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Cecilia Grant

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Ein waghalsiger Plan mit unerwarteten Folgen ...

Nach dem Tod ihres Mannes kämpft die junge Witwe Martha Russell darum, ihr Anwesen Seton Park zu behalten. Um ihren Anspruch darauf zu festigen, greift sie zu einer List: Mit dem attraktiven Lebemann Christopher Mirkwood will sie ein Kind zeugen, das sie als Erbe ihres verstorbenen Mannes ausgeben kann. Für Christopher ist dieses Angebot zu verführerisch, um es abzulehnen. Er setzt alles daran, Martha zufriedenzustellen, die das Ganze jedoch lediglich als einen Handel sieht. Nie hätte sie vermutet, welche Leidenschaft Christopher in ihr weckt und dass sie sich sogar in ihn verlieben könnte ...

Ein prickelnder Regency-Roman voller Leidenschaft - für alle Fans der historischen Liebesgeschichten von Kimberly Killion und Kris Kennedy.

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Seitenzahl: 521

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

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Über dieses Buch

Titel

Widmung

1

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Über dieses Buch

Nach dem Tod ihres Mannes kämpft die junge Witwe Martha Russell darum, ihr Anwesen Seton Park zu behalten. Um ihren Anspruch darauf zu festigen, greift sie zu einer List: Mit dem attraktiven Lebemann Christopher Mirkwood will sie ein Kind zeugen, das sie als Erbe ihres verstorbenen Mannes ausgeben kann. Für Christopher ist dieses Angebot zu verführerisch, um es abzulehnen. Er setzt alles daran, Martha zufriedenzustellen, die das Ganze jedoch lediglich als einen Handel sieht. Nie hätte sie vermutet, welche Leidenschaft Christopher in ihr weckt und dass sie sich sogar in ihn verlieben könnte …

CECILIA GRANT

Ein unsittliches Angebot

Roman

Aus dem Englischen von Kirsten Middeke

Für Shirley,

das Alpha und Omega der Korrekturleser

1

Nicht ein einziges Mal in den zehn Monaten ihrer Ehe hatte sie sich das Ableben ihres Mannes gewünscht. Sie würde sich auch keinen Moment lang über das Ereignis freuen. Nicht einmal in diesem Augenblick. Das stünde ihr nun wirklich nicht gut an.

Martha richtete sich in ihrem Sessel auf und strich sich die schwarzen Röcke glatt. Zugegeben, hin und wieder war ihr Verhalten vielleicht mehr ihren Prinzipien denn ihren Gefühlen geschuldet. Doch auf seine Prinzipien konnte man sich verlassen. Prinzipien gaben einem Halt. Prinzipien halfen einem, sich zusammenzureißen, gerade in solchen Fällen, in denen Gefühle lediglich einen trägen Morast darstellten, in dem man zu versinken drohte.

Sie ließ von ihren Röcken ab und faltete die Hände auf dem Tisch. »Ich nehme an, das ist alles rechtlich unanfechtbar«, sagte sie in die Stille ihrer sonnendurchfluteten Stube hinein.

Mr Keene deutete im Sitzen eine Verbeugung an und gewährte ihr einen Blick auf die kahle Stelle auf seinem Hinterkopf. Noch immer vermied er es, ihr in die Augen zu sehen. Die Papiere vor ihm raschelten leise, als er die Ecken glatt strich und sie ohne besondere Absicht neu zurechtlegte. Er sollte das wirklich lassen.

Am anderen Ende des Tisches saß ihr Bruder, der sichtlich bemüht war, seine Wut zu beherrschen und das Gehörte zu verdauen. Dass er es immerhin versuchte, musste man ihm hoch anrechnen.

»Sprich dich aus, Andrew.« Sie wusste nur zu gut, was er zu sagen hatte. »Du tust dir sonst noch Gewalt an.«

»Ich hätte Russell Gewalt angetan, wenn ich gewusst hätte, was er im Schilde führt. Eintausend Pfund!« Er spuckte die Summe aus wie einen Happen verbrannter Grütze. »Eintausend Pfund – und es waren mal zehntausend! Welcher Mann spekuliert mit dem Erbe seiner Frau?«

Ein Säufer offenbar. Um nur ein Beispiel anzuführen. Sie holte tief Luft. »Es ist ja nicht so, als stünde ich ohne einen Penny da. Ich habe ja noch mein Witwenvermögen.«

»Aber das ist nur noch ein Zehntel von dem, was du in die Ehe eingebracht hast, und überdies wirst du keinen Witwensitz haben! Ich würde wirklich zu gern wissen, was er sich dabei gedacht hat.« Die letzten Worte waren vorwurfsvoll an Mr Keene gerichtet.

»Ich hätte diese Investition nicht befürwortet«, erwiderte der Anwalt mit näselnder Stimme und raschelte weiter mit seinen Papieren. »Aber Mr Russell hatte eine Schwäche für dergleichen. Sein Testament bezüglich der ersten Mrs Russell sah ähnlich aus: ihre Mitgift in Wertpapieren angelegt, der Rest in der Hoffnung auf einen Sohn dem nächsten männlichen Verwandten vorbehalten.« Natürlich, ein Sohn. Ob es wohl irgendwo auf der Welt einen Mann gab, der noch besessener war von der Idee, einen Erben zu zeugen, als es ihr Mann gewesen war? Den würde sie doch zu gern einmal sehen.

Oder auch nicht. Eigentlich würde sie solch einem Mann überhaupt nicht begegnen wollen. Sie löste die verschränkten Hände und fuhr mit den Fingerspitzen über das Tischtuch. Sehr hübsch, dieses Tuch. Belgisches Leinen. Und es gehörte nicht mehr ihr.

»Ich wünschte, ich hätte meine eigenen Anwälte mit deinem Ehevertrag betraut. Mit Vertrauen hättest du mir nicht zu kommen brauchen.« Mehr verbrannte Grütze. »Vaters Leute waren so was von nutzlos! Ich hätte mich selbst darum kümmern sollen.«

»Und wie hättest du das schaffen wollen?« Sie hatte weder die Zeit noch die Geduld für solchen Unsinn. Ich wünschte, ich hätte dies getan, ich wollte das tun, ich hätte dieses oder jenes tun sollen. Sackgassen, allesamt Sackgassen, die nirgendwo anders hin führten als in den Sumpf der Sentimentalität. »Du hattest alle Hände voll zu tun, Vaters Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Es waren schwere Zeiten für uns alle. Geschehen ist geschehen. Es gibt nichts mehr dazu zu sagen.«

Andrew hielt endlich den Mund, doch in seinen Augen – groß, feucht, dunkel wie abgestandener Kaffee – loderte es. Sie wandte diskret den Blick ab. Wie unschicklich, mit jeder beliebigen Laune hausieren zu gehen. Wie unbeherrscht. Sie mochte zwar die gleichen Augen wie er haben, doch den ihren hatte sie längst den Ausdruck einer sphinxähnlichen Gelassenheit anerzogen. So schwer war das nun wirklich nicht.

»Und wann wird sie vor die Tür gesetzt?«, fragte Andrew, als seine Geduld zu Ende war. »Wie bald wird dieser andere Mr Russell einziehen wollen? Du wirst natürlich bei mir und Lucy wohnen«, fügte er hinzu, ohne die Antwort des Anwalts abzuwarten. »Wenn wir aufs Land fahren, kannst du sogar dein altes Zimmer wiederhaben.«

Und wieder das Leben eines abhängigen Kindes führen, mit einundzwanzig. Eine Bürde für ihn und seine Frau. In ihrem Magen rumorte es: Winzige Fetzen der Rebellion jagten sinnlos umher wie altes Laub in einem Wirbelsturm.

Mr Keene neigte den Kopf und präsentierte ihr erneut die kahle Stelle. »In solchen Fällen führen wir die Angelegenheit für gewöhnlich erst fort, wenn die Witwe uns versichert, dass die Möglichkeit der Geburt eines Sohnes ausgeschlossen ist.«

Diese Möglichkeit war absolut ausgeschlossen. Ihr Körper hatte das drei Tage zuvor auf die übliche Weise kundgetan. Trotz aller noch so energischen Bemühungen ihres Mannes, mit ihr – und vermutlich auch mit seiner vorherigen Frau –, einen Erben zu zeugen, war es nicht zu einer Schwangerschaft gekommen.

Doch sollte sie das etwa hier auf der Stelle verkünden? Trotzig schwieg sie. Wenn sie die Angelegenheit offenließ, würde sie ein paar Wochen gewinnen. Vielleicht sogar einen Monat.

Und wenn sie ihnen wirklich trotzen wollte … nun, man hörte so manches darüber, was verzweifelte kinderlose Witwen mitunter taten. Schaurige Geschichten, schwer zu glauben. Konnte eine Frau wirklich so verzweifelt sein? Wahrscheinlich waren es nur Ammenmärchen, dem Wunschdenken der Männer entsprungen.

Sie reckte das Kinn. »Ich werde es Sie wissen lassen, wenn es so weit ist.« Wenigstens würde sie sich um die Dienstboten kümmern können. Mr und Mrs James Russell würden ihr eigenes Gesinde mitbringen, was einen Teil der Dienerschaft von Seton Park überflüssig machen würde. Sie würde sich so viel Zeit nehmen, wie nötig war, um die Leute anderweitig unterzubringen.

