Ein Werdender - Dritter Band - Fjodor M Dostojewski - E-Book

Ein Werdender - Dritter Band E-Book

Fjodor M. Dostojewski

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Beschreibung

Folgt Arkadij den ideologischen Vorstellungen seines Vaters oder lernt er seine eigenen Entscheidungen zu treffen? Nachdem er ein Dokument an seinen Vater Wersilow gegeben hat, um ihn auf den richtigen Weg zu führen, steht Arkadij vor der eigentlichen Herausforderung: Das Dokument, welches er behält könnte Katharina, der Tochter von Fürst Sokolski in die Hände spielen. Sie könnte es verwenden um Wersilow und ihrem eigenen Vater zu schaden. Trotz seiner Liebe zu ihr kann Arkadij sich nicht der Meinung seines Vaters entziehen, der Katharina als substanzlos und geldgierig betrachtet. Das Dokument gibt Arkadij ein Kampfmittel und der junge Mann muss sich entscheiden, welche Art von Mensch er werden will ...-

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Fjodor M Dostojewski

Ein Werdender - Dritter Band

Übersezt von Korfiz Holm

Saga

Ein Werdender - Dritter Band

 

Übersezt von Korfiz Holm

 

Titel der Originalausgabe: Podrostok

 

Originalsprache: Russischen

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1922, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726981285

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

Erstes Kapitel

1

Jetzt – von ganz etwas anderm.

Ich kündige immer »etwas andres, etwas andres« an und spreche doch in einem fort von mir selber. Dabei habe ich schon tausendmal erklärt, daß ich durchaus nicht die Absicht habe, eine Beschreibung meiner eignen Person zu liefern; und ich habe es auch durchaus nicht tun wollen, als ich meine Aufzeichnungen begann: ich verstehe nur zu gut, daß den Leser meine Persönlichkeit nicht im geringsten interessiert. Ich beschreibe andre Leute und will andre Leute beschreiben und durchaus nicht mich selber; und wenn ich selber doch immer wieder hereinkomme – so ist das nur ein betrübliches Versehen, weil ich es auf keine Weise vermeiden kann, so gern ich es auch möchte. Besonders ärgert es mich, daß ich meine eignen Erlebnisse mit einer Hitze beschreibe, daß man danach von mir denken könnte, ich wäre noch immer derselbe, der ich damals war. Der Leser wird sich wohl dessen erinnern, daß ich schon mehr als einmal den Stoßseufzer emporgeschickt habe: »Oh, wenn ich doch das Frühere ungeschehen machen und ganz von neuem anfangen könnte!« Das hätte ich wohl nicht sagen können, wenn ich mich inzwischen nicht radikal verwandelt hätte und ein ganz andrer Mensch geworden wäre. Das springt doch geradezu in die Augen; und wenn sich einer nur vorstellen könnte, wie zuwider mir schon alle diese Entschuldigungen und Vorreden sind, die ich leider gezwungen bin, alle Augenblicke einzuflechten, und dazu noch mitten in den Fluß meiner Erzählung hinein!

Zur Sache!

Nachdem ich neun Tage bewußtlos gelegen hatte, erwachte ich wie neugeboren, nicht aber gebessert; Wiedergeburt war übrigens selbstverständlich ein ganz törichter Ausdruck dafür, wenn man es in einem weitern Sinne betrachtet; und wenn dasselbe heute passierte, würde das vielleicht in einem ganz andern Sinne zutreffen. Meine Idee, das heißt mein Gefühl, bestand (wie schon tausendmal vorher) nur darin, daß ich ganz von allen fort wollte, aber diesmal ganz bestimmt fort, nicht so wie früher, als ich diesen Entschluß tausendmal gefaßt hatte und ihn doch nie hatte zur Ausführung bringen können. Rächen wollte ich mich an niemand, darauf gebe ich mein Ehrenwort, – wenn sie mich auch alle im tiefsten gekränkt hatten. Ich wollte davongehen ohne Groll, ohne Verwünschungen; ich wollte mich auf meine eigne Kraft stellen, aber diesmal wirklich auf meine eigne Kraft., die von keinem von ihnen und niemand in der ganzen Welt abhängig wäre! Ich schreibe diese Worte über meine damaligen Träume nicht nieder, um sie für einen besondern Gedanken auszugeben, sondern weil dies damals meine Gefühle waren, gegen die ich mich nicht wehren konnte. Formulieren wollte ich sie noch nicht, solange ich im Bette lag. Krank und kraftlos lag ich da in Wersilows Zimmer, das man für mich hergerichtet hatte, und erkannte mit Schmerz, wie kraftlos ich war: ein Strohhalm lag im Bette und kein Mann, und die Schuld daran trug nicht die Krankheit allein – oh, wie tief mich das kränkte! Und siehe da, aus der innersten Tiefe meines Wesens, aus allen meinen Kräften hervor erhob sich ein Protest dagegen, und mir verging der Atem vor einem Gefühle ins Unendliche gesteigerter Anmaßung und eingebildeten Trotzes. Ich kann mich in meinem ganzen Leben keiner Zeit erinnern, wo ich von anmaßenderen Gefühlen erfüllt gewesen wäre als damals, in den ersten Tagen meiner Genesung, das heißt, als ich wie ein Strohhalm im Bette lag.

Aber fürs erste schwieg ich noch und hatte mir sogar vorgenommen, überhaupt nicht darüber nachzudenken! Ich sah ihnen immer nur in die Gesichter und bemühte mich, daraus zu erraten, was ich wissen mußte. Ich sah leicht, daß auch sie mich nicht ausfragen und nicht neugierig sein wollten; sie sprachen nur von gleichgültigen Dingen mit mir. Das gefiel mir, und zu gleicher Zeit erbitterte es mich auch; ich will diesen Widerspruch nicht erklären. Lisa sah ich seltener als Mama, wenn sie auch täglich zu mir hereinkam, selbst zweimal an einem Tage. Aus Bruchstücken ihrer Unterhaltung und aus ihrem ganzen Wesen schloß ich, Lisa müsse sehr viel Plackereien haben und wäre sogar sehr oft nicht zu Hause, weil sie ihren »eignen Angelegenheiten« nachginge: schon in dem Gedanken an diese »Angelegenheiten« lag für mich etwas Kränkendes; übrigens waren das alles nur krankhafte, rein physiologische Empfindungen, deren Beschreibung der Mühe nicht wert ist. Tatjana Pawlowna kam gleichfalls fast täglich zu mir, und wenn sie auch durchaus nicht sanft mit mir umging, so schimpfte sie doch wenigstens nicht nach ihrer frühern Manier, und das erboste mich höchlichst, so daß ich ihr gerade ins Gesicht sagte: »Tatjana Pawlowna, wenn Sie nicht schimpfen, sind Sie tödlich langweilig.« – »Na, dann komm' ich eben nicht mehr zu dir«, schnitt sie das Gespräch kurz ab und ging. Ich war froh, daß ich wenigstens die eine weggeekelt hatte.

Am meisten quälte ich Mama durch mein aufbrausendes Wesen. Es entwickelte sich bei mir ein ungeheurer Appetit und ich knurrte heftig, ich bekäme mein Essen nicht zur rechten Zeit (ich bekam es aber immer rechtzeitig). Mama wußte nicht, wie sie es mir recht machen solle. Eines schönen Tages brachte sie mir die Suppe, begann mich, wie gewöhnlich, selber zu füttern, und ich krakeelte die ganze Zeit, während ich aß. Und auf einmal ärgerte ich mich darüber, daß ich so krakeelte: »Sie ist vielleicht die einzige, die ich liebhabe, und gerade sie muß ich quälen.« Aber meine Wut verminderte sich dadurch nicht, und ich fing plötzlich vor Wut an zu weinen; und sie, die Arme, glaubte, ich weinte vor Rührung, beugte sich über mich und begann mich zu küssen. Ich nahm mich zusammen und ertrug das, so gut es ging; in Wirklichkeit haßte ich sie aber in dem Moment. Aber ich habe Mama immer liebgehabt, hatte sie auch damals lieb und haßte sie durchaus nicht; es war nur, wie es immer ist: wen man am meisten liebt, den kränkt man zu allererst.

