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Es ist eine Geschichte zwischen Wirklichkeit und Fantasie, zwischen Zauber und Traum, zwischen Komik und Ernst, zwischen Romantik und Tragik. Sie lässt die Grenzen zwischen der realen Welt und der mystischen Fantasie verschmelzen. Die Einwohner einer Kleinstadt pflegen seit Jahrhunderten eine sehr alte und fantasievolle Tradition. Der Höhepunkt in jedem Jahr ist ein großes Fest. In diesem Jahr ist alles ein wenig anders. Ein paar neu hinzu gekommene Mitbürger und Geschäftsleute sind zwar sehr nett und freundlich, doch irgendwie passen sie nicht so richtig hierher. Die meisten Einwohner fühlen sich neugieriger Weise von dem, was die „Neuen” so anbieten magisch angezogen, andere machen einen großen Bogen um sie. So kommt es, dass dieses Fest dieses Jahr zu einer der weit und breit höchsten Attraktionen wird, seit sich die Menschen hier daran erinnern können. Nach diesem Fest scheint alles wieder normal zu sein, so wie immer. Aber ist es das wirklich?
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Seitenzahl: 153
Veröffentlichungsjahr: 2024
Ein Zauberhaftes Kostüm
Vampire haben‘ s auch nicht leicht
© Karin Wolf
Roman
Die Morgensonne entfloh gerade dem Horizont und ihr feuriges Rot durchleuchtete die letzten nächtlichen dunklen Gewitterwolken. Bienchen und ihre Mutter saßen am Frühstückstisch und die ersten hellen Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster auf die beiden. Das kleine Mädchen spielte mit ihrem Glitzerstein, den sie ständig bei sich hatte. Sie nahm ihn immer wieder in ihre kleinen Hände und hielt ihn in‘ s Sonnenlicht, mal ganz nahe, mal etwas weiter weg und jedes Mal versuchte sie, durch diesen funkelnden Stein hindurch zu sehen.
„Mama, guck doch auch mal durch, da sind ganz viele schöne Farben zu sehen und immer anders. Wie ist denn der Diamant in dein Gesicht gekommen? Woher ist der?“
Die Kleine hielt den Stein für einen echten Diamanten. Ihre Mutter lächelte und sah ihre süße kleine Tochter an. Müde war sie selbst noch, sah blass aus und hatte schlecht geschlafen. Den warmen Tee in beiden Händen haltend, antwortete sie gequält:
„Ich weiß es nicht.“ Und sie seufzte tief.
Dem Bienchen genügte diese Antwort natürlich nicht, aber sie war schon tausend Fragen weiter. Irgendwann würde sie die gleiche Frage wieder stellen, genau gesagt immer wieder, solange bis sie die richtige Antwort bekam.
„Du, Mama, der Onkel Oleander und die Tante Xelora haben gestern aber ein schönes Vampir Kostüm angehabt. Das war viel schöner als meins, was wir geholt haben. Können wir es umtauschen? Ich möchte auch gern so eins haben wie die Zwei gestern. Jetzt geht das doch, weil wir gewonnen haben und außerdem...“, sie machte eine Pause, „Mama, darf ich ausnahmsweise einmal weiterreden?“
Dabei schaute sie ihre Mutter auf eindringliche unwiderstehliche Weise mit gesenktem Kopf von unten herauf an, weil sie wusste, dass es ihr verboten war, noch einmal über dieses Thema zu sprechen.
„Sprich weiter Bienchen.“ Sagte sie müde, momentan keine Kraft aufbringend, ein Verbot durchzusetzen.
„Jetzt könnten wir doch...“ und unverzüglich plapperte sie los, „dem Onkel Dracula ein bisschen Geld für sein Schloss geben, damit er es reparieren kann. Meinst du nicht, wir könnten da etwas abgeben? Weißt du, Mama, der war so lieb zu mir und er will mir das ganze Schloss zeigen, wo er und die ganzen lustigen und frechen Geister wohnen, und er hat mir auch versprochen, dass ich wiederkommen darf, weil ich noch lange nicht alles gesehen habe. Wir müssen nur nochmal in den Laden gehen und...“
„Bienchen, mein kleines Bienchen, bitte, bitte, vergiss doch endlich dieses verrückte Märchen! Denn das gibt es in Wirklichkeit nicht!“ ,unterbrach sie barsch das Quasseln ihrer Tochter.
