Ein Traum von Schmetterlingen - William Trevor - E-Book

Ein Traum von Schmetterlingen E-Book

William Trevor

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Beschreibung

Die schönsten Erzählungen vom unvergleichlichen "Bildhauer der Worte": "Sieht man den Roman als verwirrendes Renaissancegemälde, so ist die Kurzgeschichte wie ein impressionistisches Tableau: eine Explosion der Wahrheit sollte sie sein." Was Wiliam Trevor hier leidenschaftlich einfordert, stellt er in seinen meisterhaften Erzählungen unter Beweis, deren Herzstück stets die Wahrhaftigkeit ist. So zum Beispiel in der bislang nie auf Deutsch erschienenen Geschichte vom blinden Klavierstimmer, dessen zweite Ehefrau sein Handicap schamlos ausnutzt. Oder der von dem Mädchen, das vom Tod seiner Mutter überzeugt ist, bis auf dem Schulhof zwei geheimnisvolle Frauen auftauchen. Und immer wieder hält uns der "melancholische Altmeister der irischen Literatur" vor Augen, dass wir dem Schicksal unerbittlich ausgeliefert sind.

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Seitenzahl: 1142

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William Trevor

Ein Traum von Schmetterlingen

Meistererzählungen

Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser und Brigitte Jakobeit

Hoffmann und Campe

Vorwort

von Thomas David

Die schmalen, von Bäumen und niedrigen Hecken gesäumten Straßen, die sich nordwestlich von Exeter durch die englische Grafschaft Devon schlängeln. Die sanften Hügel, das tiefe Blau des Nachmittaghimmels. Das Farm- und Weideland und die ehemalige Mühle, vor der Trevors Gärtner die Sträucher schnitt, als das Taxi an der Einfahrt zum Haus hielt. Erinnerungen an die Schafe, die neben dem reetgedeckten Haus grasten, an die Stille, ein wie aus dem Alltag der lärmenden Gegenwart herausgelöstes Schweigen, das über der herrlichen Landschaft lag und den Dingen überhaupt erst Gestalt und Wirklichkeit zu verleihen schien. Erinnerungen an den im April 2010 knapp 82-jährigen William Trevor, der seinen Besucher mit einem festen Händedruck begrüßte und an seinem Arbeitszimmer vorbei ins Wohnzimmer führte, wo er zum Interview Tee und Kuchen servierte. Trevor trug ein kariertes Sakko, Hemd und Krawatte unter einem Pullover, an den Füßen bequeme Lederschuhe. Er hatte ein weiches, freundliches Gesicht, traurige Augen. Das eindringlichste Bild jedoch, das über die Jahre in Erinnerung bleibt, ist das der alten Olympia, die auf einem kleinen Tisch in der Mitte des Arbeitszimmers stand: Neben der Schreibmaschine, in die ein Bogen blauen Papiers eingespannt war, lag die Schere, mit der Trevor einzelne Wörter und Sätze oder ganze Absätze aus seinen Manuskripten herauszuschneiden pflegte, wie er im Gespräch erläuterte. Auf der Olympia schrieb er damals seine letzten Erzählungen.

»In Isfahan«, eine von Trevors berühmtesten Kurzgeschichten, das Meisterstück aus dem 1975 erschienenen und von Graham Greene als die »vielleicht beste Sammlung seit Joyce’ Dubliner« bezeichneten Erzählungsband Angels at the Ritz. »Ein Traum von Schmetterlingen« aus Lovers of Their Time and Other Stories (1978) und die 1980 zuerst in der britischen Literaturzeitschrift Encounter veröffentlichte Story »Das Teddybärenpicknick«. »Die Frauen des Klavierstimmers«, die 1995 wie zahlreiche andere im renommierten New Yorker erstveröffentlichte Erzählung, in der Trevor das Glück einer späten Ehe durch die Schatten der Erinnerung verdunkelt und eine Distanz von mehreren Jahrzehnten mitunter in einem einzigen, auf verschiedenen Zeitebenen verankerten Satz überbrückt: Die Spuren der Schere, deren stille, vom Gestus des Privaten erfüllte Arbeit unter dem Klappern der Schreibmaschine kaum zu vernehmen gewesen sein dürfte, sind in den frühen Erzählungen des vorliegenden Bandes ebenso augenfällig wie in den jeweils zwölf Erzählungen der in den zweitausender Jahren erschienenen Sammlungen, Seitensprung und Mogeln beim Canasta, die zusammen mit den Romanen Die Geschichte der Lucy Gault (2002) und Liebe und Sommer (2009) das grandiose Spätwerk des 1928 als William Trevor Cox in der irischen Grafschaft Cork geborenen Schriftstellers bilden. Trevor ist ein Meister der Auslassung, dessen Erzählungen dem Schweigen entspringen und schließlich wieder in dieses münden und die Stille doch auf ganz ähnliche Weise verändert zurücklassen wie das Klavierspiel des durchreisenden Italieners, das in der nur vierzehn Seiten langen Erzählung »Die Musik des Tanzlehrers« das junge Dienstmädchen Brigid so tief berührt, dass es die Klänge in Gedanken noch als alte Frau zu hören glaubt, als die ehemalige Herrschaft längst verarmt und deren Haus dem Verfall preisgegeben ist. Trevor ist ein Meister der Zurückhaltung und der Verdichtung, der jedes Wort auf seinen Wert und seine Festigkeit prüft und erst bei der Arbeit mit der Schere die im Konvolut des Manuskriptes verborgene Gestalt des Textes entdeckt. Ein Meister der Andeutung, der wie ein Gärtner das Trockenholz einer Erzählung beseitigt, den Wildwuchs der Sträucher zurückschneidet, damit diese in der Phantasie des Lesers wachsen können und dort ihre Blüten treiben. Nicht auszuschließen, dass er gelegentlich auf das verworfene, überschüssige Material einer Erzählung zurückgreift und es sich bei dem Vater der vierzehnjährigen, mutterlos aufgewachsenen Cecilia Normanton, die in der im Januar 2013 erschienenen Story »Die Frauen« die Aufmerksamkeit zweier ihr unbekannter Frauen auf sich zieht und eine verstörende, wie aus einem Spinnennetz der Lügen und des Schweigens befreite Wahrheit erfährt, um eine neuerliche Ausgestaltung ebenjenes Mr Normanton handelt, der in »In Isfahan« die tragische Geschichte des Scheiterns seiner beiden Ehen vor einer Reisebekanntschaft verbirgt und wie so viele von Trevors Figuren allein dem Leser Einblick in die intimen und unsagbaren Geheimnisse seines Lebens gewährt. Als Meister einer »halb-poetischen« Kunst, um ein Wort der Schriftstellerin Elizabeth Bowen zu verwenden, mit der Trevor nicht nur die anglo-irische Herkunft und das Gefühl der im englischen Exil nie überwundenen Heimatlosigkeit teilt, sondern auch die von der 1973 verstorbenen Bowen als »freie Form« bezeichnete Art von Kurzgeschichte, in der sich Handlung aus einer nuancierten Figurenzeichnung und die einzigartige Gestalt jeder Erzählung aus zwingender Notwendigkeit und nicht aus dem formalen Regelwerk eines klassischen Aufbaus ergibt, enthüllt Trevor den dunklen, meist in Einsamkeit und Entfremdung verkapselten Kern menschlicher Erfahrung, ohne seinen Kurzgeschichten Offenheit und eine überaus faszinierende Mehrdeutigkeit zu nehmen. »Diese fadenscheinige Übung in bloßen Vermutungen, die das Offensichtliche, das nahezu Gewisse zitternd in Frage stellten, war schwach und ungenau«, so Trevor in den letzten Zeilen von »Die Frauen«, in denen der Erzähler über die Identitäten der beiden »sonderbaren Frauen« spekuliert, über Wahn oder Wahrheit einer Cecilia eingeredeten Behauptung, aber zugleich die Poetik jenes suggestiven, sich der eindeutigen Interpretation widersetzenden Innuendos zu benennen scheint, das Trevors Erzählungen die Aura großer Kunst verleiht. »Doch Cecilia wusste, dass die Vermutungen nicht nachlassen würden, und hielt sich an das Geflüster tröstlichen Zweifels.«