Hassen tat ich in jenen ersten Tagen nur den Doktor. Dieser Doktor war ein junger Mensch und führte mit aufgeblasener Miene scharfe und fast unhöfliche Reden. Diese Leute tun immer so, als hätten sie erst gestern unerwarteterweise etwas ganz Besondres und Neues in der Wissenschaft entdeckt, während doch gestern gar nichts Besondres geschehen ist: aber so ist immer die Art der Mittelmäßigkeit und der Dutzendmenschen. Ich ertrug das lange mit Geduld, endlich aber platzte ich damit heraus und erklärte ihm vor allen meinen Angehörigen, daß er ganz umsonst herkäme, daß ich ganz ohne seinen Beistand gesund werden würde, und daß er zwar äußerlich wie ein Realist aussähe, dabei aber von lauter Vorurteilen bis zum Rande erfüllt wäre und daher nicht begriffe, daß die Medizin noch keinen geheilt hätte, – und schließlich, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach von krasser Unbildung wäre, »wie heutzutage alle unsere Techniker und Spezialisten, die neuerdings die Nase so furchtbar hoch tragen.« Der Doktor war sehr beleidigt (damit allein bewies er schon zur Genüge, was für eine Sorte Mensch er war), setzte aber trotzdem seine Besuche fort. Ich erklärte schließlich Wersilow, wenn der Doktor seine Besuche nicht einstelle, würde ich ihm noch zehnmal unangenehmere Dinge sagen. Wersilow bemerkte daraufhin nur, es wäre wohl kaum möglich, doppelt so unangenehme Dinge zu sagen, geschweige denn zehnmal so unangenehme, wie ich sie ihm schon gesagt hätte. Ich freute mich, daß er das bemerkt hatte.

Nein, dieser Mensch! Ich spreche von Wersilow. Er, er ganz allein war an allem schuld – aber trotzdem: nur auf ihn allein war ich damals nicht böse. Nicht nur seine Art mir gegenüber bestach mich. Ich glaube, wir hatten damals gegenseitig das Gefühl, daß wir einander viele Erklärungen schuldeten . . . und daß es eben deshalb das beste wäre, uns nie Erklärungen zu machen. Es ist außerordentlich angenehm, wenn man in solchen Lebenslagen an einen intelligenten Menschen gerät! Ich habe schon im zweiten Teil meiner Aufzeichnungen vorgreifend erzählt, daß er mich knapp und klar von allem Nötigen unterrichtet hatte: von dem Briefe des verhafteten Fürsten an mich, von Serstschikows Ehrenerklärung zu meinen Gunsten. Da ich beschlossen hatte zu schweigen, hatte ich ihm dabei nur ganz trocken zwei, drei kurze Fragen gestellt; er hatte klar und präzis darauf geantwortet, ohne alle überflüssigen Worte und, was das beste daran war, ohne überflüssige Gefühle zu äußern. Vor überflüssigen Gefühlsäußerungen hatte ich damals große Angst.

Von Lambert sage ich kein Wort, aber der Leser hat natürlich schon erraten, daß ich nur zuviel an ihn dachte. Im Delirium hatte ich mehrfach von Lambert gesprochen; aber als ich aus dem Delirium erwacht war und näher zusah, gewann ich bald die Meinung, daß die Sache mit Lambert ein Geheimnis geblieben sein müsse und daß sie nichts davon wüßten, auch Wersilow nicht ausgenommen. Darüber freute ich mich, und meine Angst verschwand; ich hatte mich aber getäuscht, wie ich später zu meinem Erstaunen erfuhr: er war noch während meiner Krankheit dagewesen, aber Wersilow hatte es mir verschwiegen, und daraus hatte ich geschlossen, ich wäre für Lambert schon in die Ewigkeit hinübergeschlummert. Nichtsdestoweniger dachte ich häufig an ihn; mehr noch: ich dachte nicht nur ohne Widerwillen an ihn, nicht nur mit Neugier, sondern sogar mit einer Art von Sympathie, als fühlte ich da etwas Neues heraus, das mir Hilfe bringen könnte, etwas, was den neuen Gefühlen und Plänen entsprach, die in mir geboren waren. Kurz und gut, ich beschloß, mir die Sache mit Lambert vor allen Dingen ernstlich durch den Kopf gehen zu lassen, sobald ich erst anfangen würde nachzudenken. Etwas Sonderbares muß ich noch erwähnen: ich hatte total vergessen, wo er wohnte, und in welcher Straße das alles damals passiert war. Sein Zimmer, Alphonsine, das Hündchen, den Korridor – das alles sah ich deutlich vor mir; ich hätte es malen können; aber wo das alles passiert war, das heißt, in welcher Straße und in welchem Hause, das hatte ich vollkommen vergessen. Und was das Allersonderbarste war: das merkte ich erst drei oder vier Tage, nachdem ich wieder zu vollem Bewußtsein gekommen war, als ich mich schon lange wieder eifrig mit Lambert beschäftigte.

Also das waren meine ersten Empfindungen nach meiner Genesung. Ich habe nur das Alleroberflächlichste aufgezeichnet, und es ist sehr wahrscheinlich, daß es mir nicht gelungen ist, die Hauptsache aufzuzeichnen. In der Tat ist es sehr möglich, daß sich gerade in der Zeit das Hauptsächliche in meinem Innern loslöste und formulierte; ich lag doch nicht immer da und ärgerte und boste mich, weil ich meine Bouillon nicht bekam. Oh, ich weiß noch so gut, wie traurig mir zumute war, und wie ich mich damals härmte, besonders wenn ich lange allein blieb. Und die andern hatten leider sehr bald bemerkt, daß ihre Anwesenheit mich bedrückte und ihre Anteilnahme mich aufbrachte; so begannen sie mich denn mehr und mehr allein zu lassen: das war nun ein sehr überflüssiges Feingefühl.

2

Am vierten Tage, nachdem ich mein Bewußtsein wiedererlangt hatte, lag ich, so um drei Uhr nachmittags, in meinem Bette, und es war niemand bei mir. Es war ein heller Sonnentag, und ich wußte genau: um vier Uhr, wenn die Sonne unterginge, würde ein schiefer, roter Strahl genau auf die Ecke der Wand, an der ich lag, fallen und einen grellen Lichtflecken dahin werfen. Ich wußte das von den früheren Tagen her, und der Gedanke, daß das ganz bestimmt nach einer Stunde eintreffen müsse, und vor allem, daß ich das voraus wußte, so genau, wie ich wußte, daß zweimal zwei vier ist, erboste mich bis zur Wut. Ich warf mich konvulsivisch mit meinem ganzen Körper herum; da hörte ich auf einmal, mitten in der tiefen Stille, deutlich die Worte: »Herrgott, Jesus Christus, unser Herr, erbarme dich unser.« Diese Worte wurden halblaut geflüstert, darauf folgte ein Seufzer aus tiefster Brust, und dann wurde es wieder ganz still. Ich hob hastig den Kopf.

Ich hatte schon früher, das heißt gestern und schon vorgestern, bemerkt, daß irgend etwas Besondres in unsern drei Zimmern hier unten vorgehen müsse. In dem Zimmer auf der andern Seite des Wohnzimmers, wo früher Mama und Lisa geschlafen hatten, hauste jetzt sichtlich jemand anders. Ich hatte schon ein paarmal allerhand Geräusche vernommen, bei Tage und nachts, aber sie hatten immer nur einen ganz kurzen Augenblick gedauert, und sofort war wieder für mehrere Stunden tiefste Stille eingetreten, so daß ich nicht weiter darauf geachtet hatte. Gestern war ich auf die Idee gekommen, Wersilow wäre dort drüben, zumal er bald darauf zu mir hereingekommen war, obgleich ich aus ihren Gesprächen ganz bestimmt wußte, daß Wersilow für die Zeit meiner Krankheit in eine andre Wohnung gezogen war, wo er auch schlief. Was Mama und Lisa anbetrifft, so war mir schon länger bekannt, daß sie beide (damit ich Ruhe hätte, glaubte ich) hinaufgezogen waren in meinen ehemaligen »Sarg«, und ich hatte schon einmal so bei mir darüber nachgedacht, wie sie da wohl zu zweien Platz finden könnten. Und jetzt auf einmal erwies es sich, daß in ihrem früheren Zimmer ein Mann hauste und daß dieser Mann nicht Wersilow war. Mit einer Leichtigkeit, die ich mir durchaus nicht zugetraut hätte (denn ich hatte bis zu diesem Augenblick geglaubt, ich wäre noch ganz schwach), ließ ich meine Beine vom Bett hinunter, schlüpfte in die Pantoffeln, zog den grauen Lammfellschlafrock an, der auf dem Stuhle lag (und den mir Wersilow abgetreten hatte) und begab mich durch unsre Wohnstube in Mamas früheres Schlafzimmer. Was ich dort erblickte, gab mir gleichsam einen Schlag vor den Kopf: so etwas hätte ich mir nicht träumen lassen. Ich blieb wie angewurzelt stehen.

Da saß ein alter, uralter Mann mit einem großen, schneeweißen Barte, und man sah auf den ersten Blick, daß er schon lange dasaß. Er saß nicht auf dem Bette, sondern auf Mamas Fußbank, und lehnte sich nur mit dem Rücken ans Bett. Übrigens hielt er sich so gerade, daß er überhaupt keine Stütze zu brauchen schien, obgleich er sichtlich krank war. Er trug über dem Hemde einen überzogenen kurzen Pelz, über seine Knie war Mamas Plaid gebreitet, seine Füße staken in Pantoffeln. Man konnte ahnen, daß er hochgewachsen und breitschultrig war; er sah trotz seiner Krankheit sehr frisch aus, wenn er auch ein wenig blaß und mager war; sein Gesicht war länglich, die Haare dicht, aber nicht sehr lang; er mochte ungefähr siebzig Jahre zählen. Auf einem Tischchen neben ihm lagen, so daß er sie mit der Hand erreichen konnte, drei oder vier Bücher und eine silberne Brille. Wenn ich auch nicht mit dem leisesten Gedanken erwartet hatte, ihn hier zu treffen, so erriet ich doch sofort, wer er war; ich konnte mir nur immer noch nicht vorstellen, wie er diese zwei Tage hier so still hatte sitzen können, beinahe Wand an Wand mit mir, ohne daß ich bis jetzt etwas davon vernommen hatte.

