Eine Aussenpolitik für die Schweiz im 21. Jahrhundert -  - E-Book

Eine Aussenpolitik für die Schweiz im 21. Jahrhundert E-Book

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Beschreibung

Die Schweiz steht vor gewaltigen politischen Herausforderungen. Die Beziehung zur EU ist nach wie vor ungeklärt, die geopolitischen Verhältnisse verändern sich laufend und der technologische Wandel bringt zusätzliche Dynamik ins Spiel. Dieses Buch hat zum Ziel, eine in die Zukunft gerichtete Orientierungshilfe für alle zu bieten, die sich mit aussenpolitischen Fragen der Schweiz beschäftigen, und gibt einen Überblick auf die schweizerische Aussenpolitik entlang ihrer zentralen Gebiete. Es geht beispielsweise um Aussenhandel, internationale Finanzmärkte, Migration, Umweltpolitik, humanitäre Zusammenarbeit, Friedensförderung oder Sicherheitspolitik. Die Beiträge sind von Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Praxis verfasst. Sie behandeln ihr Thema sachlich fundiert, verständlich und praxisnah. Die Autorinnen und Autoren beleuchten das jeweilige globale oder regionale Umfeld, in dem sich die Schweiz bewegt, analysieren das bisher Erreichte und diskutieren die wichtigsten Herausforderungen sowie die Handlungsoptionen, Chancen und Risiken für die Schweiz. Herausgegeben im Auftrag der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik. Mit Vorworten von Aussenminister Ignazio Cassis und Nationalrätin Christa Markwalder, Präsidentin SGA, und Beiträgen von: Thomas Bernauer, Fritz Brugger, Aymo Brunetti, Gilles Carbonnier, Francis Cheneval, Cédric Dupont, Katja Gentinetta, Isabel Günther, Paula Hoffmeyer-Zlotnik, Joëlle Kuntz, Sandra Lavenex, Philipp Lutz, Matthias Oesch, Pascal Sciarini, Charlotte Sieber-Gasser, Cedric Tille, Andreas Wenger, Achim Wennmann, Sacha Zala.

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Thomas BernauerKatja Gentinetta Joëlle Kuntz(Hrsg.)

Eine Aussenpolitikfür die Schweizim 21. Jahrhundert

Schweizerische Gesellschaft für Aussenpolitik SGA – ASPE

NZZ Libro

Herausgegeben von Thomas Bernauer, Katja Gentinetta, Joëlle Kuntz

Im Auftrag der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik SGA-ASPE

Mit Unterstützung von:

UBS Kulturstiftung

Ernst Göhner Stiftung

Schweizerische Mobiliar Genossenschaft

Ursula Wirz-Stiftung

Kairos-Stiftung zur Förderung der Forschung der Beziehungen der Schweiz zum Ausland

Lotteriefonds Kanton Bern

Swiss Re

Nestlé

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2021 (ISBN 978-3-907291-58-0) © 2021 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel

Lektorat: Ingrid Kunz Graf, Stein am Rhein

Übersetzungen: Maria Neversil, Bern (Französisch–Deutsch), Katrin Grünepütt, Berlin (Englisch–Deutsch)

Umschlag: Weiß-Freiburg GmbH, Freiburg i. B.

Gestaltung, Satz: Claudia Wild, Konstanz

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

ISBN 978-3-907291-58-0

ISBN E-Book 978-3-907291-59-7

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.

Inhaltsverzeichnis

Bundesrat Ignazio CassisSchweizer Selbstverständnis auf der Bühne der Grossen

Christa Markwalder, Nationalrätin, Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik Für eine mutige schweizerische Aussenpolitikim 21. Jahrhundert

Über dieses Buch

Die Schweiz in der Welt des 21. Jahrhunderts: Ausgangslage und FragestellungenThomas Bernauer, Katja Gentinetta, Joëlle Kuntz

1. Souveränität, Neutralität, Aussenhandel: Zweck und Ziele der Schweizer Aussenpolitik seit 1848Sacha Zala

2. Die Akteure der Schweizer Aussenpolitik: Wer sie macht und wer sie gerne machen würdePascal Sciarini

Die Städte auf der Suche nach einem Platz in der StaatsordnungSami Kanaan im Gespräch mit Joëlle Kuntz

3. Die Schweiz, die UNO und das internationale Genf: Eine Plattform für die AussenpolitikCédric Dupont

4. Die Schweiz in der Europäischen Union: Enklave, Partnerin oder Mitglied?

Eine Chronologie des Institutionellen RahmenabkommensJoëlle Kuntz

Weshalb war das Rahmenabkommen hochumstritten, wenn es doch von der Schweiz selbst initiiert wurde?Fabio Wasserfallen

Die schweizerische Europapolitik auf dem PrüfstandMatthias Oesch

Vox populi: Der Europadiskurs in der Schweizer BevölkerungHeike Scholten im Gespräch mit Katja Gentinetta

Auszug: Bericht des Bundesrats vom 18. Mai 1992 über einen Beitritt der Schweiz zur Europäischen Gemeinschaft

5. Aussenhandel und Investitionen: Unter direktdemokratischer BeobachtungCharlotte Sieber-Gasser

6. Finanzen und Währung: Trotz Schocks agilAymo Brunetti, Cédric Tille

Sustainable Finance: Die Ambitionen der SchweizJean Laville im Gespräch mit Joëlle Kuntz

7. Umwelt und Klima: Von der nationalen zur globalen PerspektiveThomas Bernauer

8. Entwicklung und Zusammenarbeit: Gemeinsam oder allein?Isabel Günther, Fritz Brugger

Wirtschaft und Entwicklungszusammenarbeit: Das Beispiel NestléHans Jöhr und Christian Vousvouras im Gespräch mit Katja Gentinetta