Ein Traktor, der auf der schmalen Straße an Trevors Haus vorbeifuhr; zwei Saatkrähen, die über die Felder flogen. Auf einem Fenstersims des Wohnzimmers stand die expressionistische, Anfang der fünfziger Jahre angefertigte Holzskulptur eines kopflosen, an Armen und Beinen gefesselten Mannes, ein Memento jener frühen Jahre, als Trevor nach dem Geschichtsstudium am Dubliner Trinity College noch eine Karriere als Bildhauer verfolgt hatte. Trevor saß mit ausgestreckten Beinen in einem Sessel, im Rücken zwei weiche Kissen. Er nahm die Hände von den Sessellehnen, alte, arthritische Hände, die Zeigefinger wie an der Olympia krumm gestoßen, und faltete sie vor dem Bauch. Er erzählte von der schmerzhaften Erkenntnis, im von Armut und Arbeitslosigkeit geprägten Irland der fünfziger Jahre kein dauerhaftes Auskommen finden zu können, ein Thema, das beispielsweise in seiner 2003 mit dem O. Henry Prize ausgezeichneten Erzählung »Heiligenfiguren« anklingt, in der ein junger Bildhauer das Geld zu beschaffen versucht, das ihm eine Ausbildung zum Steinmetz und vielleicht die erhoffte Sicherung des Lebensunterhalts für seine Familie ermöglichen würde. Trevor erzählte von den frühen Jahren in England, wo er anfangs als Lehrer gearbeitet hatte, nach Geburt seines zweiten Sohnes als Texter einer Londoner Werbeagentur und die Bildhauerei schließlich zugunsten der Arbeit als Schriftsteller aufgegeben hatte, weil seine Skulpturen zunehmend abstrakter geworden waren und er an einen Punkt gelangt war, an dem ihm die Arbeit sinnlos erschien, weil sie ihm nichts mehr über den Menschen erzählte. Über die Sehnsucht und das Verlangen, über Verlust und Trauer, die bittere Melancholie von Aufbruch und Abschied oder eine untilgbare Schuld, über die Verzweiflung und die Illusion von Liebe, die peinigenden Seelennöte, die flüchtigen Zärtlichkeiten, über die leisen, doch mitunter gewaltigen Erschütterungen des Alltags, von denen Trevors mehr als einhundertdreißig Erzählungen handeln, dem Trauma und der Unbill der menschlichen Existenz. »A Standard of Behaviour«, Trevors erster, von ihm später gern verschwiegener Roman, erschien 1958; »Altherrentag«, sein offizielles literarisches Debüt, der erste von insgesamt vierzehn Romanen, in dem er im satirischen Geist Evelyn Waughs und Kingsley Amis’ die Idiosynkrasien und Torheiten des Alters beschreibt, sechs Jahre später. Trevor sagte: »Ich habe nach wie vor eine unstillbare Neugier auf das Leben.« Er blickte auf den Stapel Bücher, der im Wohnzimmer vor ihm lag – ein von seinem Besucher errichtetes Denkmal, vor dem Trevor schließlich nur niederkniete, um die Bücher auf dem Fußboden zu signieren. Seit April 2010 sind lediglich zwei neue Erzählungen erschienen. Er sagte: »Natürlich bezeugen diese Bücher mein Leben. Aber sie haben mit mir dennoch sehr viel weniger zu tun als die Geschichte, an der ich heute morgen gearbeitet habe – an die ich sogar denke, während wir miteinander reden. Ich kann nicht erklären, weshalb mich die Belange der Figuren, die in ihr auftreten, so rückhaltlos gefangen nehmen, zumal die Geschichte von nichts Besonderem handelt und in ihr gar nicht viel passiert.« Er schob sich langsam in den Sessel zurück und sagte: »Ich habe meine Arbeit nie analysiert und glaube, es ist manchmal besser, dass man nicht weiß, weshalb man etwas tut. An einem Geheimnis zu rühren käme mir vor wie ein schrecklicher Vandalismus. Ich bin ein sehr instinktiver Mensch, ich liebe die Einfachheit, alles Komplizierte ist mir verdächtig. Ich setze mich früh an jedem Morgen an meine Schreibmaschine, und wenn ich getan habe, was ich tun wollte, stehe ich wieder auf. Das ist die einzige Erklärung, die ich für meine Arbeit habe.«

In Isfahan

Sie lernten einander ganz zufällig kennen, im oberen Büro der Chaharbagh Tours Inc. Ein Junge im unteren Büro hatte Normanton gebeten, nach oben zu gehen und zu warten: Die Stadtrundfahrt werde etwas später beginnen, da es Probleme mit dem Motor des Minibusses gebe.

Das obere Büro mit seinen an zwei Wänden aufgereihten Stühlen ähnelte eher einem winzigen Wartezimmer als einem Büro. Die Stühle waren sehr einfach: Metallrahmen und rotes Plastik auf Schaumgummi. Es gab einen Tresen, auf dem sich kostenlose Isfahan-Reiseführer auf Französisch und Deutsch stapelten, Führer über Shiraz und Persepolis auch auf Englisch. An den Wänden hingen Poster des Iranischen Fremdenverkehrsamtes: der Berg Damavand, die Straße nach Chalus, einheimische Tänzer südiranischer Volksstämme, der Apadana-Palast in Persepolis, die Medrese von Isfahan. Kosten und Konditionen der Chaharbagh Tours waren eindeutig festgelegt: Rundfahrten mit De Luxe Microbus. Pro Person 375 Rial (5 Dollar). Rundfahrten in französischer und englischer Sprache. Microbus kommt zum Hotel, andernfalls kommen Sie zum Büro. Sämtliche Eintrittspreise inbegriffen. Keine Einkaufsgelegenheiten. Chaharbagh Tours Inc. wünscht Ihnen alles Gute.

Auf eine Broschüre gestützt, die sie auf ihrer Handtasche ausgebreitet hatte, schrieb sie gerade mit Kugelschreiber einen Luftpostbrief. Eine unbequeme Schreibposition, die ihr jedoch nichts auszumachen schien. Sie schrieb flüssig, ohne aufzublicken, als er eintrat, ohne innezuhalten, um darüber nachzudenken, was sie im nächsten Satz sagen wollte. Sonst befand sich im oberen Büro niemand.

Er nahm einige Faltblätter von den Ständern auf dem Tresen. Isfahan était capitale de l’Iran sous les Seldjoukides et les Safavides. Sous le règne de ces deux dynasties l’art islamique de l’Iran avait atteint son apogée.

»Wollen Sie auch die Stadtrundfahrt machen?«

Er drehte sich zu ihr um, überrascht, dass sie Engländerin war. Sie war schlank und wäre vermutlich nicht sehr groß, wenn sie sich aufrichtete, eine Frau in ihren Dreißigern, ohne Ehering. Ihre Augen in dem blassen Gesicht waren hinter riesigen runden Sonnenbrillengläsern verborgen. Ihr Mund war sinnlich mit recht vollen Lippen, das Haar weich und schwarz. Sie trug ein pinkfarbenes Kleid und weiße hochhackige Sandalen. Nichts an ihr wirkte elegant.

Sie ihrerseits sah einen Mann, der ihr typisch englisch vorkam. Er war mittleren Alters mit graumeliertem Haar, trug einen Leinenanzug und einen dazu passenden Leinenhut. Sein Gesicht wies zahlreiche Runzeln und Fältchen auf, besonders um die Augen und den Mund herum. Wenn er lächelte, bildeten sich noch mehr Runzeln und Fältchen. Seine Haut war gebräunt, sah allerdings so aus, als sei sie normalerweise bleich. Sie schätzte, dass er sich erst seit ein paar Wochen in Persien aufhielt.

»Ja, ich will auch die Stadtrundfahrt machen«, sagte er. »Es gibt Probleme mit dem Minibus.«

»Sind wir beide die Einzigen?«

Er sagte, das glaube er nicht. Der Minibus werde die Hotels abklappern und die Leute, die Karten für die Rundfahrt gelöst hätten, einsammeln. Er wies auf die Notiz an der Wand.

Sie nahm ihre dunkle Brille ab. Ihre Augen waren ihr hervorstechendstes Merkmal: wunderschöne braune Augen von unendlicher Tiefe, die sich in ihrem eher gewöhnlichen Gesicht geradezu geheimnisvoll ausnahmen. Ohne die dunkle Brille hatte sie das Aussehen einer Inderin: Lippen, Haare und Augen vereinigten sich zu diesem Eindruck. Ihre Aussprache dagegen war eindeutig englisch und durch ihr Bemühen, einen stark näselnden Cockney-Akzent zu verdecken, womöglich hässlicher, als sie ursprünglich sein mochte.

»Ich schreibe gerade an meine Mutter«, erklärte sie.

Er lächelte sie an und nickte. Sie setzte die Sonnenbrille wieder auf und befeuchtete mit den Lippen die Ränder des Luftpostkuverts.

»Microbus bereit«, sagte der Junge von unten, ein lächelnder Halbwüchsiger von etwa fünfzehn Jahren mit schwarzgeränderter Brille und blendend weißen Zähnen. Er trug ein weißes Hemd mit sorgfältig aufgerollten Ärmeln und eine braune Baumwollhose. »Rundfahrt beginnt, bitte«, sagte er. »Ich bin Reiseleiter Hafiz.«

Er führte sie zum Minibus. »Sie zwei deutsch?«, erkundigte er sich, und als sie antworteten, sie seien Engländer, sagte er, es kämen nicht viele Engländer nach Persien. »Amerikaner«, sagte er. »Franzosen. Deutsche oft.«

Sie stiegen ein. Der Fahrer wandte den Kopf, nickte und lächelte ihnen zu. Mit Hafiz wechselte er ein paar Worte auf Persisch und lachte.

»Er beginnt einen Witz«, sagte Hafiz. »Er wünscht mir alles Gute. Das ist die erste Rundfahrt, die ich mache. Entschuldigen Sie mich, bitte.« Er las Faltblätter und Reiseführer durch, wobei er sich nervös mit der Zunge über die Lippen fuhr.

»Ich heiße Iris Smith«, sagte sie.

Er heiße Normanton, verriet er ihr.

Sie fuhren durch das blaue Isfahan, vorbei an Kuppeln und Minaretten und an Andenkenläden in der Chahar Bagh Avenue, jede Fläche mit blauen Mosaiken verziert, selbst die Taxis blau lackiert. Wegen des dürren Bodens wirkten Bäume und Gräser besonders kostbar. Der Himmel war bleich und verhieß Hitze.

Der Minibus hielt am Park Hotel, am Intercontinental und am Shah Abbas Hotel, in dem Normanton übernachtete. Vor dem Old Atlantic, das, wie Iris Smith am Flughafen von Teheran erfahren hatte, billig und sauber war, fuhr er nicht vor. Er sammelte eine Gruppe von Franzosen ein, ein deutsches Paar, das sich einen Sonnenbrand zugezogen hatte, und zwei junge Amerikanerinnen mit rosigen Gesichtern. Hafiz sprach weiterhin englisch und erklärte, dies sei die einzige Fremdsprache, die er beherrsche. »Ladies-Gentlemen, ich bin Schüler aus Teheran«, verkündete er stolz, und dann gestand er: »Isfahan kenne ich nicht gut.«

Der Anführer der französischen Reisegruppe, ein gereizt aussehender Mann, den Normanton für einen Universitätsprofessor hielt, hatte bereits dagegen protestiert, dass ihr Reiseleiter kein Französisch sprach. Er protestierte abermals, als Hafiz sagte, er kenne Isfahan nicht gut, und beschwerte sich, er sei erheblich getäuscht worden.