Er rührte sich nicht, als er mich erblickte, sondern sah mich nur fest und schweigend an, genau wie ich ihn, nur mit dem Unterschiede, daß in meinem Blick ein maßloses Erstaunen lag, in seinem aber nicht das geringste. Im Gegenteil, als er mich in diesen fünf oder zehn Sekunden des Schweigens gleichsam bis zum letzten Zuge mit den Augen aufgenommen hatte, begann er plötzlich zu lächeln und lachte dann still und lautlos, und wenn dies Lachen auch gleich wieder verschwand, so blieb doch eine helle, heitre Spur davon auf seinem Gesicht und besonders in den Augen, die blau, leuchtend groß waren, wenn auch die Lider vom Alter schwer herabgesenkt und geschwollen waren und unzählige winzige Fältchen sie umgaben. Und dieses Lachen wirkte am stärksten auf mich.

Ich finde: wenn ein Mensch lacht, ist es weitaus in der Mehrzahl der Fälle unangenehm, ihn anzusehen. Meistens äußert sich im Lachen der Menschen etwas Häßliches, etwas, was gleichsam den, der da lacht, herabsetzt, obgleich der Lachende selbst fast nie etwas von dem Eindruck weiß, den er hervorbringt. Genau, wie er nicht weiß, und wie überhaupt niemand weiß, was für ein Gesicht er im Schlafe hat. Mancher Mensch hat auch im Schlafe ein kluges Gesicht, bei andern wieder, selbst bei klugen Leuten, wird das Gesicht im Schlafe furchtbar dumm und infolgedessen lächerlich. Ich weiß nicht, woher das kommt; ich will nur sagen, daß ein Mensch, der lacht, genau so wie einer, der schläft, fast nie weiß, was für ein Gesicht er macht. Die überwältigende Mehrzahl der Menschen versteht überhaupt nicht zu lachen. Übrigens, da ist gar nichts zu verstehen: das ist ein Talent, und man kann sich's nicht geben. Höchstens kann man sich's dadurch geben, daß man sich durch Selbsterziehung ändert, daß man sich zum Besseren durchringt und die schlechten Instinkte seines Charakters niederkämpft: es ist durchaus wahrscheinlich, daß auf die Weise auch das Lachen eines Menschen sich zum Besseren verwandeln könnte. Durch sein Lachen verrät sich so mancher, und man erkennt auf einmal sein Innerstes. Unstreitig ist auch ein kluges Lachen zuweilen abstoßend. Zum Lachen gehört vor allen Dingen Aufrichtigkeit; aber wo findet man in den Menschen Aufrichtigkeit? Zum Lachen gehört nichts weniger als Bosheit; die Menschen lachen aber am häufigsten boshaft. Ein aufrichtiges, nicht boshaftes Lachen, das ist Fröhlichkeit; aber wo findet man bei den Menschen von heute Fröhlichkeit; und können die Leute überhaupt noch fröhlich sein? (Dieses Wort über die Fröhlichkeit von heute stammt von Wersilow, und ich habe es mir gemerkt.) Die Fröhlichkeit eines Menschen ist der Zug, der am meisten von ihm verrät. Mancher Charakter ist wie eine Nuß, an der man sich lange die Zähne ausbeißt, aber der Betreffende braucht nur einmal recht ungeniert zu lachen, und sein Charakter liegt offen da, wie auf der flachen Hand. Nur ein Mensch mit der höchsten und glücklichsten Kultur versteht es, so zu lachen, daß er seine Fröhlichkeit andern mitteilt, das heißt, unwiderstehlich und gutmütig. Ich spreche hier nicht von Verstandeskultur, sondern von der Kultur des Charakters, des ganzen Menschen. Also, wenn man einen Menschen durchschauen und sein Herz erkennen will, so muß man sich nicht darum kümmern, wie er schweigt, oder wie er spricht, oder wie er weint, oder wie er von edelsten Idealen durchglüht wird; sondern man beobachtet ihn am besten, wenn er lacht. Hat ein Mensch ein gutes Lachen, so ist er ein guter Mensch. Man muß dabei übrigens gut auf alle Nuancen achten: so darf einem zum Beispiel das Lachen eines Menschen auf keinen Fall dumm erscheinen, so fröhlich und gutmütig er auch lachen mag. Bemerkt man auch nur den kleinsten Zug von Dummheit in seinem Lachen, so ist dieser Mensch sicherlich von beschränktem Verstande, mag er auch so tun, als schüttle er die großen Gedanken nur so aus dem Ärmel. Und wenn sein Lachen auch nicht dumm ist, wenn aber der Betreffende selber einem beim Lachen aus irgendeinem Grunde plötzlich lächerlich erscheint, wenn auch nur ein ganz klein wenig lächerlich, so bedeutet das, daß dieser Mensch keine echte persönliche Würde besitzt, oder wenigstens nicht genug davon. Oder schließlich: wenn eines Menschen Lachen sich zwar mitzuteilen vermag, einem aber ungeachtet dessen abgeschmackt erscheint, so ist dieser Mensch sicherlich selber ein abgeschmackter Kopf, und alles Edle und Hohe, das man früher an ihm bemerkt hat, ist entweder mit Vorbedacht geheuchelt oder unbewußt von außen angeeignet; so ein Mensch wird sich späterhin sicherlich zum schlechteren verändern, er wird sich auf Dinge werfen, die »gemeinen Nutzen« versprechen, und die edeln Ideen ohne Bedauern als jugendliche Verirrungen und Schwärmereien abtun.

Diesen langen Exkurs über das Lachen habe ich in wohlerwogner Absicht hier eingefügt und ihm sogar den glatten Fluß meiner Erzählung geopfert, weil ich ihn für eine der wichtigsten Erkenntnisse halte, die das Leben mir gebracht hat. Und besonders empfehle ich ihn jungen Bräuten, die im Begriff stehen, den erwählten Mann zu heiraten, aber ihn doch noch immer nachdenklich und mißtrauisch beobachten und keinen endgültigen Entschluß fassen können. Und niemand soll über den trübseligen Halbwüchsling lachen, weil er sich in seinen Moralpredigten mit der Frage der Ehe befaßt, wovon er doch nicht das geringste versteht. Soviel verstehe ich doch, daß das Lachen die sicherste Probe auf den Gehalt eines Herzens ist. Schauet die Kindlein an: nur die Kinder verstehen es, vollkommen gut zu lachen, – deshalb sind sie auch so bezaubernd. Ein Kind, das weint, ist mir widerlich; ein lachendes, fröhliches aber ist wie ein Strahl vom Glanze des Paradieses, eine Offenbarung aus der Zukunft, wo die Menschen wieder rein und einfältig wie die Kindlein sein werden. – Und so etwas Kindliches und ganz unwahrscheinlich Einnehmendes leuchtete auch aus dem flüchtigen Lachen dieses alten Mannes. Ich trat sogleich auf ihn zu.

3

»Setz' dich nieder, setz' dich, du kannst wohl noch nicht recht auf den Füßen stehen«, forderte er mich freundlich auf und wies auf einen Platz neben sich; dabei sah er mir immer noch mit demselben strahlenden Blick in die Augen. Ich setzte mich neben ihn und sagte:

»Ich kenne Sie, Sie sind Makar Iwanowitsch.«

»Sehr richtig, lieber Freund. Schön, daß du aufgestanden bist. Du bist ein junger Mensch, für dich ist's schön. Der Alte gehört in die Grube, der Junge soll leben.«

»Sind Sie denn krank?«

»Freilich, mein Lieber, die Füße besonders; bis an die Tür hier haben sie mich noch getragen, die alten Füße, aber kaum hab' ich mich hier niedergesetzt, da sind sie gleich aufgeschwollen. Das hab' ich seit letztem Donnerstag, wo der Frost so stark wurde. Ich habe sie bisher immer mit einer Salbe eingeschmiert, weißt du; die hat mir ein Doktor in Moskau, Edmund Karlytsch Lichten hieß er, vor drei Jahren verschrieben, und die Salbe hat geholfen, so gut hat sie geholfen; na, und jetzt hilft sie halt nicht mehr. Und auf der Brust hab' ich's auch. Und seit gestern tut mir der Rücken arg weh, als ob mir die Hunde drin herumbissen . . . Und schlafen kann ich auch nicht die Nächte.«

»Wie kommt's denn, daß man Sie hier gar nicht hört?« unterbrach ich ihn. Er sah mich an, als überlege er sich etwas.