9. Migration: Im Konflikt zwischen Aussen- und InnenpolitikSandra Lavenex, Paula Hoffmeyer-Zlotnik, Philipp Lutz

Der UNO-Migrationspakt: Gekapert von den sozialen NetzwerkenDamien Cottier im Gespräch mit Joëlle Kuntz

10. Humanitäre Hilfe und Friedensförderung: Innovationen beim Engagement, in der Finanzierung und beim RechtGilles Carbonnier, Achim Wennmann

11. Frieden und Sicherheit: Hybride Bedrohungen, neue HandlungsspielräumeAndreas Wenger

Schlussfolgerungen und AusblickThomas Bernauer, Katja Gentinetta, Joëlle Kuntz

Autorinnen und Autoren

Bundesrat Ignazio Cassis

Schweizer Selbstverständnis auf der Bühne der Grossen

Wieso braucht ein kleines Land wie die Schweiz eine Aussenpolitik? Immerhin sind wir weder eine Grossmacht, noch hegen wir Ambitionen, die Welt in einem helvetischen Feldzug einzunehmen. Zudem geht es uns gut, so wie es ist. Die Schweiz ist eines der sichersten und wohlhabendsten Länder der Welt, das Vertrauen in unsere Institutionen ist hoch, und die Aussichten für die kommenden Generationen stehen gut. Die Schweiz, ein Erfolgsmodell. Gerade auch, weil es uns über Generationen hinweg möglich war, den Spagat zwischen internationaler Beziehungspflege und nationaler Souveränität erfolgreich zu gestalten. Ein Balanceakt. Agil variierend zwischen Souveränität, Neutralität, Aussenhandel und humanitärem Engagement gelingt es der Schweiz seit 1848, ihre Rolle auf dem globalen Parkett vielfältig zu gestalten. Ein Engagement, das direkten Einfluss auf die Prosperität unseres Landes hat – nicht umsonst waren Aussenpolitik und Aussenhandelspolitik lange Zeit fast ein und dasselbe Thema.

Allerdings sind Wohlstand, Souveränität und Sicherheit nicht gottgegeben. Sie bedingen viel Arbeit und setzen ein intensives Bewusstsein dessen voraus, wer wir sind und was wir wollen. Es gelingt den Autoren dieses Buchs, auf den folgenden Seiten illustrativ wiederzugeben, wie sich die Schweiz im Verlauf ihrer Geschichte nicht nur durch Abgrenzung definiert hat, sondern vor allem durch die vielfältigen Beziehungen, die sie zu gestalten vermag. Selbstreflexion im Widerschein des Andersseins; stets eingebettet in einen historischen und geopolitischen Kontext. So ist die Schweiz zwar nicht Teil der Europäischen Union, nichtsdestotrotz aber Teil des europäischen Kontinents, Teil von Europa. Wir sind Subjekt und Objekt einer globalen Weltordnung. Eine Welt, die je länger, je rauer wird, fragmentierter und vor allem unberechenbarer. Geopolitische Spannungen nehmen zu, Handelskonflikte verschärfen sich, und Eckpfeiler der internationalen Ordnung wie das Völkerrecht oder der Multilateralismus werden infrage gestellt. Gleichzeitig verschärfen sich ökologische Entwicklungen. Dafür bieten neue Technologien aber auch neue Chancen.

Die Welt ist im Wandel. Diese Entwicklungen spürt auch die Schweiz. Der Wohlstand und die politische Stabilität in unserem Land hängen stark davon ab, was in unserer geopolitischen Umwelt passiert. Uns mit der Aussenpolitik zu befassen, heisst also, uns mit uns selbst zu befassen. Damit wir als kleines Land global eine selbstbewusste Rolle einnehmen können, müssen wir wissen, was wir wollen. «Wenn du nicht weisst, wo du hinwillst, dann ist es egal, welchen Weg du einschlägst. Jeder wird falsch sein», sagt die Katze zum kleinen Mädchen im Kinderbuchklassiker Alice im Wunderland. Wie Alice will auch die Schweiz ihren Platz in Europa und in der Welt selbstbestimmt und eigenständig festlegen. Das bedeutet, sie muss den Veränderungen in der Welt begegnen und Antworten auf neue Herausforderungen finden. Die Aussenpolitik wird für den Wohlstand und die Stabilität in der Schweiz in Zukunft noch wichtiger werden.

Nur, wo wollen wir denn nun hin? Was sind die Ziele unserer Aussenpolitik? Und vor allem, in was für einer Welt werden wir diese gestalten? Das vorliegende Werk geht auf Herausforderungen und Chancen ein, die die Schweizer Aussenpolitik des 21. Jahrhunderts prägen werden. Es sind Fragen, die auch ich mir gestellt habe, als ich Ende 2017 die Leitung des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) übernommen habe. Klar ist, in einem globalen Umfeld, das verstärkt von Machtpolitik geprägt ist, muss die Schweiz geeint auftreten, ihre Interessen kennen und wissen, wie sie ihre Ziele erreichen will. Unsere aussenpolitische Vision (AVIS 28)1 ist die Antwort auf Herausforderungen und Chancen, die dieser Wandel bietet, sie ist die Vorstellung des Zustands, den wir erreichen wollen. Entstanden ist ein Sechs-Punkte-Plan, der als Diskussionsgrundlage dient, wenn es darum geht, wo wir die Schweiz auf dem globalen Parkett des 21. Jahrhunderts sehen.

•Klar definierte Interessen und Prioritäten: Die Schweiz ist keine Grossmacht. Sie kann aber durchaus in der Liga der Grossen spielen. Sie ist lösungsorientiert, innovativ, weltoffen und einem klaren Wertekompass verpflichtet: Sicherheit, Wohlfahrt und Unabhängigkeit. Der Schlüssel zum Erfolg ist eine intelligente Kombination aus Eigenständigkeit und Vernetzung. Die Schweizer Aussenpolitik setzt daher klare thematische und regionale Prioritäten. Wir müssen nicht überall auf der Welt aktiv sein, sondern dort, wo wir aktiv sind, einen Mehrwert bieten.