»Nein, nein«, erwiderte Hafiz. »Das ist nicht meine Schuld, Sir, ich bin armer persischer Schüler, Sir. Gestern Abend komme ich das erste Mal nach Isfahan. Es ist unmöglich, dass mein Vater mich schon einmal nach Isfahan schickt.« Er lächelte den gereizten Franzosen an. »Also, hören Sie bitte, Ladies-Gentlemen. Heute Morgen wir beginnen glückliche Rundfahrt, sehen viele kuriose Szenen.« Wieder blitzte sein Lächeln auf. Auf Englisch las er aus einem Faltblatt der Iran Air vor: »Isfahan ist das Schmuckstück des islamischen Persien, aber vor mindestens zweitausend Jahren gegründet! Jetzt, Ladies-Gentlemen, sind wir vor dem Chehel-Sotun-Palast. Das ist Pavillon von lyrischer Schönheit, Palast von vierzig Säulen, wo Schah Abbas II. alle seine königlichen Gäste bewirtete. Alle verlassen bitte Mikrobus.«

Normanton schlenderte allein zwischen den vierzig Säulen des Palastes umher. Die jungen Amerikanerinnen machten Fotos, das deutsche Paar ebenso. Ein Mitglied der französischen Reisegruppe hantierte mit einer Videokamera, um bewegte Bilder einzufangen, dabei bewegten sich nur die Touristen und ihre Reiseleiter. Die junge Frau namens Iris Smith schien fehl am Platz, fand Normanton, wie sie auf ihren hochhackigen Sandalen herumstöckelte.

»So, jetzt Masjed-e Schah«, rief Hafiz und klatschte in die Hände, um seine Schäfchen wieder aufzulesen. Der reizbare Franzose fuhr fort zu protestieren und beschwerte sich darüber, dass zu viel Zeit auf das Chehel Sotun verschwendet worden sei. Hafiz lächelte ihn an.

»Masjed-e Schah«, las er von einem Faltblatt, als der Minibus sich wieder in Bewegung setzte, »ist herausragendste und imposanteste Moschee, erbaut Anfang des 17. Jahrhunderts von Schah Abbas dem Großen.«

Doch als der Minibus vor der Masjed-e Schah vorfuhr, stellte sich heraus, dass diese wegen Renovierungsarbeiten für Touristen geschlossen war. Die Sheikh-Lotfollah-Moschee bedauerlicherweise ebenfalls.

»So wir beginnen Teppichweberei«, sagte Hafiz und schüttelte angesichts der Proteste des französischen Professors lächelnd den Kopf.

Die Kameras bewegten sich zwischen den Teppichweberinnen, Frauen jeden Alters, die mit flinken Händen Isfahan-Teppiche für den Export herstellten. »Sehen Sie jetzt alle her«, befahl Hafiz und zeigte auf einen Teppich, in den die Gesichtszüge des verstorbenen Präsidenten Kennedy eingewoben waren. »Bitte sehen Sie dieses Können, Ladies-Gentlemen.«

Im Minibus gab er bekannt, dass die Rundfahrt sie nunmehr zur Masjed-e Jamé, der Großen Freitagsmoschee, führen werde. Diese, berichtete er, nachdem er seine Faltblätter zu Rate gezogen hatte, repräsentiere persische Architektur des 9. bis 18. Jahrhunderts. »Älteste und größte in Isfahan«, las er vor. »Nicht zu verpassen! Viele Minarette in engen Reihen! Alle verlassen Mikrobus, Ladies-Gentlemen. Alle treffen sich in einer Stunde bei Mikrobus.«

Daraufhin erhob sich seitens der französischen Reisegruppe ein Geschnatter. Laut Broschüre sollte es eine geführte Stadtrundfahrt sein, bei der die verschiedenen Sehenswürdigkeiten erläutert würden. Die Stadtrundfahrt kostete dreihundertfünfundsiebzig Rial.

»Gut, Ladies-Gentlemen«, sagte Hafiz. »Ladies-Gentlemen kommen zu mir, um Informationen zu beginnen. Andere Ladies-Gentlemen kommen in einer Stunde zu Mikrobus.«

Eine Stunde in der Freitagsmoschee war eine lange Zeit. Normanton schlenderte davon, durch staubige, bevölkerte Gassen zu den Marktplätzen, wo die Briefeschreiber auf ihren Schemeln schliefen und der Analphabeten mit ihren Sorgen harrten. In dem heißen, grellen Sonnenlicht feilschten Bauern, die ihre Waren anboten, mit gerissenen Krämern. Im Staub kauerten Schuster und fertigten Schuhe an. Auf einem Holzstuhl unter einem Baum wurde ein Mann rasiert. Andere Männer tranken Sorbett und stritten sich so heftig, wie es die Hitze eben erlaubte. Verschleierte Frauen eilten vorüber und blieben nur stehen, um an Fleischbuden Innereien zu betasten oder Reiskörner zu befingern.

»Sie sind vom Touristenpfad abgekommen, Mr Normanton.«

Ihre weißen, hochhackigen Sandalen waren von einer Staubschicht überzogen. Sie sah müde aus.

»Sie auch«, erwiderte er.

»Ich bin froh, dass ich Sie treffe. Ich wollte gerade fragen, wie viel das Kleid hier kostet.«

Sie zeigte auf ein schlaffes blaues Kleid, das an einem Stand hing. In dieser Gegend der Welt sei es schwierig für eine Frau ohne Begleitung, sich nach dem Preis von etwas zu erkundigen, führte sie aus. Das kenne sie bereits aus ihrem Leben in Bombay.

Er fragte den Budenbesitzer, was das Kleid kosten solle, aber es erwies sich als zu teuer, auch wenn der Preis Normanton eher niedrig vorkam. Der Budenbesitzer folgte ihnen die Straße entlang und erbot sich, den Preis zu senken, er habe auch noch andere Waren: Taschen, Baumwolltücher, Elfenbeinschnitzereien, alles beste Qualität, alles günstige Gelegenheiten. Normanton forderte ihn auf, sie in Ruhe zu lassen.

»Sie leben in Bombay?« Er fragte sich, ob sie vielleicht Inderin war, in London aufgewachsen, oder ein Halbblut.

»Ja, ich lebe in Bombay. Und manchmal in England.«

Das war die Aussage einer Frau, die Iris Smith ganz und gar nicht ähnelte: Sie suggerierte Vornehmheit, eine gewisse Eleganz, Schönheit und einigen Wohlstand. »Ich war noch nie in Bombay«, sagte er.

»Es lässt sich dort recht angenehm leben. Ein reges gesellschaftliches Treiben.«

Sie gelangten wieder zur Großen Freitagsmoschee.

»Haben Sie das alles schon gesehen?« Er machte eine Handbewegung.

Sie bejahte, aber er hatte den Eindruck, dass sie sich mit der Moschee nicht sonderlich befasst hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, was sie nach Isfahan gelockt hatte.

»Ich reise für mein Leben gern«, sagte sie.

Die französische Gruppe hatte sich bereits wieder im Minibus eingerichtet, alle bis auf den Mann mit der Videokamera. Sie unterhielten sich lärmend untereinander und beschwerten sich über Hafiz und Chaharbagh Tours. Das Paar traf ein; nach ihren Streifzügen war die sonnenverbrannte Gesichtshaut der beiden Deutschen noch stärker gerötet. Hafiz kehrte mit den beiden jungen Amerikanerinnen zurück. Er lachte und begann mit ihnen zu flirten.

»So«, sagte er im Minibus, »wir beginnen die Schwankenden Minarette. Zwei Minarette, die schwanken können«, las er vor, »acht Kilometer vor der Stadt. Sehr berühmt, Ladies-Gentlemen, sehr kurios.«

Der Fahrer fuhr an, aber die französische Reisegruppe protestierte schrill und erklärte, der Mann mit der Videokamera sei zurückgelassen worden. »Où est-ce qu’il est?«, rief eine Frau in Rot.

»Ich erzähle euch einen persischen Witz«, sagte Hafiz zu den jungen Amerikanerinnen. »Ein persischer Student beginnt auf einer Party –«

»Attention!«, rief die Frau in Rot.

»Imbécile!«, brüllte der Professor Hafiz an.

Hafiz lächelte ihnen zu. Er verstehe ihre Sorgen nicht, sagte er, während sie ihn weiter anschrien. Bedächtig nahm er seine Brille von der Nase und wischte einen Staubfilm ab. »Also, ein persischer Student beginnt auf einer Party«, setzte er von Neuem an.

»Ich glaube, Sie haben jemanden vergessen«, sagte Normanton. »Den Mann mit der Videokamera.«

Der Fahrer des Minibusses lachte, und dann, als er seinen Irrtum erkannte, lachte auch Hafiz. Er setzte sich auf einen Sitz neben den jungen Amerikanerinnen und lachte hemmungslos. Er schlug sich mit der Faust auf die Knie und entblößte seine blendend weißen Zähne. Der Fahrer schaltete den Rückwärtsgang ein und drückte auf die Hupe. »Böser Mann!«, sagte Hafiz zu dem Franzosen, als der in den Bus kletterte, und lachte erneut. »Hahaha«, lachte er, und der Fahrer und die jungen Amerikanerinnen stimmten in sein Gelächter ein.

»Il est fou!«, murmelte einer aus der französischen Reisegruppe verärgert. »Incroyable!«

Normanton warf einen Blick in den Minibus und stellte fest, dass Iris Smith, belustigt von all den fremdländischen Gefühlswallungen, ihn schon anblickte. Er lächelte ihr zu, und sie lächelte zurück.

Hafiz bezahlte zwei Männer dafür, die Schwankenden Minarette zu besteigen und sie zum Schwanken zu bringen. Der Franzose fing bewegte Bilder von dieser Schwingung ein. Hafiz verkündete, dass in der Nähe das Mausoleum eines Einsiedlers liege. Von dem Dach, auf dem sie standen, zeigte er auf die Aussicht. Langsam las er aus einem der Faltblätter vor und informierte sie, dass der Ausblick grandios sei. »Auf der Party«, sagte er zu den jungen Amerikanerinnen, »betrachtet der Student ein Flugzeug auf der Brust eines schönen Mädchens.« ›Warum du betrachtest mein Flugzeug?‹, beginnt das Mädchen. ›Gefällt dir mein Flugzeug?‹ ›Was mir gefällt, ist nicht das Flugzeug‹, beginnt der Student. ›Was mir gefällt, ist der Flughafen des Flugzeugs.‹ Das ist ein persischer Witz.«

Auf dem Dach mit den Schwankenden Minaretten war es ausgesprochen heiß. Normanton setzte seinen Leinenhut auf. Iris Smith band sich ein schwarzes Chiffontuch um den Kopf.