»Weck' nur deine Mutter nicht auf«, fuhr er dann fort, als wäre ihm gerade etwas eingefallen. »Sie hat da nebenan die ganze Nacht geschafft, so leise, daß man nichts hören konnte, wie eine Fliege; und jetzt, weißt du, hat sie sich hingelegt. – Ach, so ein kranker alter Mann hat's nicht gut«, seufzte er. »Woran hängt das Herz nur so, und will und will nicht loslassen, und immer noch freut es sich am Licht; und wenn's drauf ankäme, das ganze Leben noch einmal von vorn anzufangen, ich glaube, auch davor würde das Herz sich nicht fürchten; zwar, so ein Gedanke ist vielleicht sündhaft.«

»Warum denn sündhaft?«

»Ein Traum ist's, so ein Gedanke, und ein alter Mann muß mit Freuden dahingehen. Denn, siehst du, wenn du den Tod mit Murren oder mit Mißvergnügen begrüßt, so ist dieses eine große Sünde. Nun, aber wenn einer aus geistlicher Fröhlichkeit das Leben liebgewonnen hat, so denke ich mir, wird Gott ihm verzeihen, wenn er auch ein alter Mann ist. Schwer ist's für den Menschen, zu wissen bei jeder Sünde, was da sündig ist, und was nicht: da ist ein Geheimnis dabei, das über Menschenverstand geht. Ein alter Mann aber muß zufrieden sein zu jeder Zeit, und sterben muß er in der vollen Blüte seines Verstandes, selig und gern, gesättigt von seinen vielen Tagen, entgegenseufzend seiner letzten Stunde und freudig, wie eine Ähre zur Garbe dahingeht, wenn er sein Geheimnis erfüllt hat.«

»Sie sagen immer ›Geheimnis‹; was heißt das: sein Geheimnis erfüllt haben?« fragte ich und sah mich nach der Tür um. Ich freute mich, daß wir allein waren, und daß ringsum unverbrüchliche Stille herrschte. Die untergehende Sonne schien grell ins Zimmer. Er sprach ein wenig schwülstig und unklar, aber sehr überzeugt und in einer starken Erregung, als freue er sich in der Tat sehr über mein Kommen. Aber ich bemerkte wohl, daß er zweifellos fieberte, und zwar recht stark. Ich war gleichfalls krank und fieberte seit dem Augenblick, da ich zu ihm gekommen war.

»Was das Geheimnis ist? Alles ist ein Geheimnis, lieber Freund, in allem ist das göttliche Geheimnis. In jedem Baume, in jedem Kraute ist dieses selbe Geheimnis beschlossen. Ob nun ein kleines Vöglein singt, ob die ganze Schar der Sterne in der Nacht am Himmel glänzt – das alles ist dieses Geheimnis, gleicherweise. Und das größte Geheimnis liegt in dem, was die Seele des Menschen in jener Welt erwartet. So ist es, lieber Freund!«

»Ich weiß nicht, in welchem Sinne Sie . . . Ich sage das natürlich nicht, um mich über Sie lustig zu machen, und Sie können mir glauben: ich glaube an Gott; aber alle diese Geheimnisse hat der Verstand schon lange durchschaut, und was er noch nicht entdeckt hat, das wird alles entdeckt werden, ganz sicher, und vielleicht in kürzester Frist. Die Botanik weiß ganz genau, wie der Baum wächst, der Physiolog und der Anatom wissen sogar, warum der Vogel singt, oder werden es bald wissen; und was die Sterne betrifft, so sind sie nicht nur alle gezählt, sondern jede ihrer Bewegungen ist genau auf die Minute ausgerechnet, so daß man sogar auf tausend Jahre hinaus voraussagen kann, genau auf die Minute, wann irgendein Komet erscheinen wird . . . Und heutzutage ist auch schon die Zusammensetzung der entferntesten Sterne bekannt. Nehmen Sie ein Mikroskop – das ist ein Vergrößerungsglas, das die Dinge millionenfach vergrößert, und schauen Sie sich einen Wassertropfen dadurch an: Sie werden dort eine ganze neue Welt erblicken, eine ganze Welt von lebenden Wesen; und sehn Sie, auch das war ein Geheimnis, aber man hat es doch entdeckt.«

»Ich habe wohl davon gehört, mein Lieber, mehr als einmal haben mir die Leute davon erzählt. Da ist nichts zu sagen, das ist ein großes und rühmliches Werk; alles ist dem Menschen gegeben nach Gottes Willen; nicht umsonst hat Gott ihm seinen lebendigen Odem eingeblasen: ›Lebe und erkenne‹.«

»Nun, das sind Gemeinplätze. Sie sind also kein Feind der Wissenschaft, kein Klerikaler? Das heißt, ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen . . .«

»Nein, lieber Freund, ich habe von Jugend auf Achtung vor der Wissenschaft gehabt, und wenn ich selbst nicht gescheit darin bin, so murre ich doch nicht darüber: ist sie mir nicht zuteil geworden; so ist sie andern zuteil geworden. Es ist vielleicht auch besser so, weil so jeder sein Teil hat. Weil auch nicht jedem die Wissenschaft zum Nutzen dienen würde, lieber Freund. Gar mancher kann sich keine Grenze ziehen, gar mancher möchte die ganze Welt in Erstaunen setzen, und ich würde das vielleicht mehr als irgendein andrer wollen, wenn ich gelehrt wäre. Aber wo ich jetzt ganz und gar nicht gelehrt bin, wie kann ich mich da überheben, wo ich doch selber ganz und gar nichts weiß? Du aber bist jung und hast scharfe Augen, und dir ist das als Gebiet gegeben, lerne du nur. Suche alles zu erkennen: wenn dir dann ein Gottloser oder ein Frecher begegnet, so kannst du ihm antworten, und er kann dich mit seinen hitzigen Redensarten nicht irreführen und deine unreifen Gedanken nicht verwirren. – Und so ein Glas, wie du sagst, hab' ich selbst gesehen, es ist noch nicht so lange her.«

Er holte Atem und seufzte. Ich hatte ihm durch mein Kommen entschieden große Freude gemacht. Sein Durst, sich mitzuteilen, war fast krankhaft. Außerdem täusche ich mich ganz bestimmt nicht, wenn ich behaupte, daß er mich zuweilen mit ganz besondrer Liebe ansah: er legte seine Hand liebkosend auf die meine und streichelte mir die Schulter . . . allerdings manchmal, muß ich gestehen, vergaß er mich dann wieder ganz, es war, als säße er ganz allein; und wenn er auch eifrig weitersprach, so sprach er doch gleichsam in die leere Luft.