•Verschränkung von Aussen- und Innenpolitik: Aussenpolitik ist Innenpolitik. Um international geschlossen auftreten zu können, muss das aussenpolitische Vorgehen innenpolitisch mitgetragen sein. Dabei sind Zielkonflikte vorprogrammiert. Das ist weder neu noch schlecht. Zahlreiche Beispiele im vorliegenden Werk zeigen eindrücklich, wie interne Diskussionen in der Schweiz ihre Politik über die Landesgrenzen hinaus geprägt haben. Zielkonflikte sind Ausdruck einer funktionierenden pluralistischen Gesellschaft. Ziel ist es nicht, diese Konflikte zu verhindern, Ziel ist viel eher, diesen Diskurs transparent und partizipativ zu gestalten. Bundesrat, Parlament, Kantone, Wissenschaft, das internationale Genf, die Wirtschaft, NGOs und die Bevölkerung – sie alle sind in die Ausgestaltung der Schweizer Aussenpolitik miteinbezogen. Das schafft ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Verantwortlichkeit.

•Bürger und Wirtschaft stärker im Fokus: Dienstleistungen für Schweizerinnen und Schweizer im Ausland sowie die enge Zusammenarbeit mit der Wirtschaft sind wichtige Stärken der Schweizer Aussenpolitik. Über die Hälfte unseres Bruttoinlandprodukts erwirtschaften wir im Ausland. Die Schweizer Exportwirtschaft trägt damit massgeblich zum Wohlstand der Schweiz bei. Umgekehrt ist der Privatsektor ein wichtiger Partner bei der Entwicklungszusammenarbeit – gerade bei den nachhaltigen Entwicklungszielen der Agenda 2030, beim Klimaschutz oder bei den Menschenrechten.

•Schweizer Soft Power für eine friedlichere Welt: Die Schweiz verfügt über eine hohe Glaubwürdigkeit als Brückenbauerin. Unsere Guten Dienste und unser Engagement für Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte werden ebenso geschätzt wie unsere schnelle und unbürokratische humanitäre Hilfe oder die nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit. Als neutraler Standort ist die Schweiz eine wichtige Partnerin für diskrete Verhandlungen und ein wichtiger Gaststaat für internationale Organisationen. Das internationale Genf ist ein führender und innovativer Gouvernanzstandort – sowohl in der analogen als auch in der digitalen Welt.

•Technologie als neues Themenfeld: Neue Technologien bieten mehr als nur neue Arbeitsinstrumente, sie verändern grundlegend, wie wir zusammenleben und unsere Beziehungen pflegen. Mit ihren Technischen Hochschulen und diversen Forschungsstätten ist die Schweiz prädestiniert, wenn es um die Erforschung neuer Technologien geht. Diese führende Rolle gilt es in der Aussenpolitik zu nutzen und das internationale Genf als Hub der globalen Digitalisierungs- und Technologiedebatten zu positionieren, als Entwicklungsort des neuen Fachbereichs Science Diplomacy. Denn die Risiken im Zusammenhang mit den neuen Technologien sind zwar nicht zu unterschätzen, es gilt aber vor allem, diese gewinnbringend zugunsten des Menschen zu nutzen.

•Selbstbewusst mit und gegenüber Europa: Die Schweiz ist geografisch und kulturell ein europäisches Land, wir teilen kulturelle Werte und Interessen. Gerade die Covid-19-Pandemie hat einmal mehr deutlich gemacht, wie wichtig gute Beziehungen zu unseren Nachbarstaaten sind. Solche Beziehungen baut man nicht in Krisenzeiten auf, sie sind das Ergebnis einer langjährigen Partnerschaft auf Augenhöhe. Eine Kooperation, die insbesondere auch im wirtschaftlichen Bereich von zentraler Bedeutung ist. Für unseren Wohlstand bleibt der gegenseitige Zugang zum Markt daher elementar – ist die EU doch der mit Abstand wichtigste Handelspartner der Schweiz. Aber auch in vielen anderen Bereichen wie der Bildung, der Kultur oder der Wissenschaft arbeitet die Schweiz eng mit ihren europäischen Nachbarn zusammen. Es sind diese Kooperationsmöglichkeiten, die es uns erlauben, unsere Anliegen, unsere Expertise und unsere Mitarbeit in die Ausgestaltung der europäischen Politik einzubringen. So trägt die Schweiz dazu bei, dass Europa als Wirtschafts- und Innovationsstandort auf globaler Bühne geschlossen und überzeugend auftreten kann. Gerade in einer sich fragmentierenden globalen Weltordnung ist ein starkes und geeintes Europa im ureigenen Interesse der Schweiz – für ihre Unabhängigkeit, ihre Sicherheit und ihre gemeinsame Wohlfahrt. Eine langjährige Beziehung zweier souveräner Partner, gezeichnet durch die Suche nach dem optimalen Gleichgewicht zwischen weitreichendem Marktzugang und der Wahrung grösstmöglicher politischer Eigenständigkeit. Eine Beziehung in Freundschaft und Nachbarschaft.

In einer zunehmend instabilen Welt muss die Schweiz ihre Interessen präzise definieren. Sie muss aus einer klar definierten, innenpolitisch verankerten Position heraus agieren und sich dabei auf ihre Stärken und Werte abstützen können. Mit einer wirksamen Aussenpolitik fördern wir die Stabilität in der Welt und damit auch Sicherheit und Wohlstand in der Schweiz.

