Ein Tanz für zwei - Kathryn Taylor - E-Book

Ein Tanz für zwei E-Book

Kathryn Taylor

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Beschreibung

Eine glamouröse Ballnacht unter Sternen ...

An einem Ball im Stile des Regency teilnehmen – davon träumt Schneiderin Lucy Evans schon lange. Deshalb ist sie überglücklich, als Penelope Rowe, die Besitzerin von Penrose House, sie bittet, die historischen Kleider für einen solchen Ball zu nähen, der bald in dem Herrenhaus in Cornwall stattfinden soll. Begeistert setzt Lucy sich an ihre Nähmaschine und sieht sich schon über die Tanzfläche schweben – in den Armen von Penelopes Sohn James, der ihr Herz erobert hat. Doch ausgerechnet ihr Traumprinz will den Ball unbedingt verhindern. Als Lucy endlich die Gründe dafür erfährt, muss sie um ihr Glück kämpfen. Wird sie es schaffen, mit James in ihr Happy End zu tanzen?

In Cornwall werden Träume wahr! Lesen Sie auch »Ein Cottage für zwei«, den großen Wohlfühlroman von SPIEGEL-Bestsellerautorin Kathryn Taylor!

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Buch

An einem Ball im Stile des Regency teilnehmen – davon träumt Schneiderin Lucy Evans schon lange. Deshalb ist sie überglücklich, als Penelope Rowe, die Besitzerin von Penrose House, sie bittet, die historischen Kleider für einen solchen Ball zu nähen, der bald in dem Herrenhaus in Cornwall stattfinden soll. Begeistert setzt Lucy sich an ihre Nähmaschine und sieht sich schon über die Tanzfläche schweben – in den Armen von Penelopes Sohn James, der ihr Herz erobert hat. Doch ausgerechnet ihr Traumprinz will den Ball unbedingt verhindern. Als Lucy endlich die Gründe dafür erfährt, muss sie um ihr Glück kämpfen. Wird sie es schaffen, mit James in ihr Happy End zu tanzen?

Autorin

Kathryn Taylor begann schon als Kind zu schreiben – ihre erste Geschichte veröffentlichte sie bereits mit elf. Von da an wusste sie, dass sie irgendwann als Schriftstellerin ihr Geld verdienen wollte. Nach einigen beruflichen Umwegen und einem privaten Happy End ging ihr Traum in Erfüllung. Mittlerweile wurden ihre Romane in 15 Sprachen übersetzt und haben Stammplätze auf den Bestsellerlisten.

Von Kathryn Taylor bei Blanvalet bereits erschienen:

Ein Cottage für zwei

Kathryn Taylor

Ein Tanz

für zwei

Roman

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Copyright © 2024 der Originalausgabe

by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Anne Fröhlich

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: mauritius images / CM8k; Imagebroker / Alamy Stock Photo; www.buerosued.de

LH · Herstellung: sam · lor

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN: 978-3-641-28132-8V001

www.blanvalet.de

1

Lucy wollte gerade den Fuß in den Irrgarten setzen, als sie ein Geräusch hörte. Es klang wie ein hohes Wehklagen, verstummte aber, bevor sie es richtig orten konnte. Angespannt lauschte sie, doch außer dem Zwitschern der Vögel in der Abenddämmerung blieb es still.

Du hast dich getäuscht, versuchte sie sich zu beruhigen und blickte über die hohen dunklen Hecken hinweg auf das Dach von Penrose House. Das alte Herrenhaus, das als eines der schönsten in ganz Cornwall galt, war nicht weit entfernt, sie musste nur noch das Labyrinth aus Zypressen durchqueren, um es zu erreichen.

Angst, sich darin zu verlaufen, hatte sie nicht, sie kannte den Weg, war ihn schon als Kind oft gegangen. Aber die Sonne sank bereits, und im schwindenden Licht wirkten die Hecken mit einem Mal so dunkel und drohend, dass Lucy ihre kurze Strickjacke schloss und hastig weitereilte.

Vielleicht hätte sie das Auto doch im Innenhof von Penrose House abstellen sollen, so wie Penelope Rowe es ihr ausdrücklich angeboten hatte. Doch die Besitzerin des Herrenhauses hatte sie herbestellt, um mit ihr über einen »sehr interessanten Auftrag« zu sprechen, und Lucy wollte unbedingt einen guten Eindruck machen. Deshalb hatte sie ihren rostigen alten Kastenwagen auf dem kleinen Parkplatz hinter dem Haus abgestellt, wo er vor Blicken geschützt war. Von dort musste man durch den Irrgarten, um das Haus zu erreichen, aber nun hatte sie die Hälfte auch schon fast geschafft. Noch zweimal abbiegen, dann …

Abrupt blieb Lucy stehen. Da war das Geräusch wieder! Es klang jetzt näher. Ein Schauer rann ihr über den Rücken. Jetzt war ihr die Sache doch ein bisschen unheimlich. Sonst war sie nicht besonders ängstlich, aber im Moment lagen ihre Nerven blank, was nicht nur dem langen, anstrengenden Tag im Laden geschuldet war, den sie hinter sich hatte, sondern auch dem Schreiben, das ihr die Anwaltskanzlei Fairfax and Fisher aus Truro vor zwei Tagen geschickt hatte und das schwer auf ihrer Seele lastete.

Der Brief lag jetzt sicher eingeschlossen in der Schublade von Lucys Nähtisch, denn ihre Mutter durfte ihn auf keinen Fall finden. Marian Evans erholte sich gerade von einem chronischen Hüftleiden, das sie über viele Jahre nahezu bewegungsunfähig gemacht hatte. Inzwischen gab es neue Therapieansätze, und nach einer erfolgreichen Reha-Maßnahme im vergangenen Sommer waren ihre Fortschritte riesig. Diesen Erfolg wollte Lucy nicht gefährden, deshalb hatte sie sich vorgenommen, ihrer Mutter erst von dem Brief zu erzählen, wenn ihr eine Lösung eingefallen war für das Problem, vor das er sie stellte. Doch das war gar nicht so einfach …

Ein Zweig knackte ganz in der Nähe, und Lucy hielt erschrocken den Atem an. Waren das Schritte auf dem schmalen Kiesweg? Oder gaukelte ihre Fantasie ihr das nur vor? Beide Möglichkeiten waren ihr nicht geheuer, und sie beschloss, den Irrgarten möglichst schnell zu verlassen. Sie war ohnehin schon spät dran für ihren Termin mit Penelope Rowe.

Eilig bog sie um die nächste Ecke und erreichte zu ihrer Erleichterung den freien Platz, der sich ungefähr in der Mitte des Irrgartens befand. Den Holzpavillon, der hier stand, hatte Lucy als halb verfallen in Erinnerung gehabt, doch er musste während der letzten zwei Jahre im Zuge der Renovierungsarbeiten am Herrenhaus hergerichtet und gestrichen worden sein, denn er leuchtete jetzt weiß in der Dämmerung und lud zum Verweilen ein. Lucy lief jedoch zügig weiter, nur um erneut stehen zu bleiben, als sie plötzlich wieder laut und deutlich das Geräusch vernahm, das sie vorhin so verwirrt hatte. Und diesmal erkannte sie endlich, was es war: Da winselte ein Hund!

Suchend blickte sie sich um und nahm eine Bewegung unter dem Pavillon wahr. Als sie näher trat, erkannte sie, dass ein Welpe in dem Hohlraum unter der Treppe saß. Er hatte hellbraunes Fell, süße Schlappohren und blickte sie aus großen dunklen Knopfaugen an, offensichtlich nicht sicher, ob sie Freund oder Feind war.