»Lieber Freund,« fuhr er fort, »es lebt da im Gennadios-Kloster ein sehr gescheiter Mann. Er ist aus vornehmer Familie, nach seinem Range Oberstleutnant und sehr reich. Als er noch in der Welt lebte, wollte er sich nicht durch eine Heirat binden; jetzt ist es schon das zehnte Jahr, daß er sich von der Welt abgeschlossen hat, er liebt die stillen, schweigsamen Zufluchtstätten, und sein Gefühl hat das weltliche Sorgen und Eifern abgetan. Er hält alle Klosterregeln ein, aber Mönch werden will er nicht. Und Bücher, lieber Freund, hat er soviel, wie ich noch bei keinem Menschen gesehen habe, – er selbst hat mir gesagt, sie haben ihn achttausend Rubel gekostet. Er heißt Piotr Valerianytsch. Er hat mich zu verschiedner Zeit viel gelehrt, und ich hab' ihm immer furchtbar gern zugehört. Also frage ich ihn einmal: ›Wie kommt es, Herr, daß Sie bei Ihrem großen Verstand, und wo Sie schon zehn Jahre im Mönchsdienst leben und in der vollkommenen Abtötung Ihres Willens – wie kommt es, daß Sie nicht das löbliche Ordensgelübde ablegen, um dadurch noch vollkommener zu werden?‹ Und er gibt mir zur Antwort: ›Was redest du da von meinem Verstande, Alter; vielleicht hat mich mein Verstand zu seinem Gefangnen gemacht, und nicht ich habe ihm seine Grenzen gesetzt. Und was redest du von meinem Mönchsdienst: vielleicht habe ich längst das eigne Maß für mich verloren. Und was redest du von der Abtötung meines Willens? Meinem Gelde würde ich sofort entsagen, Rang und Stand würde ich hergeben, und alle meine Orden würde ich auf den Tisch legen, aber meiner Pfeife Tabak kann ich nicht entsagen, und kämpfe doch schon zehn Jahre darum. Was wäre ich also für ein Mönch, und was für eine Willensabtötung rühmst du an mir?‹ – Ich wunderte mich damals über diese Demut. Na, und also im vorigen Sommer, um die Zeit der Peter- und Paulsfasten, komme ich wieder in dieses Kloster – Gott hatte mich hingeführt – und da sehe ich, in seinem Zimmer steht eben so ein Ding – ein Mikroskop – das hatte er sich um viel Geld aus dem Ausland kommen lassen. ›Wart', Alter‹, sagt er zu mir, ›ich zeig' dir etwas ganz Erstaunliches, weil du so etwas noch nie gesehen hast. Sieh diesen Wassertropfen, er ist rein wie eine Träne: na, also, schau dir an, was darin ist, und du wirst sehen, daß die Mechaniker bald alle Geheimnisse Gottes durchforscht haben werden, nicht ein einziges werden sie für dich und mich übriglassen.‹ Mit den Worten sagte er das, ich hab' es genau behalten. Aber ich hatte in so ein Mikroskop schon fünfunddreißig Jahre vorher hineingeschaut, bei Alexander Wladimirowitsch Malgasow, unserm Herrn, Andrej Petrowitschs Onkel von Mutters Seiten, von dem Andrej Petrowitsch dann nachher, nach seinem Tode, das Stammgut geerbt hat. Er war ein großmächtiger Herr, ein hoher General, und hielt sich eine große Hundemeute, und ich war damals lange Zeit Jäger bei ihm. Na, und damals stellte er auch so ein Mikroskop auf, das er mitgebracht hatte, und befahl dem ganzen Gesinde, Männern und Weibern, sie sollten eins nach dem andern herkommen und hineinschauen, und da wurde denn auch allerhand gezeigt: ein Floh und eine Laus, eine Nadelspitze, ein Haar, ein Tropfen Wasser. Und das war ein Spaß: die Leute fürchteten sich, hinzugehen, und vor dem Herrn fürchteten sie sich auch – er konnte sehr böse werden. Manche konnten überhaupt gar nicht hineinschauen, sie kniffen die Augen zu und sahen gar nichts; andre grausten sich und schrien, und Sawin Makarow, der Starost, hielt sich die Augen mit beiden Händen zu und schrie: ›Macht mit mir, was ihr wollt, – ich geh' nicht hin!‹ Törichtes Gelächter gab's da genug. Piotr Valerianytsch sagte ich aber nichts davon, daß ich schon früher, vor fünfunddreißig Jahren, das gleiche Wunder gesehen hatte, weil ich sah, er hatte große Freude daran, es mir zu zeigen; darum tat ich so, als ob ich mich schrecklich wunderte und entsetzte. Er ließ mir Zeit zur Überlegung und fragte dann: ›Na, Alter, was sagst du jetzt?‹ Ich aber verneigte mich und sagte zu ihm: ›Gott sprach: es werde Licht, und es ward Licht‹, und er fragte auf einmal hastig zurück: ›Ward nicht am Ende Finsternis?‹ Und das sagte er so sonderbar, und lachte nicht einmal dazu. Da wunderte ich mich über ihn, und er war förmlich böse geworden und sagte nichts mehr.«

»Ganz einfach, Ihr Piotr Valerianytsch ißt im Kloster geweihten Reis und macht vorgeschriebene Kniebeugungen, aber er glaubt nicht an Gott, und Sie sind gerade in einem solchen Augenblick zu ihm gekommen – das ist die ganze Geschichte,« sagte ich, »und außerdem ist er ein recht lächerlicher Mensch: er hat doch sicher seine zehnmal vorher schon ein Mikroskop gesehen; warum schnappt er dann beim elftenmal plötzlich in der Weise über? Das ist so eine nervöse Empfindlichkeit . . . die hat sich wohl durch das Klosterleben bei ihm entwickelt.«

»Er ist ein Mensch von reinem Herzen und hohem Verstande,« sagte der Alte eindringlich, »und er ist kein Gottloser. Er hat eine Menge Verstand, aber sein Herz ist unruhig. Solche Leute gehen jetzt sehr viele aus dem herrschaftlichen und gelehrten Stande hervor. Und noch eins will ich dir sagen: solch ein Mensch straft sich selber für seine Sünden. Und du mach' einen Bogen um solche Leute und ärgere sie nicht, aber bevor du nachts einschläfst, gedenke ihrer im Gebete, weil solche Leute Gott suchen. Betest du vor dem Schlafengehen?«

»Nein, ich halte das für eine leere Formalität. Ich muß Ihnen übrigens gestehen, daß Ihr Piotr Valerianytsch mir gefällt: er ist wenigstens kein leeres Stroh, sondern immerhin ein Mensch, und hat ein wenig Ähnlichkeit mit einem Menschen, der uns beiden nahe steht, und den wir beide kennen.«

Der Alte beachtete nur den ersten Satz meiner Antwort:

»Das ist gar nicht recht, lieber Freund, daß du nicht betest; beten ist etwas Gutes und macht das Herz froh, vorm Schlafengehen, und wenn man in der Früh aufsteht, und wenn man nachts erwacht. Das kann ich dir sagen. Vorigen Sommer, im Juli, pilgerten wir zum Kirchenfeste nach dem Bogorodskij-Kloster. Je näher wir hinkamen, desto mehr Leute stießen zu uns, und schließlich waren wir unser fast zweihundert, die alle die gleiche Straße pilgerten, um die heiligen und gnadenkräftigen Reliquien der beiden Wundertäter Anikios und Gregorios zu küssen. Wir nächtigten im freien Felde, und ich erwachte am Morgen sehr früh, alle schliefen noch, und selbst die liebe Sonne sah noch nicht hinter dem Walde hervor. Also, lieber Freund, ich neigte mich im Gebete, ließ meinen Blick in die Runde gehen und seufzte! Eine Schönheit überall, daß man es nicht sagen kann! Alles still, die Luft ist weich; die Gräschen wachsen – wachst nur, ihr Gräschen Gottes; ein Vöglein singt – sing nur, Vöglein Gottes; ein Kindchen schreit im Arm seiner Mutter – der Herr sei mit dir, Menschlein, wachs zum Glück auf, Kindchen! Und siehst du, es war, als hätte ich damals zum erstenmal in meinem ganzen Leben das alles in mich aufgenommen . . . Ich neigte mich wieder im Gebet; dann schlief ich so gut ein. Schön ist's auf dieser Welt, lieber Freund! Weißt du, wenn es mit mir besser werden sollte, dann ziehe ich im Frühling wieder aus. Und was das Geheimnis betrifft, so macht es das ja nur noch besser: das Herz scheut sich und staunt davor; und diese Scheu gereicht dem Herzen zur Erbauung: ›Alles ist in dir beschlossen, o Herr, und auch ich bin in dir beschlossen, und du nimm mich auf!‹ Murre nicht dawider, junger Mensch: darum eben ist es noch schöner, weil es ein Geheimnis ist«, fügte er ergriffen hinzu.

»›Darum eben ist es noch schöner, weil es ein Geheimnis ist‹ . . . Dieser Worte werde ich gedenken. Sie drücken sich furchtbar ungenau aus, aber ich verstehe Sie schon . . . Mich überrascht es, daß Sie viel mehr wissen und verstehen, als Sie ausdrücken können; nur reden Sie gleichsam wie im Fieber . . .« sagte ich unwillkürlich, wie ich so in seine fiebrigen Augen und sein bleich gewordnes Gesicht sah. Aber er schien meine Worte überhaupt nicht zu hören.

»Weißt du auch, lieber junger Mensch,« begann er wieder in einem Tone, als setzte er seine frühere Rede fort, »weißt du auch, daß dem Gedächtnis des Menschen auf dieser Erde eine Grenze gesteckt ist? Das Gedächtnis des Menschen währt nur hundert Jahre. Hundert Jahre nach seinem Tode können noch seine Kinder seiner gedenken, oder seine Enkel, die sein Angesicht gesehen haben, später aber kann wohl noch sein Gedächtnis fortleben, aber bloß im Munde der Leute, bloß im Gedanken, dieweil alle dahingegangen sind, die sein lebendiges Antlitz geschaut haben. Und verschwinden wird sein Grab auf dem Friedhof unter Gras, zerfallen wird der weiße Stein darauf, und vergessen werden ihn alle Leute, und selbst seine eignen Nachkommen, vergessen wird selbst sein Name werden, dieweil nur wenige bleiben im Gedächtnis der Menschen – und was schadet das! Mögt ihr mich vergessen, Geliebte, ich liebe euch noch aus dem Grabe heraus. Ich höre eure fröhlichen Stimmen, Kinderchen, ich höre eure Schritte über die Gräber eurer leiblichen Vorfahren wandern; lebt nur noch so lange unter der lieben Sonne und freuet euch, ich will für euch zu Gott beten, im Traum will ich zu euch kommen . . . ob man auch tot ist, die Liebe bleibt dennoch! . . .«

Die Sache ist die, daß ich selber genau in demselben Fieberzustande war wie er; statt hinauszugehen oder ihn zu beruhigen oder ihn vielleicht auch ins Bett zu bringen, weil er geradezu im Fieberdelirium war, – statt dessen ergriff ich plötzlich seine Hand, ich beugte mich über ihn, drückte seine Hand und flüsterte erregt, das Herz geschwellt von Tränen:

