Ein Traum von Musik -  - E-Book

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Beschreibung

Persönliche, berührende, spannende, humorvolle Geschichten

Liebe und Musik sind im Leben von Elke Heidenreich nicht voneinander zu trennen. Wie ein Leitmotiv durchziehen Musiker ihr (Liebes-) Leben, und sie weiß davon in ihrer mitreißenden und humorvollen Art zu erzählen. Doch auch die fünfundvierzig anderen Autorinnen und Autoren haben eine ganz besondere Beziehung zur Welt der Töne und Harmonien. Und es sind erstaunliche, bewegende, abenteuerliche, spannende und amüsante Geschichten, die so unterschiedliche Menschen wie Senta Berger, Campino, Axel Hacke, André Heller, Hans Werner Henze, Dieter Hildebrandt, Udo Jürgens, Ursula von der Leyen, Reinhard Mey, Isabella Rossellini, Volker Schlöndorff, Christian Ude, Roger Willemsen u.v.a. mit großer Offenheit schildern.

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Elke Heidenreich (Hg.)

Ein Traum von Musik

46 Liebeserklärungen

Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann

Die Texte in diesem Buch sind in neuer Rechtschreibung gesetzt, mit Ausnahme von:

Heiner Geißler, Musikalische Offenbarungen

Peter Hamm, Menschwerdung musikalisch. Tagebuch einer Lebensgeschichte als Musikgeschichte

Helmut Krausser, Bergungsarbeit

Herbert Rosendorfer, Ganz innen bin ich ein lustiger Mensch

1. Auflage

© der Originalausgabe 2010 by Edition Elke Heidenreich

bei C. Bertelsmann, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-04870-9

www.edition-elke-heidenreich.de

Inhalt

ELKE HEIDENREICH

Man verliebt sich immer in die Musiker

JOHANNA ADORJÁN

Das Mädchen neben dem Flügel

SENTA BERGER

Mein bleicher Vater

KETIL BJØRNSTAD

Das grüne Auge

ELKE MASCHA BLANKENBURG

Rosen für Fanny Mendelssohn

CHRISTIAN BRÜCKNER

Musikstunden

CAMPINO

Als ich meinen neuen Mantel zum letzten Mal trug

GEORGES DELNON

Trinkt Turandot Tee? Ein Gespräch mit Musik und Schnaps

FRIEDHELM DÖHL

Musik meines Lebens

JÜRGEN FLIMM

Lieber Kurt. Über die Matthäus-Passion

GÜNTHER FREITAG

Elsa

HEINER GEISSLER

Musikalische Offenbarungen

KAROLINE GRUBER

Musik kann Leben retten

ENOCH ZU GUTTENBERG

Vom lieben Gott erzählen

Axel Hacke

In meinem Elternhaus gab es keine Musik

Peter Hamm

Menschwerdung musikalisch. Tagebuch einer Lebensgeschichte als Musikgeschichte

ANDRÉ HELLER

Heimweh nach sich selbst

HANS WERNER HENZE

Lieder im Herbst

DIETER HILDEBRANDT

Verzweiflung mit Ravel

OLIVER HILMES

Mit Gustav Mahler in Viersen

UDO JÜRGENS UND MICHAELA MORITZ

Spiel des Lebens

HELMUT KRAUSSER

Bergungsarbeit

MAREN KROYMANN

Vom Mädel zum Fräulein,vom Fräulein zur Frau

MICHAEL KRÜGER

Schubert, Impromptus

URSULA VON DER LEYEN

Die wahre Welt ist Musik

REINHARD MEY

Gib mir Musik

ARMIN MUELLER-STAHL

Das Geheimnis bewahren

KENT NAGANO

Musik – was ist das?

VERA NEMIROVA

Heute: Ariadne auf Naxos

HANS NEUENFELS

Die Rosen, sie blühn und verwehen, Wir werden das Christkindlein sehen!