„Doch Mama, auch wenn du und niemand auf der ganzen Welt mir das glaubt, das war wirklich wahr, denn ich habe die Augen der Dämonen gesehen und der Graf Dracula hat mich wieder umgezogen und mir meine Sachen angezogen und hat mir wirklich versprochen und...“
„Ruhe jetzt, bitte Bienchen, auf der Stelle!“ Ihre Mutter flehte sie fast an. „Hör‘ jetzt endlich auf! Ich kann das nicht mehr hören. Bitte sei jetzt still und sprich nie, nie wieder davon. Verstehst du!?“
Das Mädchen verstummte und senkte das Köpfchen, während ihre Mutter Tränen in den Augen hatte und ihr der Schmerz anzusehen war, der weit über Bienchens nervige Phantasie hinausging. Und tief in sich wusste ihre Mutter, dass das leider nicht nur Fantasie war.
Bienchen sah ihre Mutter an und war überhaupt nicht beleidigt, weil sie nicht mehr darüber sprechen durfte. Sie stand von ihrem Stuhl auf, ging um den Tisch herum zu ihrer Mutter und setzte sich anschmiegsam auf ihren Schoss. Dabei legte sie die Ärmchen um ihren Hals und sagte ganz wichtig:
„Sei nicht traurig, Mami. irgendwann bin ich groß, dann helfe ich dir, ganz bestimmt.“
Nach einer kleinen Pause hielt sie den Glitzerstein ihrer Mutter vor die Augen:
„Der sieht wie ein Tropfen Wasser aus aber viel, viel schöner. Guck‘ doch auch mal durch.“ Und sie gab ihn in die Hand ihrer Mutter.
„Du musst ihn in die Sonne halten“, fügte sie noch ganz wichtig hinzu.
Bienchens Mutter schluckte ihren dicken Kloß im Hals so gut es ging hinunter, strich ihrem Mädchen zärtlich über‘ s Haar und schaute durch den Glitzerstein. Viele Regenbogenfarben gaben sich in ihm ein zauberhaftes Lichterspiel, das ständig wechselte. Und sie dachte, dass das genau das richtige Spielzeug für ihr Töchterchen war. Für einen Bruchteil einer Sekunde erblickte sie zwei große schwarze Vögel mit riesigen Schwingen davonfliegen und ihr Herz bekam einen schmerzhaften Stich. Schnell gab sie den Stein ihrem Töchterchen zurück und bestätigte ihr, wie bezaubernd schön diese funkelnden Farben sind. Bienchen nahm ihren Glitzerstein und frug, ob sie jetzt zum Spielen rausgehen dürfe. Ihre Mutter ließ sie gern in den Sonnenschein hinausgehen, in den kleinen Garten mit den vielen Blumen. Mit feuchten Augen blickte sie noch ein wenig träumend aus dem Fenster. Es ist ein so wunderschöner Sommermorgen, wie aus dem Bilderbuch und sie atmete tief durch, um wieder Kraft schöpfen zu können.
‚Was ist wirklich wahr und was nicht?‘
Darüber dachte sie unentwegt nach, aber sie fand keine Antwort darauf.