Anmerkung

1https://www.eda.admin.ch/avis28 (abgerufen am 11.6.2021).

Christa Markwalder, Nationalrätin, Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik

Für eine mutige schweizerische Aussenpolitik im 21. Jahrhundert

Während der weltweit wütenden Corona-Pandemie ist uns die Verletzlichkeit unserer Gesellschaft, die Wichtigkeit transnationaler Wertschöpfungsketten und die Notwendigkeit internationaler Forschungszusammenarbeit für die rasche Entwicklung von Impfstoffen konkret vor Augen geführt worden.

In der Pandemiebekämpfung zeigen sich Stärken – gewiss auch Schwächen – internationaler Abmachungen und Vereinbarungen. Wie werden diese umgesetzt und eingehalten? So hat die Pandemie auch hierzulande nationalistische Reflexe befeuert mit dem Hochziehen von Grenzzäunen und dem temporären Erlass von strikten Einreiseverboten.

Umso wichtiger ist die Öffnung unseres aussenpolitischen Horizonts auf ein «bigger picture», das die geopolitischen Machtverschiebungen im Auge hat, sodass die Schweiz ihre ökonomischen wie ökologischen und sicherheitspolitischen Interessen weiterhin wahren kann. Das kann für unsere stolze Demokratie selbstverständlich nur im Einklang mit den verfassungsmässigen aussenpolitischen Zielsetzungen der Schweiz erfolgen, nämlich mit der Demokratie- und Friedensförderung, der Achtung der Menschenrechte, der Verringerung der Armut und dem Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen.

Die Welt ist spätestens im 21. Jahrhundert zu einem globalen Dorf geworden. Dank neuer Technologien, Kommunikationsplattformen und der internationalen Arbeitsteilung werden den heutigen Generationen Chancen und Möglichkeiten eröffnet, die in der Geschichte einzigartig sind.

Die ökonomische Vernetzung der Systeme und globale Wertschöpfungsketten haben sich während der Pandemie ausbezahlt. Und noch weitaus wichtiger: Sie haben im letzten Jahrhundert zur Friedenssicherung wie auch der generellen Vermehrung des Wohlstands gedient. Das erkannten bereits die Gründerväter der heutigen Europäischen Union mit der Schaffung der Montanunion 1951.

Wie wichtig der Schutz von Menschenrechten und individuellen Freiheiten ist, wurde von der UNO nach zwei verheerenden Weltkriegen im letzten Jahrhundert in ihrer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 festgehalten und vom Europarat in der Europäischen Menschenrechtskonvention 1950 völkerrechtlich verankert.

Eine regelbasierte Weltwirtschaftsordnung sollte mit dem General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) 1947 eingeführt werden, die Welthandelsorganisation WTO mit Sitz in Genf hat 1995 diese völkerrechtliche Vereinbarung in eine internationale Organisation überführt.

Angesichts der Umweltverschmutzungen des Industriezeitalters und der weltweiten Klimaerwärmung kam die Völkergemeinschaft am Gipfel von Rio 1992 überein, eine Agenda 21 zu entwerfen sowie Übereinkommen über Klimaänderungen und biologische Vielfalt zu verabschieden. Für einen wirksamen Klimaschutz wurde das Kyoto-Protokoll 1997 konkretisiert und mit dem Pariser Klimaabkommen 2015 festgehalten, dass bis 2050 durch eine sukzessive Reduktion der Treibhausgase eine Begrenzung der Klimaerwärmung auf 1,5 Grad angestrebt wird.

Mit den UNO-Millenniumszielen und seit 2016 mit den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) wird die «Transformation unserer Welt» angestrebt. Auf die Umsetzung dieser Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung haben sich alle UNO-Länder verpflichtet. Nebst Zielen wie Frieden, Armutsbekämpfung und Bildung stehen auch die Beschäftigung, Industrialisierung und das Wirtschaftswachstum auf der Agenda.

Rückblickend zeigen sich in einer Zwischenbilanz die Fortschritte in Zahlen und Fakten. Die weltweite Armut konnte deutlich reduziert werden. 1990 lebte fast die Hälfte der Weltbevölkerung in extremer Armut, heute sind es weniger als 10 Prozent. Dazu ist die Kindersterblichkeit massiv zurückgegangen, der Zugang zur Schulbildung für alle Kinder wird immer besser, der Mittelstand ist stark gewachsen und die Lebenserwartung deutlich gestiegen.

Doch in der Post-Corona-Welt bleibt die Lage fragil. Neue geopolitische Mächteverhältnisse wirken wie tektonische Platten. Zu den politisch-seismischen Aktivitäten gehören neue Konflikte und Spannungen wie der Handelskonflikt zwischen den USA und China, der Brexit, die russische Besetzung der Krim, Kriege in Nahost, die autokratischen Verhältnisse in der Türkei, die Reaktionen auf militärische Putsche wie in Myanmar sowie die Zunahme von nationalistischen und populistischen Kräften – auch in den europäischen Demokratien.

Rüstungsausgaben stiegen trotz Abkommen über nukleare Abrüstung auf über 2 Billionen Franken, ein Niveau, das zuletzt während des Kalten Kriegs erreicht wurde. Gemäss Lagebericht des Nachrichtendienstes des Bundes sind Terrorismus, Cyberwar, Spionage und gewalttätiger Extremismus weiterhin ernst zu nehmende Gefahren. Mit steigender Nachfrage nach Rohstoffen und Energie zeichnen sich Ressourcenkonflikte, aber auch Hungersnöte ab. In diesen Kontext sind auch Grossprojekte wie die «Neue Seidenstrasse», die Gas-Pipeline Nord Stream 2 oder der Istanbul-Kanal einzuordnen. Nicht zuletzt hängt über den Finanzsystemen, mit den massiv gestiegenen Staatsschulden und erweiterten Geldmengen der Nationalbanken, ein Damoklesschwert.