Andrew rutschte unruhig auf seinem Sessel hin und her, während Mr Keene minutenlang seine Papiere zusammenpackte und höfliche Konversation betrieb. Als der Anwalt endlich verabschiedet worden war, stand Andrew vehement auf. »Herrgott, Schwesterchen, kannst du denn nie den Mund aufmachen und für dich selbst eintreten?« Er schritt ans andere Ende des Tisches. »Es ist nicht recht, wie du in dieser ganzen Sache behandelt wirst. Warum nur bin ich der Einzige, der den Mut hat, das zu sagen?«

Eine altbekannte Gelassenheit breitete sich in ihrer Brust aus. »Ich verstehe nicht, was das mit Mut zu tun haben soll.« Vorsichtig erwog sie ihre Worte und faltete die Hände wieder auf dem Tisch. »Vermutlich könnte ich von Ungerechtigkeit sprechen und mich einem Wutausbruch hingeben, doch das würde nichts an meiner derzeitigen Situation ändern, oder?« Ihre Stimme wurde dünner und dünner, wie Teig unter einem unnachgiebigen Nudelholz.

»Jetzt nicht mehr.« Er machte eine ausladende Geste der Ungeduld. »Aber dieses ganze Unglück hätte verhindert werden können! Ich werde beim besten Willen nie verstehen, weshalb du den Kerl überhaupt geheiratet hast! Weshalb sollte ein junges Mädchen einen Witwer heiraten, der doppelt so alt ist wie sie, wo sie doch –«

»Er war neununddreißig. Nicht gerade scheintot. Und nein, du wirst es vermutlich nie verstehen.« Älteste Söhne verstanden so etwas nicht. Ein Schmarotzerdasein würde Andrew nie drohen. Er würde nie in die Verlegenheit geraten, Alternativen abwägen zu müssen, die nichts mit den Träumen eines jungen Mädchens zu tun hatten. Er schüttelte lediglich mitleidig den Kopf – provozierend – ob ihrer starrköpfigen Entscheidung.

Als ob eine Liebesheirat die einzig legitime Form der Ehe wäre. Als ob die Menschheit nicht seit Generationen von Verbindungen ganz anderer Art profitieren würde, von respektablen Eheschließungen zwischen Leuten, die nun einmal nicht in erster Linie an zügellosen Emotionen interessiert waren.

Ihre Finger hatten sich gelöst und strichen immer wieder über ein Stück Lochstickerei im Tischtuch. Dann hielt sie die Hände still und verschränkte sie wieder fest. Und schwieg.

Ihr Bruder seufzte abrupt. »Es tut mir leid, Martha.« Sie hörte die Veränderung in seiner Stimme, während sie den Blick fest auf das Tischtuch geheftet hielt.

Er kam um den Tisch herum, stellte sich hinter ihren Sessel und legte eine Hand auf ihre Schulter. Sie hob den Kopf und starrte die Tapete an, auf der Pfingstrosen in einem fröhlichen rot-weißen Muster umhermarschierten.

»Ich wollte dich nicht kränken.« Mit einem Mal war er unsicher und suchte ratlos nach einer Möglichkeit, seine verquere kleine Schwester zu trösten. »Es tut mir leid, dass dir solch ein Unglück widerfahren ist, und dass ich dir keine größere Hilfe gewesen bin. Aber ich werde dir jetzt helfen, wenn du mich lässt. Du wirst es gut haben bei mir und Lucy.«

Die Pfingstrosen auf der Tapete glänzten einen Augenblick lang silbern auf und drohten dann zu verschwimmen. Es war, als sei sie wieder sieben, und Andrew achtzehn; dieselbe Hand auf ihrer Schulter und er verlegen und ratlos. Sie hatten das schon einmal erlebt, nur dass sie damals nebeneinander auf der Steinmauer gesessen hatten, auf der er sie nach langem Suchen gefunden hatte. Damals hatten seine stockenden Worte des Trosts mit dem Himmelreich und der Seele ihrer Mutter zu tun gehabt.

Mir tut es auch leid. Ich wünschte, ich würde wollen, was du mir anbietest. Ich weiß auch nicht, weshalb ich das nicht kann. Sie schluckte die Worte hinunter. »Es war sehr nett von dir, zu kommen«, sagte sie. »Du bist mir eine große Hilfe gewesen. Ich weiß nicht, was ich die letzten Tage getan hätte, wenn du nicht hier gewesen wärst. Ich schreibe dir, wenn … Ich werde dir schreiben.« Kaum hatte sie den großen Zeh in die Wogen der Gefühle gesteckt, da zog sie ihn auch schon wieder heraus.

Er reiste nach London ab. Martha winkte ihm, bis die Kutsche von der Auffahrt in die Straße abbog, dann ließ sie den Arm sinken und marschierte los. Sie ließ das Haus hinter sich und ging auf die sich im Süden erhebenden Hügel zu. Die Augustsonne kannte keine Gnade für eine Frau in Trauerkleidung, und schon gar nicht für eine, die so rasch ausschritt wie Martha. Einerlei. Sie beschleunigte ihre Schritte.

Bald hatte sie den Fuß des höchsten Hügels erreicht und spürte, wie sich ihre Schritte verkürzten, als der Anstieg begann. Irgendwo in der Nähe hörte sie Schafe blöken, mal wehleidig klagend, mal verdrießlich. Und einen bellenden Hund und eine Männerstimme, die knappe Befehle gab. Hinter einer Biegung erblickte sie sie: Einer ihrer Pächter richtete einen neuen Hund ab, indem er ihn immer wieder um eine Gruppe dreier missmutig blickender Schafe herumführte. Als Mr Farris sie erblickte und den Hut abnahm, war Martha gezwungen, stehen zu bleiben und einige Worte mit ihm zu wechseln.

Über einen Schäferhund konnte man nicht unendlich viele lobende Worte verlieren. Sie erschöpfte sie alle, während der Pächter seinen Hut zwischen den kräftigen Fingern hin und her drehte und weise nickte. »Von meiner Jane soll ich fragen, falls ich Sie sehe, ob wir wohl davon ausgehen dürfen, dass Sie hierbleiben werden«, sagte er, als die Komplimente gemacht waren.

»Ich fürchte, das ist unwahrscheinlich.« Es war mehr als unwahrscheinlich, doch die Antwort, die sie ihren Pächtern gab, musste sich mit dem decken, was sie Mr Keene gesagt hatte.

»Das wird vielen hier mächtig leidtun.« Er pfiff, und der Hund fuhr in seiner halb kauernden Stellung herum und machte kehrt. »Jane sagt, das neue Dach verdanken wir Ihnen.«

»Nun, hauptsächlich Mr Russells Großzügigkeit.« Sie senkte den Blick und fegte sich einen Krümel vom Ärmel.

»Die erste Mrs Russell hat sich nie für Neuerungen interessiert. Und er auch nicht, bevor Sie gekommen sind. Meint Jane. Sie hält es Ihnen zugute.«

»Ihre gute Meinung ehrt mich.« Sie wischte erneut über ihren Ärmel, bevor sie den Kopf hob. »Es geht ihr gut, hoffe ich? Und den Kindern?«

»Jepp, es geht allen gut.« Er machte eine Armbewegung, und der Hund machte wieder kehrt. »Ben und Adam freuen sich auf die Eröffnung der Schule.«

»Die Schule?« Freude wallte in ihr empor, wusch die Enttäuschung des Vormittags fort und ließ ihre Stimme sonderbar schrill klingen. »Sie standen nicht auf Mr Atkins Liste, als ich ihn das letzte Mal gesprochen habe. Nehmen sie jetzt doch teil?«

»Nur an drei von fünf Tagen, für den Anfang. Mein jüngstes Mädchen auch. Everetts Jungs werden mir ein wenig aushelfen, und meine ihm, und den Rest kriegen wir schon irgendwie hin.«

»Wollen Sie damit sagen, die Everett-Kinder kommen auch zur Schule?« Sie bemühte sich, ihre Stimme wieder zu dämpfen, um die Schafe nicht zu verscheuchen.

»Drei von fünf Tagen, jepp. Im Winter vielleicht mehr.«

»Es freut mich sehr, das zu hören! Sie tun Ihren Kindern einen guten Dienst, sie zur Schule zu schicken.«

»Tja, sie sind ganz helle Köpfchen.« Er zuckte die Schultern und drehte seinen Hut erneut in den Händen. »Verstand und Bildung, und ein junger Mann kann werden, was er will.«

Martha erkannte eins der vielen Argumente wieder, die Mr Atkins sich mit ihr gemeinsam zurechtgelegt hatte, und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie hatte in ihrer kurzen Zeit in Seton Park etwas erreicht. Sie hatte sich nützlich gemacht. Wenn die Unzufriedenheit sie zu überkommen drohte, würde sie sich die neuen Dächer in Erinnerung rufen, und die Rolle, die sie bei der Umsetzung der lang gehegten Pläne des Pfarrers für eine Schule für die Pächterkinder gespielt hatte.

Sie würde sich auch gern an die Verbesserungen erinnern, die sie an seinem Plan vorgenommen hatte. »Was ist mit Ihrer Laura, und mit Adelaide? Sie werden die Sonntagsschule besuchen, hoffe ich?«

»Wohl kaum.« Er hielt den Kopf schief und rieb sich mit dem Handrücken das Kinn. »Wir brauchen sie im Haus, vor allem wenn ihre Brüder in der Schule sind.«

»Natürlich.« Diese entmutigende Antwort hatte sie schon mehrmals gehört. »Andererseits ist es ja nur eine halbe Stunde Unterricht die Woche. Vielleicht können Sie sie ja später doch noch entbehren.«

»Vielleicht. Laura lernt im Augenblick eher diese Arbeit hier.« Er nickte in Richtung des Hundes. »Es liegt ihr, wissen Sie. Andere herumzukommandieren.«

»Nun ja, eine Begabung dafür, andere anzuführen, sollte man beneiden.« Und kultivieren. Ein Mädchen mit dieser Veranlagung verdiente eine Erziehung. Mehr Erziehung als nur Lesen und Rechnen, womit der Unterricht für Mädchen begann und endete. Sie würde morgen mit Mr Atkins darüber sprechen. Auf diese Eltern musste stärker eingewirkt werden, und da ihre Zeit hier fast abgelaufen war, würde es an ihm sein, das zu tun.