LEOLUCA ORLANDO

Das Unsichtbare sehen, die Stille hören

HANNS-JOSEF ORTHEIL

Mein Leben mit Robert Schumann

Thomas Quasthoff

Budenzauber und Belcanto

HERBERT ROSENDORFER

Ganz innen bin ich ein lustiger Mensch

ISABELLA ROSSELLINI

Blue Velvet

WOLFGANG RÜB

Klavier spielen können

MICHAEL SCHINDHELM

Ein einziges Zuhören

VOLKER SCHLÖNDORFF

Der Funke des Göttlichen

MANFRED SCHOOF

Moments musicaux

BERND SCHROEDER

Sarahs Melodie

JULIA SPINOLA

Die Musik, das Hören und das Schreiben

CHRISTIAN UDE

Bekenntnisse eines Unmusikalischen

Tomi Ungerer

Zwischen Lärm und Klang

JAN WEILER

Hüsteln bei Horowitz

ROGER WILLEMSEN

Billie Holiday – Strange Fruit

HANNS ZISCHLER

Musik, Musik kann Euch vom Tod erlösen!

ELKE HEIDENREICH

Man verliebt sich immer in die Musiker

Meine Mutter und ich, wir hatten es nicht leicht miteinander. Die im Krieg verhärtete Frau mit dem zu späten Kind, sie war fast vierzig, das im Krieg geborene, schwierige, aufsässige Kind, der früh fehlende Vater – es gab unendlich viele Konflikte und doch einen immer wieder funktionierenden Punkt der Versöhnung: die Musik. Wenn im Radio klassische Musik lief, wurden wir beide weich, freundlich, lächelten uns wieder an und machten uns auf schöne Stellen aufmerksam, und meine Mutter sagte: »Als ich schwanger war, mitten im Krieg, habe ich mir, wann immer es ging, das Radio auf den Bauch gelegt, ich wollte unbedingt ein musikalisches Kind.«

Ist es ein Wunder, dass meine erste große Liebe, 1957, ein Klavier spielender Junge mit blauen Augen aus meiner Schule war? Er hieß Wolf. Wir andern tanzten Volkstänze, er spielte. Er besuchte mich zu Hause, ich hatte ein schäbiges Kleinklavier. Er spielte, und unsere armselige Wohnung leuchtete und wurde schön mit seinen Tönen. Also galt mein erster Kuss aus meinem vollen, vierzehnjährigen Mädchenherzen ihm, dem Pianisten.

Mit siebzehn war es ein Geiger aus einem sogar berühmten Orchester, er war viel älter als ich, hieß Joachim, hatte eine Freundin fürs Bett, aber ich war die Märchenprinzessin, weil ich ihn einfach nur anhimmelte. Er spielte mir stundenlang vor, und ich bewunderte und liebte und schmachtete und hatte lange Jahre Schwierigkeiten mit Brahms, weil mein Geiger Brahms nicht mochte.

Dann kam eine große unglückliche Liebe während der Studentenzeit, kein Wunder, der Mann war unmusikalisch. Ich kann sagen, dass es immer wieder Liebesversuche mit unmusikalischen Männern gab – sinnlos. Ich brauche einen, der ein Instrument spielt, ins Konzert geht, von der Oper schwärmt. Dann habe ich das Gefühl, dass in der Liebe Seele steckt. Ich habe mich schon oft geirrt, bin aber aus solcherart Schaden nie klug geworden. Meine größte Liebe bleibt natürlich unerfüllt – Thomas Hampson ist glücklich verheiratet.

Dabei muss es nicht immer nur Klassik sein! Ich war oft genug verliebt in den Gitarristen der Band, und wenn einer einen guten Song sang, hatte er mein Herz.

Zwölf Jahre lang legte ich im »Pop Shop« in SWF 3 Platten auf, viele Nächte lang. Ich wusste, was der richtige Song zur richtigen Zeit bedeutet. Und ich schickte immer wieder diesen Sehnsuchtsruf der Hörer durch den Äther:

Pilot of the airwaves,

here is my request:

you don’t have to play it

but I hope you’ll do your best!

I’ve been listening to your show on the radio,

And you seem like a friend to me.

