich entschieden, sie will für ihr Land kämpfen.

Wobei, so ganz eindeutig ist das nicht. Nach meinem Gefühl verläuft die Wasserscheide in Dnipropetrowsk ungefähr im Verhältnis sechzig zu vierzig. Sechzig Prozent für eine geeinte Ukraine. Vierzig … gar nicht mal für Russland. Nicht einmal für die Föderalisierung. Eher für die Sowjetunion. Sehnsucht nach der alten Ordnung. Das gilt natürlich vor allem für die ältere Generation. Meiner Argumentation, dass das heutige Russland überhaupt nichts mehr mit der Sowjetunion zu tun hat, stimmen sie zu. Aber noch mehr Angst haben sie vor dem Raubtierkapitalismus, und vor allem vor den Dieben an der Macht. Und beide Seiten stimmen darin überein, dass Janukowytschs Herrschaft derart korrupt war, dass gar nichts anderes übrig blieb, als ihn zu stürzen. Und sowohl die einen wie die anderen antworten auf die Frage «Wird es Krieg geben?» einhellig: «Es ist schon Krieg.»

Analoge Prozesse gab es in Sumy, Mykolajiw, Krywyj Rih, Saporischschja. Auch in diesen Städten – und nicht nur dort – entstehen Nationalarmee-Strukturen.

Mit der Nationalgarde klappt es bislang nicht so gut. Bei der Nationalarmee kommt es jetzt vor allem darauf an, sie nicht zu behindern. Obwohl man selbst dazu nicht in allen Gebieten bereit ist. Anders als in Kyiv reden die Leute hier ausschließlich vom Krieg mit den «grünen Männchen». Nur darauf bereiten sie sich vor. Den Gedanken an einen Bürgerkrieg weisen sie sofort als aufrührerisch zurück. Dass Bürger der Ukraine gegen Bürger der Ukraine kämpfen könnten, wollen sie nicht akzeptieren. Sobald die «grünen Männchen» verschwinden, sind sie überzeugt, wird sich auch im Donbass alles einrenken. Das Argument, dass es in Donezk und Luhansk, anders als in Kyiv, keine derart offene Präsenz der russischen Armee gibt, akzeptieren sie. Doch als Anstifter des Separatismus gilt ihnen nur und ausschließlich Russland – durch Vertreter seiner Geheimdienste. Genauer gesagt, unterscheiden sie zwei Begriffe – den lokalen Separatismus, dem sie unblutig Widerstand leisten wollen, und die «grünen Männchen», die sie mit aller Macht bekämpfen wollen.

Wiedergänger

11. Dezember 2014

Zwanzig Jahre … Kaum zu glauben. Am 11. Dezember 1994 begann offiziell der Tschetschenien-Krieg.

Ich denke weniger und weniger an diesen Krieg zurück. Träume fast gar nicht mehr von ihm. Kann mich so gut wie gar nicht mehr an die Orte, die Daten erinnern. Andere Kriege, andere Daten und andere Tode haben sich davorgeschoben. Die verbrannten Leichen in Zinvali. Der Tod von Kameraden. Anna Politkowskaja.

Und nun die Ukraine.

Dieser Krieg sollte der wichtigste in meinem Leben gewesen sein, aber da ist ein Oberst, der einfach nicht zur Ruhe kommt, der da sitzt auf seinem Thron und uns aus vollen Händen mit immer neuen Kriegen, immer neuer Scheiße zuschüttet.

Ich hatte Glück, ich bin nicht in den schlimmsten Fleischwolf, den von Grosny, geraten, nach Tschetschenien kam ich erst 1996, als Fernmelder, und habe das Land insgesamt eher tangiert, aber, verdammt, sogar mir mit meinem Glück reichte das, was ich damals gesehen habe. Nichts war schwärzer, nichts schrecklicher und hoffnungsloser in meinem Leben als dieser Krieg. Absolute, finsterste Hoffnungslosigkeit.

Man darf junge Burschen im Alter von achtzehn nicht zur Schlachtbank führen. Das darf man nicht. Niemals.

Mögen die Gefallenen in Frieden ruhen. Auf beiden Seiten.

Kursker Bahnhof. Sommer 1996. Ich kehre nach einem kurzen Urlaub, den man mir wegen der Erkrankung meines Vaters gewährt hat, nach Tschetschenien zurück. Das war das letzte Mal, dass ich ihn lebend gesehen habe. Er ist im August 1996 gestorben. Gerade als der Sturm auf Grosny begann. Das Telegramm über seinen Tod brachten sie mir auf die Startbahn, als unser zusammengeführtes Bataillon schon in den Hubschrauber steigen sollte. Unser Regimentspostbote, Funt, rannte extra auf die Startbahn und machte mich ausfindig. In letzter Minute. Ich flog nach Moskau zu seiner Beerdigung, alle anderen nach Chankala, Grosny. Von sechsundneunzig Mann kamen zweiundvierzig zurück.

Und nun sind zwanzig Jahre vergangen. Auf dem Bahnhof in Rostow werden erneut Kommandos aus jungen Rekruten gebildet. Und die Kühlwagen fahren erneut zum Leichenhaus. Wieder wird dem ganzen Land in Erinnerung gerufen, dass «Fracht 200» für den Transport eines gefallenen Soldaten zurück in die Heimat steht. Eine schon fast vergessene Abkürzung.

Und ich schreibe über den nächsten Krieg.

Meinetwegen, fliege ich nach Kyiv (verflucht … beinahe hätte ich doch Grosny geschrieben). Und von dort werde ich mich mit allen Mitteln dagegen sträuben, in den Bezirk Pesok zu fahren.

Früher in solchen Fällen

28. Februar 2015

Früher wollte man in solchen Fällen immer irgendwohin fahren, sich mit jemandem treffen, etwas sagen, etwas tun. Heute möchte man allein sein. Es gibt nichts mehr zu sagen. Oder zu diskutieren. Alles ist längst klar. Auch zu tun gibt es eigentlich nichts mehr. Das Land versinkt in Dunkelheit. Im Mittelalter. Das Zurück ins Licht wird sehr teuer sein. Das ist alles schon klar. Und tun kann man hier so gut wie nichts mehr. Eine winzige Chance gibt es noch, aber … Wer sollte auch etwas tun können? Die einen sind ausgewandert, die anderen im Gefängnis, wieder andere umgebracht.

Früher in solchen Fällen … Gruslige Worte. Gruslige Jahre.

Er hat, soweit man sehen kann, viele von denen, deren Tod ihm zur Last gelegt wird, nicht umgebracht. Politkowskaja, das war nicht er. Natalja Estemirowa. Stanislaw Markelow. Sergei Magnitski. Aber sein Name wird in Verbindung mit genau diesen Namen in die Geschichte eingehen.

Für immer. Bis in alle Ewigkeit.

Ist da noch wer?

1. September 2015

Mich erreichen ständig Petitionen, ich sollte die Information über die Brände um den Baikalsee im ganzen Land verbreiten und überhaupt irgendwie beim Löschen helfen. Sie alle sind in folgendem Ton gehalten: «Wladimir Wladimirowitsch, wir sind für Sie, warum erhören Sie uns nicht? Und wo sind die Journalisten, warum helfen sie nicht, die Information zu verbreiten?»