»Ich bin so froh, daß Sie da sind. Ich habe vielleicht schon lange auf Sie gewartet. Von den andern habe ich nicht einen lieb: ihnen allen fehlt die Vornehmheit . . . Ich kann nicht mit ihnen gehen, ich weiß nicht, wohin ich gehen soll, ich gehe mit Ihnen . . .«

Zum Glück kam Mama herein, ich weiß nicht, wie das sonst noch geendet hätte. Sie kam mit noch schlaftrunknem und aufgeregtem Gesicht; in der Hand hatte sie ein Medizinfläschchen und einen Eßlöffel; als sie uns erblickte, rief sie:

»Ich hab' es doch gewußt! Ich habe ihm die Chinatropfen nicht zur Zeit gegeben, er hat wieder starkes Fieber! Ich habe mich verschlafen, Makar Iwanowitsch, Lieber!«

Ich stand auf und ging hinaus. Sie gab ihm die Arznei und brachte ihn zu Bett. Ich legte mich auch zu Bett, war aber sehr erregt. Eine große Neugierde hatte ich mit herübergebracht, und ich dachte mit allen Gedanken nur an diese Begegnung. Was ich damals davon für Folgen erwartete, – ich weiß es nicht. Natürlich, ich dachte ohne Zusammenhang, und was durch meinen Kopf ging, waren keine Gedanken, sondern nur Bruchstücke von Gedanken. Ich lag mit dem Gesicht zur Wand und erblickte auf einmal in der Ecke den grellen Sonnenflecken, auf den ich vorhin unter Stöhnen und Fluchen gewartet hatte; und ich weiß noch, wie mein ganzes Innres gleichsam frohlockte und gleichsam ein neues Licht mein Herz erfüllte. Ich gedenke dieses herrlichen Augenblicks und will seiner nicht vergessen. Das war nur ein Augenblick neuer Hoffnung und neuer Kraft . . . Ich war damals in der Genesung, und da war also wohl dieser Aufschwung die unvermeidliche Folge meines Nervenzustandes; aber derselben lichten Hoffnung vertraue ich auch heute noch – das ist es, was ich hierher schreiben und wessen ich damit gedenken wollte. Natürlich wußte ich auch damals genau, daß ich nicht mit Makar Iwanowitsch auf die Pilgerfahrt gehen würde, und daß ich selber nicht wußte, worin eigentlich dieser neue Drang bestand, der mich erfaßt hatte, aber ein Wort hatte ich schon ausgesprochen, wenn auch bloß im Fieberdelirium, das hieß: »Sie haben die Vornehmheit nicht!« – »Es ist ganz klar,« dachte ich in meiner großen Erregung, »von diesem Augenblick an will ich die ›Vornehmheit‹ suchen, den andern aber fehlt sie, und darum will ich von ihnen gehen.«

Etwas raschelte hinter mir, ich drehte mich um: da stand Mama, über mich gebeugt, und sah mir mit schüchterner Neugier in die Augen. Ich ergriff auf einmal ihre Hand:

»Mama, warum haben Sie mir denn nichts von unserm teuern Gaste gesagt?« fragte ich plötzlich, ohne selber vorher gewußt zu haben, daß ich so fragen würde. Alle Unruhe verschwand auf einmal aus ihrem Gesicht, und eine Art Freude leuchtete darin auf, aber sie gab mir zur Antwort nur dieses eine Wort:

»Du solltest Lisa auch nicht vergessen; du hast Lisa vergessen.«

Sie sagte das hastig, wurde rot dabei und wollte schnell davoneilen, denn sie liebte es gar nicht, aber auch gar nicht, Gefühle breitzutreten; und in der Beziehung war sie genau wie ich, das heißt, zurückhaltend und keusch; außerdem natürlich wollte sie auch nicht mit mir von dem Thema Makar Iwanowitsch anfangen; es war genug daran, was wir uns gegenseitig mit unsern Blicken sagen konnten. Aber ich, ich, der jedes Breittreten von Gefühlen haßt, ich hielt sie mit Gewalt am Arme zurück: ich sah ihr freundlich in die Augen, lachte still und zärtlich und streichelte mit der andern Hand ihr liebes Gesicht, ihre eingefallenen Wangen. Sie beugte sich über mich und preßte ihre Stirn gegen meine:

»Christus beschirme dich,« sagte sie und richtete sich plötzlich auf, mit strahlendem Gesicht, »werd' nur gesund! das vergesse ich dir nicht. Er ist krank, sehr krank . . . Gott ist der Herr über Leben und Tod . . . Ach, was sage ich da, das kann ja gar nicht sein! . . .«

Sie ging hinaus. Sie hat ihren ehelichen Mann, den Pilger Makar Iwanowitsch schon wirklich ihr Leben lang verehrt, in Furcht und Zittern und in Andacht, ihn, der ihr so großmütig, und ein für allemal verziehen hatte.

Zweites Kapitel

1

Lisa aber hatte ich durchaus nicht »vergessen«; Mama täuschte sich. Die Mutter hatte mit feinem Gefühl empfunden, daß zwischen Bruder und Schwester eine Art Abkühlung eingetreten war; aber das lag nicht an einem Mangel an Liebe, sondern eher an Eifersucht. Das will ich, da es für das Folgende nötig sein dürfte, mit zwei Worten näher erklären.

Die arme Lisa zeigte, seitdem der Fürst verhaftet war, eine Art anmaßenden Stolz, eine Art abweisenden Hochmut, der beinah unerträglich war; aber jedermann im Hause verstand die Wahrheit und begriff, wie sie litt; und wenn ich mich anfangs über ihre Art uns gegenüber aufhielt und ärgerte, so lag das nur an meiner kleinlichen Empfindlichkeit, die die Krankheit noch verzehnfacht hatte, – so denke ich heute darüber. Daß ich Lisa deshalb nicht mehr liebgehabt hätte, war durchaus nicht der Fall, im Gegenteil, ich liebte sie nur noch mehr, ich wollte nur nicht der erste sein, der sich näherte, obgleich ich freilich genau wußte, daß sie um keinen Preis den ersten Schritt tun würde.

Die Sache war die, daß Lisa, sobald die ganze Geschichte mit dem Fürsten an die Öffentlichkeit gedrungen war, sogleich, nachdem er verhaftet war, nichts Eiligeres zu tun wußte, als sich uns und allen andern gegenüber auf einen Standpunkt zu stellen, als wolle sie den Gedanken schon im Keime ersticken, daß man sie am Ende bedauern oder die Absicht haben könnte, sie zu trösten und den Fürsten in Schutz zu nehmen, Im Gegenteil, – sie nahm sich dabei durchaus nicht die Mühe, sich mit irgend jemand auszusprechen oder zu streiten, – aber sie ging gleichsam in einem ewigen Stolze über die Tat ihres unglücklichen Bräutigams herum, als wäre sie das höchste Heldenstück. Sie sagte gleichsam in jedem Augenblick zu uns allen (ich wiederhole es noch einmal: ohne je ein Wort davon laut werden zu lassen): »Von euch brächte das doch niemand zustande, – ihr denunziert euch nicht selber aus Ehr- und Pflichtgefühl, von euch hat keiner ein so zartes und reines Gewissen. Und seine Vergehen? Wer hat denn keine schlechten Handlungen auf dem Gewissen? Aber andere verstecken sie ängstlich; dieser Mensch hingegen wollte lieber sich selbst zugrunde richten, als in seinen eignen Augen als ein Unwürdiger dastehen.« Das war es ungefähr, was jede Gebärde von ihr auszudrücken schien. Ich weiß nicht, aber ich hätte an ihrer Stelle wohl genau so gehandelt. Ich weiß auch nicht, ob sie eben diese Gedanken in sich herumtrug, das heißt, wenn sie sich selber ganz aufrichtig fragte; ich glaube eigentlich nicht. Mit der andern, klaren Hälfte ihres Verstandes mußte sie sicherlich die ganze Unbedeutenheit ihres »Helden« durchschauen; denn wer würde mir heute nicht darin beistimmen, daß dieser unglückliche und in seiner Art vielleicht sogar großherzige Mensch zu gleicher Zeit ein äußerst unbedeutender Mensch war? Gerade auch ihre hochmütige und aggressive Art uns allen gegenüber, ihr ewiges Mißtrauen, daß wir anders über ihn denken könnten, – eben das ließ einen zum Teil erraten, daß sich in den geheimsten Tiefen ihres Herzens wohl ein andres Urteil über ihren unglücklichen Freund gebildet haben mochte. Ich will dazu aber gleich bemerken, freilich nur als meine ganz persönliche Ansicht, daß sie, wie ich die Sache ansehe, wenigstens zur Hälfte tatsächlich im Recht war; ihr konnte man es eher verzeihen als uns andern allen, wenn sie vor der letzten Schlußfolgerung schwankte. Ich selbst bekenne aus tiefstem Herzensgrunde, daß ich auch heute noch, wo das alles schon weit hinter mir liegt, durchaus nicht weiß, wie und als was ich diesen Unglücklichen einschätzen soll, der uns allen solch ein Rätsel aufgegeben hat.