Charlie Dore hatte das gesungen, und für mich war klar, dass Gefühle, Verständnis, Freundschaft, Liebe nur über die Musik funktionieren konnten, egal, ob Klassik, Jazz, Pop – Hauptsache, die Töne erreichten das Herz mit Wucht und schlugen da ein, wo es wehtat. Der Kopf war genug beschäftigt, aber die Gefühle lagen oft brach, eine Sehnsucht fraß an mir, wie ein kleines trauriges Tier saß sie immer in der Ecke und beruhigte sich nur, wenn ich Bruce Springsteen hörte, Miles Davis, Schubert, und wenn alles ganz schlimm wurde, half nur noch Bach. Er hilft bis heute, und ich liebe das Gedicht von Reiner Kunze, nur ein paar kurze Zeilen, in denen die ganze riesige Kluft zwischen Künstler und Bürokratie, zwischen Kreativität und Verwaltung sichtbar wird. Es lautet:

Zu füßen gottes, wenn

gott füße hat,

Zu füßen gottes sitzt

Bach,

nicht

der magistrat von Leipzig

Das leuchtet ein: Zu Füßen Gottes sitzt sein größter Musiker, und was gibt es Größeres als die Musik? Die Landschaft, die Tiere, die Poesie. Dann die Literatur, die Malerei, alles brauchen wir, aber nichts erreicht uns unmittelbarer als die Wucht der Töne. Orpheus hat seine tote Eurydike damit zum Leben erweckt, und nur, weil er der eigenen Musik nicht traute und sich umdrehte, um zu sehen, ob die Liebste auch wirklich käme, war alles verloren. Augen zu, hören, vertrauen.

Ich wollte immer treu sein, aber da waren dauernd die Musiker, die den guten Vorsätzen den Weg verstellten. Es war wie beim Rattenfänger von Hameln: Es macht einer schöne Musik, und ich schleiche hinterher wie ein paralysiertes Kaninchen.

Ich habe mich dann gerettet vor so vielen Abstürzen, indem ich Musik zu einem Teil meines Berufes machte – über Musik schreiben, für Musik arbeiten, Libretti verfassen und bearbeiten, zwölf Jahre an der Kölner Kinderoper mitwirken, immer nah dran an dem, was Musik kann: in diesem Fall Kinder verzaubern und für sich gewinnen. Mit acht Jahren kamen sie in die Kinderoper, mit achtzehn hatten sie ein Abonnement fürs Große Haus, und ich sah sie und saß im Dunkeln dabei, wenn wieder mal der Vorhang aufging, und ich wusste: Ich war selbst der Rattenfänger geworden.

Und dann diese Edition: Bücher herausgeben, die mit Musik zu tun haben, mit Schriftstellern arbeiten, die – wie Helmut Krausser, wie Hans Neuenfels, wie Günther Freitag oder Barbara Hall, Elena Cheah oder Julian Dawson Musiker oder Musik-Aficionados sind, leidenschaftlich umgetrieben von der Macht der Töne wie ich – es gibt kaum etwas Schöneres, als die eigene große Liebe so zum Lebensthema machen zu können.

Ich war und bin immer verliebt in die Musiker, aber sie sind nur die Vermittler, das Medium – ich liebe durch sie die Musik. Und weil die nicht greifbar, begreifbar, fassbar ist, sind es eben die Musiker, die man küsst, obwohl man doch immer nur die Musik küssen möchte. Aber Schubert ist tot – also liebe ich stellvertretend den, der mir die Wandererfantasie spielt oder darüber schreibt.

So einfach ist das.

An diesem Buch haben Autoren unterschiedlichster Professionen mitgearbeitet, denen aber eines gemeinsam ist: Ob Opernintendanten, Schriftsteller, Politiker, Kabarettisten, Sänger, Komponisten, Verleger, Schauspieler oder Journalisten – alle lieben sie die Musik. Es war eine Freude, ihre Texte zu lesen, zu sammeln, einzuordnen.