»Wir beginnen zu den Büros«, sagte Hafiz. »Heute Nachmittag wir besuchen die Vank-Kathedrale. Auch kuriosen Feuertempel.« Er zog seine Faltblätter zu Rate. »Ein Armenisches Museum. Hier können Sie sehen eine schöne Sammlung alter Handschriften und Gemälde.«

Als der Minibus vor den Büros der Chaharbagh Tours anhielt, sagte Hafiz, es sei wichtig, dass alle mit hineinkämen. Er ging voran, durch das untere Büro hinauf ins obere Büro. Tee wurde serviert. Hafiz reichte ein Körbchen mit Naschereien herum, eingewickelte Konfektstücke, die am Ort von Hand hergestellt wurden; sehr kurioser Geschmack, sagte er. Mehrere Männer in leichten Anzügen, die Geschäftsleiter von Chaharbagh Tours, tranken ebenfalls Tee. Als der französische Professor sich beschwerte, die Stadtrundfahrt sei nicht zufriedenstellend verlaufen, lächelten die Männer. Sie leugneten, Französisch oder Englisch zu verstehen, und ließen sich nicht anmerken, ob sie den Unterschied wahrnahmen, als der Professor von der einen Sprache in die andere überwechselte. Wahrscheinlich, so mutmaßte Normanton, beherrschten sie beide Sprachen fließend.

»Werden Sie nach dem Mittagessen weiterfahren?«, fragte er Iris Smith. »Die Vank-Kathedrale, ein Armenisches Museum? Es gibt auch noch die Medrese, die wirklich der schönste Bau von allen ist. Keine Stadtrundfahrt kommt ohne sie aus.«

»Haben Sie die Tour schon einmal gemacht?«

»Ich bin zu Fuß umhergestreift. Habe mich ein bisschen in Isfahan umgesehen.«

»Warum machen Sie dann –?«

»Um etwas zu tun zu haben. Rundfahrten lohnen sich immer. Zunächst einmal sind andere Leute mit von der Partie.«

»Ich werde mich heute Nachmittag ausruhen.«

»Die Medrese ist leicht zu finden. Sie ist nicht weit vom Shah Abbas Hotel entfernt.«

»Sind Sie dort untergebracht?«

»Ja.«

Sie war neugierig geworden. Das konnte er in ihren Augen ablesen, denn sie hatte die Sonnenbrille abgesetzt. Und doch konnte er nicht glauben, dass er ein ebenso geheimnisvolles Äußeres bot wie sie.

»Soll schön sein, habe ich gehört«, sagte sie. »Das Hotel.«

»Ja, das ist es.«

»Ich finde, alles in Isfahan ist schön.«

»Bleiben Sie lange?«

»Bis morgen früh, mit dem Fünfuhrbus zurück nach Teheran. Ich bin gestern Abend angekommen.«

»Aus London?«

»Ja.«

Die Teezeremonie neigte sich dem Ende zu. Die Männer in den leichten Anzügen verbeugten sich. Hafiz sagte den jungen Amerikanerinnen, er freue sich darauf, sie am Nachmittag wiederzusehen, um zwei Uhr. Falls sie am Abend nichts anderes vorhätten, könnten sie sich treffen. Allen anderen lächelte er zu. Sie würden auch weiterhin eine glückliche Rundfahrt haben, versprach er, um zwei Uhr. Er werde sich geehrt fühlen, ihnen jede gewünschte Information zu geben.

Normanton verabschiedete sich von Iris Smith. Er selbst, sagte er, werde an der Rundfahrt am Nachmittag auch nicht teilnehmen. Nachmittags, dies fügte er nicht hinzu, waren die Leute von der Vormittagstour nie amüsant: Es wäre nicht lustig, wenn der Franzose mit der Videokamera abermals zurückgelassen würde, die Gereiztheit des Professors und Hafiz’ englisches Kauderwelsch würden im weiteren Verlauf des Tages voraussichtlich ermüdend wirken.

Er riet ihr erneut, sich die Medrese nicht entgehen zu lassen. Daneben gebe es einen Touristenbasar mit Boutiquen, wo sie vielleicht ein Kleid auftreiben könne. Aber die Preise dort seien höher. Sie schüttelte den Kopf: Sie mache lieber Jagd auf Schnäppchen.

Er ging zu Fuß zum Shah Abbas Hotel. Iris Smith vergaß er.

Sie nahm eine schwache Schlaftablette und schlief auf ihrem Bett im Old Atlantic. Als sie erwachte, war es Viertel vor sieben.

Das Zimmer lag fast im Dunkeln, da sie die Vorhänge zugezogen hatte. Sie hatte ihr pinkfarbenes Kleid ausgezogen und aufgehängt. Sie lag in ihrem Unterrock da und starrte schläfrig zu einer Decke empor, die sie nicht sehen konnte. Kurz vor dem Einschlafen hatten ihre Augen das Netz von Rissen und abblätternder Farbe abgesucht. Da hatte das Licht noch ausgereicht, obwohl die Vorhänge bereits zugezogen waren.

Sie schlüpfte aus dem Bett und trat ans Fenster. Draußen war schon die Abenddämmerung hereingebrochen, ein Licht, das sich mehr als sonst vom grellen Sonnenschein des Nachmittags abzuheben schien. Als sie am Vorabend angekommen war, um Mitternacht, hatte sich Isfahan ebenfalls von Grund auf anders dargeboten: pechschwarz, vollkommen still.

Jetzt war es ganz und gar nicht still. Die blauen Taxis ließen die Motoren aufheulen, wenn sie vor dem Old Atlantic im Stau standen. Touristen plapperten in verschiedenen Sprachen. Scharen von Kindern, die aus der Nachmittagsschule kamen, riefen von einem Bürgersteig zum anderen. Verkehrspolizisten bliesen auf ihren Trillerpfeifen.

Im Dämmerlicht blinkten Neonlichter, und in der Ferne konnte sie die riesige beleuchtete Kuppel der Medrese erkennen, ein dickes blaues Juwel, das die gesamte Stadt beherrschte.

Sie wusch sich und zog sich an, dann öffnete sie einen Koffer, um ein schwarz-weißes Kleid zu finden, das ihre Mutter ihr genäht hatte, und ein mit Rüschen verziertes schwarzes Schultertuch. Mit einem Papiertaschentuch wischte sie den Staub von ihren hochhackigen Sandalen. Es wäre schöner gewesen, ein anderes Paar Schuhe anzuziehen, passender für den Abend, aber dann hätte sie ihre Koffer weiter auspacken müssen, und überhaupt, wer würde von ihr schon Notiz nehmen? Sie schluckte etwas Arznei, weil sie seit Monaten von einem ärgerlichen kleinen Husten gequält wurde, der sich gewöhnlich abends einstellte. Es war jedes Mal dasselbe: Wann immer sie nach England zurückkehrte, holte sie sich einen Husten.

In seinem Hotelzimmer las er, dass der Schah sich in Moskau aufhielt und ein Abkommen mit den Russen aushandelte. Er schloss die Augen und ließ die Zeitung auf den Teppich gleiten.

Um sieben Uhr würde er nach unten gehen, sich in die Bar setzen und die Reisegruppen beobachten. Inzwischen kannte man ihn in der Bar bereits. Sobald er eintrat, würde einer der Barkeeper einen Finger heben und nicken. Einen Moment später würde er seinen Wodka mit Limonensaft und zerstoßenem Eis serviert bekommen. »Hatten Sie einen angenehmen Tag, Sir?«, würde ihn der Barkeeper fragen, wer immer es gerade sein mochte.

Seit der Chaharbagh-Rundfahrt am Vormittag hatte er ein Sandwich mit Hühnerfleisch verzehrt und war schätzungsweise fünfzehn Kilometer gelaufen. Erschöpft hatte er ein Bad genommen und das Fluten warmen Wassers um seinen Körper genossen. Er war richtig schläfrig geworden, bis das Wasser abkühlte und er zu frieren begann. Er hatte sich auf dem Bett ausgestreckt und sich danach gemächlich angezogen – ein anderer Leinenanzug.

Sein Zimmer im Shah Abbas Hotel war riesig, mit einem Balkon, vergrößerten Fotos von Kuppeln und Minaretten und einem Doppelbett, das so groß war wie die Tanzfläche eines Nachtclubs. Seit er es das erste Mal gesehen hatte, musste er immer wieder daran denken, dass es groß war wie eine Tanzfläche. Das Zimmer selbst war so geräumig, dass eine kinderreiche Familie darin Platz gefunden hätte.

Um sieben Uhr ging er nach unten. Er benutzte die Treppe, da er Lifts hasste, außerdem war es angenehm, durch das luxuriöse Hotel zu wandern. Im Foyer war eine Gruppe von etwa vierzig Schweizern eingetroffen. Einen Augenblick lang blieb er an einer Säule stehen und beobachtete sie. Ihr Leiter regelte etwas an der Rezeption, Gepäckträger schafften die Koffer der Neuankömmlinge aus dem Flughafenbus. Sie blickten glücklicher drein, als die einzelnen Gepäckstücke ausgeladen waren. Schweizer Archäologen, mutmaßte Normanton, die Gruppenreise irgendeiner Genfer Gesellschaft. Und statt geradewegs die Bar aufzusuchen, schritt er schließlich aus dem Hotel in die Abenddämmerung.