Nichtsdestoweniger machte sie aus unserm Hause fast eine kleine Hölle. Lisa, die so stark liebte, mußte auch sehr schwer leiden. Ihrem Charakter gemäß zog sie es vor, schweigend zu leiden. Ihr Charakter glich dem meinen, das heißt, er war selbstherrlich und stolz, und ich war immer der Ansicht, damals wie jetzt, daß sie den Fürsten aus Selbstherrlichkeit liebgewonnen hatte, eben weil er keinen Charakter hatte, und weil er sich ihr vom ersten Worte und von der ersten Stunde an gänzlich unterworfen hatte. So etwas entsteht in einem Herzen ganz von selbst, ohne jede vorhergehende Überlegung; aber solch eine Liebe, eine starke Liebe zu einem Schwachen, ist manchmal unvergleichlich stärker und qualvoller als die Liebe zwischen gleichgearteten Charakteren, weil man unwillkürlich die Verantwortlichkeit für seinen schwachen Genossen mit auf sich nimmt. Ich wenigstens denke mir das so. Alle unsre Angehörigen umgaben sie von Anfang an mit zärtlichster Sorgfalt, besonders Mama; aber sie wurde nicht weicher, sie antwortete nicht auf die Teilnahme und stieß gleichsam jede Hilfe zurück. Mit Mama hatte sie anfangs noch gesprochen, aber von Tag zu Tag wurde sie wortkarger, kürzer angebunden und sogar härter. Mit Wersilow hatte sie anfangs Rats gepflogen, aber sehr bald erkor sie sich als Ratgeber und Helfer Herrn Wasin, wie ich später zu meiner Verwunderung vernahm . . . Sie besuchte Wasin täglich, sie lief auf den Gerichten herum, ging zu den Vorgesetzten des Fürsten, zu den Advokaten, zum Staatsanwalt; schließlich sah man sie daheim oft ganze Tage nicht. Selbstverständlich besuchte sie auch täglich, und zwar zweimal, den Fürsten, der im Gefängnis saß, in der adligen Abteilung; aber diese Besuche waren, wie ich mich in der Folge überzeugte, für Lisa sehr schwere Stunden. Natürlich, welcher Dritte kann das Verhältnis zwischen zwei Liebenden ganz durchschauen? Aber ich weiß, daß der Fürst sie in jedem Augenblick, da sie bei ihm war, tief kränkte; und wodurch? Das ist eine merkwürdige Sache: durch ewige Eifersucht. Darauf komme ich übrigens später noch zurück; aber einen Gedanken möchte ich gleich hier anfügen: es ist schwer, mit Sicherheit zu sagen, wer von ihnen den andern mehr quälte. Denn wenn Lisa sich uns gegenüber auch mit ihrem Helden brüstete, so verhielt sie sich doch ihm gegenüber, unter vier Augen, vielleicht ganz anders; davon bin ich mit ziemlicher Sicherheit überzeugt, nach einigen Anzeichen, von denen übrigens auch erst später die Rede sein wird.

Also, was meine Gefühle für Lisa und meine Beziehungen zu ihr angeht, so kann ich sagen, daß alles, was zutage lag, nur eine äußerlich vorgegebne, eifersüchtige Lüge von beiden Seiten war; geliebt aber haben wir beide uns gegenseitig nie stärker als zu der Zeit. Ich möchte noch bemerken, daß Lisa sich Makar Iwanowitsch gegenüber beinahe geringschätzig, ja hochmütig benahm, vom ersten Augenblick an, sobald er unser Haus betreten hatte, und nachdem die erste Verwunderung und Neugier vergangen war.

Als ich mir, wie ich im vorigen Kapitel erzählt habe, das Wort gab, zu »schweigen«, da gedachte ich natürlich, in der Theorie, das heißt, in meinen Träumen, mein Wort auch zu halten. Oh, mit Wersilow zum Beispiel hätte ich eher von der Zoologie oder von den römischen Imperatoren gesprochen als etwa von ihr oder von jener einen, allerwichtigsten Zeile seines Briefes an sie, worin er ihr mitgeteilt hatte, das Dokument wäre nicht verbrannt, sondern existiere und würde noch zum Vorschein kommen, – jener Zeile, über die ich ungesäumt aufs neue nachzugrübeln begonnen hatte, sobald ich nach dem Fieber wieder zu Bewußtsein und Verstand gekommen war. Aber, o weh! Bei den ersten Schritten in der Praxis, und fast bevor ich überhaupt einen Schritt tat, bemerkte ich, wie schwer und unmöglich es ist, an solchen Vorsätzen festzuhalten: am Tage nach meiner ersten Begegnung mit Makar Iwanowitsch geriet ich durch einen ganz unerwarteten Umstand in höchste Erregung.

2

In diese Erregung wurde ich durch einen unerwarteten Besuch von Darja Onisimowna, der Mutter der verstorbenen Olla, versetzt. Ich hatte von Mama bereits gehört, daß sie während meiner Krankheit zweimal dagewesen war und sich sehr für mein Befinden interessiert hatte. Ob diese »gute Frau«, wie Mama sie immer nannte, eigentlich meinetwegen gekommen war, oder bloß nach einer früheren Gewohnheit Mama besucht hatte, – danach hatte ich nicht gefragt. Mama pflegte mir immer von allen Vorgängen im Hause zu erzählen, wenn sie mir die Suppe brachte und mich fütterte (als ich noch nicht selber essen konnte), – sie tat das, um mich zu zerstreuen: ich aber bemühte mich, demgegenüber jedesmal zu zeigen, daß ich mich für diese Nachrichten wenig interessierte; so hatte ich sie auch wegen Darja Onisimowna nicht nur nicht näher ausgefragt, sondern überhaupt kein Wort darüber gesagt.

Es war so gegen elf Uhr; ich hatte gerade aus dem Bett aufstehen und mich in den Lehnstuhl am Tische setzen wollen, als sie ins Zimmer trat. Ich blieb absichtlich im Bette. Mama war oben mit irgend etwas sehr beschäftigt und war nicht heruntergekommen, sie zu begrüßen; deshalb war ich auf einmal allein mit ihr. Sie setzte sich mir gegenüber auf den Stuhl am Fußende; dabei lächelte sie und sagte kein Wort. Ich sah eine Art Gesellschaftsspiel, wer am längsten schweigen könne, voraus; überhaupt hatte ihr Kommen mich höchlichst geärgert. Ich nickte ihr nicht einmal zu und sah ihr starr in die Augen: aber sie sah mich gleichfalls starr an.

»Langweilen Sie sich nicht allein in der; Wohnung, seit der Fürst fort ist?« fragte ich plötzlich: ich hatte die Geduld verloren.

»Nein, ich bin jetzt gar nicht mehr in der Wohnung. Anna Andrejewna hat mir jetzt die Pflege des Kindes verschafft.«

»Welches Kindes?«.

»Des Kindes von Andrej Petrowitsch«, brachte sie in vertraulichem Flüstertone hervor und schaute sich nach der Tür um.

»Aber ich dächte doch, Tatjana Pawlowna . . .«

»Ja, auch Tatjana Pawlowna und Anna Andrejewna, alle zwei, und Lisaweta Makarowna auch, und Ihre liebe Frau Mama . . . alle. Alle nehmen sie Anteil daran. Tatjana Pawlowna und Anna Andrejewna sind jetzt sehr befreundet miteinander.«

Das war eine Neuigkeit. Sie wurde ordentlich munter beim Sprechen. Ich sah sie haßerfüllt an.

»Sie sind sehr munter geworden, seit Sie das letztemal bei mir waren.«

»Ach ja.«

»Sie haben auch zugenommen, glaube ich?«

Sie sah mich mit sonderbarem Ausdruck an:

»Ich habe sie sehr liebgewonnen, sehr.«

»Wen denn?«

»Ja, eben Anna Andrejewna. Sehr lieb. So ein edles Fräulein, und so gescheit . . .«

»Na also! Na, und sie, wie geht's ihr!«

»Anna Andrejewna ist sehr ruhig, sehr.«

»Ruhig war sie ja immer.«

»Ja, immer.«

»Wenn Sie mir mit Klatschgeschichten kommen,« schrie ich plötzlich, – ich konnte mich nicht mehr halten – »so merken Sie sich, daß ich mich um nichts kümmre, ich habe mich entschlossen, mich . . . um nichts, um niemand mehr zu kümmern, mir ist alles gleich – ich gehe auf und davon! . . .«

Ich verstummte, weil ich wieder zu mir kam. Mich deuchte es eine Erniedrigung, ihr gleichsam meine neuen Pläne mitzuteilen. Aber sie hörte mich ohne Staunen und ohne Erregung an; dann folgte wieder das Schweigespiel. Plötzlich stand sie auf, ging zur Tür und schaute ins Nebenzimmer. Als sie sich davon überzeugt hatte, daß sich dort niemand befand, und daß wir allein waren, kam sie ganz ruhig wieder zurück und setzte sich auf ihren früheren Platz.