Das kleine Städtchen „Munkelwald“ liegt geografisch irgendwo und könnte überall sein. Auf der einen Seite des Stadtrandes beginnen der Wald und die Berge, zur anderen Seite sieht man bis zum Horizont weites Ackerland und sogar einen kleinen See mit schwarzblauem Wasser, der im Sonnenlicht eine glitzernde Decke hat. Es ist eine idyllisch gelegene Kleinstadt mit ungefähr so, na vielleicht etwa, sagen wir mal, so circa 11 Tausend Einwohnern. Hübsche alte Häuser im Fachwerkstil, sauber herausgeputzt, säumen den alten Marktplatz, in dessen Zentrum sich ein sehr, sehr alter Brunnen befindet. Die Einwohner nennen ihn liebevoll den „Geisterbrunnen“. Er ist rund und in der Mitte befindet sich das klare saubere Wasser, das beständig aus einem alten verrosteten Metallhahn in den Brunnen fließt. Der vollständig aus hellem Stein gemeißelte Rand wird von unzähligen kleinen und größeren sehr alten Steinfiguren umgeben. Es sind Fabelwesen und Märchengestalten. Jeder Betrachter fühlt sich unweigerlich von ihnen in den Bann gezogen. Keine Figur gleicht der anderen und jede scheint eine eigene Geschichte zu erzählen. Je länger man sie betrachtet oder auf einer der vielen Parkbänke gegenüber sitzt und eine Zeit lang in ihrer Gegenwart verweilt, bekommt man den Eindruck, als bewegten sie sich. Manche behaupten, sie würden miteinander reden. Das ist aber nur die Phantasie der Menschen. Das kleine Städtchen hat viel Flair und besitzt zahlreiche Gassen rund um den alten Stadtkern herum. Ansonsten ist es ein Städtchen, wie jedes andere auch. Es gibt Gasthäuser, viele Läden und Einkaufsmöglichkeiten und alles, was den Einwohnern sonst noch so gefällt. Auch eine Textilfirma liegt am Rande, in der viele Einwohner Munkelwalds ihren Arbeitsplatz haben. Der Marktplatz ist das tägliche Zentrum der Einwohner und bietet Gemütlichkeit, vor allem in der warmen Jahreszeit. Hier gibt es Alles, was zum Verweilen einlädt, wie ein Kinder Karussell, eine Schützenbude und diverse Stände, die kulinarisch für Leib und Seele sorgen, unter anderem auch einen Eisstand. Im Winter stehen hier zusätzlich die bunten, glitzernden und reichlich dekorierten Weihnachtsstände, an denen die hübschen Kunstwerke der kreativen Einwohner verkauft werden. Oder sie bieten leckere Advent Köstlichkeiten aus dem eigenen Backofen an. Die Menschen kennen sich unter einander und es sind eigentlich immer die gleichen Leute, die dies oder das zum bunten Treiben auf dem Marktplatz beitragen. So ist dieses kleine beschauliche Zentrum immer gut besucht von Groß und Klein. Und doch, man kriegt das Gefühl nicht los, dass hier irgendetwas anders zu sein scheint als woanders. Aber was?
Die Menschen hier unterscheiden sich eigentlich überhaupt nicht von denen in anderen Kleinstädten. Sie leben und arbeiten, haben ihre Sorgen oder auch nicht, feiern Feste, haben Kinder, sind glücklich oder auch unglücklich, streiten oder lieben sich, so wie überall auf der ganzen Welt. Natürlich gibt es Wohngebiete, die älter sind als der Rest der Stadt. Hier kennt jeder jeden und die gute Nachbarschaft wird ausgiebig gepflegt. Die aktuellsten Neuigkeiten stehen hier nicht in der Tageszeitung, sondern werden von Nachbar zu Nachbar erzählt. Der Wahrheitsgehalt spielt dabei gelegentlich eine untergeordnete Rolle, Hauptsache es schlägt ein, wie eine Bombe und macht schnell seine Runde im Stadtgebiet. So werden viele „Schlagzeilen“ zu Geschichten und letztlich enden sie meistens als Märchen. Aber, es ist eine der schönsten Beschäftigungen und noch viel wichtiger ist es immer, dass jeder seinen „Senf“ dazu geben konnte. Alle kommen also immer auf ihre Kosten, manchmal leider auch zu Lasten des Einen oder Anderen. Doch bisher ist über jede noch so brisante Geschichte Gras gewachsen und sie diente später immer wieder als wunderbare Unterhaltung.