Sie begegneten sich im Touristenbasar. Sie hatte eine Brosche erstanden, ein farbiges Baumwolltuch, eine Tragetasche aus Segeltuch. Als er sie sah, wusste er sofort, dass er nur zum Touristenbasar gegangen war, weil er sie dort vermutet hatte. Sie gingen zusammen weiter, verglichen die Preise für elfenbeinerne Miniaturen, die traditionellen Polospiel-Szenarien, verschiedentlich dargestellt. Es war reine Neugier, weiter nichts, weswegen er ihre Bekanntschaft erneuern wollte.

»Die Medrese ist geschlossen«, sagte sie.

»Man kann trotzdem hinein.«

Vom Basar aus führte er sie hin, und vor der Medrese klingelte er. Dem Portier steckte er ein paar Rial zu. Sie würden nicht lange bleiben.

Sie bestaunte die Ruhe, die Stille der offenen Innenhöfe, die blauen Mosaikwände, das blaue Wasser, die stumm betenden Männer. Sie nannte die Medrese eine Grotte des Himmels. Sie hörte einen Laut und sagte, es sei eine Nachtigall, und er sagte, mag sein, aber der eigentliche Ort für Nachtigallen sei Shiraz. »Wein und Rosen und Nachtigallen«, sagte er, weil er wusste, dass er sie damit erfreute. Auch Shiraz sei schön, aber nicht so schön wie Isfahan. Der Rasen in den Innenhöfen der Medrese sei nicht wie gewöhnlicher Rasen, sagte sie. Umgeben von all der Bläue, gewönnen selbst die Pflastersteine und das Wasser eine andere Dimension. Blau sei die Farbe der Heiligkeit: Hier könne man die Heiligkeit sinnlich spüren.

»Sie ist schöner als das Tadsch Mahal. Man ist vollkommen verzaubert.«

»Möchten Sie einen Drink, Miss Smith? Ich könnte Ihnen den Zauber des Shah Abbas Hotel zeigen.«

»Das wäre jetzt genau das Richtige.«

Diesmal hatte sie ihre Sonnenbrille nicht auf. Wenn sie sprach, kratzte der näselnde Klang ihrer Stimme auch jetzt wieder in seinen Ohren, ihre Augen aber schienen noch herrlicher als am helllichten Tag. Schade, dass er ihr nicht sagen konnte, ihre Augen seien genauso schön wie die Baukunst der Medrese, doch eine solche Bemerkung würde natürlich missverstanden werden.

»Was darf’s denn sein?«, fragte er sie in der Hotelbar. Die Angehörigen der Schweizer Reisegruppe um sie herum sprachen ausnahmslos Französisch. Eine Gruppe texanischer Ölarbeiter und ihrer Ehefrauen, die schon am Vorabend in der Bar gesessen hatte, war auch wieder da und hatte dieselbe Ecke in Beschlag genommen. Das sonnenverbrannte deutsche Paar von der Chaharbagh-Rundfahrt war da, zusammen mit anderen Deutschen, mit denen es sich angefreundet hatte.

»Ich hätte gern einen Whisky«, sagte sie. »Mit Soda. Das ist sehr nett von Ihnen.«

Als ihre Drinks serviert wurden, schlug er ihr vor, eine Führung durchs Hotel zu machen. Ihre Drinks könnten sie mitnehmen, sagte er. »Ich werde Reiseleiter Hafiz sein.«

Er genoss es, ihr das Hotel zu zeigen, weil sie die ganze Zeit Laute des Entzückens von sich gab, in den marmornen Gängen den Atem anhielt und die endlosen Wandmosaiken befühlte. Ihre hochhackigen Sandalen versanken im plüschigen Teppich. Sie sei völlig verzaubert, sagte sie: der Schimmer des Goldes und des Spiegelglases zwischen dem Blau und Rot der Mosaiken, das wunderschön gearbeitete Mobiliar, die Treppe, die Kronleuchter.

»Das ist mein Zimmer«, sagte er und drehte den Schlüssel im Schloss einer polierten Mahagonitür um.

»Donnerwetter!«

»Setzen Sie sich, Miss Smith.«

Sie ließen sich nieder und nippten an ihren Getränken. Sie unterhielten sich über das Zimmer. Sie trat auf den Balkon hinaus, dann kam sie herein und setzte sich wieder. Es sei ziemlich kalt geworden, bemerkte sie und fröstelte ein wenig. Daraufhin hustete sie.

»Sie haben eine Erkältung.«

»In England hole ich mir jedes Mal eine Erkältung.«

Sie saßen in zwei mit dunklem Tweed bezogenen Sesseln, zwischen ihnen ein Glastisch. Ein Zimmermädchen hatte das Bett gemacht. Sein grüner Pyjama lag auf dem Kopfkissen für ihn bereit.

Sie sprachen über die Leute auf der Rundfahrt, über Hafiz und den gereizten Professor und über den Franzosen mit der Videokamera. Sie hatte Hafiz und die jungen Amerikanerinnen im Touristenbasar gesehen, im Teeladen. Am Nachmittag hatte der Minibus eine Panne gehabt: Er hatte ihn vor dem Armenischen Museum gesehen, der Fahrer und Hafiz hätten die Zündkerzen überprüft.

»Meiner Mutter würde sie so gut gefallen«, sagte sie.

»Die Medrese?«

»Meine Mutter würde ihren Geist erfassen. Und ihre Heiligkeit.«

»Ihre Mutter lebt in England?«

»In Bournemouth.«

»Und Sie selbst –«

»Ich war bei ihr auf Urlaub. Sechs Wochen waren geplant, und ein Jahr bin ich geblieben. Mein Mann ist in Bombay.«

Er blickte auf ihre linke Hand in der Meinung, sich geirrt zu haben.

»Ich habe meinen Ehering die ganze Zeit nicht getragen. In Bombay werde ich das wieder tun.«

»Möchten Sie zu Abend essen?«

Sie zögerte. Erst schüttelte sie den Kopf, aber dann besann sie sich eines anderen. »Sind Sie sicher?«, fragte sie. »Hier im Hotel?«

»Das Essen imponiert mir noch am wenigsten.«

Er hatte sie gefragt, weil er sich mit einem Mal nur noch ungern in diesem riesigen Schlafzimmer mit ihr aufhielt. Es war vergnüglich, sie durchs Hotel zu führen, aber er wollte keine Missverständnisse aufkommen lassen.

»Gehen wir nach unten«, sagte er.

In der Bar nahmen sie noch einen Drink. Die Schweizer Gruppe war schon gegangen, ebenso die Deutschen. Die Texaner lärmten lauter als zuvor. »Noch einmal dasselbe bitte«, bat er den Barkeeper und klopfte gegen ihre beiden Gläser.

In Bournemouth hatte sie das Jahr über als Stenotypistin gearbeitet. Auch in der Vergangenheit, vor ihrer Heirat, als sie und ihre Mutter noch in London wohnten, hatte sie als Stenotypistin gearbeitet. »Mein angeheirateter Name lautet Mrs Azann«, sagte sie.

»Als ich Sie das erste Mal sah, fand ich, dass Sie ein wenig indisch aussehen.«

»Vielleicht kommt das, wenn man einen Inder heiratet.«

»Und Sie sind Engländerin durch und durch?«

»Ich habe mich stets zum Orient hingezogen gefühlt. Eine geistige Wahlverwandtschaft.«

Ihr Gesprächsstil erinnerte an den in einer Novelle. Dies und ihre Stimme, ihre unpassenden Schuhe, ihr Husten und dass sie in der kühlen Abendluft nicht genug am Leib trug – all das ergab ein abgerundetes Bild, nur ihre Augen fielen aus dem Rahmen. Und je länger sie von sich sprach, desto mehr schienen ihre Augen einem anderen Menschen zu gehören.

»Ich bewundere meinen Mann sehr«, sagte sie. »Er ist sehr vornehm. Hochintelligent. Zweiundzwanzig Jahre älter als ich.«

Dann, sie saßen noch immer in der Bar, erzählte sie ihm ihre Geschichte. Obwohl sie es nicht aussprach, hatte sie des Geldes wegen geheiratet. Und obwohl sie eindeutig die Wahrheit sagte, als sie gestand, dass sie ihren Mann bewunderte, war die Ehe nicht rundum glücklich. Zunächst einmal konnte sie keine Kinder haben, was zum Zeitpunkt der Hochzeit keiner von ihnen gewusst hatte und was, als es zur unumstößlichen Tatsache wurde, ihren Ehemann verärgerte. Sie selbst war ungehalten gewesen, als sie herausfand, dass ihr Mann nicht so reich war, wie es den Anschein gehabt hatte. Er sei Besitzer eines Möbelhauses, hatte er im Regent Palace Hotel gesagt, wo sie sich zufällig begegnet waren, als sie auf jemand anders wartete: Das entsprach ja noch der Wahrheit, nur hatte er ihr verschwiegen, dass sein Möbelhaus nicht florierte. Ungehalten war sie auch, als sie in der Hochzeitsnacht entdeckte, dass sie sich nur ungern von ihm berühren ließ. Und es gab noch ein Problem: In ihrem Bungalow in Bombay wohnten außer ihr und ihrem Mann auch noch seine Mutter und eine Tante, sein Bruder und sein Geschäftsleiter. Für eine junge Frau, die ein solches Gemeinschaftsdasein nicht gewohnt war, ließ sich das Leben in dem Bungalow in Bombay schwierig an.

»Das klingt mehr als schwierig.«

»Manchmal.«

»Er hat Sie geheiratet, weil Sie wie eine Inderin aussehen, während Sie in anderer Hinsicht das Gegenteil einer Inderin sind. Ihre blasse englische Haut. Ihre – Ihre englische Stimme.«

»In Bombay unterrichte ich Sprecherziehung.«

Er musste blinzeln, dann lächelte er, um die Unhöflichkeit zu überdecken, die sich womöglich in seinem Gesicht gespiegelt hatte.