»Das machen Sie gut!« lachte ich plötzlich auf.

»Werden Sie Ihre Wohnung bei dem Herrn Beamten behalten?« fragte sie auf einmal, beugte sich ein wenig zu mir vor und senkte ihre Stimme, genau, als wäre das die wichtigste Frage, wegen der sie eigentlich gekommen war.

»Meine Wohnung? Ich weiß nicht. Vielleicht ziehe ich auch um . . . Wie soll ich das wissen?«

»Ihre Wirtsleute warten mit Sehnsucht auf Sie; der Herr Beamte ist ordentlich ungeduldig, und seine Frau auch. Andrej Petrowitsch hat ihnen versichert, Sie kämen bestimmt wieder.«

»Ja, aber was interessiert Sie denn das?«

»Anna Andrejewna wollte das auch gern wissen und äußerte ihre große Zufriedenheit damit, daß Sie bleiben wollten.«

»Aber woher weiß sie denn so genau, daß ich ganz bestimmt in der Wohnung bleibe?«

Ich wollte hinzufügen: »Und warum interessiert sie das?« – aber ich unterdrückte diese Frage aus Stolz.

»Auch Herr Lambert hat es ihr versichert.«

»Wa–a–as?«

»Herr Lambert hat es auch Andrej Petrowitsch ganz bestimmt versichert, daß Sie bleiben würden, und hat es auch Anna Andrejewna versichert.«

Es schüttelte mich ordentlich. Was für wundersame Begebenheiten! So kannte Lambert also schon Wersilow, Lambert hatte sich an Wersilow heranmachen können, – Lambert und Anna Andrejewna, – er hatte sich auch schon an sie heranmachen können! Eine Hitze überflog mich, aber ich schwieg. Ein ungeheurer Strom von Stolz überflutete mein Herz, von Stolz, oder was weiß ich wovon. Aber ich sagte in dem Augenblick plötzlich zu mir selber: »Wenn ich jetzt nur noch ein Wort der Erklärung verlange, dann verwickle ich mich wieder in diese Welt und komme nie dazu, mit diesen Leuten entschieden zu brechen.« Der Haß kochte in meinem Herzen. Ich beschloß mit aller Kraft zu schweigen und lag, ohne mich zu rühren; sie blieb gleichfalls eine ganze Minute stumm.

»Was macht Fürst Nikolaj Iwanowitsch?« fragte ich plötzlich, als hätte ich den Verstand verloren. Die Sache war die, daß ich natürlich fragte, um das Thema zu wechseln, dabei stellte ich aber wiederum gerade die Hauptfrage und kehrte damit wie ein Irrsinniger selber wieder in die Welt zurück, der zu entfliehen ich so krampfhaft entschlossen war.

»Der Fürst ist in Zarskoje-Selo. Der Fürst ist nicht ganz wohl, und in der Stadt herrschen um die Jahreszeit ja diese Fieber; alle haben ihm geraten, nach Zarskoje zu ziehen, in sein eignes Haus dort, weil die Luft dort so gut ist.«

Ich antwortete nicht.

»Anna Andrejewna und die Frau Generalin besuchen ihn jeden dritten Tag!« Ich schwieg hartnäckig.

»Und so befreundet sind die beiden jetzt, und Anna Andrejewna äußert sich so freundlich über Katerina Nikolajewna . . .«

Ich schwieg immer noch.

»Und Katerina Nikolajewna hat sich wieder in die Welt ›gestürzt‹, ein Fest nach dem andern, Katerina Nikolajewna glänzt förmlich; man sagt, sogar die Herren bei Hofe sollen alle in sie verliebt sein . . . und mit Herrn Bjoring ist es ganz aus, und aus der Hochzeit wird nichts; das sagen alle . . . seitdem damals die Sache war.«

Das hieß also: seit Wersilows Brief. Ich zitterte am ganzen Leibe, sagte aber kein Wort.

»Anna Andrejewna bedauert die Sache mit Fürst Sergej Petrowitsch so sehr und Katerina Nikolajewna auch, und alle meinen, er wird freigesprochen werden, und der andre, der Stebelkow, verurteilt . . .«

Ich sah sie voll Haß an. Sie stand auf und beugte sich plötzlich über mich:

»Anna Andrejewna hat mir besonders aufgetragen, mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen«, flüsterte sie mir ganz leise zu, »und mir dringend aufgetragen, ich soll Sie bitten, gleich zu ihr zu kommen, sobald Sie nur ausgehen können. Leben Sie wohl! Werden Sie nur gesund, ich werde es ihr schon sagen . . .«

Sie ging. Ich setzte mich im Bette auf, der kalte Schweiß trat mir auf die Stirn, aber ich fühlte keinen Schrecken: die mir unbegreifliche, ungeheuerliche Nachricht über Lambert und seine Ränke zum Beispiel erschreckte mich durchaus nicht, wenn ich es mit dem vielleicht unsinnigen Entsetzen verglich, mit dem ich während meiner Krankheit und der ersten Tage meiner Genesung an meine Begegnung mit ihm in jener Nacht zurückgedacht hatte. Im Gegenteil, in jenem wirren ersten Augenblick, damals im Bette, gleich nachdem Darja Onisimowna gegangen war, hielt ich mich beim Gedanken an Lambert gar nicht auf, sondern . . . am meisten hatte mich die Nachricht über sie ergriffen, über ihren Bruch mit Bjoring, über das Glück, das sie in der Welt mache, über ihre Feste, ihren Erfolg, ihren »Glanz«. »Katerina Nikolajewna glänzt förmlich«, klangen mir Darja Onisimownas Worte in den Ohren. Und ich fühlte auf einmal, daß ich mit allen meinen Kräften nicht aus diesem Wirbel hinauskonnte, obgleich ich so stark gewesen war, zu schweigen und Darja Onisimowna nicht auszufragen, nachdem ich ihre sonderbaren Geschichten vernommen hatte. Ein unbezwinglicher Durst nach diesem Leben, nach dem Leben der andern hatte mein ganzes Inneres ergriffen und . . . und noch ein andrer wollüstiger Durst, der sich in meinem Gefühl bis zum höchsten Glück, bis zum quälendsten Schmerz steigerte. Meine Gedanken wirbelten gleichsam im Kreise, aber ich ließ sie wirbeln. »Was soll ich da groß überlegen!« sagte mein Gefühl. »Aber sogar Mama hat mir verschwiegen, daß Lambert da war,« dachte ich in zusammenhanglosen Gedankenbruchstücken, »das hat ihr Wersilow beigebracht, daß sie schweigen sollte . . . Und wenn ich sterben muß, ich frage Wersilow nicht nach Lambert!« – »Wersilow,« ging es mir wieder durch den Kopf, »Wersilow und Lambert, oh, wieviel Neues sich da angesponnen hat! Ein famoser Kerl, der Wersilow! Er hat diesem Deutschen, dem Bjoring, einen gesunden Schrecken eingejagt mit seinem Briefe; er hat sie verleumdet, la calomnie . . . il en reste toujours quelque chose, und dieser deutsche Höfling hat eine Heidenangst vor dem Skandal – hahaha . . . ihr ist's auch eine gute Lehre!« – »Lambert . . . hat sich Lambert nicht am Ende auch an sie heranmachen können? Kunststück! Warum sollte sie sich auch nicht mit ihm ›einlassen‹?«

Und dann schob ich auf einmal alle diese unsinnigen Gedanken beiseite und wühlte meinen Kopf verzweifelt in die Kissen. »Das kann ja nicht sein!« rief ich mit plötzlicher Entschlossenheit, sprang aus dem Bette, zog Pantoffeln und Schlafrock an und begab mich direkt in Makar Iwanowitschs Zimmer, als wäre da der Blitzableiter für alle Versuchungen, der Rettungsanker, an den ich mich klammern könnte.

In der Tat ist es möglich, daß ich diesen Gedanken damals aus tiefster Seele empfand; weshalb wäre ich denn sonst so unaufhaltsam und plötzlich aus dem Bette gesprungen und in dieser Gemütsverfassung zu Makar Iwanowitsch gerannt?

3

Aber bei Makar Iwanowitsch traf ich ganz wider Erwarten Besuch, – Mama und den Doktor. Weil ich beim Hinübergehen, Gott weiß warum, fest davon überzeugt gewesen war, daß ich den Alten, genau wie gestern, allein treffen würde, so blieb ich auf der Schwelle in stumpfer Verwunderung stehen. Aber ich hatte noch keine Zeit gehabt, ein ärgerliches Gesicht zu machen, als auch schon Wersilow erschien und hinter ihm plötzlich noch Lisa . . . Also hatte sich das ganze Haus bei Makar Iwanowitsch versammelt und gerade in einem Augenblick, wo es mir »gar nicht paßte«!

»Ich komme, mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen«, sagte ich und ging direkt auf Makar Iwanowitsch zu.

»Ich danke dir schön, lieber Freund, ich hatte dich erwartet: ich wußte, daß du kommen würdest! Ich habe heute nacht an dich gedacht.«