Vor zwei Wochen noch hatte sie wie jeden Sonntag seit ihrer Hochzeit mit Mr Russell rechts in der ersten Reihe der Stephanskirche gesessen. An diesem Vormittag saß sie drei Reihen weiter hinten auf der linken Seite; eine Geste, die nur sie selbst verstand. Die erste Reihe war der Herrschaft von Seton Park vorbehalten. Sie würde dort nicht mehr sitzen.

Man sah die Dinge ganz anders aus der dritten Reihe. Man konnte zum Beispiel sehen, wo das Sonnenlicht, das durch das Spitzbogenfenster in der Ostwand einfiel, auf den gefliesten Boden traf. Man konnte die Hinterköpfe der Leute studieren. In der ersten Reihe hätte sie nie erfahren, welche ihrer Nachbarn sich hinter den Ohren wuschen und welche nicht.

In der ersten Reihe hätte sie wahrscheinlich auch nie den Fremden gesehen. Vielleicht hätte sie ihn gehört. Er hastete durch den Gang zu einem freien Platz, während der Pfarrer aus der Sakristei trat und die Kirchenbesucher verstummten. Aber sie hätte sich ganz gewiss niemals umgedreht, um einen Blick auf den großen, gut gekleideten Mann zu werfen, der auf der Bank ihr gegenüber Platz nahm.

Sie drehte sich auch jetzt nicht um. Leute, die zu spät zur Kirche kamen, verdienten keine Beachtung – was man den Nachbarn, die ihn verstohlen anstarrten, dringend und nachdrücklich nahelegen sollte. Es war völlig ausreichend, aus den Augenwinkeln zu beobachten, wie er sein Gebetbuch ergriff und hektisch darin blätterte. Als der Gottesdienst begann, verbannte Martha den Fremden aus ihren Gedanken.

Mr Atkins’ Predigten waren ernst und schlicht und vielleicht ein wenig länger, als man sie sich insgeheim gewünscht hätte, doch für gewöhnlich mit einer erbaulichen Botschaft am Ende. Heute hatte er die Geschichte von Maria und Martha ausgewählt, den beiden Schwestern, die uneins darüber waren, wie sie den Heiland in ihrem Haus empfangen sollten – eine ziemlich verwirrende Stelle, die Pflichtversäumnis zu befürworteten schien. Doch Martha konnte den Kopf beugen und auf die Moral am Ende warten.

Das unterdrückte Kichern eines Kindes zog einige Minuten später ihre Aufmerksamkeit auf sich. Der kleine Junge in der Reihe vor ihr verrenkte sich den Hals nach etwas hinter sich. Sie folgte seinem Blick und sah den Fremden. Er war eingeschlafen und ein wenig nach links gesackt.

Wie konnte man den Leuten nur so ein schlechtes Vorbild sein? Sie warf zuerst dem kleinen Jungen einen bösen Blick zu, woraufhin dieser sich hastig umdrehte, und dann der schlafenden Gestalt auf der anderen Seite des Gangs.

Der Fremde schlummerte unbekümmert weiter. Der Kopf war ihm zur Seite gesunken, so dass sie nur seine welligen Haare sehen konnte, die die blasse Farbe frisch gespaltenen Buchsbaumholzes hatten. Sein Gesicht konnte sie nicht erkennen, und es blieb ihrer Vorstellungskraft überlassen, es sich vorzustellen – nicht, dass sie die Absicht gehabt hätte, das zu tun.

Seine Haltung war der Inbegriff von Trägheit. Die langen Beine hatte er wie ein Grashüpfer gefaltet, um sie in die Bank zu quetschen. Seine Hände ruhten schlaff auf dem Gesangbuch, das aufgeschlagen auf seinem Schoß lag. Garantiert war er einer von den Menschen, die nur in die Kirche gingen, um andere mit ihren Gesangskünsten zu beglücken.

Jetzt jedoch beglückte er sie mit etwas ganz anderem: einem Schnarchen, tief und verhalten wie das Summen eines verirrten Insekts, aber doch unverkennbar ein Schnarchen. Und dann noch eins, im gleichen Tonfall wie das erste.

Also wirklich. Wozu kam er überhaupt in die Kirche? Sie drehte sich wieder nach vorn. Mr und Mrs James Russell konnten sich gern mit ihm herumschlagen. Sie selbst musste sich mit bedeutsameren Dingen befassen. Wie zum Beispiel der Predigt. Oder dem Zustand ihres Gebetbuchs, das sogar im Sommer moderig roch. Alle Gebetbücher in dieser Kirche rochen so, und dieses wies zudem dunkle Schimmelflecken und von Feuchtigkeit gewellte Seiten auf, als sie es durchblätterte. Ein Jammer, dass sie nicht mehr dazu gekommen war, Mr Russell zu bitten, die Bücher auszutauschen –

Sie bekam eine Gänsehaut. Sie wurde beobachtet. Von rechts. In einer einzigen raschen Bewegung wandte sie den Kopf und blickte in dunkelblaue Augen. Augen von der Farbe des Ozeans. Der Fremde, soeben erwacht, hatte den Kopf gehoben und offenbarte sein Antlitz.

Er sah noch verschlafen aus. Dort, wo es auf seiner Schulter gelegen hatte, zeigte sein Gesicht eine Druckstelle. Eine Locke fiel ihm schräg in die Stirn. Seine Wangenknochen wirkten aristokratisch, seine Lippen voll, und er hatte Wimpern, die Martha noch sechs Bänke weiter hinten gesehen hätte.

Er blinzelte kurz und dann noch einmal. Ein unverhohlenes Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus, so als hätte er sie am anderen Ende eines Ballsaals erblickt und hoffte nun, mit ihr bekannt gemacht zu werden.

Nein. Schlimmer. Sie wandte sich ab; das Blut schoss ihr bereits in die Wangen. Frauen, die in seinem Bett erwachten, sahen dieses Lächeln. Schlaftrunken. Ein wenig überrascht, sie zu sehen. Gern bereit, mehr zu sehen, sobald es ihr beliebte.

Martha legte das Gebetbuch weg, verschränkte die Arme und verbarg sich so gut es ging vor seinem Blick. Die Luft, die ihren bloßen Nacken streifte, fühlte sich plötzlich an wie eine ungewollte Liebkosung. Mochte es nun August sein oder nicht, sie wünschte, sie hätte einen Schal dabei.

Ein weiterer Schauder lief ihr über den Rücken, doch sie starrte entschlossen geradeaus, selbst dann noch, als der Gottesdienst zu Ende war und die Reihen sich leerten. Sie war die Letzte, die die Kirche verließ und dem Pfarrer die Hand schüttelte, um ihm für seine erbauliche Predigt zu danken.

Mr Atkins sah genau so aus, wie ein Mann der Kirche aussehen sollte, von Nahem vielleicht sogar noch mehr als auf der Kanzel. Sein straffer Körperbau verlieh seiner schmucklosen schwarzen Soutane zusätzliche Würde, und weißes Papier und schwarze Kohle hätten völlig ausgereicht, ein getreues Abbild von ihm anzufertigen: pechrabenschwarze Augen, Haare und Brauen, deren natürliche Neigung seinen blassen, kantigen Zügen etwas Melancholisches gab.

»Ich finde, es ist ein sehr schöner Text«, erwiderte er auf ihr Kompliment hin, und ein leichter Anflug von Bosheit schlich sich in sein Lächeln. »Obwohl ich in Zukunft Mr Mirkwood zuliebe vielleicht etwas lebendigere Stellen auswählen sollte. Wenn er bei David und Goliath auch einschläft, muss es wohl an mir liegen.«

»Ist er ein Nachbar?« Über Mr Atkins’ Schulter hinweg konnte sie den Fremden sehen; er hatte bereits eine gute Viertelmeile in Richtung der Straße zurückgelegt. »Ich kenne ihn weder vom Sehen noch dem Namen nach.« Er bewegte sich mit federnder Leichtigkeit, die Hände in den Rocktaschen.

»Ihnen gehört das Anwesen östlich von Seton Park, aber wir sehen sie nicht oft. Seit Sie da sind gar nicht, glaube ich, und auch jetzt ist nur der junge Mr Mirkwood herübergekommen. Aber nun reden wir schon so lange, und ich habe Sie noch gar nicht gefragt, wie es Ihnen geht.« Der Tonfall des Pfarrers veränderte sich. »Ich hatte nicht erwartet, dass Sie schon so bald wieder ausgehen würden.«

Sein Blick würde eindringlich sein, wenn sie ihm in die Augen sehen würde. Er würde sie dazu ermuntern, sich ihm anzuvertrauen, völlig unverfänglich, wie es zwischen Gemeindeglied und Pfarrer üblich war. »Ich komme schon zurecht.« Sie beschattete ihr Gesicht mit einer Hand und blickte der sich entfernenden Gestalt Mr Mirkwoods nach. »Danke der Nachfrage. Kann ich Ihnen beim Aufräumen helfen?«

»Sehr gern.« Auch jetzt bewies er Feingefühl. Er verstand Zurückhaltung und begegnete ihr mit gütigem Respekt.