»Für indische Frauen«, sagte sie, »die in den Club kommen. Mein Mann und ich sind Mitglieder eines Clubs. Das ist das Beste am Leben in Bombay, der gesellige Verkehr.«

»Eine sonderbare Vorstellung – Sie in Bombay.«

»Ich habe darüber nachgedacht, nicht zurückzugehen. Ich dachte, dass ich vielleicht bei meiner Mutter wohnen bleiben könnte. Aber in England ist nicht mehr viel.«

»Ich hänge sehr an England.«

»Das dachte ich mir.« Sie hustete wieder, nahm ihre Arznei aus ihrer Handtasche und tröpfelte ein wenig davon in ihren Whisky. Sie trank einen Schluck der Mixtur, dann entschuldigte sie sich mit der Bemerkung, das sei nicht sehr damenhaft. Im Club würde ein solches Benehmen Stirnrunzeln hervorrufen.

»Bei dem Husten sollten Sie wirklich eine Strickjacke tragen.« Er winkte dem Barkeeper und bestellte eine weitere Runde.

»Ich bin gleich betrunken«, sagte sie kichernd.

Er hatte das Gefühl, dass seine Neugier berechtigt war. Ihre Geschichte war sonderbar. Er stellte sich vor, wie die indischen Frauen im Club mit ihrer nasalen Intonation englisch sprachen, wie sie die Lippen verdrehten, um die verzerrten Laute zu formen, und wie sie die H ausließen, weil es ihnen so vorgemacht wurde. Er stellte sich Iris Smith im Bungalow vor, mit einem ältlichen Ehemann, der nicht reich war, seinen Verwandten und seinem Geschäftsleiter. Es war ein bitteres kleines Märchen, ein Märchen von Aschenbrödel und einem Prinzen, der kein Prinz war, und die Kutsche verwandelte sich in einen eiskalten Kürbis. Unbehagen verdrängte seine Neugier, und wieder fragte er sich, warum sie nach Isfahan gekommen war.

»Kommen Sie, jetzt gehen wir essen«, schlug er mit leicht ungestümer Stimme vor.

Doch Mrs Azann, die ihn aus ihren herrlichen Augen musterte, sagte, sie könne keinen Bissen herunterbringen.

Er war bestimmt verheiratet, spekulierte sie. Schmerz lag in seinen Gesichtszügen, selbst wenn er viel lächelte und unbeschwert wirkte. Sie überlegte, ob er vielleicht eine schlimme Krankheit überstanden hatte. Als er sie in sein Schlafzimmer gebracht hatte und sie beisammensaßen, hatte sie überlegt, ob er wohl zudringlich werden würde. Aber mit Männern, die zudringlich wurden, kannte sie sich aus, und er schien nicht der Typ dafür zu sein. Er war zu attraktiv, um zudringlich werden zu müssen. Seine Umgangsformen waren zu elegant; er war zu nett.

»Ich werde Ihnen beim Essen zusehen«, sagte sie. »Es macht mir überhaupt nichts aus, Ihnen zuzusehen, falls Sie Hunger haben. Ich möchte Sie nicht um Ihr Abendessen bringen.«

»Nun ja, ich bin ziemlich ausgehungert.«

Seine Lippen wölbten sich, wenn er dergleichen sagte, weil er dabei lächelte. Sie überlegte, ob er wohl Architekt sein könnte. Kaum war ihr die Idee gekommen, nach Isfahan zu reisen, hatte sie gewusst, dass es keine bloße Idee war. Sie glaubte an das Schicksal, das hatte sie schon immer getan.

Sie gingen ins Restaurant, das wie alles andere im Hotel riesig und luxuriös war, schwach erleuchtet, auf jedem Tisch eine Öllampe. Die Art, wie er den Kellnern erklärte, dass sie nichts zu essen wünsche, gefiel ihr. Er selbst bestellte Hühnerkebab und Salat.

»Einen Wein vielleicht?«, regte er an und lächelte auf dieselbe Art. »Persischer Wein ist ausgesprochen süffig.«

»Sehr gern.«

Er bestellte den Wein.

Sie fragte: »Reisen Sie immer allein?«

»Ja.«

»Aber Sie sind verheiratet?«

»Ja.«

»Dann ist Ihre Frau wohl ein eher häuslicher Mensch?«

»Ja.«

Sie stellte sich ihn vor in einem Haus in einem Dorf, vielleicht in der Nähe von Midhurst oder Sevenoaks. Sie stellte sich seine Frau vor, eine fähige Frau, tüchtig im Garten und in Ausschüssen. Sie sah seine Frau ganz deutlich vor sich, wie sie Gartenwicken schnitt, etwas füllig, aber nett.

»Sie haben mir gar nichts von sich erzählt«, sagte sie.

»Da gibt es wenig zu erzählen. Ich fürchte, eine Geschichte wie die Ihre habe ich nicht vorzuweisen.«

»Warum sind Sie in Isfahan?«

»Urlaub.«

»Verbringen Sie Ihren Urlaub immer allein?«

»Ich bin gern allein. Ich mag Hotels. Ich mag es, herumzulaufen und die Leute zu beobachten.«

»Sie sind wie ich. Sie reisen gern.«

»Das stimmt.«

»Ich stelle Sie mir in einem Haus in einem Dorf vor, irgendwo in den Home Counties.«

»Das ist sehr klug von Ihnen.«

»Auch Ihre Frau kann ich deutlich sehen.« Sie beschrieb die Frau, die sie deutlich vor sich sah, ohne zu erwähnen, dass sie sie für füllig hielt. Er nickte. Sie habe das zweite Gesicht, sagte er mit seinem Lächeln.

»Die Leute sagen, ich hätte übersinnliche Fähigkeiten. Ich bin froh, dass wir uns getroffen haben.«

»Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen. Geschichten wie die Ihre sind selten genug.«

»Aber sie ist wahr. Jedes Wort.«

»Oh, ich weiß.«

»Sind Sie Architekt?«

»Sie sind wirklich bemerkenswert«, sagte er.

Er beendete seine Mahlzeit, und gemeinsam leerten sie die Flasche Wein. Sie tranken Kaffee, und dann fragte sie ihn, ob er netterweise Kaffee nachbestellen würde. Die Schweizer Reisegesellschaft hatte das Restaurant verlassen, ebenso das deutsche Paar mit seinen neuen Freunden. Andere Tischgäste waren gekommen und gegangen. Die Texaner waren gerade im Aufbruch begriffen, als Mrs Azann noch einen Kaffee vorschlug. Keiner der anderen Tische war besetzt.

»Aber gewiss«, sagte er.

Er wünschte, sie würde jetzt gehen. Sie hatten den Abend gemeinsam herumgebracht. Ihre hässliche Stimme würde er lange Zeit ebenso wenig vergessen wie ihre schönen Augen. Auch das Märchen, das bitter für sie ausgegangen war, würde er nicht so leicht vergessen. Aber das war es dann auch schon. Der Abend war zu Ende.

Der Kellner brachte ihnen den Kaffee. Die Aufgabe schien ihn außerordentlich zu ermüden.

»Sollten wir vielleicht noch einen Drink nehmen? Was meinen Sie?«, fragte sie. »Ob es hier wohl Zigaretten gibt?«

Er bestellte einen Brandy und sie einen weiteren Whisky. Der Kellner brachte ihr amerikanische Zigaretten.

»Eigentlich will ich nicht nach Bombay zurück«, sagte sie.

»Das tut mir leid.«

»Ich würde gern für immer in Isfahan bleiben.«

»Sie würden sich ungemein langweilen. Hier gibt es keinen Club. Überhaupt kein gesellschaftliches Leben für eine Engländerin, würde ich meinen.«

»Gesellschaftliche Aktivitäten sind mir wichtig.« Sie lächelte ihn an und zog dabei ihren sinnlichen Mund breit. »Mein Vater war Verkäufer«, sagte sie. »In einem Coop. Das hätten Sie nicht gedacht, stimmt’s?«

»Nein«, log er.

»Das ist mein kleines Geheimnis. Wenn ich das den Frauen in meinem Club erzähle oder der Mutter meines Mannes oder seiner Tante – die würden einen Anfall bekommen. Nicht einmal mein Mann weiß davon. Nur meine Mutter und ich teilen dieses Geheimnis.«

»Verstehe.«

»Und jetzt Sie.«

»Bei Fremden sind Geheimnisse gut aufgehoben.«

»Warum, glauben Sie, habe ich Ihnen dieses Geheimnis anvertraut?«

»Weil wir wie zwei Schiffe in der Nacht sind.«

»Weil Sie mitfühlend sind.«

Der Kellner hielt sich in der Nähe auf, dann näherte er sich ihnen verwegen. Die Bar sei geöffnet, so lange sie es wünschten. In der Bar gebe es Unmengen anderer Getränke. Geschickt räumte er die Kaffeekanne und ihre Tassen ab.

»Er ist wie ein Magier«, sagte sie. »Alles in Isfahan hat etwas Magisches.«

»Sind Sie froh, dass Sie gekommen sind?«

»Immerhin habe ich Sie hier kennengelernt.«

Er erhob sich. Er musste einen Augenblick stehen, da sie sitzen blieb, die Handtasche auf dem Tisch, darauf das mit Rüschen verzierte schwarze Schultertuch. Sie hatte ihren Whisky noch nicht ausgetrunken, aber er erwartete, dass sie das Glas an die Lippen heben und trinken würde, so viel sie eben wollte, oder dass sie es einfach stehen lassen würde. Sie stand auf und ging, das Glas in der Hand, mit ihm aus dem Restaurant. Die freie Hand schob sie unter seinen Arm.

»Unten gibt’s eine Diskothek«, sagte sie.

»Oh, ich fürchte, das ist nichts für mich.«

»Für mich auch nicht. Gehen wir wieder in unsere Bar.«

Sie reichte ihm ihr Glas und sagte, sie müsse mal verschwinden. Sie hätte gern einen weiteren Whisky mit Soda, sagte sie, obwohl sie ihr Glas noch gar nicht ausgetrunken hatte. Ohne Eis, sagte sie.