Umso wichtiger ist das aktive und mutige Auftreten der Schweiz in der Aussenpolitik. Es ist die beste Versicherung für unser Land. Um für das latente «Erdbebenrisiko» vorbereitet zu sein, gilt es die noch vorhandenen Trümpfe zu spielen: Kooperation, Innovation und Goodwill.

Kooperation ist der wichtigste Pfeiler. Die Schweiz sollte sich weiterhin engagiert als international offene Partnerin an Verträgen, Vereinbarungen, Konventionen und gemeinsamen Abkommen aktiv beteiligen mit politischen, wirtschaftlichen und auch sozialen oder kulturellen Inhalten, sei dies in bi- oder multilateraler Form.

Auch wenn die Schweiz kein Gründungsstaat der Montanunion war: Die kontinentale Neuordnung kam auch ihr zugute, sie blieb bis zum heutigen Tag vom Krieg verschont, sie verharrt aber zunehmend in einer Beobachterrolle und lässt Gestaltungskraft vermissen. Die verlorene EWR-Abstimmung 1992 konnte dank bilateraler Verträge abgefedert werden. Der Zugang zum wichtigen EU-Binnenmarkt war damit immerhin sektoriell sichergestellt. Doch die Verträge, die gern als Brücken dargestellt werden, werden brüchig, und die grösseren und kleineren Risse können rasch zu einem Einbruch führen. Einzelne Verbindungen wie die Börsenäquivalenz, das Mobilitätsprogramm Erasmus oder die gegenseitige Anerkennung von Normen sind bereits eingestürzt oder stark gefährdet, die Arbeiten für die neu geplanten Brücken in Form einzelner Sektorabkommen wie im Strombereich sistiert.

Als selbst ernannte Insel in Europa kann sich die Schweiz keine weiteren Brückeneinstürze leisten, und bereits gekappte Übergänge müssen auf einem soliden Fundament neu gebaut werden. Das Rahmenabkommen hätte den eminent wichtigen EU-Binnenmarktzugang weiterhin sicherstellen sollen. Welche Lösung wir mit der EU finden werden, ist offen. Ebenfalls fraglich ist, ob wir ohne diese Rechtssicherheit und wegen des verspielten Vertrauens durch den einseitigen Verhandlungsabbruch des Bundesrats gegenüber der EU weiterhin in der Liga der globalisiertesten Länder der Welt verbleiben können.

Nebst dem EU-Binnenmarktzugang zählen auch starke Beziehungen mit Staaten auf der ganzen Welt. Durch diese kohärente und auf Kooperation ausgerichtete Aussenpolitik mit derzeit über 32 Freihandelsabkommen mit 42 Partnern können wir neue Märkte für unsere Wirtschaft erschliessen. Mit dem Freihandelsabkommen mit Indonesien ratifizierten wir zum ersten Mal ein Abkommen mit Nachhaltigkeitszielen, notabene mit einem Land, das bald gleich viele Einwohnerinnen und Einwohner wie die USA haben wird. Diesen Weg gilt es konsequent weiterzuverfolgen, mit Malaysia, Südamerika (Mercosur) und den USA. Davon profitiert letztlich die ganze Schweiz, insbesondere unsere innovativen KMUs, auch in Randregionen.

Erneut sieht sich die Schweiz unter Druck angesichts der Forderung der OECD nach einer globalen Firmen-Mindestbesteuerung, die von den G-7 bereits auf 15 Prozent festgelegt wurde. Diese hätte unmittelbaren Einfluss auf den interkantonalen Steuerwettbewerb und den Unternehmensstandort Schweiz. 2009 haben wir mit der Abschaffung des Ausland-Bankgeheimnisses hautnah miterlebt, wie schnell der weltweite Druck zu Praxisänderungen führt.

Innovativ bleiben wir nur mit Investitionen aus dem öffentlichen und privaten Sektor in den Rohstoff Bildung. Dabei gilt es die internationale Zusammenarbeit im Bildungsbereich und den Zugang zum europäischen Forschungsprogramm Horizon Europe zu sichern. Der starke Bildungs- und Forschungsstandort mit renommierten Hochschulen und Universitäten ist und bleibt ein gewichtiger Standortvorteil.

Goodwill schafft die Schweiz mit ihrer Neutralität und den verschiedenen Schutzmachtmandaten, aber auch als stolzer Sitzstaat des Völkerbunds und des europäischen Sitzes der UNO sowie von zahlreichen weiteren internationalen Organisationen wie der WTO, WHO und der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Und obwohl wir erst seit 2002 offizielles UNO-Mitglied sind, wagen wir 2023/24 die Kandidatur für den UNO-Sicherheitsrat. Auch damit stärken wir unsere Verhandlungsposition.

Kooperation, Innovation und Goodwill kommen aber nicht von allein. Sie benötigen eine mutige und weitsichtige Aussenpolitik und grosses Engagement. Die SGA leistet mit ihrer Arbeit einen kleinen, aber umso wichtigeren Beitrag dazu. Dies tut sie auch mit diesem Buch und Nachschlagewerk, das zu neuen Ansätzen und Lösungen in der Aussenpolitik anregen soll. Es steht in der Tradition des von der SGA 1975 und 1992 vorgelegten Handbuchs der schweizerischen Aussenpolitik. Ich danke allen, die zur Realisation dieses neuen Wegweisers beigetragen haben – und Ihnen allen, die sich an der Debatte über die schweizerische Aussenpolitik im 21. Jahrhundert beteiligen!

Über dieses Buch

Das vorliegende Buch versteht sich als Neuauflage des 1992 von Alois Riklin, Hans Haug und Raymond Probst ebenfalls im Auftrag der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik SGA herausgegebenen Neuen Handbuchs der schweizerischen Aussenpolitik. Es folgte auf ein bereits 1975 unter dem Patronat der SGA erschienenes Handbuch.