Wieder in der Kirche wandte Mr Atkins sich einigen Papieren auf seinem Pult zu, während Martha die Bücher einsammelte. Mr Russell war der Meinung gewesen, es schicke sich nicht für die Herrin von Seton Park, derlei Arbeiten zu verrichten. Doch nun konnte sie sich ganz nach ihren eigenen Wünschen richten.

Als sie das Gesangbuch aufgehoben hatte, das Mr Mirkwood benutzt hatte, verschränkte sie die Arme um den Stapel. »Ich muss gestehen, dass ich Ihnen meine Hilfe mit einem Hintergedanken angeboten habe.« Entschlossen wandte sie sich der Kanzel zu. »Ich hatte gehofft, wir könnten über die Schule sprechen.«

Seine Hände hielten für ein oder zwei Sekunden inne. »Ah ja. Ich dachte es mir.« Er legte die Papiere beiseite und hob den Kopf. »Setzen Sie sich.« Er bedeutete ihr, in der ersten Reihe Platz zu nehmen, und stieg von der Kanzel herab. Dann lehnte er sich mit verschränkten Armen an die gegenüberliegende Bank. »Ich habe gehört, Mr Keene ist gestern bei Ihnen gewesen.«

»So ist es.« Sie hielt den Stapel Gesangbücher auf dem Schoß. »Es sieht so aus, als würde der Besitz an Mr Russells Bruder James fallen. Ich werde vermutlich nur noch einige Wochen hier sein.«

»Aber es besteht die Möglichkeit, dass er Ihnen zufällt?« Er lehnte sich leicht vor.

»Das ist sehr unwahrscheinlich.« Langsam wurden die Dinge kompliziert. Das hatten Lügen so an sich. »Die Angelegenheit sollte sich innerhalb des nächsten Monats entscheiden.«

»Oh.« Als er den Sinn ihrer Worte verstand, errötete er und betrachtete eindringlich den Boden.

»Jedenfalls müssen wir von meiner Abreise ausgehen.« Weiter. Keine Zeit, sich zu genieren. »Und in Anbetracht dessen würde ich gern gewisse Vorgehensweisen empfehlen, was die Schule angeht.«

»Selbstverständlich.« Er nickte, den Blick immer noch gesenkt, so als erwarte er, sie würde gleich mit etwas sehr Ernstem herausrücken.

»Die Anmeldungen für die Mädchenklasse sind nicht so zahlreich, wie wir gehofft hatten. Aber ich habe eine Idee.« Die hatte sie überraschenderweise tatsächlich. »Wenn Sie auf die Stellen in der Heiligen Schrift hinweisen würden, die man als Argumente für die Bildung von Frauen anführen kann, müssen diese Familien zuhören, will ich doch meinen, und sie werden die Vorzüge der Idee in einem ganz neuen Licht sehen.« Mr Atkins hatte langsam den Kopf gehoben und erwiderte Marthas Blick mit zusammengezogenen Augenbrauen. Was sie veranlasste, ihre Anliegen noch dringlicher zu formulieren. »Nehmen wir Ihren Text von heute. Christus fordert die beiden Schwestern auf, ihre Frauenarbeit aufzugeben, nicht wahr, und genauso von ihm zu lernen wie die anderen Jünger. Wenn Sie bei Ihrem nächsten Besuch die Familie Farris oder die Familie Cheatham daran erinnern, dass –«

»Verzeihen Sie, Mrs Russell.« Der Pfarrer hob die Hand, und aus seiner Miene sprachen Resignation und Bedauern. »Aber Sie müssen doch einsehen, dass es mit der Schule unter diesen Umständen nicht weitergehen kann.«

»Nicht weitergehen?« Ihr klopfte das Herz bis zum Hals. »Aber warum?«

»Ob es eine Schule geben wird, hat Mr Russell zu entscheiden, wenn Sie uns tatsächlich verlassen werden, und er betrachtet es vielleicht nicht als lohnenswerte Investition.«

Wie konnte er so schnell aufgeben, wofür er so lange gekämpft hatte? »Aber wenn Sie die Schule bereits eröffnet hätten? Ich könnte mir vorstellen, dass noch einige Monate vergehen werden, bevor er einzieht. Dann akzeptiert er sie vielleicht als etwas, das bereits existiert.«

»Vielleicht aber auch nicht.« Mr Atkins’ Tonfall war wie sein Blick verständnisvoll und doch völlig unnachgiebig. »Stellen Sie sich vor, was es für eine Enttäuschung wäre, wenn ich die Schule eröffnen würde, nur um sie wenige Monate später wieder schließen zu müssen. Das kann ich den Pächtern nicht antun.«

Da hatte er recht. Doch der Trotz wallte wieder in ihr auf. Sie hatte ihr Herzblut in diese Schule gesteckt. So etwas tat man nicht umsonst. »Was wäre, wenn …« Sie schaute zu Boden, als wäre dort eine Eingebung zu finden. »Was wäre, wenn ich Mr James Russell schriebe, ihm von der Schule erzählte und mir seine Unterstützung im Vorfeld zusichern ließe?«

Ein kurzer Blick in seine Richtung zeigte ihr die Veränderung in seinem Gesicht: Er war vorsichtig, das wohl, aber sie erkannte, wie gern er nach jedem Strohhalm zu greifen bereit war. »Wissen Sie denn viel über ihn?« Die Vorsicht machte ihn einsilbig. »Denken Sie, er würde zustimmen?«

»Mr Russell hat manchmal von ihm erzählt; jedenfalls genug, um daraus zu schließen, dass er ein liebenswürdiger Mann ist.« Das Letzte entsprach vielleicht sogar der Wahrheit. Warum sollte er nicht liebenswürdig sein?

»Wenn Sie es auf sich nehmen würden, zu schreiben … Wenn Sie es aus eigenem Interesse täten …« Das Ausmaß seiner Hoffnung zwang sie, sich wieder dem Stapel Gesangbücher auf ihrem Schoß zuzuwenden. »Ich gebe sehr viel auf Ihre Überzeugungskraft. Wie Sie wissen, habe ich Monate damit verbracht, zu versuchen, Mr Russell davon zu überzeugen, wie vorteilhaft es wäre, seinen Pächtern Bildung angedeihen zu lassen, aber ich glaube nicht, dass er ohne Ihre Fürbitte letztendlich zugestimmt hätte.«

Zwei Bücher rutschten von ihrem Schoß und fielen in den Gang. Sie bückte sich nach ihnen und stieß beinahe mit Mr Atkins zusammen, der plötzlich vor ihr kniete. »Verzeihung«, sagte sie unpassenderweise, denn es war zu keinem Zusammenstoß gekommen.

Er blickte auf. Ein Hauch von Mandel erreichte sie; offenbar benutze er Seife mit diesem Duft. Ein Lächeln – bescheiden, anständig, freundlich – umspielte seine Lippen. »Ich muss Sie um Verzeihung bitten.« Er hob die Bücher auf. »Sie haben sich umsonst bemüht – ich räume sie für gewöhnlich nicht weg.«

Sie nahm die Gesangbücher und setzte sich wieder. »Das sollten Sie aber.« Sie strich über einen losen Buchrücken. »Vor allem im Winter. Die Feuchtigkeit ist nicht gut für das Papier.«

»Da haben Sie recht.« Er stand auf und strich sich gedankenverloren über die Soutane.

»Diese hier müssen auf jeden Fall ausgetauscht werden. Vielleicht bitte ich Mr James Russell, es zu genehmigen.« Sie zwang sich zu einem Lächeln, und er lächelte zurück. In seinem Blick lag eine vertrauensvolle Dankbarkeit, die sie längst nicht mehr verdiente.

»Heute war jemand Neues in der Kirche«, sagte abends das Kammermädchen, während es ihr die Frisur löste. »Gegenüber von Ihnen – haben Sie ihn gesehen?«

»Du meinst Mr Mirkwood. Seiner Familie gehört Pencarragh, gleich östlich von hier.« Sie beugte den Kopf nach vorn, als das Mädchen die Haarnadeln herauszog. Vielleicht konnte Sheridan ihr die Dummheit auch gleich mit aus dem Kopf ziehen. Wie hatte sie nur einen Brief an Mr Russell vorschlagen können?

»Mirkwood, genau.« Im Spiegel ihres Frisiertisches sah Martha das Mädchen nicken. »Sir Theophilus, wie er heißen wird, wenn er es endlich geschafft hat, seinen Vater ins Grab zu bringen.«

»Da weißt du offensichtlich mehr als ich. Sind das die Früchte der Gerüchteküche da unten?« Eine schärfere Zurechtweisung brachte sie bei allem, was ihr durch den Kopf ging, nicht zustande.

Es musste doch eine Möglichkeit geben, die Schule zu retten, einen besseren Plan, als lediglich einen Bittbrief zu schreiben. Mr Atkins’ schmeichelhaftes Zutrauen in allen Ehren, aber sie war niemand, der gut überreden konnte. Er sollte lieber dem Alkohol für Mr Russells Unvermögen danken, sich zu erinnern, was er zugesagt hatte und was nicht. Ohne diese Unzulänglichkeit hätte sie nichts erreicht.

»Sie kennen doch Sarah, die, die Soßen macht?« Sheridans Stimme flatterte durch Marthas Gedanken wie ein fröhlicher Vogel, dem man nichts übel nehmen konnte. »Ihre Schwester arbeitet auf Pencarragh, und sie sagt, Mr Mirkwood sei nur hier, weil sein Vater es so haben will.«

»Eine Art Verbannung?« Jetzt endlich besaß Sheridan ihre volle Aufmerksamkeit. Welcher einfältige Vater und welcher einfältige Sohn konnten das wunderschöne Sussex als Strafe ansehen?