Was da alles kam! Ganze Lebensgeschichten und einzelne Liebeserklärungen, einschneidende Erlebnisse und ernste Bekenntnisse neben augenzwinkernden Anekdoten, und da kamen Billie Holiday und Bach, Sammy Davis jr. und Haydn, der neue Mantel und der liebe Gott, die Oper in Palermo und die Schneekönigin, ein Pianist, der nicht mehr spielen kann, und ein Komponist, der nie gespielt wird. Da kamen die Leidenschaft für Puccini, die Verzweiflung mit Ravel und die Verneigung vor Bernd Alois Zimmermann, der göttliche Janácek und der eher unbekannte Tommaso Giordani, es kamen eine ganz besondere Ariadne auf Naxos, eine ganz andere Turandot und der Song »Blue Velvet«, Schubert, der Herr Schumann, Fanny Mendelssohn, Elvis, Belcanto, Gustav Mahler in Viersen und eine traurige Blockflötenmelodie auf einem Lastwagen, Jacques Brel und »Muss i denn zum Städtele hinaus«, die singende und summende Natur, das Hüsteln bei Horowitz und die Suche nach sich selbst, die Trauer und der Trost, die Mafia und die Matthäus-Passion, Fräulein Pracht und Elsa, und immer wieder: das Radio.

Es war ein Glück, das alles nach und nach zu lesen und mit Menschen zu arbeiten, die so etwas fühlen, denken, lieben, beschreiben.

Ich danke allen, die an diesem Buch mitgeschrieben haben – von ganzem Herzen. Die Liebesgeschichte geht weiter, mein ganzes Leben hindurch. Das macht mein Leben zu einem glücklichen, egal, was sonst darin geschieht.

JOHANNA ADORJÁN

Das Mädchen neben dem Flügel

Katharina steht in dem kleinen dunklen Gang vor dem Künstlerzimmer im Münchner Herkulessaal und fühlt sich nicht wohl. Sie trägt einen Rock, was sie sowieso hasst, die Strumpfhose kratzt, und die Schuhe, perforierte Halbschuhe, die sie normalerweise zu Hosen trägt, passen nicht richtig dazu. Aber sie hatte zu Hause keine besseren gefunden, weder in ihrem Schrank noch in dem ihrer Mutter. Eine kleine Treppe hinauf geht es von hier durch eine Eisentür direkt auf die Bühne. Ein Ordner steht schon bereit, sie gleich von innen aufzuziehen. Es ist kurz nach neun. Eben hat es zum dritten Mal geläutet, die Pause ist vorbei, im Saal haben die Leute wieder Platz genommen, noch kann man sie leise miteinander reden hören, aber spätestens wenn das Licht des großen Kronleuchters heruntergedimmt wird, werden sie verstummen, die Programmhefte auf die Knie sinken lassen, ihre Brillen wieder aufsetzen und vorsichtig an einem Pfefferminzbonbon lutschen, gegen den Sektgeschmack und vielleicht ja auch gegen Hustenreiz.

An diesem Abend spielt ein junges Klaviertrio aus Paris, und Katharina blättert dem Pianisten um. Er heißt Gilles, sie hat ihn zehn Minuten vor dem Konzert zum ersten Mal gesehen, und da er ebenso wenig deutsch spricht wie sie französisch, hat sich ihr Kontakt bisher auf gelegentliches Anlächeln und energisches Nicken seinerseits bei schnellen Stellen auf der rechten unteren Notenseite beschränkt. Er sieht ganz nett aus, spielt gut, und Katharina hat nicht ohne Neid bemerkt, dass er mit seinen kleinen, seltsam gelenklosen Händen mühelos zehn Tasten greifen kann. Sie schafft nur neun.

Fünfundvierzig Euro bekommt Katharina für so einen Abend. Es ist ein guter Job, besser als Briefe eintüten oder babysitten bis spät in die Nacht. Wenn die Konzertagentur an einem Abend keinen Umblätterer braucht, verkauft Katharina manchmal zusammen mit einer Freundin Programme. Das macht mehr Spaß, weil man sich dabei unterhalten und während des Konzerts zusammen durch die riesigen, menschenleeren Säle der Residenz laufen und sich vorstellen kann, man wohne hier. Heute Abend verkauft ihre Freundin alleine die Programme. Während Katharina gleich auf die Bühne muss, in ihrem blöden Rock auf dem Stuhl neben dem Klavierhocker Platz nehmen und vor den Augen des Publikums alle paar Minuten oder schneller aufstehen und in der richtigen Sekunde eine Seite umwenden wird, muss sie nur noch die Einnahmen zählen, die Kasse abschließen und ins Büro im dritten Stock tragen, und hat dann Feierabend.