»Hey, Kleiner!« Lucy ging in die Hocke und streckte die Hand aus. »Warum weinst du denn so? Hast du dich verlaufen?«

Ihre freundliche Stimme lockte den jungen Hund an. Mit tapsigen Schritten kam er auf sie zu und beschnupperte ihre Finger. Dann schien er beruhigt und ließ sich von ihr hochheben.

»Du hast mich ganz schön erschreckt, weißt du«, sagte sie und betrachtete den Welpen eingehender. Sie war nicht ganz sicher, aber sie nahm an, dass es sich bei dem Kleinen um einen Labrador handelte. Er trug ein Halsband mit einer kleinen Metallplakette, auf der ein Name eingraviert war.

»Mister Darcy?«, las Lucy und musste lachen. »Na, wenn du so heißt, dann gehörst du bestimmt Penelope Rowe!«

Die Besitzerin des Herrenhauses liebte die Romane von Jane Austen und überhaupt alles aus der Epoche des Regency, der Zeit des beginnenden 19. Jahrhunderts, in der die Autorin gelebt hatte. Das wusste Lucy, weil sie ebenfalls ein glühender Fan dieser Periode der englischen Geschichte war und sich schon oft mit Penelope darüber unterhalten hatte. Dieses Faible hatten sie gemeinsam, und deshalb traute sie Penelope zu, dass sie ihren Hund nach dem bekannten Helden aus »Stolz und Vorurteil« benannt hatte.

Tatsächlich hätte der Name jedoch unpassender kaum sein können, denn der Welpe war süß und zutraulich und kuschelte sich sofort an Lucy, während der Mister Darcy aus dem Roman ein verschlossener, sehr ernster Held war und alles andere als freundlich. Wenn man jemanden Mister Darcy nennen wollte, dann passte der Name viel besser zu Penelope Rowes Sohn James, der zusammen mit seiner Mutter in Penrose House lebte. Er war groß und dunkelhaarig, und Lucy hatte ihn in Gedanken tatsächlich schon oft mit dem Austen-Darcy verglichen, denn genau wie das literarische Original wirkte auch er fast immer ernst und unnahbar. Nur einmal war das anders gewesen, im vergangenen Jahr beim Sommerball hier in Penrose House. Da hatte James mit Lucy getanzt und ihr mehrmals ein Lächeln geschenkt …

Lucy hätte bei der Erinnerung beinahe wieder schwärmend geseufzt, aber sie rief sich noch rechtzeitig zur Ordnung. Herrgott, es war nur ein Tanz gewesen! Und nachdem der Brief, der sie vor ein paar Tagen so erschreckt hatte, ausgerechnet von der Kanzlei in Truro gekommen war, für die James Rowe arbeitete, wollte sie gar nicht mehr an ihn denken. Er war nicht der romantische Held ihrer Geschichte, im Gegenteil, er gehörte zu diesen gefühllosen Anwälten, die sich nichts dabei dachten, ihr mit einem Federstrich die Existenzgrundlage zu nehmen …

Schritte knirschten – diesmal laut und deutlich vernehmbar – auf dem Kies und rissen Lucy aus ihren Gedanken. Sie kamen rasch näher, und einen Moment später trat ein großer Mann mit kurz geschnittenen dunklen Haaren neben dem Pavillon aus einem der Gänge.

Wenn man den Teufel nennt, dachte Lucy und versuchte, ihren Herzschlag zu beruhigen, der davongaloppierte, als James Rowe sie bemerkte und ihre Blicke sich trafen.

»Miss Evans«, sagte er, sichtlich überrascht.

»Guten Abend, Mr. Rowe«, erwiderte sie und ärgerte sich darüber, dass sein Auftauchen sie so nervös machte. Sie wäre sehr viel lieber gleichgültig geblieben, aber das war schwer, denn rein äußerlich gefiel er ihr leider sehr.

Wie eigentlich immer, wenn sie ihm bisher begegnet war, trug er einen Anzug, heute einen dunkelblauen, und ihr geschultes Schneiderinnen-Auge nahm sofort wahr, wie gut Jacke und Hose saßen. Es musste eine Maßanfertigung sein, denn der Schnitt betonte seine breiten Schultern und seine sportliche Figur perfekt. Aber mit seinen kantigen, ebenmäßigen Gesichtszügen und den klaren grauen Augen hätte James Rowe vermutlich auch in einem Jutesack noch attraktiv ausgesehen, dachte sie und fragte sich in einem Anflug von Verzweiflung, womit er das eigentlich verdient hatte.

»Ich glaube, ich habe Ihren Hund gefunden«, informierte sie ihn und deutete mit dem Kinn auf den kleinen Labrador, der auf ihrem Arm eingeschlafen war.

»Er ist nicht mein Hund, er gehört meiner Mutter«, murmelte James Rowe und starrte sie immer noch so entgeistert an, dass sie schon beleidigt sein wollte. Doch dann wurde ihr klar, dass es ihre Garderobe sein musste, die ihn verwirrte.

Sie trug nämlich keine Alltagssachen, sondern ein selbst genähtes Kleid, das sehr stark an die Mode der Regency-Zeit erinnerte. Es war aus einem duftigen hellgrünen Stoff, der gut zu ihren kupferroten Haaren passte, und hatte eine hoch angesetzte Taille und einen tiefen Ausschnitt. Ihr Haar, das ihr sonst bis über die Schultern fiel, hatte Lucy hochgesteckt, sodass nur einige wilde Locken ihr Gesicht umrahmten, und in ihrem Rücken hing ein passender Strohhut an einem grünen Samtband, weshalb sie vermutlich aussah, als wäre sie einem Kostümfilm entstiegen. Nur die kurze gehäkelte Strickjacke war nicht historisch korrekt, aber Lucy hatte sie trotzdem mitgenommen, weil die Aprilabende noch kühl waren.

»Dieses Kleid!« James Rowe schüttelte den Kopf. Lucy wollte ihm gerade erklären, dass sie es auf Wunsch seiner Mutter trug, aber er sprach schon weiter. »Das hatten Sie auch auf dem Sommerball an.« Er hob den Blick und sah ihr in die Augen. »Oder?«

Lucy nickte überrascht. Sie hätte Stein und Bein geschworen, dass er längst vergessen hatte, wie sie auf dem Ball ausgesehen hatte. Sie dagegen erinnerte sich an jedes Detail. Sie wusste noch genau, wie sie sich gefühlt hatte, als James nach dem ersten Tanz, den er mit seiner Mutter absolviert hatte, ausgerechnet auf sie zugekommen war und sie aufgefordert hatte. Sie hatte heimlich für ihn geschwärmt, seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte, und es war wie ein schöner Traum gewesen, in seinen Armen über das Parkett des Ballsaals in Penrose House zu schweben. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätte sie den ganzen Abend weiter mit ihm tanzen können, doch es war bei dem einen Walzer geblieben. Danach hatte James sich anderen Gästen gewidmet.

Warum hätte er sie auch noch einmal auffordern sollen? Sie waren damals nicht mehr als Bekannte gewesen, und in den neun Monaten, die seitdem vergangen waren, hatte sich das nicht geändert, denn Lucy hatte ihn kaum mehr zu Gesicht bekommen. Er pendelte jeden Tag nach Truro, wo er als Anwalt arbeitete, und kam selten nach Carywith, in das kleine Fischerdorf ganz in der Nähe des Herrenhauses, in dem Lucy ihre Änderungsschneiderei mit angeschlossener Boutique führte.