Von jeher, keiner weiß eigentlich seit wann, werden in Munkelwald alle Festivitäten auf eigentümliche Weise begangen, die zurück zu führen ist auf einen uralten Brauch, der zur Tradition geworden ist. Das ist der große Unterschied zu anderen Städten. Jeder Geburtstag, jede Hochzeit, jedes Jubiläum, ob privat oder öffentlich, auch Weihnachten und Ostern, wirklich zu jedem Anlass wird sich in irgendeiner Weise verkleidet und man legt traditionell sehr großen Wert auf ein schickes auffallendes tolles Kostüm. Sich zu kostümieren, ist außerhalb der Faschingssaison eine sehr ästhetische Angelegenheit und keine Narretei. Jeder will so schön wie möglich aussehen, etwas Bestimmtes darstellen und dabei gibt es richtige Konkurrenzkämpfe. Die Faschingssaison selbst ist natürlich völlig losgelöst davon und die Maskerade wird dann sehr ausgelassen betrieben, oftmals mit sehr denkwürdigen und in die Geschichte Munkelwalds eingehenden Begebenheiten. Vielleicht waren ja einmal die Vorfahren der Munkelwälder Venezianer. Keiner weiß es und niemanden kümmert es, keiner fragt heute mehr danach. Es ist, wie es eben ist und alle leben und lieben diesen Brauch. Die Meisten haben auch ihre Freude daran. In Munkelwald ist das Kostümieren so normal, wie das Bier im Gasthaus. Es gehört einfach dazu. Wen wundert’s, dass es in dem einzigen großen Modehaus das ganze Jahr über Kostüme und Requisiten zu kaufen gibt. Jedoch gibt es immer wieder Konfektionsprobleme und auch der Geschmack der Kunden kann nicht immer erfüllt werden. Wenn es um einen ganz besonderen persönlichen Wunsch geht, war also bisher immer die eigene Kreativität gefragt. Dies funktionierte bis heute auch recht gut. Ja so manch Schneider hatte in Munkelwald bis heute ein recht gutes Auskommen. Jeder kann es sich allerdings nicht leisten, da es über‘ s Jahr verteilt, eine Menge Anlässe gibt, die ein Kostüm erfordern. Und jedes Mal einen Cowboyhut aufsetzen, ist nicht sonderlich schicklich und wird schon mal lästerlich kritisiert. Es gibt niemanden, der sich richtig vor diesem Brauch drücken würde, auch dann nicht, wenn‘ s ihm nicht so behagt. Sich auszuschließen, würde in Munkelwald einer Steinigung gleichkommen. Dann gibt es immer wieder einmal so manchen Kostümnarren, der das Verkleiden gern als Mittel zum Zweck benutzt oder ganz einfach, um etwas „Größeres“ darzustellen, als er eigentlich ist. So etwas birgt natürlich immer potentiellen Gesprächsstoff für die kommenden Wochen in sich. Auf so eine brisante Begebenheit warten die „Schlagzeilenverteiler“ Munkelwalds wie ein trockener Schwamm auf das Wasser. So sind sie eben, die Munkelwälder.
Es war in einer Vollmondnacht, in welcher der Mond wie ein riesiger großer heller Ballon am Himmel aufging. Die vielen Sterne dieser klaren Sommernacht wurden von dem silbernen Mondlicht buchstäblich überstrahlt. Der Mond stieg über dem alten Brunnen auf und beleuchtete beinahe alle kleinen Steinfiguren gleichzeitig. Die kleinen Gestalten schienen sich köstlich zu amüsieren. Sie schwatzen lustig und kicherten wild durcheinander. Ja, Sie bewegten sich tatsächlich. Einige streckten und beugten sich und waren sichtlich froh, sich endlich einmal bewegen zu dürfen. Jedoch nahmen sie schnell danach wieder ihre Position ein. Ganz plötzlich lösten sich zwei der Figuren ab vom Brunnenrand und verschwanden blitzschnell als kleine dunkle Schatten im Mondlicht in die finsteren wenig beleuchteten Seitengassen von Munkelwald. Die entstandenen Lücken schlossen sich auf geheimnisvolle Weise, so dass der Brunnen unversehrt blieb. In diesem Augenblick bekam der schöne große Mond einen Schleier, es zogen sehr schnell Wolken herauf und ein heftiges Gewitter überzog Munkelwald mit grellen Blitzen und unmittelbarem Donnergetöse. Der Platzregen ließ die Gullys auf dem Marktplatz überlaufen und schwemmte alles hinweg.