Hinter sich hört Katharina das Geräusch, das es macht, wenn ein Geiger leise über die Saiten zupft. Sie guckt sich um. Gilles steht im Türrahmen des Künstlerzimmers, vor ihm der Geiger, dessen Namen Katharina vergessen hat. Der Ordner nickt. »Dann bitte«, sagt er, oder etwas Ähnliches. Katharina streicht sich die Bluse glatt, die über dem Rock schnell eine Querfalte schlägt, ein Blick zurück, die Franzosen scheinen ihr den Vortritt zu lassen, also geht sie als Erste die paar Stufen zur Tür, die der Ordner jetzt aufzieht, und tritt auf die Bühne hinaus. Im Saal wird immer noch gemurmelt. Sie bemüht sich, den Kopf gerade zu halten, während sie die knapp zwanzig Meter zu ihrem Platz am Flügel geht. Sie weiß, jetzt gucken sie alle an. Eigentlich mag sie das nicht, aber es gehört halt dazu.

Sie setzt sich. Der Geiger tritt in die Mitte der Bühne. Im Saal wird es jetzt dunkler, das Gemurmel verstummt. Wo nur der Pianist bleibt? Katharina dreht sich um. Mit einem heißen Schrecken sieht sie, dass die Tür zum Künstlereingang wieder geschlossen ist. Aber das kann doch nicht … Der Geiger stimmt jetzt sein Instrument. A. Katharina dämmert die Erkenntnis, dass sie einen Fehler gemacht hat. A – E. Dass die anderen sie haben einen Fehler machen lassen. A – D. D – G. Der Pianist wird nicht kommen, und auch der Cellist nicht. Der Geiger wird jetzt ein Solostück spielen, sie hätte das Programm lesen sollen, aber warum hat denn keiner etwas gesagt, warum hat sie denn niemand zurückgehalten, als sie auf die Bühne ging?

Ihr wird heiß und kalt und sofort wieder heiß. Der Geiger hat fertig gestimmt. Gespannte Stille liegt im Saal, wie immer bei Konzerten vor dem ersten Takt, zu spät, noch von der Bühne zu gehen. Sie wagt es nicht, den Blick von den Flügeltasten zu heben. Sie sieht, was in diesem Moment circa 1200 Menschen sehen, der Saal ist fast voll besetzt, nur auf den hinteren Reihen der Ränge sind noch Plätze frei: eine Bühne, auf der jetzt ein Geiger solo spielen wird, und zwei Meter hinter ihm ein Mädchen, das vollkommen ohne Aufgabe dort am unteren Ende des Flügels sitzt, den Blick fest auf die Tasten vor sich gerichtet, die Hände im Rockschoß versenkt.

Sie erkennt die ersten Takte: Bach Solosonate g-Moll. Das bedeutet, wird ihr in diesem vom Licht der auf die Bühne gerichteten Scheinwerfer gnadenlos ausgeleuchteten Moment klar: Sie wird nun vier volle Sätze hier verbringen müssen. Aber wie? Mit welchem Gesichtsausdruck? Wie kann sie dem Publikum verständlich machen, dass sie nicht hier sitzen will? Mit welcher Körperhaltung könnte sie zum Ausdruck bringen, dass dies alles ein fürchterlicher Irrtum ist, nicht ihre Schuld, dass niemand ihr etwas gesagt hatte, sie sehenden Auges in ihr Unglück geschickt worden ist? Sie merkt, dass sie rot wird, fühlt die Blicke der Zuschauer und weiß, dass sie immer röter wird. Ein leuchtendes, kräftiges Rot, von innen fühlt es sich purpurn an.