In letzter Zeit hatte er allerdings manchmal seine Mutter begleitet, wenn sie etwas bei Lucy gekauft oder in Auftrag gegeben hatte. Doch auch das waren unbedeutende und distanzierte Begegnungen gewesen, bei denen Lucy mit ihm, wenn überhaupt, nur über das Wetter gesprochen hatte. Jetzt jedoch stand er so dicht vor ihr wie damals auf der Tanzfläche, und Lucy musste sich eingestehen, dass es dasselbe nervöse Kribbeln in ihrem Bauch auslöste.

»Möchten Sie den Hund wieder nehmen?«, fragte sie, um ihre Verlegenheit zu überspielen.

»Bloß nicht«, wehrte er ab. »Der kleine Satansbraten kann mich nicht leiden. Er läuft ständig weg und kommt nicht, wenn ich ihn rufe.«

»Sie haben ihn nicht gerufen«, erinnerte Lucy ihn. »Jedenfalls habe ich nichts gehört.«

James verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Wie gesagt: Selbst wenn ich es tue, nützt es nichts. Deshalb schweige ich lieber, anstatt diesen unsäglichen Namen zu rufen, den meine Mutter ihm gegeben hat. Der geht mir nur sehr schwer über die Lippen.«

»Was haben Sie denn gegen Mister Darcy?«, fragte Lucy. »Ich finde den Namen sehr originell.«

»Und ich finde ihn ungefähr so albern wie die Idee, überhaupt einen Hund anzuschaffen«, erwiderte James. »Als hätte meine Mutter nicht schon genug Stress mit ihren vielen Projekten!« Er seufzte. »Sie wissen ja, wie sie ist. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann ist sie nicht davon abzubringen.«

»Zum Glück«, entfuhr es Lucy. »Wenn Ihre Mutter nicht so wäre, dann würde Penrose House heute vielleicht nicht wieder zu den schönsten Herrenhäusern in ganz Cornwall zählen, sondern wäre noch in dem verfallenen Zustand, in dem Ihre Eltern es damals gekauft haben.«

James’ Miene verfinsterte sich. »Tut mir leid, aber auch das sehe ich anders. Meine Eltern hätten in Truro bleiben sollen, anstatt sich diesen alten Kasten aufzuhalsen, der nichts als Arbeit macht. Vielleicht wäre mein Vater dann noch am Leben!«

Erschrocken sah Lucy ihn an. Alle aus der Gegend wussten, dass Matthew Rowe kurz nach dem Abschluss der Renovierungsarbeiten an Penrose House einen tödlichen Herzinfarkt erlitten hatte. Es war lange darüber spekuliert worden, ob die Witwe das Haus wieder aufgeben würde, doch Penelope war geblieben, was Lucy bewunderte. Und eigentlich war sie davon ausgegangen, dass auch James diese Entscheidung mittrug, denn er hatte nach dem Tod seines Vaters Truro verlassen und war zu seiner Mutter ins Herrenhaus gezogen. Dass er das eher aus Pflichtgefühl getan hatte und eigentlich gar nicht hier wohnen wollte, war Lucy nicht in den Sinn gekommen. Gab James wirklich dem Haus die Schuld am Tod seines Vaters?

Spontan legte sie ihm eine Hand auf den Arm. »Tut mir leid«, sagte sie unglücklich. »Das mit Ihrem Vater.«

»Schon gut.« Er wich ihrem Blick aus. Offenbar war es ihm unangenehm, das Thema überhaupt angeschnitten zu haben, deshalb zog Lucy die Hand wieder zurück.

»Was tun Sie eigentlich hier?«, fragte er nach einem kurzen Moment des Schweigens.

»Ihre Mutter hat mich hergebeten«, erwiderte Lucy. »Ich sollte nach Ladenschluss vorbeikommen, weil sie etwas mit mir besprechen …«

»Ja, das weiß ich«, unterbrach James sie ungeduldig. »Ich meinte, was Sie hier im Irrgarten tun. Haben Sie hinter dem Haus geparkt? Sie hätten doch in den Innenhof fahren können.«

Lucy wollte die Gründe für ihre Entscheidung, ihr rostiges Auto lieber außer Sichtweite abzustellen, nicht mit ihm diskutieren, deshalb zuckte sie nur mit den Schultern.

»Ich schätze, ich bin es einfach so gewohnt«, sagte sie. »Alle Leute aus Carywith, die diesen Parkplatz kennen, nutzen ihn. Er ist so eine Art Geheimtipp im Dorf.«

»Aha.« James deutete auf Mister Darcy. »Na, dann muss ich dem kleinen Ausreißer ja fast dankbar sein. Ich habe nämlich vorne auf Sie gewartet, und wenn er nicht weggelaufen wäre, hätte ich Sie vielleicht verpasst.«

»Sie haben auf mich gewartet?« Lucy starrte ihn verwirrt an. »Warum?«

»Weil ich mit Ihnen reden muss, bevor Sie zu meiner Mutter gehen«, erklärte er. »Oder eigentlich möchte ich Sie um etwas bitten.«

Lucy schluckte. »Was kann ich denn für Sie tun?«

James blickte über seine Schulter, so als wollte er sich davon überzeugen, dass sie allein waren. »Meine Mutter wird Ihnen gleich ein berufliches Angebot machen«, sagte er mit gesenkter Stimme. »Und ich möchte, dass Sie es ausschlagen.«

»Was? Aber warum denn?«, fragte Lucy irritiert und auch ein bisschen beleidigt. »Trauen Sie mir den Auftrag nicht zu?«

»Im Gegenteil«, versicherte er ihr. »Es gibt gute Gründe dafür, dass die Wahl meiner Mutter auf Sie gefallen ist. Aber lehnen Sie bitte trotzdem ab.«

Lucy war für einen Moment zu fassungslos, um zu antworten. Sie hatte zwar keine Ahnung, was genau Penelope Rowe von ihr wollte, aber es ging sicher darum, etwas für sie zu schneidern. James’ Mutter hatte während der vergangenen Monate immer wieder Kleider bei Lucy in Auftrag gegeben und diese Sonderanfertigungen gut bezahlt. Und das sollte sie ablehnen? Wie um Himmels willen stellte er sich das vor?

»Ich würde mich freuen, wenn Ihre Mutter Arbeit für mich hat. Ich könnte das Geld gebrauchen«, sagte sie und gab sich keine Mühe, ihre Verärgerung zu verbergen. Meine Güte, gerade er musste doch wissen, wie sehr sie in nächster Zeit auf jeden Penny angewiesen sein würde, den sie verdienen konnte. Oder hatte er schon vergessen, was in dem Brief stand, den seine Kanzlei ihr geschrieben hatte?

»Natürlich würde das nicht zu Ihrem Nachteil sein«, versicherte er ihr. »Ich zahle Ihnen die Summe, die Sie meiner Mutter in Rechnung gestellt hätten. Sie bekämen das gleiche Geld, aber Sie müssen nichts dafür tun, außer meiner Mutter nichts davon zu sagen. Sie ist gesundheitlich angeschlagen, und ich will sie nicht aufregen.«

Nun war Lucy endgültig verwirrt. »Was ist das denn für ein Auftrag?«

»Mister Darcy?«, rief plötzlich eine Frauenstimme irgendwo ganz in der Nähe, und Lucy erkannte, dass sie Penelope Rowe gehörte.