Auf den Begriff «Handbuch» wurde bewusst verzichtet (das Handbuch von 1992 war eine Sammlung von Fakten und Analysen in 57 Kapiteln). Stattdessen präsentiert das Buch in 12 Kapiteln Reflexionen zu aussenpolitischen Handlungsfeldern, welche die Herausgeberschaft und die sie beratende Begleitgruppe der SGA als besonders wichtig erachten. Die SGA setzte eine Begleitgruppe ein, die Kommentare und Anregungen zu den Kapiteln macht, die in die weitere Bearbeitung eingeflossen sind. Die hier publizierten Inhalte verantworten jedoch abschliessend die Autorinnen und Autoren sowie die Herausgeberschaft.

Die Autorinnen und Autoren der einzelnen Kapitel sind in den jeweiligen Themenbereichen wissenschaftlich tätig. Persönlichkeiten aus der Praxis haben einige Themen in Gesprächen mit den beiden Herausgeberinnen anhand konkreter Beispiele und gegenwärtiger Trends illustriert.

Das Buch ist Ausdruck einer offenen, parteipolitisch unabhängigen und konstruktiven Reflexion zu den wichtigsten aussenpolitischen Handlungsfeldern der Schweiz. Es ist nicht als «Weissbuch», «Blueprint» oder politisches Manifest zu verstehen. Es bietet damit eine hoffentlich sinnvolle Ergänzung zur Lektüre politischer Strategiedokumente zur Schweizer Aussenpolitik, die unter der Ägide der Bundesverwaltung und des Bundesrates erscheinen. Bisherige Beispiele sind etwa der Bericht der Arbeitsgruppe «Aussenpolitische Vision Schweiz 2028» von 2020 im Auftrag von Aussenminister Ignazio Cassis oder die Aussenpolitische Strategie 2020–2023 des Bundesrats.

Die Schweizerische Gesellschaft für Aussenpolitik dankt den beiden Herausgeberinnen Katja Gentinetta und Joëlle Kuntz und dem Herausgeber Thomas Bernauer für die umsichtige Konzeption und Realisation der Publikationsprojekts.

Ebenso dankt die SGA den Mitgliedern der von ihr eingesetzten Begleitgruppe unter der Leitung von Gret Haller, Ehrenpräsidentin der SGA. Weitere Mitglieder waren: Daniel Brühlmeier, Thomas Cottier, Patrick Dümmler, Astrid Epiney, Hans-Jürg Fehr, Gilles Grin, Lukas Hupfer, Andreas Kellerhals, Georg Kreis (in der Konzeptphase), Markus Mugglin, Felix Müller, François Nordmann, Emilia Pasquier, Chantal Tauxe, Christoph Wehrli. Sie bedankt sich ebenfalls bei ihrem Vizepräsidenten Rudolf Wyder, der aufseiten der SGA die Projektkoordination übernahm.

Besonders dankbar ist die SGA den Stiftungen, Fonds und Unternehmen, die durch ihre Beiträge die Erarbeitung und Publikation des Werks ermöglicht haben. Es sind dies die UBS Kulturstiftung, die Ernst Göhner Stiftung, die Ursula Wirz-Stiftung, die Kairos-Stiftung zur Förderung der Forschung der Beziehungen der Schweiz zum Ausland, der Lotteriefonds Kanton Bern, die Schweizerische Mobiliar Genossenschaft, Swiss Re sowie Nestlé.

Die Herausgeberschaft ihrerseits bedankt sich für wichtige Hinweise und Vorschläge bei der Erarbeitung des Konzepts für dieses Buch, insbesondere bei Franz von Däniken, Jakob Kellenberger, Andreas Wenger und Rudolf Wyder. Speziell bedankt sie sich bei Christoph Wehrli, der die Übersetzungen aus dem Französischen begutachtet und selbst Übersetzungen beigesteuert hat.

Ein grosser Dank gilt auch Nicolas Solenthaler, der geholfen hat, die Arbeitsabläufe effizient zu organisieren und das Buch kohärenter zu gestalten. Schliesslich dankt die Herausgeberschaft dem Verlag für dessen Sorgfalt bei Lektorat und Produktion.

Die Schweiz in der Welt des 21. Jahrhunderts: Ausgangslage und Fragestellungen

Thomas Bernauer, Katja Gentinetta, Joëlle Kuntz

Einmal mehr muss die Schweiz ihren Platz in einer sich tiefgreifend verändernden Welt suchen. Es ist eine Welt, die durch globale Wertschöpfungsketten, den weiten Verkehr von Waren, Personen und Kapital wie auch durch Umwälzungen in der Informationstechnologie globalisiert ist wie nie zuvor. Damit hat sich auch die Grundstruktur der internationalen Beziehungen gewandelt: War der Wettbewerb zwischen dem Westen und der Sowjetunion um die Vorherrschaft im 20. Jahrhundert primär politischer und militärischer Art, so ist er jetzt vielmehr wirtschaftlich und technologisch geprägt, und es stehen sich in erster Linie die Vereinigten Staaten und China gegenüber. Die Konfrontation zwischen diesen beiden Grossmächten strukturiert die weltweite Logik der Allianzen und der Kräfteverhältnisse immer mehr. Sie manifestiert sich in der wirtschaftlichen Konkurrenz, der diplomatischen Konkurrenz mitsamt ihrer militärischen Dimension und in der Systemkonkurrenz: dem Kampf zwischen unterschiedlichen politischen und kulturellen Werten.