»Verbannt, genau.« Eine Handvoll Haarnadeln klimperte auf das silberne Tablett zu ihrer Rechten. »Von den Verlockungen Londons fortgeschafft, an einen Ort, an dem es wenig Gelegenheit für Teufeleien gibt. Geld kriegt er auch keins mehr, hab’ ich gehört, also kann er auch nicht nach Brighton, um sich zu amüsieren.«

Teufeleien. Sich amüsieren. So viel hätte sie sich denken können. »Es tut mir leid, das zu hören.« Im Spiegel sah Martha ihre Zofe an. »Aber wie dem auch sei, wir müssen die Erinnerung an die Fehltritte eines Mannes nicht auch noch dadurch am Leben erhalten, dass wir über sie reden oder ihnen überhaupt Beachtung schenken. Hoffen wir lieber darauf, dass der Aufenthalt hier in Sussex ihm zum Besten gereichen wird.« Was allerdings nicht sehr wahrscheinlich war, wenn er weiterhin den Gottesdienst verschlief.

Das Mädchen nahm einen Kamm und fuhr damit durch Marthas Haar. Dabei hielt es schuldbewusst den Blick gesenkt, doch sein Lächeln ließ annehmen, dass ihm Mr Mirkwood und dessen Übertretungen noch immer im Kopf herumspukten.

Zweifellos hätte man in zehn Monaten mehr tun können, um Sheridan ihren Hang zu Klatsch und Tratsch abzugewöhnen und ihr die Grundregeln des Anstands beizubringen. Doch Martha hatte Besseres zu tun, als dies nun zu bereuen. Vielleicht konnte sie sich diese Neigung sogar zunutze machen.

»Weißt du etwas über Mr Russells Bruder James? Sprechen die älteren Dienstboten über ihn?«

»Mr James Russell.« Ein Muskel in Sheridans Wange zuckte, ansonsten wurde ihre Miene mit einem Mal ausdruckslos. »Warum fragen Sie?«

»Er soll Seton Park erben, und ich habe vorher noch einige Angelegenheiten mit ihm zu besprechen.« Diesmal stockte der Kamm kurz in seiner Bewegung, doch Sheridans Miene verriet nichts. »Er war nicht bei der Hochzeit, und bei der Beerdigung auch nicht, also muss ich mich auf die Eindrücke anderer verlassen.« Drei, vier, fünf Sekunden verstrichen in Stille. »Du hast irgendetwas über ihn gehört, habe ich recht?«

»Die älteren Dienstboten haben über ihn gesprochen.« Das Mädchen blickte kurz auf, schlug die Augen aber sofort wieder nieder.

»Und was haben sie gesagt? Sag mir die Wahrheit.« Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Was rief in diesem Mädchen, das so bereitwillig über Mr Mirkwoods Schande geplappert hatte, plötzlich eine solche Zurückhaltung hervor?

Sheridan schürzte die Lippen. Sie legte den Kopf schief und schaute unverwandt auf ihre Hände. Schließlich sagte sie: »Sie sagen, er hat hier als junger Mann zwei Dienstmädchen ruiniert.«

»Was?« Jetzt fröstelte Martha am ganzen Körper. »Wer sagt so etwas?«

»Mrs Kearney. Sie war damals das zweite Hausmädchen. Sie sagt, sie ist nur dank ihrer vielen Pockennarben im Gesicht vor ihm sicher gewesen.« Sheridan presste die Lippen zusammen.

»Sicher davor … in ein unsittliches Verhältnis gelockt zu werden, meinst du?« Oder vor etwas noch Schlimmerem?

»Mit Locken ist da nicht viel gewesen.« Wie riesige, unheilvolle Hagelkörner fielen die Worte, stockend und stoßweise, während Sheridan ihrer Herrin das Haar kämmte. »Er ist nachts in ihre Kammer gekommen und hat gedroht, sie zu entlassen, würden sie etwas sagen. Und dann sind die beiden trotzdem entlassen worden, wegen des Zustands, in dem sie sich befanden.«

»Wurde er denn nie zur Verantwortung gezogen?« Das hauchdünne Flüstern passte genau zu der Frau, die sie im Spiegel sah, bleich wie das weiße Leinenhemd, das sie trug. Und es war eine dumme Frage. Niemand zog solche Männer zur Verantwortung. Frauen konnten lediglich beten und auf Erbarmen hoffen, und ansonsten die Folgen mit Würde tragen.

Sheridan schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, dass er es nie auf mich abgesehen haben wird«, sagte sie nach einigen Augenblicken. »Aber für mich ist hier sowieso kein Platz mehr, wenn Sie fortgehen.« Sie legte den Kamm beiseite und begann, das Haar zu flechten. »Ich hatte gehofft, Sie würden bleiben. Das haben wir alle. Ich schätze, es wäre alles anders gekommen, wenn Sie mit einem Sohn gesegnet worden wären.«

»Ganz anders, allerdings.« Martha wandte errötend den Blick von ihrem Spiegelbild ab. »Doch wie wir seit einigen Tagen wissen, ist das völlig …« Sie hielt inne. Tief in ihrem Bauch wallte der Trotz schon wieder auf und verwirrte ihr die Worte.

Sie reckte das Kinn und erwiderte den Blick ihres Spiegelbilds; ihr Atem wurde hastig und flach. Daneben Sheridans Spiegelbild, das hübsche, frische Gesicht, dessen Augen bereits viel zu viel von der Welt gesehen hatten.

Frauen konnten lediglich auf Erbarmen hoffen. Das stimmte nicht. Frauen konnten mehr tun. Eine verzweifelte Frau konnte mehr tun.

Frauen konnten lediglich die Folgen mit Würde tragen. Nein. Eine Chance hatte sich ergeben. Eine Chance hatte sich ergeben, am Vormittag erst hatte sie ihr ins Gesicht geblickt.

Im Spiegel sah sie, wie ihre Schamesröte einem Ausdruck ruhiger Entschlossenheit wich. So vieles konnte entsetzlich schiefgehen. Es gab keine Garantie auf Erfolg. Und wie sie es durchstehen sollte, ohne jeden Anspruch auf ihre Prinzipien zu verlieren, daran mochte sie gar nicht erst denken.

Einerlei. Sie konnte diese Frauen ihrem Schicksal überlassen, oder sie konnte die Chance ergreifen, die das Schicksal ihr in den Weg gelegt hatte. »Sheridan.« Sie wandte sich um und sah ihr Kammermädchen direkt an. »Erzähl mir mehr über Mr Mirkwood. Erzähl mir alles, was du weißt.«

2

»Wer ist Mrs Richard Russell, und was kann sie von mir wollen?« Theo Mirkwood hielt die Karte – die erste, die ihm auf einem Tablett gebracht wurde, seit er aufs Land gekommen war – zwischen zwei schlanken Fingern und betrachtete sie kritisch von allen Seiten. Schwarze Buchstaben, auf weißes Papier gedruckt. Kein Rahmen, keine künstlerische Schrifttype, keine kleinen Schnörkel oder Blümchen – nichts, kurz gesagt, was irgendetwas über die Besitzerin verraten hätte, abgesehen von ihrem Namen. Oder besser gesagt, dem ihres Mannes.

»Sie ist Ihre direkte Nachbarin«, sagte Mr Granville, »die Herrin von Seton Park.«

Theo lehnte sich in seinem Stuhl zurück und biss von einer Scheibe Toast mit Butter ab, die Karte immer noch zwischen Zeige- und Ringfinger geklemmt. Ihm gegenüber sortierte sein Gutsverwalter – nein, seines Vaters Gutsverwalter – gewissenhaft die vielen langweilig aussehenden Dokumente, die er mitgebracht hatte. »Sie muss sie heute Morgen zu einer unchristlichen Zeit abgegeben haben«, sagte er und schnippte mit dem Daumennagel gegen eine Ecke der Karte. Vernünftiges Papier. Griffig. »Kennen Sie sie?«

»Ein wenig.« Der Mann sah kaum von seiner Arbeit auf. »Sie ist erst ein knappes Jahr hier und ist unglücklicherweise vor etwas über einer Woche verwitwet.«

Theo hielt im Kauen inne. Vielleicht war es irgendeine andere Witwe? Doch nein, Seton Park, erinnerte er sich jetzt, war der Name des Besitzes westlich von dem seines Vaters. Dort, wo die Feldsteinkirche stand. »Eine Woche, sagen Sie?« Er schluckte. »Warum zum Teufel macht sie dann Besuche, und ausgerechnet bei unverheirateten Gentlemen?«

»Mrs Russell ist der Anstand in Person. Ich bin sicher, es muss sich um etwas Geschäftliches handeln. Und man sollte meinen, ein neuer Nachbar würde sich von ihrer Beachtung geschmeichelt fühlen und ihr einen kleinen Lapsus in der Befolgung der Trauerregeln nachsehen.«

»Ich bin geschmeichelt.« Was konnte er sonst sagen? Die Dauer seines Aufenthalts hier hing davon ab, was dieser Mann seinem Vater berichten würde. Er las die Karte noch einmal. »Was ist Mr Richard Russell zugestoßen?«

»Er ist vom Pferd gefallen und hat sich den Hals gebrochen. Sehr bedauerlich. Können wir langsam anfangen?«

»Ja, warum nicht?« Theo seufzte und legte die Karte neben seinen Teller. »Legen Sie los.« Ziehen Sie mich mit Ihren endlosen Einzelheiten ruhig noch tiefer in die Einöde dieses unfreiwilligen Exils hätte er stilvoll hinzufügen können, wäre er respektloser gewesen und weniger darauf bedacht, einen guten Eindruck zu machen.