James umfasste ihren Arm. »Das wird meine Mutter Ihnen gleich erklären«, sagte er. »Sie müssen nur ablehnen. Das ist alles.«

»Darcy, mein Kleiner, bist du hier?«

Penelopes Stimme klang jetzt ganz nah, und James ließ Lucy wieder los, genau in dem Augenblick, in dem eine ältere Dame mit goldblond gefärbten, schulterlangen Haaren den Platz betrat. Sie trug ein legeres T-Shirt und Jeans und dazu grüne, knöchelhohe Gummistiefel.

»Nein, so was, Miss Evans! Sie sind schon da?«, rief sie erfreut und ließ den Blick über Lucys Kleid gleiten. »Und Sie haben meine Bitte erfüllt, wie schön!«

Unsicher sah Lucy an sich herunter. »Ja, ich weiß nur nicht, warum ich …«

»Gleich, meine Liebe«, unterbrach Penelope sie. »Ich erkläre Ihnen alles, wenn wir im Haus sind.« Sie wandte sich an James. »Warum hast du Miss Evans denn nicht längst hereingebeten?« Sie hob lächelnd die Augenbrauen. »Wolltest du sie für dich allein?«

Lucy blickte nicht zu James auf, weil sie sein Gesicht nicht sehen wollte. Wahrscheinlich hatte er gerade mit den Augen gerollt oder auf andere Weise zum Ausdruck gebracht, wie absurd er die Vorstellung fand, dass er irgendein romantisches Interesse an ihr haben könnte. Stattdessen reichte sie Penelope den Welpen, der verschlafen gähnte.

»Da bist du ja, mein Kleiner!« Penelope nahm den jungen Labrador auf den Arm und kraulte ihn liebevoll. Dann wandte sie sich wieder an Lucy. »Oh, ich bin schon so gespannt darauf, was Sie zu meinem Vorschlag sagen! Kommen Sie, gehen wir ins Haus.«

Sie hakte Lucy mit ihrem freien Arm unter und zog sie sanft durch den Irrgarten. James folgte ihnen, und Lucy hatte die ganze Zeit das Gefühl, seine Blicke in ihrem Rücken zu spüren.

Sie erreichten Penrose House, und wie immer nahm der Anblick Lucy kurz den Atem. Sie mochte alte Häuser, und das Herrenhaus mit seinen geschwungenen Torbögen und den alten Bleiglasfenstern war immer ein besonderer Ort für sie gewesen. Es war Anfang des 19. Jahrhunderts erbaut worden und passte damit genau in die Zeit, die sie – und Penelope – so besonders liebten.

Penelope führte Lucy in den Innenhof und betrat mit ihr das altehrwürdige Gebäude. In der Eingangshalle begegneten sie einer Frau in Penelopes Alter, deren dunkelbraunes Haar von grauen Strähnen durchzogen war.

»Melinda, das ist Lucy Evans«, stellte Penelope vor. »Und das ist Melinda Howard, die hier alles im Griff hat und ohne die wir niemals auskommen würden.«

»Du übertreibst mal wieder maßlos, Penelope.« Melinda schüttelte Lucy die Hand. »Ich bin die Haushälterin«, erklärte sie und deutete auf Mister Darcy. »Soll ich den Kleinen eine Weile nehmen, während du mit Miss Evans oben bist?«

»Oh, das wäre fantastisch, Melinda, vielen Dank!« Penelope übergab ihr den Welpen und stieg mit Lucy weiter die Treppe hinauf. James, der ihnen bisher gefolgt war, blieb zurück, und als Lucy einen Blick über ihre Schulter warf, sah sie, dass er sich leise mit Melinda unterhielt.

»Kommen Sie, hier entlang.« Penelope führte Lucy zu den beiden großen Türen, hinter denen, wie Lucy wusste, der Ballsaal lag. »Bitte sehr!«, verkündete sie, nachdem sie eine Seite geöffnet hatte, und bedeutete Lucy hineinzugehen. Lucy betrat den Saal – und blieb nach ein paar Schritten überrascht stehen.

»Oh mein Gott, sind die schön!«, rief sie und bestaunte ungläubig drei Schaufensterpuppen, die mitten im Saal standen und in wunderschönen Ballroben steckten. Die Kleider ähnelten in der Schnittführung dem Modell, das Lucy trug, und gehörten modisch allesamt in die Regency-Epoche.

Ehrfürchtig näherte Lucy sich den Puppen und berührte die Stoffe der Röcke.

»Wo haben Sie die Kleider her?«, fragte sie Penelope und runzelte die Stirn, als sie kleine Fehler daran bemerkte, die man von Weitem nicht sah. Es gab unsaubere Nähte und lose Fäden, und ein paar Details waren nicht historisch korrekt, sondern eher der Fantasie der Schneiderin entsprungen. Den Grund dafür ahnte sie bereits. »Stammen sie aus einem Theaterfundus?«

»Genau«, bestätigte Penelope. »In Falmouth wurde ein kleines Theater geschlossen, und die Kleider standen zum Verkauf. Da konnte ich nicht widerstehen und habe sie mitgenommen. Und als ich sie mir genauer angesehen habe, kam mir eine Idee.« Sie strahlte jetzt richtig vor Begeisterung. »Ich feiere Mitte Mai nämlich meinen 60. Geburtstag, wissen Sie, und den möchte ich im Stil eines Regency-Balls feiern. Die Gäste bekommen dafür Kleider aus der Zeit zur Verfügung gestellt, und auch sonst soll alles so stilecht wie möglich werden, mit Kutschen und Pagen und Tanzkarten und allem, was dazugehört. Was halten Sie davon?«

»Ein Regency-Ball?« Lucys Herz schlug schneller. Von so etwas träumte sie schon, seit sie sich zum ersten Mal mit der Mode der Regency-Zeit auseinandergesetzt hatte! »Das ist eine tolle Idee«, sagte sie. »Aber dann brauchen Sie noch mehr Kleider. Die drei werden nicht reichen.«

»Daran habe ich natürlich auch schon gedacht und mich umgehört«, erwiderte Penelope. »Es gibt einen Kostümverleih in Plymouth, der gerade schließt. Dort kann ich mehr bekommen, auch Dienstbotenuniformen und Kleidung für die Herren. Ich weiß allerdings nicht, in welchem Zustand die Sachen sind. Außerdem möchte ich die Kostüme für James, Melinda und mich neu anfertigen lassen. Und da kommen Sie ins Spiel, Miss Evans.« Sie lächelte. »Wie ich weiß, sind Sie nicht nur eine fantastische Schneiderin, sondern auch Expertin für die Zeit des Regency. Was würden Sie also davon halten, wenn Sie die Verantwortung für die Garderobe der Gäste übernehmen? Diese Aufgabe würde ich nämlich sehr gerne in Ihre Hände legen.«

»Oh, das ist …« Lucy hielt inne und blickte zu James, der in diesem Moment ebenfalls in den Ballsaal kam. Das war also das berufliche Angebot, für das er ihr genauso viel geben würde wie seine Mutter, wenn sie es ausschlug?

Sie betrachtete wieder die Kleiderpuppen.

»Das ist wirklich nett, dass Sie da an mich denken«, sagte sie zu Penelope, die sie erwartungsvoll ansah. »Ich …«

Sie sah noch einmal zu James, der jetzt hinter Penelope stand. Er schüttelte warnend den Kopf, und seine Lippen formten ein lautloses »Nein«.