Wachablösung bei den Grossmächten

Unter US-Präsident Donald Trump hat sich dieser Konflikt im wirtschaftlichen Bereich verschärft; unter Präsident Biden wird der chinesisch-amerikanische Wettbewerb auf der Ebene der Werte fortgesetzt. Die Vereinigten Staaten nehmen die Idee der «Gemeinschaft der Demokratien», die im Juni 2000 an der Konferenz von Warschau lanciert worden war, wieder auf und erklären die demokratischen Prinzipien zu ihrer Priorität, die es gegen die Bedrohung durch autoritäre Mächte zu verteidigen gelte. Sie sehen sich dazu legitimiert durch Pekings Repression gegen die Autonomie von Hongkong, die brutale Internierung von Uiguren in Xinjiang, die Bedrohung von Taiwan und die Desinformationen der chinesischen Regierung während der Covid-19-Pandemie.

Das chinesische Regime seinerseits forciert den Primat seiner nationalen Tradition und scheut in seiner Propaganda gegen die fremden liberalen Werte keinen Aufwand. Nur wirtschaftlich verfolgt China eine Internationalisierungsstrategie mit dem Ziel, im Jahr 2049, der Hundertjahrfeier der Gründung der Volksrepublik, zu den Industrieländern des Westens aufgeschlossen zu haben. Gleichsam als Etappe auf diesem Weg läuft das Wirtschafts- und Technologieprogramm «Made in China 2025». Mit beträchtlichen Währungsreserven versehen, präsentieren sich die staatlichen oder staatlich gesteuerten Unternehmen einem grossen Teil der Welt als wirtschaftliche Partner erster Wahl. Dabei dienen die Direktinvestitionen in den Industrienationen, auch der Schweiz, als Wachstumsmotoren und Innovationstreiber; die Finanzierung oder der Erwerb von Infrastrukturen für Schifffahrt und Bahn im Rahmen der «neuen Seidenstrasse» erweitern Zugänge zu Märkten; und sie geben Gelegenheit, auf die überschuldeten Staaten Druck auszuüben.

Ob sich die Demokratien von den USA gegen einen geoökonomischen Akteur der Dimension Chinas einspannen lassen, ist offen. Dessen Machtzuwachs und die amerikanische Gegenoffensive machen es Europa – und auch der Schweiz – jedenfalls nicht einfacher, die heikle Balance zwischen Interessen und Werten zu wahren, besonders wenn es um die Beachtung der Menschenrechte geht. Damit ist auch unklar, wie sich die transatlantischen Beziehungen entwickeln werden, wenn die USA und Europa über den Umgang mit China unterschiedlicher Meinung sind. Bei seinem ersten Besuch in Brüssel im April 2021 bemühte sich der amerikanische Staatssekretär Antony Blinken darum zu versichern, dass Washington keinerlei Blockbildung erzwingen werde. Vielmehr lud er die Führungen der EU und der NATO dazu ein, seine Vision der Beziehungen mit Peking zu teilen: «Konkurrenz, wenn der Regelfall herrscht, Kooperation, wenn es möglich ist, Feindseligkeit, wenn es notwendig ist.» – ein Spektrum von Situationen, offen für alle Nuancen der Interpretation. So hatte sich die EU im Frühjahr 2021 den USA angeschlossen und ebenfalls Sanktionen gegen die Verantwortlichen der Unterdrückung in Xinjiang verhängt. Wie wird sich die Schweiz verhalten? Wird sie interne Massnahmen ergreifen – wie etwa anlässlich der europäisch-amerikanischen Sanktionen gegen russische Persönlichkeiten –, um niemanden zu vergraulen?

In dieser Systemkonkurrenz spielt die Eidgenossenschaft ihren Solopart, auch wenn sie durch ihr geopolitisches und ideologisches Umfeld starken Zwängen ausgesetzt ist. Ihre «China-Strategie 2021–2024» stellt die wirtschaftliche Zusammenarbeit formell in den Rahmen der «Grundwerte, wie sie in der Bundesverfassung stehen». Was aber, wenn die genannten Werte in China auf taube Ohren stossen? Wie will die Schweiz, wie es die Strategie bekräftigt, «eine eigenständige Politik verfolgen», ohne Gefahr zu laufen, sich von der EU oder den USA zu entfremden? Diese Partner sind wirtschaftlich und politisch ungleich grösserer Bedeutung.

Die gleiche Frage lässt sich mit Blick auf die Beziehungen zu Russland stellen, auch wenn sie nach den Erfahrungen des Kalten Kriegs weniger neu ist. Trotz seiner Grösse verfügt Russland nach wie vor über eine ungenügende Wirtschaftskraft, um im Ringen um die globale Vorherrschaft ins Gewicht zu fallen. Seine Industrieproduktion ist nicht auf den Export und internationalen Massenkonsum ausgerichtet. Nur die Rohstoffe – Gas, Öl und Kohle – verschaffen ihm noch die Möglichkeit, Einfluss auf das Verhalten bestimmter Länder in Europa und der übrigen Welt zu nehmen. Die Konkurrenz durch saubere Energien wird aber auch dieses Druckmittel schwächen. Hingegen erlauben es ihm seine geheimdienstlichen Aktivitäten, sich als ernst zu nehmender politischer Akteur zu positionieren und seine Rivalität gegenüber dem Westen zur Schau zu tragen.

Russlands militärische Interventionen im Nahen Osten zur Unterstützung der syrischen Diktatur wie auch seine Destabilisierungsversuche durch Cyberoperationen in Europa und den USA untermauern die Strategie, den Gegensatz der Werte aufrechtzuerhalten, ja zu verstärken. In territorialer Hinsicht gibt sich Russland einen Blankoscheck, um sich in seiner selbst definierten Einflusszone, die vom Baltikum über das Schwarze Meer bis zum Mittelmeer reicht, in Vormacht zu bringen. Als eine der fünf offiziellen Atommächte schwächt es den Sicherheitsrat zusätzlich und bringt die UNO sowie das Völkerrecht ins Wanken.