Der erste Satz ist ein Adagio, ein ruhig getragenes Stück, sie kann den Geiger im Takt schwer atmen hören. Sie erwägt die Möglichkeiten des Verschwindens. Es gibt keine. Kein Loch im Bühnenboden, in das sie hineinschlüpfen könnte, kein Vorhang, der plötzlich von oben zwischen sie und den Geiger fallen und sie vor den Augen des Publikums verbergen könnte. Ohne sich umzudrehen, zählt sie die Schritte bis zur Bühnentür. Dreißig sind es bestimmt, und es wären laute Schritte mit diesen Schuhen auf dem Holzboden, undenkbar laut angesichts der Musik. Der Geiger würde vielleicht abbrechen, wenn er hinter sich Bewegung wahrnehmen würde, er würde die Geige vom Kinn nehmen und sich umdrehen, bevor sie die rettende Tür erreicht hätte, nein, unmöglich, sie sitzt hier fest, gefangen vor aller Augen. Und dann steigt Wut in ihr auf. Wut auf diese blöden Franzosen, die sie nicht aufgehalten haben, auf den Ordner, der das Programm doch kennen muss. Und auf diesen erbärmlichen Pianisten, der auch dann noch glaubt, ihr mit Nicken den Einsatz zum Umblättern geben zu müssen, wenn sie doch schon längst bereitsteht, die Seite in Fingern, sowie der drittletzte Takt auf der rechten Seite erreicht ist. Und der hat nichts gesagt, als er sah, dass sie auf die Bühne ging, wo er doch wusste, er hatte jetzt noch gute zwanzig Minuten Pause.

Der Geiger spielt den ersten Satz langsamer, als Katharina es von ihrem Bruder kennt, der das Stück zu Hause oft übt. Und schlechter, wie sie findet. Zu französisch in der Phrasierung, zu romantisch, und überhaupt, was soll dieses laute Atmen dabei. Wenn er Geigespielen so anstrengend findet, warum hat er nicht einen anderen Beruf gewählt? Die bösen Gedanken beruhigen sie. Sie wagt einen Blick ins Publikum. Die Gesichter der Menschen, im halbhellen Saal von der Bühne aus gut zu sehen, gucken alle nach vorne, aber sie meint in keinem Belustigung zu erkennen, niemand scheint Notiz von ihr zu nehmen. Ob es am Ende gar nicht so unfassbar peinlich ist, dass sie hier sitzt? Sie dreht ihren Kopf wieder zum Flügel. Schaut auf die Tasten. Ein beruhigender Anblick, so vertraut. Dieselbe Anzahl weißer und schwarzer Tasten wie zu Hause, nur dass sie hier weiter unten sitzt.

Irgendwann, Katharina hat schon nicht mehr daran geglaubt, ist der erste Satz zu Ende. Im Saal wird sich ein paarmal geräuspert, ein paar Menschen, die wahrscheinlich gar nicht husten müssten, husten trotzdem, einfach, weil jetzt Gelegenheit ist, dann setzt der Geiger zum zweiten Satz an. Fuga. Wenigstens etwas schneller. Katharina hat sich mittlerweile in ihr Schicksal ergeben und versucht, so unauffällig wie möglich im Hintergrund zu sein. In ihrer Vorstellung ist sie mit dem Stuhl, auf dem sie sitzt, zu einer Einheit verschmolzen, sie bewegt sich nicht, den Kopf hält sie starr nach vorne gerichtet, Profil zum Publikum, zum Glück ist es das rechte, von links findet sie sich hässlicher. Ihre Nase ist nicht ganz gerade, sondern hat einen kleinen Höcker, der Katharina, wenn sie sich im Profil betrachtet, vor allem im linken, so überdimensioniert vorkommt, dass sie ihn möglichst niemandem zumuten will. In der Straßenbahn sieht sie deshalb nie aus dem Fenster, wenn jemand hinter ihr sitzt. Und jede Nacht drückt sie sich vor dem Einschlafen mehrmals hintereinander kräftig mit dem Handballen die Nasenspitze herunter, in der Hoffnung, die Form so vielleicht noch korrigieren zu können. Bisher allerdings ohne Erfolg.