Doch bereits nach kurzer Zeit hatte er aufgehört, den monotonen Ausführungen seines Verwalters zu folgen. Sonnenlicht erfüllte das Frühstückszimmer und verbreitete eine äußerst angenehme, schläfrige Wärme; sein Tee war warm, der gebutterte Toast war auch warm und konnte zudem mit drei verschiedenen Sorten Marmelade bestrichen werden. Er musste zwischen den Bissen nur gelegentlich nicken und die Augenbrauen hochziehen, um Aufmerksamkeit vorzugeben, während er in Gedanken zu der gestrigen Begegnung in der Kirche zurückkehrte.

Welch eine eigenartige Angelegenheit war das gewesen, mit der Witwe und allem. Zu spät zu kommen. Einzuschlafen. Sich für die Dauer eines Lächelns zu vergessen.

Wie bei so vielen Dingen, die auf den ersten Blick seine Schuld zu sein schienen, konnte er auch diesmal eigentlich gar nichts dafür. Neue Angewohnheiten brauchten ihre Zeit. Der Sonntagsgottesdienst war so höllisch früh. Er hatte mit mehr Singen und einer kürzeren Predigt gerechnet.

»… und hier sehen Sie, wie viele Einsparungen wir durch das Zumauern überflüssiger Fenster und die daraus resultierenden Steuerersparnisse erzielt haben.« Granville schob ihm ein Dokument zu.

»Äußerst beeindruckend.« Er warf einen Blick auf das Papier und schnappte sich eine neue Scheibe Toast vom Rost. Was waren denn bitte überflüssige Fenster? In seinem Londoner Quartier ließ er die Vorhänge immer weit offen. Zu dieser Jahreszeit war das Licht besonders schön, der nahende Herbst machte es samtig. An manchen Nachmittagen zog es ihn zurück ins Bett, verlockend wie eine Frau.

Er hätte diese Witwe nicht anlächeln dürfen. Wo er gerade bei Frauen und ihren Verlockungen war. Doch welcher Mann konnte es ihm verdenken? Solch eine entzückende Erscheinung war sie gewesen, so ernst und aufrecht in ihrer Trauerkleidung, aber beim Durchblättern ihres Gebetbuchs ungeduldig wie ein Kind auf der Suche nach den Bildern. Als sie sich dann zu ihm umgedreht hatte, mit Augen wie ein erschrockenes Reh, hatte sie ihm noch besser gefallen. Er stellte sich vor, wie er sie damit aufziehen könnte, dass sie sich hatte ablenken lassen, und wie er Reue zeigen würde, wenn sie ihn dafür schalt, eingeschlafen zu sein. Er stellte sich einen äußerst erquicklichen Reigen des Neckens und des Reuezeigens vor, der in gänzlich …

Granville war verstummt. Wie lange schon? Hektisch griff Theo nach dem Papier vor sich. »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er, »ich habe gerade versucht, diese Fenstersteuerberechnung nachzuvollziehen, und ich fürchte, ich habe das Letzte, was Sie gesagt haben, nicht mitbekommen.« Er kramte tief in seinem Gedächtnis. »Sagten Sie gerade … decken?« Aber wieso jetzt? So etwas tat man doch im Frühling, und außerdem war das nun wirklich keine angemessene Beschäftigung für einen jungen Gentleman.

»Zwei oder drei Bauernkaten, wie ich schon sagte. Es muss unbedingt noch vor dem Winter geschehen, und eine Reihe Zäune müssen auch erneuert werden.«

»Die Dächer neu decken, unbedingt!« Herrgott, begriffsstutziger hätte er beim besten Willen nicht klingen können. Wenn es so weiterging, würde er London nie wiedersehen.

Er legte das Fensterdokument weg, fuhr mit den Fingern über die schlichte kleine Karte und hob sie auf. »Würde es sich für mich gehören, den Besuch zu erwidern, unter diesen Umständen?« Oh, das war gut! Den Mann um seine Einschätzung bitten und gleichzeitig Besorgnis darüber äußern, was sich gehörte.

»Ich denke, es wäre nur höflich. Sie könnten sich heute Nachmittag Zeit dafür nehmen.«

»Heute Nachmittag. Selbstverständlich. Sind wir bald fertig mit diesen Papieren?« Er spürte, wie seine müden Geister zurückkehrten. Einen Anstandsbesuch würde er sicherlich zustande bringen. Er würde auf diese Witwe einen besseren Eindruck machen als in der Kirche, und auf Granville obendrein. Und je öfter er einen guten Eindruck machen konnte, desto früher würde er aus dieser Einöde nach London zurückkehren können, wo er hingehörte.

Die Witwe Russell ging in ihrer häuslichen Zurückgezogenheit offenbar so weit, ihre Gäste nicht einmal mehr im Salon zu empfangen. Theo wurde in eine rosa tapezierte Stube im Obergeschoss geführt; dort saß sie in einem Sessel, dessen Chintzpolsterung mit sich anmutig windenden Rosen auf weißem Grund verziert war. Selbstverständlich war sie von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, und einen Augenblick lang hatte er die äußerst sonderbare Vorstellung von einer Spinne in einem Rosenstrauß. Doch für das Schwarz konnte sie schließlich nichts. In einer anderen Farbe wäre sie wahrscheinlich eine Zierde für diesen Raum gewesen, und außerdem ging es einer Witwe wohl kaum in erster Linie darum, dekorativ auszusehen.

Als sie aufstand, um ihm die Hand zu geben, sah sie ihm kurz in die Augen; dann blieb ihr Blick irgendwo in der Nähe seines Schlüsselbeins hängen, und als die Begrüßung vorbei war, wandte sie sich gänzlich ab und deutete auf einen kleinen Rosenholztisch, auf dem eine Teekanne und ein Teller mit zwei Sorten Kuchen standen. »Ich war gerade beim Tee, als Sie angekündigt wurden«, sagte sie, bevor sie sich wieder setzte und ihre Röcke zurechtlegte. »Darf ich Ihnen eine Tasse anbieten?«

»Das wäre wunderbar, vielen Dank.« Recht forsch von ihr, ihm von ihrem Imbiss anzubieten. Aber vielleicht war das auf dem Lande so. Und der Kuchen sah vorzüglich aus. Er nahm in einem zweiten Chintzsessel ihr schräg gegenüber Platz und streifte seine Handschuhe ab.

Der Hausdiener brachte ein zweites Gedeck, und sie griff nach der Teekanne. Bildete er es sich ein, oder wich sie seinem Blick aus?

Er räusperte sich. »Wie ich höre, haben Sie Ihren Mann erst vor Kurzem verloren.« Vielleicht hätte er das früher sagen sollen. »Mein herzliches Beileid.«

»Vor Kurzem, ja, und sehr plötzlich.« Sie goss ihm ein und beobachtete den Pegel in seiner Tasse. »Ich danke Ihnen für Ihre Anteilnahme. Möchten Sie Milch oder Zucker?«

»Nein danke.« Das war ja interessant. Granville hatte auch nicht gerade viel Trauer bekundet, als es um den Todesfall gegangen war. Aber nicht jeder trug das Herz auf der Zunge. Falls sie das Gegenteil von Trauer empfand, zeigte sie das zumindest auch nicht.

»Sie kommen aus London, wie ich höre.« Sie blickte auf, um ihm seinen Tee zu reichen, und sah ihm endlich direkt in die Augen.

Einen winzigen Augenblick lang war er verwirrt. Was hatte sie für Augen! Dunkel und wachsam wie die eines Waldtieres, daran erinnerte er sich aus der Kirche. Und jetzt sah sie ihn an, als ob … er wusste auch nicht, wie.

»Aus London, richtig.« Er nahm die Tasse entgegen und deutete eine Verbeugung an. Dann wurden sie unterbrochen. Ein Mädchen verkündete, der Diener werde kurz benötigt, und die beiden verließen zusammen die Stube. Theo nahm einen Schluck Tee, um sich wieder in die Gewalt zu bekommen. »Haben Sie viel Zeit in der Stadt verbracht?«, fragte er, als die Dienstboten gegangen waren.

»Nur einen halben Winter, als ich meinen Mann kennengelernt habe.« Hinter ihrer Gelassenheit verbarg sich konzentrierte Aufmerksamkeit, und dahinter … Geheimnisse. Viele, viele Geheimnisse verbargen sich hinter diesem bittersüßen Schokoladenblick. »Ich fürchte, Sussex wird Ihnen recht eintönig vorkommen, verglichen mit dem, was Sie gewöhnt sind.« Gemächlich hob sie die Tasse an die Lippen und trank, ohne den Blick von ihm abzuwenden.

Gütiger Gott! Hatte sie eine Ahnung, wie das aussah, für einen Mann? Ganz offensichtlich nicht. Wenn es so gemeint gewesen wäre, hätte ihre Haltung eine Einladung aussprechen müssen, und in ihrer Stimme hätten süße Andeutungen mitgeschwungen. Und überhaupt. Sie war respektabel. Und eine Witwe. Was für Geheimnisse auch immer sie haben mochte, sie waren nicht für ihn bestimmt.