Die Bar war leer bis auf einen einzelnen Barkeeper. Normanton bestellte einen weiteren Brandy für sich und Whisky für Mrs Azann. Eigentlich bevorzugte er sie als Iris Smith mit ihrem billigen pinkfarbenen Kleid und der Sonnenbrille, die ihre Augen verbarg: Sie hätte eine beliebige kleine Stenotypistin sein können, außer dass sie Mr Azann geheiratet und eine Geschichte zu erzählen hatte.

»Es ist trotz allem nett«, erklärte sie, als sie sich setzte. »Es ist nett, obwohl er immer nur Sie-wissen-schon-was will und trotz der Frauen im Bungalow, seines Bruders und des Geschäftsleiters. Sie alle lehnen mich ab, weil ich Engländerin bin, besonders seine Mutter und seine Tante. Er selbst lehnt mich nicht ab, denn er ist verrückt nach mir. Dem Geschäftsleiter macht es nichts aus, nehme ich an. Den Hunden auch nicht. Verstehen Sie? Trotz allem ist es schön, jemanden zu haben, der verrückt nach einem ist. Und der Club, das Gesellschaftsleben. Selbst wenn wir knapp bei Kasse sind – für eine Frau ist es besser als in England. Zum Beispiel das Personal.«

Der Whisky beeinträchtigte ihre Ausdrucksweise. Eine Stunde zuvor hätte sie nicht gesagt »Sie-wissen-schon-was« oder »knapp bei Kasse«. Eigenartig, dass sie sich derartiger Feinheiten bewusst war und doch nicht den nasalen Akzent in ihrer Stimme hören konnte, der sie sofort verriet.

»Aber Sie lieben Ihren Mann nicht.«

»Ich respektiere ihn. Es ist nur, dass ich es hasse, Sie-wissen-schon-was mit ihm zu haben. Wie ich das hasse! Ich habe ihn nie wirklich geliebt.«

Er bedauerte seine Bemerkung, dass sie ihren Mann nicht liebe; sie war ihm herausgerutscht, und es war bedauerlich, da es ihn auf eine Weise ins Gespräch zog, die ihm unangenehm war.

»Vielleicht verbessert sich die Lage ja, wenn Sie wieder zurück sind.«

»Ich weiß, wohin ich zurückkehre.« Sie schwieg und suchte seine Augen. »Solange ich lebe, werde ich Isfahan nicht vergessen.«

»Eine wunderschöne Stadt.«

»Ich werde nie die Chaharbagh Tours vergessen oder Hafiz. Ich werde nie die Medrese vergessen, zu der Sie mich gebracht haben. Oder das Shah Abbas Hotel.«

»Ich glaube, es ist an der Zeit, dass ich Sie zu Ihrem Hotel begleite.«

»Ich könnte für immer in dieser Bar sitzen bleiben.«

»Ich fürchte, das Nachtleben ist ganz und gar nichts für mich.«

»Ich werde mir Ihr Bild heraufbeschwören, wenn ich wieder in Bombay bin. Ich werde Sie mir in Ihrem Dorf vorstellen, mit Ihrer Frau, ein glückliches Leben in England. Ich werde mir vorstellen, wie Sie an Ihren Bauentwürfen arbeiten. Ich werde oft daran denken, dass Sie allein reisen, weil Ihre Frau sich nichts daraus macht.«

»Ich hoffe, dass sich die Dinge in Bombay besser anlassen. Manchmal kommt es so, wenn man am wenigsten damit rechnet.«

»Das ist wie Balsam. Sie haben mich sehr glücklich gemacht.«

»Es ist sehr freundlich, dass Sie das sagen.«

»So vieles zwischen uns ist unausgesprochen geblieben. Werden Sie sich an mich erinnern?«

»Aber ja, natürlich.«

Widerstrebend leerte sie ihren Whisky bis zur Neige. Sie nahm ihre Arznei aus der Handtasche, goss ein paar Tropfen davon in das Glas und trank auch diese. Die Arznei helfe gegen das Kitzeln in ihrem Hals, sagte sie. Wenn der vermaledeite Husten komme, verspüre sie immer dieses Kitzeln im Hals.

»Sollen wir zurückgehen?«

Sie verließen die Bar. Wieder hängte sie sich bei ihm ein und ging sehr langsam zwischen den mosaikverzierten Säulen. Auf dem Rückweg zum Old Atlantic Hotel redete sie von dem Abend, den sie miteinander verbracht hatten, wie wunderbar er gewesen sei. Um nichts in der Welt hätte sie Isfahan missen wollen, wiederholte sie mehrere Male.

Als sie sich verabschiedeten, küsste sie ihn auf die Wange. Ihre schönen Augen verschlangen ihn, und einen Moment lang hatte er das Gefühl, dass ihre Augen das Wirkliche an ihr waren und sie so spiegelten, wie sie hätte sein sollen.

Um halb drei wachte er auf und konnte nicht wieder einschlafen. Die Morgendämmerung brach bereits herein. Er lag da und sah zu, wie durch die Vorhänge, die er einen Spaltbreit offen gelassen hatte, damit Luft ins Zimmer kam, immer stärker das Licht eindrang. Ein weiterer Tag war verstrichen: In Gedanken ging er ihn Schritt für Schritt durch, von seinem Spaziergang am frühen Morgen bis zu dem Augenblick, da er seinen grünen Pyjama angezogen hatte und ins Bett gegangen war. Für ihn war dies eine regelmäßige Übung zur Nachtzeit. Er schloss die Augen und rief sich jedes Detail ins Gedächtnis.

Er fand sich wieder in den Büros der Chaharbagh Tours ein, und Hafiz bat ihn wieder, ins obere Büro zu gehen. Er sah sie dasitzen, wie sie an ihre Mutter schrieb, und hörte wieder ihre Stimme, als sie ihn fragte, ob er auch die Stadtrundfahrt machen wolle. Er sah wieder die sonnenverbrannten Gesichter des deutschen Paares vor sich, die rosigen Gesichter der jungen Amerikanerinnen und die Gesichter der französischen Reisegesellschaft. Er machte wieder seinen Nachmittagsspaziergang, und danach nahm er sein Bad. Im Basar kam sie auf ihn zu, mit ihrer dunklen Brille und ihren kleinen Einkäufen. Dann war die Geschichte an der Reihe, die sie ihm erzählt hatte.

Er für sein Teil hatte nichts von sich preisgegeben. Er war einverstanden mit dem novellenartigen Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte, von seinem Leben in einem Dorf in den Home Counties, vom wohlhabenden Architekten, verheiratet mit einer Frau, die gärtnerte. Architekt war ein ebenso romantischer Beruf geworden wie Arzt, und er hatte keinen Grund gehabt, ihr die Illusion zu rauben. Sie würde ihn für immer vor sich sehen, wie er exotische Gegenden bereiste, allein, weil er es genoss, weil seine Frau ein häuslicher Mensch war.

Warum hatte er ihr nichts von sich erzählen können? Warum hatte er nicht eine Geschichte gegen eine andere eintauschen können? Sie hatte alles ruiniert und versuchte nicht, es zu verbergen. Das Leben hatte sie enttäuscht, sie selbst hatte sich enttäuscht. Lächerlicherweise erteilte sie indischen Frauen Sprechunterricht und sah darin nichts Lächerliches. Sie hatte ihm ihr Geheimnis anvertraut, und er wusste, dass er es tatsächlich nur mit ihr und ihrer Mutter teilte.

Die Stunden vergingen. Er sollte mit ihr in diesem Bett liegen, das so groß war wie eine Tanzfläche. Im Morgengrauen sollte er in ihre herrlichen Augen schauen, verliebt in das Geheimnis, das sie bargen. Er sollte sich ihr anvertrauen und sie um Mitgefühl bitten, so wie sie ihn um seines gebeten hatte. Er sollte ihr erzählen, dass er ins Zimmer gekommen war, nicht etwa in einem Dorf in den Home Counties, sondern im harschen, hässlichen Hampstead, und seine zweite Frau, so wie schon seine erste, mit einem fremden Mann im Bett ertappt hatte. In aller Demut hätte er sie fragen sollen, weshalb er ein geborener Hahnrei war, weshalb sich gleich zwei Frauen ganz unterschiedlichen Temperaments und Charakters dazu veranlasst fühlten, sich zu seinen Lasten einen Liebhaber zuzulegen. Wenn die Wärme ihres Körpers den seinen wärmte, hätte er ihr sagen sollen, dass seine zweite Frau ihm gestanden hatte, größeren sexuellen Genuss zu verspüren bei dem Gedanken, dass sie ihn betrog.

Diese Geschichte war nicht besser als ihre, aber zweifellos genauso unangenehm. Und doch hatte er nicht den Mut aufgebracht, sie zu erzählen, da sie ihn in ein gewisses Licht rückte. Er reiste ohne Mühe, bewegte sich auf Oberflächen und bot doch selbst nur Oberfläche. Als Fremder war er annehmbar: In zwei Ehen hatte man ihm nicht verziehen, dass er sich als ein anderer entpuppte, als der er schien. Einmal ein Hahnrei zu sein war Spielerpech, aber ein zweites Mal zum Hahnrei zu werden hatte etwas von Rache. In aller Demut hätte er sie danach fragen können.

Um halb fünf stellte er sich ans Fenster und blickte hinaus auf die menschenleere Straße vor dem Hotel. Inzwischen wäre sie auf dem Weg zum Busbahnhof, um den Fünfuhrbus nach Teheran zu nehmen. Er könnte sich anziehen, sich sogar noch rasieren und immer noch rechtzeitig hingelangen. Er könnte in ihrem Namen den Aufpreis zahlen, den die Fluggesellschaft aufschlagen würde. Er könnte ihr seine Geschichte anvertrauen, und sie könnten ein paar Tage miteinander verbringen. Sie könnten zusammen nach Shiraz fahren, in die Stadt des Weines, der Rosen und der Nachtigallen.