Doch die Einwohner hatten einen ziemlich festen Schlaf und das Gewitter störte hier niemanden. Schließlich war es Freitagnacht, die Arbeitswoche vorbei und man schlief ruhig in‘ s Wochenende. Der Samstagmorgen war wie eine herrliche Erfrischung. Es duftete nach Blüten, nach frischem Grün und nach fruchtbarer nasser Erde. Die Sonne blitzte hell am Horizont und vertrieb mit ihren starken warmen Strahlen die nächtlichen Reste der Regenwolken, während die Feuchtigkeit der Erde sich in Nebel auflöste. Die letzten Wolken mussten dem Türkisblau des frühsommerlichen Morgenhimmels jetzt ohne „wenn“ und „aber“ Platz machen.
Munkelwald erwachte und der Marktplatz, die Gassen und Straßen füllten sich schnell mit vielen Einwohnern. Eine bunte Schar jeden Alters machte am Samstagmorgen, was ihm Freude machte oder die ganze Woche fehlte. Ein Aufatmen in dieser herrlichen Luft dieses Morgens konnte man richtig hören. Die beschauliche Innenstadt hat viele enge kleine Gassen und eine Hauptstraße, die allerdings nicht durch den schmucken Altstadtkern führt. Das Städtchen ist sehr gepflegt und aufgeräumt. Natürlich sind hier Einkaufsmöglichkeiten entstanden, die sehr schick und auch lukrativ zu sein scheinen. Aber die Ladenvielfalt wechselt öfter. Daran haben sich die Munkelwalder gewöhnt. Meistens haben sich die Gründe für das Entstehen und Aufgeben eines Ladens schnell herumgesprochen. Es gibt auch Geschäfte, die sich dank vieler einheimischer Stammkunden, seit Jahrzehnten bewähren und ihr beständiges Dasein haben. Aber manchmal wird ein Laden kurzerhand aufgegeben oder verkauft und es entsteht etwas Neues an dieser Stelle, was für die Einwohner immer höchst interessant ist.
In einer der hübschen Seitengassen unweit des Marktplatzes schlenderten Adele und Gertrude, Freundinnen seit Jahr und Tag, gemütlich plaudernd entlang. Beide waren schon so um die Mitte 50, schick angezogen und penibel auf ihr Äußeres achtend, kennen sie sich seit ihrer Schulzeit in Munkelwald. Sie teilen quasi alle Teilgebiete ihres Lebens sehr wortreich und ausführlich von Kindheit an. An diesem wunderschönen Samstagvormittag war ein ausgiebiger Stadtbummel angesagt. Die beiden neugierigen und unternehmungslustigen Damen fanden immer etwas höchst Interessantes.
„Ach, was ist denn das für ein Laden, Gertrude? Den habe ich ja noch nie hier gesehen und Du? Ist der schon lange da?“
„Ich weiß nicht. Gesehen habe ich ihn noch nie, aber neu sieht der auch nicht aus.“, meinte Adele. Die Beiden kennen „ihr“ Städtchen sozusagen nahezu bis in jeden Winkel und wissen immer sofort Bescheid, meistens auch als Erste, wenn es etwas Neues in Munkelwald gibt. Sie haben ausgezeichnete journalistische Fähigkeiten, aber mehr mit dem gesprochenen Wort als der Schrift. Jetzt war da plötzlich ein neuer Laden und es schien, als ob noch keiner in Munkelwald etwas von ihm wusste. Das war ja ungeheuerlich! Er war mit einem Mal einfach da und sah von außen aus, als wäre er schon seit Jahrhunderten an dieser Stelle gewesen. Harmonisch fügte er sich in die alte Fachwerkhäuserreihe ein. Ein großes, nicht sehr sauber blinkendes Schaufenster hätte den Blick in das Ladeninnere großzügig zugelassen, wenn da nicht so eine starke Verdunklungsfolie gegen das Sonnenlicht angebracht gewesen wäre. Dekorationen waren gar keine auszumachen. Eigenartig für einen neuen Laden. Große Werbung und Ankündigung der Eröffnung hat es auch nicht gegeben so wie sonst immer. Neben dem Schaufenster führten zwei sehr alte abgetretene Sandsteinstufen zur schmalen Eingangstür, die aus sehr altem und verwittertem Holz ist. Diese Tür hat anscheinend zeitlebens nie einen Anstrich erhalten. Man könnte sie mit einem uralten Stück Eichenholz im Wald vergleichen. Und dennoch, es gab an ihr etwas ganz Besonderes. Es befand sich an ihr genau in der Mitte eine kunstvolle Holzschnitzerei. Es war eine üppig verzierte Maske mit einem freundlichen fast hämischen Grinsen. Man konnte sie förmlich lachen hören, wenn man sie ansah. Die Türklinke war eine schmiedeeiserne Meisterleistung und lud buchstäblich zum Anfassen und Öffnen magisch ein. Hoch über dem Schaufenster war offenbar das einzige modern wirkende Stück angebracht, eine riesige Leuchtschrift, die in allen erdenklichen Farben das Wort „Kostüm-Verleih“ zum Glühen und Funkeln brachte.