»Etwas gesetzter als London, zweifellos.« Er verlagerte sein Gewicht im Sessel und brachte etwas mehr Distanz zwischen sich und die Witwe. »Aber ich habe ausreichend Zeitvertreib.«

»Sie studieren den Verantwortungsbereich eines Baronets, wie ich höre.« Ihre Hände, so unglaublich blass gegen die schwarzen Ärmel, stellten die Tasse ab und drapierten zwei Stück Kuchen auf einem Teller. Sie hatte geschickte, zarte Finger. Ein wenig kalt allerdings – das hatte er trotz seiner Handschuhe schon bemerkt, als sie ihm die Hand gereicht hatte. Ein Mann könnte diese Hände zwischen den seinen wärmen, und dann –

Nichts und dann. In diese Richtung würde er seine Gedanken nicht abschweifen lassen. So tief war er doch hoffentlich noch nicht gesunken. »Güterverwaltung und dergleichen, richtig.« Er nahm den Teller und eine silberne Gabel entgegen. »Instandhaltung der Dächer. Optimierung der Fenster. Fenstersteuer. Ich stelle sicher, dass in dieser Hinsicht alles zum Besten steht. In jeder Hinsicht.« Er stopfte sich einen Bissen Kuchen in den Mund, hauptsächlich um sich vom Reden abzuhalten, bevor er noch aufgeblasener klingen konnte.

Sie nahm etwas Kuchen von ihrem Teller und kaute, die Lippen grimmig zusammengepresst. Ein Jammer, denn auf diese Weise verlor ihr Mund seine Fülle, und außerdem sollte selbst jemand, dessen Verlust noch in frischer Erinnerung war, ein Stück guten Kuchens genießen können. »Und? Was sagen Sie?«, fragte sie, nachdem sie geschluckt hatte.

»Ein hervorragender Kuchen, vielen Dank.« Es stimmte. Zitronenkuchen, süß und erfrischend zugleich.

»Nein«, sagte sie, und ein etwas gequälter Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Ihre Studien meine ich. Zu lernen, was eines Tages Ihre Pflichten sein werden. Finden Sie das reizvoll?«

»Oh, absolut. Ohne Zweifel.« Sie könnte das Granville gegenüber wiederholen, wenn sie ihn das nächste Mal sah. »Ich habe festgestellt, dass mir solche Studien sehr liegen.«

Sie aß mehr Kuchen und blieb stumm. Ihr Blick wanderte zwischen ihm und ihrem Teller hin und her, wodurch er sich vorkam wie ein weiterer Gang, und zwar einer von dubioser Herkunft. »Dann sind Sie wohl zu beneiden«, sagte sie schließlich und erlaubte sich die Andeutung eines Lächelns. »Wäre ich in Ihrer Situation, würde ich vermutlich Ränke schmieden, um mich irgendwie nach Brighton abzusetzen.«

»Nach Brighton?« Das kam … überraschend. Und ihr verzogener Mundwinkel erweckte in ihm den Wunsch, sie einmal richtig lächeln zu sehen.

»An einen etwas lebhafteren Ort.« Sie hatte den Blick auf ihre Gabel gerichtet, mit der sie minutiös ihren Kuchen zerlegte. »An einen Ort, an dem ich in Gesellschaft von … lebensfroheren Menschen wäre. Mit abwechslungsreicheren Zerstreuungen. Wäre ich dergleichen gewöhnt, würde ich das vorziehen, denke ich. Wenn ich ein junger Mann wäre.« Armes unschuldiges Ding, dem Gewimmel eines Badeorts all den weltoffenen Zauber anzudichten, der in ihrem eigenen Leben fehlen musste.

»Brighton muss ein ganz reizender Ort sein.« Er stellte den Kuchen ab und trank noch etwas Tee, um den gutmütigen Spott zu verbergen, den sein Lächeln jetzt verriet, wie ihm wohl bewusst war. »Für eine junge Dame ebenso wie für einen jungen Mann.«

Das war nicht die richtige Antwort gewesen. Ihre Miene verriet es ihm sofort. Doch weshalb sollte es in solch einem Gespräch überhaupt eine richtige Antwort geben? Hier gingen offenbar Dinge vor, die er noch nicht so ganz durchschaute.

»Wie ich höre, gibt es in Brighton ausgezeichnete Geschäfte.« Jetzt klang sie, als wolle sie ihn aus seinem Sessel schweben lassen und ohne Umschweife direkt über Brighton abwerfen.

»Das bezweifle ich nicht.« Geräuschlos stellte er seine Tasse auf der Untertasse ab. Was zum Teufel ging hier vor? Wollte sie etwa andeuten, dass er die Nachbarschaft verlassen sollte? Aber sie hatte ihn doch gerade erst kennengelernt. Konnte ein einziges Lächeln in der Kirche eine solche Missbilligung hervorrufen?

»Vergnügungen auch.« Sie nahm das Teesieb und lehnte sich vor, um seine Tasse aufzufüllen. »Man sagt, die Vergnügungen in Brighton seien gerade für junge Männer besonders reizvoll.«

Er versuchte, den Sinn ihrer Worte zu ergründen, während sie ihm eingoss, doch ehe er sich’s versah, ergründete er plötzlich ihr Dekolleté. Apropos Vergnügungen, die für junge Männer besonders reizvoll waren. Sie trug kein Fichu, und er konnte gerade genug sehen, um einschätzen zu können, wie eine ihrer Brüste in seine Hand passen würde. Es wäre noch viel Hand übrig. Sie war bescheiden ausgestattet, und seine Hände waren groß. Daran war nichts auszusetzen.

Nicht, dass das von Belang gewesen wäre. »Wenn ich Ihnen von Nutzen sein könnte, indem ich die Vergnügungen Brightons erprobe und Ihre Informationen bestätige, würde ich das sehr gern tun.« Wunderbar, was ein Einblick in den Ausschnitt einer Frau für seine Stimmung tun konnte. »Es ist allerdings nicht sehr wahrscheinlich, dass ich während meines jetzigen Aufenthalts in Sussex dorthin kommen werde.«

»Da Ihnen die nötigen Mittel fehlen, meinen Sie, jetzt, wo Sie kein Einkommen mehr haben.« Sie sagte es leise, während sie das Sieb wieder auf sein Schälchen stellte.

Aha. Ein Klatschweib. Ihr früher Besuch bei ihm erschien plötzlich in einem für sie beide wenig schmeichelhaften Licht. Sie wollte also den Londoner Taugenichts begaffen und ihm ein paar neue Geschichten entlocken, um sie ihren Freundinnen weiterzuerzählen, ja? Nun, den Gefallen würde er ihr nicht tun. »Ich muss gestehen, mir ist nicht klar, inwiefern Sie das etwas angeht.« Er ließ seine Stimme kühl wie Quellwasser klingen und probierte den zweiten Kuchen. Walnuss, nur passabel. Nicht geeignet, ihn gesprächiger zu machen.

»Ich bitte um Verzeihung.« Sie saß völlig still, die Hände im Schoß. »Ich hätte das Thema Geld niemals angeschnitten, wenn es mich nicht gerade in diesem Moment selbst beträfe.«

Was für ein unsinniges Rätselraten war das? »Ich bin kein scharfsinniger Mann, Mrs Russell. Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, sagen Sie es bitte rundheraus.« Er gab den Kuchen auf und griff zu seiner wieder aufgefüllten Teetasse.

»Rundheraus dann. Rundheraus.« Sie atmete tief durch und schenkte ihm ihre volle Aufmerksamkeit. »Ich kann Ihnen Geld verschaffen, Mr Mirkwood, im Gegenzug für etwas von Ihnen. Ich muss ein Kind empfangen.«

Nur dank heldenhafter Willenskraft und der schnellen Verwendung seiner Serviette konnte Theo verhindern, dass ein Schwall Tee aus seinem Mund auf seinen Schoß spritzte. Er keuchte und hustete und griff hastig nach der neuen Serviette, die sie ihm hinhielt, während seine Tasse unbeholfen und sehr geräuschvoll auf ihre Untertasse prallte.

»Ich bin bereit, Ihnen für Ihre Mitwirkung fünfhundert Pfund zu zahlen, des Ergebnisses ungeachtet, und weitere fünfzehnhundert, wenn sie die Geburt eines Sohnes zur Folge haben sollte.«

»Halt. Halt!« Er betupfte sich den Mund. »Verstehe ich Sie richtig?«

Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Das kann ich beim besten Willen nicht sagen. Ich hoffe es.«

»Verstehe ich richtig, dass Sie soeben vorgeschlagen haben, mich als Hure anzuheuern?« Er hustete ein letztes Mal. »Ist das richtig?«

Wieder presste sie missbilligend die Lippen zusammen. »Zuchthengst wäre ein besserer Vergleich. Mir geht es nur um die Nachkommenschaft. Ich erwarte kein Vergnügen.«

»Ein feiner Unterschied.« Er starrte sie eindringlich an. »Sie wollen mich dafür bezahlen, Sie zu begatten.«

»Das wird wohl notwendig sein, es sei denn, Sie kennen eine andere Möglichkeit, mich schwanger werden zu lassen«, sagte sie, offensichtlich frustriert über die Langsamkeit, mit der er die Situation begriff.

Langsam oder nicht, jetzt wurde ihm alles klar. Die private Stube. Der verschwundene Diener. Ihre konzentrierte Angespanntheit. Wahrscheinlich sogar das fehlende Fichu, und der Blick in ihren Ausschnitt. Gütiger Gott. Wie hatte er das nur übersehen können?