Lucy räusperte sich und richtete den Blick wieder auf Penelope.

»Ja«, sagte sie mit fester Stimme. »Diesen Auftrag übernehme ich sehr gerne.«

2

»Oh, ich wusste, dass das etwas für Sie ist!« Penelope war sichtlich erleichtert. »Ich werde gleich morgen bei dem Verleih anrufen und dafür sorgen, dass die Sachen hergebracht werden. Bis zum Wochenende sollten wir alles hier haben, dann können Sie sich einen Überblick verschaffen, und danach reden wir über die Details. Wollen wir es so machen?«

Lucy nickte. »Dann komme ich am Samstagmittag nach Ladenschluss wieder her«, sagte sie, doch ihr Lächeln erlosch, als ihr Blick an James hängen blieb und sie seine versteinerte Miene sah. Nur seine Augen funkelten wütend.

»Mum, bist du sicher, dass du dich damit nicht übernimmst?«, fragte er. »Ich wünschte, du würdest es dir noch mal überlegen. Warum muss es denn gleich so etwas Aufwendiges sein? Wir wollten doch an deinem Geburtstag nach New York und dann …«

»Du wolltest nach New York«, unterbrach sie ihn. »Und das war auch eine wirklich liebe Idee von dir. Aber mir gefällt die Idee mit dem Ball. Gib es auf, mein Junge. Du weißt doch, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe …«

Sie lächelte, aber James blieb ernst und sah Lucy wütend an. Wenn Blicke töten könnten, dachte Lucy, ein bisschen beklommen. Sie bereute ihre Entscheidung trotzdem nicht. Im Gegenteil, sie brannte für dieses Projekt und konnte es kaum erwarten, mit dem Umnähen der Kleider anzufangen.

»Ich freue mich schon«, versicherte sie Penelope und beschloss, James Rowe zu ignorieren. Sie schuldete ihm nichts, schon gar nicht nach dem Schreiben, das sie von seiner Kanzlei erhalten hatte.

»Oh, das wird wundervoll! Ich habe mir so gewünscht, dass Sie das übernehmen! Sie sind perfekt für den Auftrag!«, freute sich Penelope. Doch dann wurde sie wieder ernst. »Apropos Auftrag: Erinnern Sie sich noch an das bordeauxrote Kleid, das Sie mir im vergangenen Jahr für den Sommerball genäht haben? Mister Darcy hat leider seine kleinen Zähne in den Saum geschlagen und dabei den Stoff beschädigt. Würden Sie sich das einmal ansehen und mir sagen, ob Sie das wieder richten können?«

»Natürlich«, erwiderte Lucy und ging mit Penelope aus dem Ballsaal, vorbei an James, der sie immer noch mit ziemlich grimmiger Miene musterte. Er folgte ihnen vor die Tür, doch als Lucy kurze Zeit später noch einmal über ihre Schulter blickte, merkte sie, dass er ihnen nicht gefolgt war. Irritiert sah sie wieder nach vorn.

Sie hatte erwartet, dass er bei ihnen bleiben und auf eine Gelegenheit warten würde, sie zur Rede zu stellen. Dass er so schnell aufgab, passte nicht so recht zu der Dringlichkeit, mit der er sie vorhin gebeten hatte, den Auftrag abzulehnen.

»Ist Ihr Sohn gegen den Ball?«, fragte sie vorsichtig.

Penelope lächelte. »James ist gegen alles, was mich anstrengen könnte«, sagte sie. »Wenn es nach ihm ginge, dann dürfte ich nicht mal meine Freunde einladen, von einem Ball ganz zu schweigen. Kommen Sie, hier entlang.«

Sie führte Lucy einen langen Gang mit Gewölbedecke entlang.

Lucy kannte von ihren bisherigen Besuchen in Penrose House bisher nur die Empfangshalle, das Treppenhaus und den Ballsaal. Jetzt führte Penelope sie jedoch in den Teil des Herrenhauses, den sie mit James zusammen bewohnte, und Lucy staunte, wie liebevoll auch hier alles renoviert und hergerichtet war.

Die Türen, die früher rau und rissig gewesen waren, strahlten jetzt wieder in warmen Holztönen, das Messing der Beschläge glänzte, Gemälde und ausgesuchte Antiquitäten zierten die weiß getünchten Flure, und lange Teppiche lagen auf dem abgeschliffenen und geölten Holzboden.

»Mein Gott, das ist alles so schön geworden«, entfuhr es Lucy. »Wie haben Sie das nur geschafft in der kurzen Zeit?«

»Das war Matthew«, erwiderte Penelope. »Er war immer sehr entschlossen. Wenn er sich etwas vorgenommen hatte, dann hat er nicht lockergelassen, bis es geschafft war.« Sie lächelte wehmütig, und Tränen schimmerten in ihren Augen. »Ich vermisse ihn immer noch sehr.«

Betroffen sah Lucy sie an. »Das mit Ihrem Mann tut mir so leid«, sagte sie. »Mein Vater ist auch an einem Herzinfarkt gestorben. Ich weiß, wie das ist, wenn man sich auf den Verlust eines geliebten Menschen nicht vorbereiten kann.«

Penelope blieb stehen und nickte. »Das ist das Schlimmste«, sagte sie und betrachtete Lucy mit neuem Interesse. »Wie alt waren Sie, als Ihr Vater starb?«

»Sechzehn«, erwiderte Lucy und schluckte bei der Erinnerung daran, wie schwer sie es in der Zeit danach gehabt hatte. Sie hatte genauso getrauert wie ihre Mutter, aber sie hatte stark sein müssen für sie beide, denn Marian war sehr krank geworden und hatte Hilfe gebraucht. Manchmal fragte Lucy sich, wo sie heute wohl wäre, wenn sie damals nach der Schule nicht in Carywith hätte bleiben müssen, um für ihre Mutter da zu sein. Aber eigentlich hatte sie sich damit arrangiert. Sie mochte den kleinen Ort und seine Bewohner und fühlte sich wohl hier. Ob sie würde bleiben können, wenn die Frist ablief, die ihr die Anwaltskanzlei von James Rowe gesetzt hatte, stand allerdings noch in den Sternen, und Lucy spürte einen Stich in der Brust, als ihr der schreckliche Brief wieder einfiel.

»Entschuldigen Sie, dass ich so neugierig war«, sagte Penelope Rowe. »Es tut mir leid, dass Sie das auch durchmachen mussten.«

Lucy zuckte nur lächelnd mit den Schultern. Sie wollte lieber nicht mehr über dieses Thema reden, aber das musste sie zum Glück auch nicht, denn Penelope öffnete die Tür, vor der sie standen.

»Das hier ist mein Zimmer«, verkündete sie und betrat das große Schlafzimmer, in dem sich nicht nur ein Himmelbett mit Baldachin, sondern auch ein alter Schminktisch und ein hübscher kleiner Damensekretär befanden. Unter dem Fenster stand außerdem ein Hundekörbchen aus geflochtenen Weidenrouten, dessen eine Ecke angeknabbert aussah. Und genau das war auch beim Saum des bordeauxfarbenen Kleides der Fall, das in einer Hülle auf einem Bügel vor dem antiken Kleiderschrank hing.

»Sehen Sie, diese Stelle hier meine ich«, sagte Penelope, nachdem sie die Hülle geöffnet und den Saum des Rocks abgesucht hatte. Sie zeigte Lucy den beschädigten Stoff, und Lucy begutachtete ihn genauer.