Irgendwie vergeht die Zeit. Auf den zweiten Satz folgt der dritte, dann das Presto, kurze Stille im Saal, solange der letzte Ton verklingt. Dann beginnen die Leute zu klatschen. Der Geiger nimmt das Instrument vom Kinn und verbeugt sich. Einmal und gleich noch einmal. Dann dreht er sich zur Bühnentür, wobei sein Blick auf Katharina fällt. Er sieht überrascht aus. Ja, hallo, dachtest du, du wärest alleine hier? Sie steht auf, endlich, und legt all die Wut, die sich in ihr aufgestaut hat, in den Gang zur Bühnentür. Jeder, wirklich auf den hintersten Rängen noch jeder soll sehen, dass sie die letzten zwanzig Minuten ihres Lebens nicht freiwillig hier verbracht hat. Mit großen Schritten überquert sie die Bühne, sie braucht viel weniger als dreißig Schritte, sie geht vor dem Geiger durch die sich von innen öffnende Tür, marschiert ohne abzubremsen die Stufen der kurzen Holztreppe hinunter und bleibt vor dem Pianisten stehen, der im dunklen Gang vor dem Künstlerzimmer wartet, er guckt sie unschuldig an, die Noten des folgenden Stücks in der Hand. »Merci«, sagt Katharina. Sie sagt es mit der größtmöglichen Verachtung, zu der eine gedemütigte Siebzehnjährige fähig ist. Der Geiger geht noch einmal hinaus, der Applaus wird lauter, dann kommt er wieder in den Hinterraum und bleibt oben auf dem Treppenabsatz stehen. Er sieht kurz aus, als wolle er etwas zu ihr sagen, sagt dann aber doch nichts. Im Saal verebbt der Applaus. Der Cellist kommt aus dem Künstlerzimmer dazu, sein Instrument und Noten in der Hand. Ein paar Sekunden stehen sie schweigend, dann zieht der Ordner die Tür wieder auf, und Katharina lässt den drei Musikern den Vortritt, bevor sie ihnen in sicherem Abstand auf die Bühne folgt, die Bluse wieder ordentlich zurück in den Rock gesteckt.

SENTA BERGER

Mein bleicher Vater

Am Abend spät – ich war schon in der Waschschüssel von meiner Mutter gewaschen, meine verfilzten Zöpfe geöffnet, nass gekämmt und neu geflochten worden – kam mein Vater von seiner Arbeit nach Hause. Lautlos. Man hörte seine Schritte nicht im Treppenhaus. Die Nachbarn konnte ich am Schritt erkennen. Der müde Herr Lukas kam schleppend, hustend, der erfolgreiche Herr Pankraz aufgeräumt pfeifend. Den schnellen Schritt meiner Mutter höre ich noch heute. Meinen Vater hörte ich nie. Er öffnete leise und überraschend die Türe, murmelte ein »Guten Abend« und ging noch im Hut und Mantel – in den kalten Jahreszeiten trug er immer einen Hut, der seine blauen Augen umschattete – durch die kleine Küche, in die er so unvermittelt und geheimnisvoll geräuschlos eingetreten war, in das andere Zimmer, das wir je nach Bedarf Wohn- oder Schlafzimmer nannten.

Bevor mein Vater nach Hause kam, war es fast jeden Abend sehr gemütlich bei uns. Meistens saßen unter der tief herabgezogenen Küchenlampe, rund um den wackeligen Küchentisch, der meinen Vater wahnsinnig machte und den er mit vielen verschieden gelagerten und gestaffelten Bierfilzln im täglichen Kampf zu bezwingen suchte, die Nachbarin Frau Gärtner, rund, bäuerlich, schlau, meine geliebte schmale Tante Elly, die Schwester meiner Mutter, und meine Mutter selbst. Jede hatte ihre Handarbeit. Das Radio lief, Musik, ein Hörspiel. Die Frauen unterhielten sich leise. Ich saß oft in meinem Flanellnachthemd dabei und fühlte mich so sicher und geborgen. Die Frauen steckten die Köpfe zusammen und lachten, ich verstand nicht, warum.

Dann kam mein Vater nach Hause. Mit dem kleinen kalten Windzug, der das Öffnen der Türe begleitete, änderte sich spukartig die Stimmung. Frau Gärtner sagte: »Guten Abend, Herr Berger – also dann, gemma …«, und packte ihre halb fertigen Socken in die Schürzentasche. Meine Tante Elly glitt vom Küchenstuhl, erwiderte kaum das »Guten Abend« meines Vaters, flüsterte höchstens ein »Ah, bist schon da, Berger« – sie nannte meinen Vater rätselhafterweise nur bei seinem Familiennamen –, räumte ihre Näharbeit in eine Küchenschublade, in der Knöpfe, Nadeln, Zwirne und Wollreste lagen, und nach einem »Behüt dich, mein Kind, Servus Resel« war sie auch schon in ihrem dünnen Mäntelchen draußen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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