Dann musste er lachen. Er tupfte sich mit der Serviette die Augen und stand schließlich auf, um im Raum auf und ab zu gehen. »Bitte verzeihen Sie, dass ich die Fassung verloren habe. Man wird nicht alle Tage plötzlich zu einer Figur in solch einem ausgeklügelten Melodram.« Er stellte sich hinter seinen Sessel und stützte die Ellbogen auf die Rückenlehne. »Hätten Sie mich nicht zuerst verführen sollen? Oder mir etwas in den Tee tun und mich ans Bett gefesselt aufwachen lassen?«

Sie errötete und blickte noch missbilligender drein. »Es ist ein Geschäft, und ich würde es gern dementsprechend abwickeln.«

»Ein Geschäft. So nennen Sie es, die letzten Wünsche Ihres Mannes mit einem falschen Erben zu umgehen?« Wenn sie sich einbildete, er würde selbst das nicht mitkriegen, würde er sie eines Besseren belehren.

»Ja.« Sie reckte das Kinn und hielt seinem Blick stand. »Vieles hängt davon ab, sie zu umgehen.«

Die Geheimnisse tanzten in ihren Augen wie Motten in einem Sonnenstrahl. Was war sie nicht hübsch! Und sie faszinierte ihn. So hatte sich sein Vater den Aufenthalt seines Sohns in Sussex garantiert nicht vorgestellt. »Gütiger Himmel«, murmelte er und wandte sich ab. Mit einem Finger strich er gedankenverloren über ein Rosenmotiv im Polster des Sessels. »Warum ich?«, fragte er dann. »Wahrscheinlich haben Sie gehört, dass ich alles bespringe, was sich bewegt?« Er sah sie an. Jetzt kam es auf gute Manieren auch nicht mehr an.

»Um ganz ehrlich zu sein: Ich habe gehört, dass man Sie einen Lüstling nennt.« Das Wort klang verrucht, köstlich verrucht aus ihrem sittsamen, weichen Mund. »Ich nehme an, sie pflegten in London eine Geliebte zu unterhalten. Ihnen muss klar sein, dass das Angebot hier dürftig ist, und selbst wenn Sie eine finden würden, wie könnten Sie sie ohne die nötigen Mittel unterhalten? Ich biete Ihnen den geraumen Vorteil einer Affäre ohne Kosten. Natürlich zusätzlich zu der Vergütung, die ich erwähnt habe.« Er konnte sich vorstellen, wie sie diese Worte geübt hatte. Wahrscheinlich hatte sie sie sogar vorher aufgeschrieben.

Selbstverständlich sollte er das nicht tun. Doch weshalb eigentlich nicht? Er stieß sich von der Sessellehne ab und stellte sich vor ein Gemälde an der gegenüberliegenden Wand, um sich vom Anblick ihrer Lippen loszureißen. Es war keiner dieser Räume, in dem jedes freie Fleckchen mit grandiosen Porträts verstorbener Ahnen vollgestopft war. Vielmehr gab es nur ein einziges Bild: eine Studie von einer Wiese im Sonnenlicht, die sich bis zum Horizont erstreckte. Fachkundig ausgeführt, doch wer sah sich so etwas an, wenn dasselbe Motiv durchs Fenster zu sehen war, in natura, nebst Wind und Schmetterlingen? »Ihr Plan hängt von einem Sohn ab, nehme ich an.« Er drehte sich nicht zu ihr um. »Was ist, wenn es ein Mädchen wird?«

»Dann sind Sie um fünfhundert Pfund reicher.«

»Und Sie um ebenso viel ärmer und haben ein weiteres Mäulchen zu stopfen. Das gefällt mir nicht.« Da waren sie, die handfesten Gründe dafür, ihr Angebot abzulehnen. Mit einem Kopfschütteln kam er zum Sessel zurück. »Ich habe mir bisher Mühe gegeben, nicht überall Kinder in die Welt zu setzen, damit sie nicht in widrigen Umständen aufwachsen müssen. Ich nehme an, das Testament Ihres Mannes muss Ihre Lage wahrhaft unglücklich gemacht haben, wenn Sie gewillt sind, zu solch drastischen Mitteln zu greifen, um es abzuwenden.«

»Aber es besteht keine Gefahr, dass es einer Tochter an irgendetwas mangeln würde.« Auf diesen Einwand war sie vorbereitet. »Ihr stünde ein Anteil am Erbe zu, und wir könnten bei einem meiner Geschwister unterkommen und einigermaßen bequem leben. Mein Bruder hat mir bereits ein Heim angeboten.«

»Warum wollen Sie das dann tun?« Er setzte sich wieder und griff nach dem Rest seines Tees. »Warum gehen Sie nicht gleich zu Ihrem Bruder?«

Sie faltete die Hände im Schoß und schwieg, und alles Licht verschwand hinter ihren dunklen Augen. »Weil es nicht das ist, was ich zu tun gedenke.« Die Worte waren so scharfkantig, als hätte sie sie auf einer kleinen Guillotine geschnitten. »Ich habe meine Gründe, und sie gehen über persönliche Habgier hinaus. Zu einem Fremden werde ich nicht davon sprechen, doch Sie dürfen mir glauben, dass ich sie habe.«

»Mhm. Mit Habgier hätten Sie mich eher überzeugt. Ich mag Frauen, die sich nehmen, was sie wollen.« Er sagte dies jedoch zu seiner Teetasse, und seine Stimme klang selbst in seinen eigenen Ohren unsicher. Denn irgendetwas in ihrer letzten Äußerung hatte sie überwältigend gemacht, voller Willenskraft und Entschlossenheit hinter den guten Tischmanieren. Wie eine furchteinflößende, entsetzliche Fee in einer Geschichte, die ihre dürftige Verkleidung im entscheidenden Moment fallen lässt.

Was, wenn sie im Bett auch so war? Streng und anspruchsvoll, aber weich anzufassen? Himmel. Das könnte gut werden. Das könnte interessant und sehr, sehr gut werden.

Er lehnte sich im Sessel zurück, schlug die Beine übereinander und stellte seine Tasse weg. Sie saß bewegungslos da, so als ob sie sich innerlich auf seine nächste Abfuhr vorbereitete.

Oder auf seine Zustimmung. Es konnte ja nicht schaden, es sich vorzustellen. Ein Wort von ihm, und er könnte diese cremeweiße Haut aus ihrer tristen Hülle befreien. Er könnte herausfinden, wozu diese eleganten Hände fähig waren. Er könnte sie auf sich setzen – sie würde gern auf ihm thronen, eine leidenschaftliche Fee, die strenge Befehle murmelte –, und ihr Haar würde wie ein Vorhang auf sein Gesicht fallen, und … »Welche Haarfarbe haben Sie?«, fragte er, da kein noch so dünnes Strähnchen unter ihrer Haube hervorblickte.

Zwei kleine Fältchen erschienen zwischen ihren Augenbrauen. »Ist das entscheidend?«

»Vielleicht.« Er sollte sich was schämen. So spielte man nicht mit einer Dame. Da hatte er tausend bessere Ideen. Er verlagerte sein Gewicht. Welche Gründe gab es noch mal dafür, sie abzuweisen? Na ja, wenn Granville Wind davon bekäme – wenn sein Vater Wind davon bekäme –, würde er an einen noch viel abgeschiedeneren Ort verfrachtet werden, und zwar vermutlich für den Rest seines irdischen Lebens. Aber davon mal abgesehen, welche Gründe?

Sie hob eine Hand zu den Bändern ihrer Haube und zögerte. Er bemerkte, wie sie fieberhaft nach einer Strategie suchte. Beinahe konnte er ihre Gedanken rattern hören wie die versammelten Webstühle einer nordenglischen Textilfabrik. Sie ließ die Hand wieder sinken und legte den Kopf schief, was sie kokett und trotzig zugleich wirken ließ. »Welche Haarfarbe ich habe, können Sie leicht herausfinden«, sagte sie. »Aber nicht durch Fragen.«

»Ah! So langsam verstehen wir uns.« Ein Lächeln stieg von irgendwo in seinem tiefsten Inneren auf und schlich sich in seine Worte. »Wie oft würden Sie meine Dienste in Anspruch nehmen wollen? Wenn ich zustimmen würde?« Wenn. Denn das würde er vielleicht nicht. Doch, Herr im Himmel, sie sah bezaubernd aus, wie sie den Kopf so schräg hielt und alles daransetzte, ihn ins Bett zu kriegen.

»Einmal täglich. Wir haben fast einen ganzen Monat.« Sie sprach schneller, mit kaum verhohlener Ungeduld. »Und ich hatte gehofft, wir könnten heute beginnen.«

»Direkt im Anschluss an diese Unterredung, vermute ich?« Warum nicht. Warum nicht, zum Teufel?

»Wenn Sie es einrichten können, ja.«

Er richtete es ein, noch während sie sprach. Er hatte den gesamten Besuch über immer wieder überlegt, wie er es einrichten könnte. »Nun, Mrs Russell« – er setzte sich aufrecht hin – »ich glaube, Sie haben soeben eine Hure engagiert.« Rasch, bevor sie seine Wortwahl korrigieren konnte, stand er auf und lehnte sich über sie, die Hände auf ihre Sessellehne gestützt. Aus dieser Entfernung war ihr Mund noch hübscher. Ob er sie noch einmal dazu bringen konnte, Lüstling zu sagen?

»Was tun Sie?« Sie blinzelte ihn an, die Augen von Missbilligung verdunkelt.

»Ich dachte, ich könnte damit anfangen, Sie zu küssen.«

»Das wird nicht nötig sein.« Unsicherheit überschattete plötzlich ihre Miene. »Es sei denn, Sie bestehen darauf?«

»Ganz und gar nicht.« Er richtete sich auf. Das wurde ja immer besser. »Wo ist Ihr Bett?«