»Puh, ich fürchte, da hat Mister Darcy ganze Arbeit geleistet«, sagte sie bedauernd, denn die angekaute Stelle war definitiv nicht zu retten. Dafür war das Material zu stark beschädigt. Aber vor ihrem inneren Auge sah Lucy schon die Lösung für das Problem. »Ich kann das zwar nicht mehr flicken, aber ich könnte eine Spitzenkante um den Saum ziehen. Dann würde es nicht mehr auffallen.«

»Oh, das wäre fantastisch!« Penelope lächelte glücklich. »Würden Sie das …«

Sie hielt inne, weil es an der Tür klopfte und kurz darauf die Haushälterin Melinda Howard hereinkam. Sie trug den kleinen Labrador auf dem Arm.

»Tut mir leid, dass ich störe, aber ich müsste mich jetzt um das Abendessen kümmern«, sagte sie. »Würdest du Mister Darcy wieder nehmen?«

»Oh, natürlich, entschuldige, ich habe an den kleinen Racker gar nicht mehr gedacht«, erwiderte Penelope.

Die Haushälterin nickte nur lächelnd und ließ Lucy und Penelope mit Mister Darcy allein, der sich über das Wiedersehen mit seinem Frauchen sichtlich freute und immer wieder versuchte, ihr über das Gesicht zu lecken.

Penelope wehrte ihn lachend ab und kraulte ihn, als er sich beruhigt hatte und seinen Kopf unter ihrem Arm vergrub.

»Ach, ist er nicht entzückend? Ich habe mich gleich in ihn verliebt, als ich den Wurf beim Züchter besucht habe. Darcy kam zu mir und hat sich an mich gekuschelt, so wie jetzt. Da wusste ich, dass er zu mir gehört.« Sie seufzte. »Allerdings muss ich James noch von ihm überzeugen. Er war gar nicht begeistert davon, dass wir jetzt einen Hund im Haus haben.«

»Ja, den Eindruck hatte ich eben auch«, stimmte Lucy ihr zu. »Und ich kann das genau so wenig verstehen wie Sie. Ich finde den Kleinen auch zuckersüß.«

»So ein Welpe macht natürlich Arbeit«, gestand Penelope. »Aber ich bin mehr als bereit, sie auf mich zu nehmen. Was mein Sohn nämlich gerne vergisst, ist die Tatsache, dass er nicht ewig hier wohnen wird. Ich weiß, dass er nur mir zuliebe hergezogen ist, und ich genieße es, ihn hier zu haben. Er unterstützt mich sehr mit dem Haus, das mich manchmal ein bisschen überfordert. Aber auf Dauer möchte ich, dass er wieder sein eigenes Leben lebt. Er ist immerhin schon einunddreißig, da sollte kein Mann mehr bei seiner Mutter wohnen. Und wenn ich dann allein bin, kann Mister Darcy mir Gesellschaft leisten.«

Sie lächelte, doch Lucy sah ihr an, dass ihr der Gedanke zu schaffen machte, irgendwann die einzige Bewohnerin von Penrose House zu sein. Dass sie trotzdem nicht vorhatte, James hier zu halten, fand Lucy bewundernswert. Aber sie kannte auch die andere Seite, wusste, wie verpflichtet James sich fühlte, bei ihr zu bleiben. Es war schwer, sich zu lösen, wenn jemand, dem man nahestand, nach dem Verlust eines geliebten Menschen noch ganz verloren wirkte. Von der eigenen Trauer ganz zu schweigen …

»Oh!« Penelope griff nach einem der Pfosten des Himmelbetts. »Ich … ich glaube, ich setze mich lieber einen Moment.«

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Lucy erschrocken. »Ist Ihnen nicht gut?«

»Mir war ein bisschen schwindelig, aber es geht schon wieder«, meinte Penelope. Sie saß jetzt auf dem Bett und hielt Mister Darcy auf dem Schoß. Entschuldigend blickte sie zu Lucy auf. »Machen Sie sich keine Gedanken, das habe ich manchmal. Es geht schon wieder.«

»Sind Sie sicher?« Lucy dachte an James’ Bemerkung über Penelopes angeschlagene Gesundheit. »Soll ich nicht lieber Ihren Sohn holen?«

»Nein, bitte nicht!«, erklärte Penelope mit Nachdruck. »Dann macht er sich nur Sorgen. Dabei geht es mir gut. Ich hatte einen anstrengenden Tag, das ist alles. Wenn ich mich kurz hinlege, bin ich zum Abendessen wieder fit.« Sie lächelte. »Nun schauen Sie nicht so, Miss Evans. Das ist leider normal in meinem Alter, dass man etwas früher erschöpft ist. Denken Sie, dass Sie den Weg nach draußen allein finden?«

»Natürlich!« Lucy nahm das Kleid vom Schrank und legte es sich über den Arm. »Dann bis Samstag. Vielleicht habe ich den Saum Ihres Kleides dann schon gerichtet.«

Sie ging zur Tür, doch als sie einen Moment später im Flur stand, nagte die Sorge weiter an ihr. Penelope Rowe hatte ganz blass ausgesehen. Ob mit ihr wirklich alles in Ordnung war?

Kurz überlegte sie, James Rowe doch über den Schwächeanfall seiner Mutter zu informieren. Doch erstens hatte sie keine Ahnung, wo er sich gerade aufhielt, und wollte ihm, wenn sie ehrlich war, auch nicht mehr begegnen. Und zweitens hatte Penelope sie gebeten, ihm nichts zu sagen, und das konnte sie nicht einfach ignorieren. Deshalb verließ sie das Herrenhaus und ging durch den Torbogen zurück auf die Seite, auf der der Irrgarten lag.

Die Sonne war inzwischen fast untergegangen, doch das Licht der letzten rosafarbenen Streifen am Himmel reichte Lucy, um den Weg durch den Irrgarten zu finden. Sie erreichte den Parkplatz und suchte in ihrer kleinen Beuteltasche nach ihrem Autoschlüssel, was gar nicht so einfach war, weil sie das Kleid auf dem Arm hielt.

»Kann ich helfen?«, fragte eine tiefe Stimme so unerwartet, dass Lucy vor Schreck den Schlüssel fallen ließ, den sie gerade mühsam aus ihrer Tasche gefischt hatte.

Erst jetzt bemerkte sie, dass James Rowe mit vor der Brust verschränkten Armen an ihrem Auto lehnte.

»Mein Gott, haben Sie mich erschreckt!«, sagte sie und wollte sich nach dem Schlüssel bücken. Doch James war schneller. Mit zwei Schritten war er bei ihr und hob den Schlüssel auf, bevor Lucy es tun konnte. Doch er gab ihn ihr nicht sofort zurück.

»Warum haben Sie Ja gesagt?«, fragte er. »Ich hatte Sie doch ausdrücklich gebeten, den Auftrag abzulehnen.«

Das schwindende Licht nahm Lucy die Chance, den Ausdruck auf seinem Gesicht zu lesen, aber sie hörte die Verärgerung in seiner Stimme.

Wenn er allerdings glaubte, dass sie sich von ihm einschüchtern ließ, nur weil er sie um einen Kopf überragte, dann vertat er sich gewaltig.