Den zwei Munkelwalder Freundinnen verschlug es doch tatsächlich für ein paar Sekunden die Sprache, was wohl noch nie passiert ist. Sie schauten sich gegenseitig fragend in‘ s Gesicht und legten beide nahezu gleichzeitig die Hände links und rechts neben die Augen, die Nasen dicht an‘ s Fenster gepresst, um doch einen Blick in das Ladeninnere werfen zu können. Doch viel zu sehen bekamen sie bedauerlicher Weise nicht, was die Neugier erheblich steigerte. Es sah aus, als wäre das Innere ganz dunkel. Nur ein kleiner Lichtschein ließ vermuten, dass da doch jemand drin sein musste. Ein Schild mit den Öffnungszeiten suchten Sie ebenfalls vergeblich. Es war schon eine ungeheuerliche Sache, dass hier auf einmal etwas war, was den zwei journalistisch höchst befähigten Damen scheinbar entgangen war. Sie waren sich ihres traditionsreichen Städtchens bewusst, vor allem der Kostüm Tradition hier. Sollte denn wirklich noch niemand diesen Laden kennen? Nein, das wüssten Adele und Gertrude ja sowieso als Erste, ganz sicher. Adele meint:
„Immer, wenn ein Laden neu eröffnet wird, gibt‘ s ein riesiges Spektakel. Manchmal spielt sogar eine Blaskapelle und es gibt Freibier sowie kleine einladende Geschenke, um den Passanten, den potentiellen Kunden, laut zu sagen:
„Hier können sie alles kaufen! Das gibt es nur hier! Hereinspaziert, hereinspaziert!”
Und Gertrude vollendet:
„Und dieser Laden hier ist plötzlich wie aus dem Nichts einfach da und wartet geduldig, bis er gefunden wird und sich irgendjemand zufällig in ihn verirrt. Die scheinen keine Werbung nötig zu haben, oder was meinst Du?“
In Adele arbeitete die Neugier.
„Also, was machen wir, Gertrude? Geh‘ n wir mal rein? Nur mal gucken, das kostet doch nichts. Los Gertrude, sei kein Frosch!“
Gertrude haderte mit sich ein wenig.
„Du, ich weiß nicht, sehr einladend sieht der nicht aus.“
„Aber, da gibt‘ s doch anscheinend Kostüme zum Ausleihen und vielleicht finden wir etwas Schickes, was ganz Neues, was noch niemand gesehen hat. Komm, Gertrude, los! Wenn wir nicht reingehen, werden wir es nicht erfahren und andere vor uns diese Neuigkeit wissen.“
Gertrude machte in skeptisches Gesicht und versuchte eine hinreichende Rechtfertigung zu finden, um mutig mit Adele den Laden betreten zu können.
„Ja, ich denke, ein neues Kostüm würde uns beiden nächste Woche zum Brunnenfest gutstehen. Ein bisschen frischen Wind könnte unsere Kollektion gebrauchen.“, pflichtete Sie nun Adele bei.