Er stand am Fenster und blickte auf die Straße, in der nichts geschah. Selbst wenn er in alle Ewigkeit dort stehen blieb, würde er den Mut nicht aufbringen, das wusste er. Sie hatte einen mitfühlenden Mann kennengelernt, der ihr wunderbarer vorkam als alle Wunder Isfahans. Sie würde diese Erinnerung zu dem Bungalow in Bombay tragen und nichts von einer Engherzigkeit ahnen, die in Menschen Grausamkeit hervorbrachte. Und er würde sich an eine Frau erinnern, die, tief unter einer wenig anziehenden Oberfläche, jene Würde besaß, die ihre Augen auf geheimnisvolle Weise für sie beanspruchten. Unter anderen Umständen, hätte er eine weniger verhängnisvolle Geschichte zu erzählen gehabt, wäre sie ans Licht gekommen. Doch am frühen Morgen enthüllte sich ihm eine andere Wahrheit: Er war der Stoff, aus dem die Träume sind. Sie hatte Klasse, er nicht.

Ein Traum von Schmetterlingen

Verschiedene Leute wachten mit einem Gefühl der Erleichterung auf. Colin Rhodes fragte sich schläfrig, weshalb er sich eigentlich erleichtert fühlen sollte. Wie jeden Morgen im Augenblick des Erwachens umfasste er mit der linken Hand eine der molligen Brüste seiner Frau, dann erinnerte er sich an das Resultat der Versammlung vom Vorabend. Miss Cogings, die, allein in ihrem schmalen Bett, dem Chor der Mehlschwalben lauschte, erinnerte sich daran mit demselben Grad an Genugtuung. Ebenso die Poudards, als ihr Teekocher sie um Viertel vor sieben weckte. Ebenso Reverend Feare und Mr Mottershead und Mr und Mrs Tilzey und die Blennerhassetts, die den Dorfladen betrieben. Mrs Feare, mit einem kränkelnden Kind schon seit dem Morgengrauen auf den Beinen, freute sich, weil ihr Mann sich freute. Sie hatten ihnen eine Niederlage zugefügt.

Die Allenbys in Luffnell Lodge indessen wachten mit gemischten Gefühlen auf. Was sollte mit dem Haus geschehen, nun da es unverkauft blieb? Wie lange würden sie auf einen anderen Käufer warten müssen? Denn da sie sich nun einmal dazu durchgerungen hatten, wollten sie so bald wie möglich wegziehen. Sie hatten über ein Überbrückungsdarlehen nachgedacht, doch dann hatten sie sich dagegen entschieden, weil die Zinsen zu hoch ausfielen. Sie hatten vor, in einer Gegend von Cornwall, die für ihre Wärme und Trockenheit bekannt war – beides würde Mrs Allenbys Arthritis lindern –, einen Bungalow zu erstehen. Alles, was bei der Versammlung gesagt worden war, leuchtete Mr und Mrs Allenby ein; den allgemeinen Standpunkt konnten sie durchaus verstehen. Doch an diesem Morgen wünschten sie, die Sache wäre anders ausgegangen.

»Das ist wirklich bizarr«, sagte Hugh im Frühstücksraum der Mansors.

»Das sind Träume oft.«

»Aber Schmetterlinge –«

»Es hat mit der Versammlung zu tun.«

»Ah, natürlich, die Versammlung.«

Er begriff sofort, was geschehen war. Die Gedankengänge seiner Frau konnte er mühelos nachvollziehen, ein Gedanke baute auf dem anderen auf, und am Ende wurden aus Fakten Phantasien.

Emily bestrich ihre Toastscheibe mit Butter und griff nach der Grapefruitmarmelade. »Albern«, sagte sie, ohne es zu meinen.

»Ein bisschen schon«, stimmte er zu und lächelte sie an. Dann sprach er von etwas anderem, einer Meldung in der Times, schon wieder war ein Flugzeug entführt worden.

In ihren Frühstücksraum schien die Sonne. Sie wärmte die Knochen seines gedrungenen Gesichts; sie belebte sein schlichtes graues Haar. Sie fand den tulpenförmigen Storchenbiss an ihrem Hals; sie brachte ihre Brille zum Funkeln. Die beiden waren gleich alt, zweiundfünfzig Jahre; noch waren sie keine Großeltern, würden es aber bald werden. Er handelte mit Immobilien; sie war früher Latein- und Griechischlehrerin gewesen. Sie war klein und neigte dazu, Fett anzusetzen, wenn sie nicht achtgab; sie fand sich pummelig.

»Lass dich davon nicht beunruhigen«, sagte Hugh und faltete die Times zusammen, um sie später im Zug zu lesen. »Die Sache ist ausgestanden.«

Auf seine hagere Art war er gut aussehend, sie eher reizlos. Vielleicht hatte er sie geheiratet, weil er sich dem Glanz einer schönen Frau nicht ebenbürtig fühlte: Als junger Mann, der sich in der Welt noch nicht bewiesen hatte, litt er unter Minderwertigkeitskomplexen und war sie trotz der Erfolge, die er in mittlerem Alter für sich verbuchen konnte, nie losgeworden. Es hätte ihn nicht verwundert, wenn sich die Höhen, die er in seiner Geschäftswelt erklommen hatte, mit einem Mal als Brachland herausstellten. Er war spezialisiert auf Immobilien in fernen Gegenden: Jamaika, Spanien, den Bahamas; ein wirtschaftlicher Rückschlag konnte alles zunichtemachen. Das Haus, in dem sie wohnten, am Rande eines Dorfes in Sussex, symbolisierte das Glück, das ihm im Lauf der Jahre zuteilgeworden war. Aber er hatte auch ein Anrecht darauf, denn er hatte beharrlich gearbeitet; nur seine Minderwertigkeitskomplexe hinderten ihn daran, es für selbstverständlich zu halten. Ihn verblüffte, dass aus ihm, der als Schüler so wenig Anlass zu großer Hoffnung gegeben hatte, doch noch etwas Ordentliches geworden war; und gelegentlich, wenn auch nicht eben oft, verblüffte ihn, dass sie eine erfolgreiche Ehe führten, und das in Zeiten hoher Scheidungsraten. Vielleicht lebten sie deshalb so harmonisch, weil auch sie bescheiden war; mehr als einmal hatte er sich gefragt, ob das wohl der Grund sei. Könnte es sein, dass Emily, die viel gescheiter war als er, nur deshalb so gut mit ihm zurechtkam, weil ihr Mangel an Schönheit sie auf ihren Platz verwies, so wie seine Minderwertigkeitskomplexe ihn auf seinen? Sie hatte ihm erzählt, als Mädchen habe sie geglaubt, sie werde niemals heiraten, da sie annahm, ein Storchenbiss, Pummeligkeit und dazu noch die Brille seien für jeden Mann zu viel. Er dachte oft darüber nach, wie sie in der Schule gewesen sein musste, die Gescheiteste in der Klasse; während er eher begriffsstutzig war. »Du bist sehr lieb«, dieses Kompliment machte ihm Emily am häufigsten.

»Ich wünsche dir einen schönen Tag«, sagte sie jetzt und zwang sich zu einem heiteren Gesichtsausdruck, denn der Traum, den sie gehabt hatte, stimmte sie noch immer traurig, und die Erinnerung an die Versammlung beunruhigte sie.

»Ich komme mit dem Fünf-Uhr-Zug.« Er berührte mit den Lippen ihre Wange; dann war er fort, die Tür zum Frühstücksraum öffnete und schloss sich, die Haustür schlug zu. Sie hörte, wie er den Wagen anließ, wie die Räder über den Asphalt rollten und das Motorgeräusch sich in der Ferne verlor.

Wie er empfand sie, dass sie sich in siebenundzwanzig Jahren Ehe nicht schlecht geschlagen hatten. Sie war eine Miss Forrest gewesen; Mrs Mansor zu werden war ihr als das Schönste erschienen, was ihr bis dahin widerfahren war, und ihr ganzes Eheleben hindurch hatte sie nichts bereut – nicht die Sorgen während der mageren Jahre, nicht die Erziehung ihrer drei Kinder –, und am Ende, in mittlerem Alter, hatte sie den Lohn empfangen: Glück. Sie vermisste ihren Sohn und ihre Töchter, die inzwischen alle selbst verheiratet waren, doch zum Ausgleich bescherten ihr Haus und Garten Zufriedenheit, genauso wie das anspruchslose Dorfleben. Außerdem waren da die Besuche ihrer Kinder und die Erinnerungen an die Mädchen, die sie unterrichtet hatte und von denen einige noch immer Kontakt zu ihr hielten. Es bereitete ihr noch immer Vergnügen, Horaz und die unbedeutenderen griechischen Dichter zu lesen, auf experimentelle Art zu einer neuen Deutung zu finden anstelle der gängigen der Gelehrten.

Ihr Haus, im Queen-Anne-Stil erbaut, in Wahrheit aber aus einer späteren Periode, wurde von der Straße und den umgebenden Feldern durch Waldwiesen mit Silberbirken abgeschirmt. Es war ein kompaktes Haus, leicht zu pflegen und sauber zu halten, im Winter warm. Wenn sie morgens allein zu Hause war, spielte Emily auf dem HiFi-System im Wohnzimmer oft Bach oder Mozart, dann wehte die Musik in die Küche, die Schlafzimmer und den Frühstücksraum und folgte ihr auf angenehme Weise, wohin sie auch ging.

An diesem Morgen jedoch war sie nicht in der rechten Stimmung für Bach oder Mozart. Sie blieb sitzen, wo ihr Mann sie zurückgelassen hatte, und sagte sich, dass sie sich mit dem Geschehenen abfinden müsse. Sie hatte die Stimme erhoben, doch niemand hatte ihr zuhören mögen. Lediglich Golkorn hatte ihr zugehört, sein großer kurzgeschorener Schädel hatte langsam genickt, mitunter hatten sich seine Augen in ihre gebohrt. Auf der Versammlung hatte ihre Stimme gestockt; ihre Wangen hatten sich erhitzt; nichts war ihr so über die Lippen gekommen, wie sie es gemeint hatte.

Undamenhafte Anhäufung falscher Anschuldigungen