»Ich habe zugestimmt, weil ich die Idee Ihrer Mutter großartig finde«, erwiderte sie. »Für mich geht damit ein Traum in Erfüllung. Und so ein Angebot soll ich einfach so ablehnen, ohne dass Sie mir Gründe dafür nennen? Nein, tut mir leid. So funktioniert das nicht.«

Er blinzelte, offenbar überrascht über ihre Reaktion. »Reicht es nicht, dass es Gründe gibt?«, fragte er. »Und Ihnen wäre doch kein Schaden entstanden. Ich hätte Ihnen …«

»Doch, natürlich wäre mir ein Schaden entstanden«, widersprach sie ihm. »Ich möchte diese Kleider nähen, verstehen Sie? So eine Chance bekomme ich vielleicht nie wieder. Wenn Sie mir also kein überzeugendes Argument liefern können, warum ich das nicht tun soll, dann werde ich dafür sorgen, dass Ihre Mutter ihren Geburtstag genau so feiern kann, wie sie sich das wünscht.« Sie griff nach ihrem Autoschlüssel und zog ihn James Rowe aus der Hand. »Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich muss nach Hause.«

Sie wollte an ihm vorbeigehen, doch er hielt sie am Arm fest.

»Dann tun Sie es mir zuliebe. Bitte«, sagte er, freundlicher diesmal, und Lucy spürte, dass das viel mehr Wirkung auf sie hatte als sein herrischer Ton von eben. Für einen Moment verlor sie sich in seinen grauen Augen. Doch dann erinnerte sie sich an den Brief von Fairfax and Fisher, der zu Hause in der Schublade ihres Nähtischs lag.

»Ich schulde Ihnen nichts, Mr. Rowe«, sagte sie und machte sich von ihm los. »Sie interessieren sich nicht dafür, was aus mir und meinem Laden wird, also sehe ich nicht ein, warum ich etwas für Sie tun sollte.«

Sie ließ ihn stehen, ging zu ihrem Kastenwagen und öffnete die hintere Tür. Vorsichtig legte sie das Kleid auf den Rücksitz, dann umrundete sie das Auto, stieg ein und startete den Motor. James Rowe stand immer noch an derselben Stelle, als sie einen Augenblick später an ihm vorbeifuhr. Dann verschwand seine große Gestalt hinter ihr in der Dunkelheit, und Lucy atmete erleichtert auf.

Es war sicher nicht das letzte Mal gewesen, dass sie mit ihm aneinandergeraten war. Tatsächlich würde sie ihn vermutlich öfter sehen, jetzt, wo sie Penelopes Auftrag angenommen hatte. Und wenn er mich jedes Mal so nervös macht wie gerade eben, dann stehen mir harte Wochen bevor, dachte sie mit einem tiefen Seufzen, während sie den Wagen über die schmale Landstraße lenkte, die vom Herrenhaus über die Hügel zurück nach Carywith führte.

James sah den Lichtern des Kastenwagens nach, die in der Dämmerung bald verschwunden waren. Doch auch als die Motorgeräusche verklangen, rührte er sich nicht, sondern starrte ins Leere.

Er konnte nicht fassen, dass Lucy Evans ihn einfach hatte stehen lassen. Sie war nicht nur nicht auf sein Angebot eingegangen, das er eigentlich sehr fair gefunden hatte, sondern schien auch noch wütend auf ihn zu sein. Wie hatte sie das gemeint, dass er sich nicht dafür interessierte, was aus ihr und ihrem Laden wurde? Es hatte sich angehört, als hätte er ihr etwas getan, aber James konnte sich nicht vorstellen, was das sein sollte.

Verärgert rief er sich noch einmal in Erinnerung, wie viel heute Abend schiefgelaufen war. Er hatte es sich deutlich einfacher vorgestellt, Lucy Evans davon abzuhalten, für seine Mutter zu arbeiten. Tatsächlich war er sogar der Überzeugung gewesen, dass es überhaupt kein Problem sein würde. Wenn er sich das Gespräch mit ihr ausgemalt hatte, dann hatte er ihr im Hof aus dem Auto geholfen, ihr seinen Vorschlag unterbreitet, und sie war lächelnd darauf eingegangen. Dann wäre diese ganze hirnrissige Idee mit dem Regency-Ball vom Tisch gewesen, denn James war sicher, dass der Plan seiner Mutter mit Lucy Evans stand und fiel. Wenn sie Nein gesagt hätte, dann hätte Penelope davon Abstand genommen.

Doch nichts hatte so geklappt wie geplant. Lucy war nicht in den Hof gefahren, sondern hinter das Haus, wo er nur hingelaufen war, weil er mal wieder nach diesem verdammten Hund hatte suchen müssen. Und als sie dann plötzlich vor ihm gestanden hatte, in dem Kleid, das sie auch auf dem Ball getragen hatte …

Verdammt, das hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht! Das Kleid war so auffällig und besonders, dass er es sofort wiedererkannt hatte. Er wusste noch genau, wie er Lucy darin am Rand der Tanzfläche hatte stehen sehen. Es war eine spontane Entscheidung gewesen, nicht Lydia Fairfax aufzufordern, so wie er es vorgehabt hatte, sondern sie. Dabei war so etwas sonst gar nicht seine Art. Er folgte nicht kopflos irgendwelchen Eingebungen, sondern handelte rational. Aber nicht in diesem Fall. Etwas hatte ihn zu ihr hingezogen, und als sie dann getanzt hatten …

James schüttelte den Kopf bei der Erinnerung daran, wie schön es gewesen war, sie im Arm zu halten. Er hätte das noch länger tun können, aber als die Musik geendet hatte, war er wieder zu Sinnen gekommen. Er hatte Lucy nicht noch einmal aufgefordert, sondern sich wieder Lydia gewidmet, die sehr verärgert darüber gewesen war, dass er sie übergangen hatte. Und auch sonst hatte er einen Bogen um Lucy gemacht, nicht nur während des restlichen Balls, sondern überhaupt.

Er hatte sie nicht oft gesehen in den vergangenen Monaten, nur in letzter Zeit manchmal, wenn er seine Mutter in Lucys Laden begleitet hatte. Aber da hatten sie maximal über das Wetter gesprochen, deshalb war er zu der Überzeugung gelangt, dass er sich getäuscht hatte, was diese überraschende Anziehungskraft zwischen ihnen anging. Lucy war nett und freundlich zu ihm gewesen, aber er hatte diesen Funken nicht mehr gespürt, der während ihres Tanzes so unerwartet zwischen ihnen übergesprungen war. Vielleicht hatte er sich deshalb zu sehr in Sicherheit gewiegt und war davon ausgegangen, dass sie ihm keine Probleme machen würde. Aber da hatte er sich gründlich getäuscht!

Wieder sah er vor sich, wie Lucy ihn eben mit ihren grünen Augen wütend angefunkelt hatte. Doch, da war verdammt viel Feuer in Lucy Evans, so viel, dass er sich daran schnell verbrennen konnte. So einfach, wie er sich das vorgestellt hatte, würde sie es ihm nicht machen. Nicht mal sein Flirtversuch war erfolgreich gewesen, denn sie hatte ihn nur entsetzt angeschaut – eine Tatsache, die er so wenig gewohnt war, dass er sich fast ein bisschen lächerlich vorkam. »Ihm zuliebe« würde Lucy Evans gar nichts tun, so viel stand fest, und das musste er erst mal verdauen.

Ob sie einverstanden gewesen wäre, wenn er ihr die wahren Gründe dafür genannt hätte, warum seine Mutter an ihrem Geburtstag in Penrose House keinen Ball veranstalten konnte? Nein, sicher nicht. Und wenn, dann würde er es auch zuerst Penelope erklären müssen, aber dieses Gespräch schob er seit Wochen vor sich her, weil er wusste, dass seine Mutter entsetzt sein würde über seine Pläne. Dabei tue ich es für sie, dachte er und schob frustriert die Hände in die Taschen seiner Anzugshose.

Er wollte zurück zum Haus gehen, doch es war inzwischen so dunkel, dass er riskierte, sich im Irrgarten zu verlaufen, in dem er sich selbst bei Tageslicht nicht immer zurechtfand. Deshalb nahm er den langen Weg außen herum und ärgerte sich darüber, dass sich auch das anfühlte wie eine Niederlage.

3

Als Lucy den Kastenwagen auf den Platz vor Cove Cottage rollen ließ, sah sie zu ihrer Erleichterung, dass kaum Autos vor der Tierarztpraxis standen. Ihre Freundin Julia, die zusammen mit ihrem Lebensgefährten Henry die Praxis betrieb, hatte ihr heute Morgen am Telefon zwar versichert, dass es in der Mittagszeit ruhiger war und sie bestimmt kurz Zeit für ein Gespräch haben würde. Aber ganz sicher war das nie, es konnte jederzeit ein neuer Patient kommen, deshalb war Lucy glücklich, dass es passte. Sie brannte darauf, ihrer Freundin von ihrem Besuch bei den Rowes zu erzählen.

Sie parkte den Wagen und sah sich kurz um, als sie ausstieg, wie immer beeindruckt davon, an was für einem wunderschönen Fleckchen Erde ihre Freundin wohnte.

Das malerische Cove Cottage mit dem tiefgezogenen Reetdach lag etwas außerhalb von Carywith an einem Seitenweg und sah, vor allem an schönen Tagen wie heute, aus wie ein Postkartenmotiv. Das Haus war umgeben von einem liebevoll angelegten Garten, dessen Farbenpracht sich jetzt, im April, gerade erst langsam zu zeigen begann. Im Sommer, das wusste Lucy, würde hier alles in voller Blüte stehen, und die Beete würden überquellen von reifem Gemüse. Wenn man im Garten stand, konnte man in der Ferne das Meer sehen und hörte sogar, wenn der Wind richtig stand, wie die Wellen gegen die Felsen der Steilküste schlugen. Neben dem Haupthaus gab es noch den umgebauten Stall, in dem die Praxis untergebracht war, und ein kleines Gartenhaus ganz am Ende des Grundstücks, in dem die ehemalige Tierärztin Isobell Chegwin wohnte, seit sie das Cottage an Julia und Henry verkauft hatte.

Wenn ich Tierärztin wäre, dann hätte ich bei Cove Cottage auch sofort zugeschlagen, dachte Lucy verträumt. Es war ein zauberhafter Ort, und es wunderte sie kein bisschen, dass Julia, die aus London stammte, sich sofort in das Haus verliebt hatte, als sie im letzten Jahr hergekommen war. Dass es gedauert hatte, bis klar gewesen war, dass sie auch bleiben konnte, lag an ihrem jetzigen Lebensgefährten Henry. Die beiden hatten sich eine Art Wettkampf geliefert, wer von ihnen Haus und Praxis bekommen würde. Zum Glück hatten sie sich dann jedoch ineinander verliebt und teilten sich nun beides, was gut klappte. Zum Glück, denn Lucy konnte sich das Leben in Carywith ohne ihre Freundin gar nicht mehr vorstellen. Es war schön, endlich eine Vertraute zu haben, der sie ihre Sorgen anvertrauen konnte. Das hatte ihr zuvor gefehlt, und das wollte sie nicht mehr missen.

Lucy betrat die Praxis, die direkt neben dem Wohnhaus lag, und stellte im Vorbeigehen erleichtert fest, dass im Wartezimmer zu ihrer Linken tatsächlich niemand saß. Als sie an den Empfangstresen trat, erblickte sie jedoch nicht die Sprechstundenhilfe Gracie Skewes, mit der sie gerechnet hatte, sondern eine alte Dame mit grauem Haar, das im Nacken zu einem Knoten zusammengefasst war.

»Lucy, wie schön!« Isobell Chegwin lächelte freundlich. »Julia hat mir schon angekündigt, dass du vorbeikommst.«

»Isobell, was machst du denn hier!«, erwiderte Lucy, überrascht, die ehemalige Tierärztin zu sehen. »Ich dachte, du genießt deinen Ruhestand.«

»Oh, das tue ich auch, glaub mir«, versicherte Isobell. »Aber Gracie ist für ein paar Tage zu ihrer Tochter nach Bath gefahren, und so eine kleine Urlaubsvertretung schadet mir nicht. Das hält mich fit.«

Über die letzte Bemerkung hätte Lucy beinahe gelacht, denn Isobell war die fitteste Siebzigjährige, die sie kannte. Sie kümmerte sich um den Garten und half jederzeit aus, wenn Julia und Henry zu viel zu tun hatten. Für die beiden war Isobell eine mütterliche Freundin, auf die sie sich verlassen konnten, und alle drei waren glücklich über das Arrangement, das sie getroffen hatten.

»Wo ist Julia denn?«, erkundigte sich Lucy und sah zu den Behandlungsräumen hinüber. »Hat sie noch einen Patienten?«

»Nein, sie ist eben rüber ins Haus gegangen«, erklärte Isobell. »Es ging ihr nicht so gut, und sie wollte sich einen Moment hinlegen. Ich bin ganz froh, wenn du mal nach ihr siehst, sie war ziemlich blass. Ich hätte das schon selbst gemacht, aber Henry musste leider raus zur Bodilly-Farm, und einer muss hier ja die Stellung halten.«

Lucy nickte und verabschiedete sich. Als sie beim Cottage ankam, konnte sie einfach reingehen, denn die Haustür war tagsüber nie abgeschlossen, schon gar nicht, wenn jemand im Haus war.

»Julia?«, rief Lucy, als sie drinnen war, und hörte ihre Freundin aus dem Erdgeschoss antworten. Rasch ging sie weiter bis zum Ende des Flurs, wo der Salon lag.

Der Raum war gemütlich eingerichtet, mit einer Sitzgruppe vor dem Kamin und vielen Bücherregalen an den Wänden. Durch zwei große Glastüren, von denen eine aufstand, sah man hinaus auf die Terrasse, von der aus man einen unverstellten Blick auf die Landschaft und in der Ferne auf das Meer hatte.

Julia saß auf dem Sofa, mit einer Decke über den Beinen, und blickte Lucy lächelnd entgegen. Sie war klein und zierlich, hatte schulterlanges mittelblondes Haar und trug eine goldumrandete Brille, die gut zu ihren bernsteinfarbenen Augen passte. In der Hand hielt sie einen dampfenden Becher Tee, und ihr hübsches Gesicht war tatsächlich so blass, wie Isobell es geschildert hatte.

»Was ist mit dir?«, fragte Lucy besorgt und setzte sich in einen der Sessel Julia gegenüber. »Bist du krank?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Julia. »Mir war plötzlich schwindelig. Aber es geht schon wieder.« Sie seufzte tief. »Wahrscheinlich bin ich einfach übermüdet. Henry und ich mussten heute Nacht raus zu einem Notfall, und als wir um fünf Uhr zurückkamen, konnte ich nicht mehr einschlafen. Dafür fühle ich mich jetzt so gerädert, dass ich die Augen kaum offen halten kann.«