Werden die Demokratien Russland die Stirn bieten? Und wie wird sich die Schweiz verhalten? Ob sie ihre in der Vergangenheit stets anerkannte vermittelnde Rolle, die sie als Mitglied der beiden europäischen Institutionen OSZE und Europarat einnahm, wieder aufnehmen kann, wenn die Spannungen in offene Kriegshandlungen münden, ist unklar. Die Schweiz hat sich in beiden Organisationen stark engagiert und ihr Vermittlungstalent zum Tragen gebracht. Angesichts der neuen Machtverhältnisse sind die Organisationen jedoch selbst geschwächt.

Die Europäische Union ist zwar drittgrösste Handelsmacht der Welt; 20 Millionen Unternehmen haben einen hindernisfreien Zugang zu einem Markt von 450 Millionen Konsumenten. Dennoch hat sie sich nicht zu einer strategischen Gemeinschaft entwickelt, die eine ihrer Grösse entsprechende politische Macht zur Geltung bringen könnte. Sie wird nach wie vor von ihren Mitgliedern und deren unterschiedlichen Zielen und Kulturen bestimmt. 2020 musste sie gar den Austritt des Vereinigten Königreichs hinnehmen. Bis heute gelingt es ihr nicht, eine gemeinsame Sicht auf die Welt einzunehmen und sich als einen ernst zu nehmenden politischen Akteur in Position zu bringen. Ihre inneren Konflikte zwischen dem Norden und dem Süden, dem Westen und dem Osten lähmen ihre Aussenpolitik. Der Preis für ihren Erfolg als Friedensprojekt ist ihre geopolitische Uneinigkeit.

Die Ziele und Stärken der EU liegen anderswo. Sie wächst mit jeder Krise mehr zusammen, indem sie Institutionen schafft, die bei der Krisenbewältigung helfen. Sie entwickelt ein mächtiges Normensystem, das Schule macht: Die meisten Wirtschaftssektoren, die am europäischen Binnenmarkt teilnehmen möchten, müssen zwingende Normen und Richtlinien befolgen, die unter den Mitgliedstaaten gebührend und lange ausgehandelt worden sind. Die europäische Regulierung (von Medizin, Finanzen, Technik, Gesundheit, Recht usw.) verleiht der Union die Macht – und die Reputation –, die ihrer Diplomatie und ihrer Verteidigung fehlen. Die EU ist somit, was ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart angeht, als Staatenverbund solide. Was ihre Zukunft betrifft, ist sie hingegen unsicher, da ihr gemeinsames Projekt ständiger Gegenstand interner Verhandlungen ist.

Neue Herausforderungen, reformbedürftige Institutionen

Eine weitere grosse Veränderung im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts ist das wachsende Bewusstsein für die Verletzlichkeit des Planeten Erde, für die Rolle der Menschheit bei dessen Schutz und für die dazu unerlässliche Zusammenarbeit der Nationen. Das Auftauchen eines tödlichen Virus mitten in der wirtschaftlichen Euphorie ist nur ein Beweis dafür, dass sich neue Handlungsweisen aufdrängen. Fünfzig Jahre nach der UNESCO-Konvention über den Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt (1972) bildet noch immer die UNO den Rahmen, innerhalb dessen die Regeln für die grossen Themen des Zusammenlebens – die Gesundheit, das Klima, die Entwicklung, die Menschenrechte, der Handel, das geistige Eigentum – verhandelt werden. Die 17 Nachhaltigkeitsziele der UNO (SDGs), 2015 von der Gesamtheit der Staaten beschlossen, bilden den Nukleus einer Weltagenda für das nächste Jahrzehnt. Sie sind die Leitplanken für staatliches Handeln. Die Resultate ihrer Anstrengungen werden nach einheitlichem Massstab miteinander verglichen und kommentiert. Sie dienen aber auch als Orientierung für die Gesellschaft als Ganzes, für die Unternehmen und ihre Investoren, deren Reputation immer mehr von der Beachtung der Prinzipien der Nachhaltigkeit abhängt.

Auch die Stärke der UNO hängt von ihren Mitgliedern ab. Das System ist in finanzieller Hinsicht prekär, in seiner Autorität unsicher und in seiner Ordnung schwach, da sämtliche Anstrengungen jederzeit von gegensätzlichen Auffassungen durchkreuzt werden können. In ihrer Hauptaufgabe, der Bewahrung des Friedens, fehlt der UNO gleichsam der Atem. Der Sicherheitsrat ist gelähmt. Der Menschenrechtsrat ist unwirksam und manchmal hoch irritierend, dennoch ist er der Ort, wo Menschenrechtsdivergenzen offen diskutiert werden. Die Normen, die aus der ideologischen Konfrontation der Staatenvertreter in den Spezialorganisationen resultieren, sind nicht mehr als der kleinste gemeinsame Nenner einer Welt, wie sie ist. Dennoch kann sich die UNO als universell bezeichnen. Ihre Stärke liegt, wenn es denn eine ist, im Anspruch, dass sie die Welt verbessern kann. Die Covid-19-Krise hat es gezeigt: Die Weltgesundheitsorganisation WHO wurde von Donald Trump im Stich gelassen und von China schikaniert. Dennoch diskutiert sie, mit der ihr typischen Vorsicht, über eine Reform, mit der die institutionellen Hürden überwunden werden sollen, die ihre Wirkungskraft im Kampf gegen die Pandemie eingeschränkt haben.

Wie steht es um die Welthandelsorganisation WTO? Geschaffen im Nachgang der wirtschaftlichen Öffnungen Russlands und Chinas und dem damit einhergehenden Optimismus, sollte sie in einer multipolaren Welt eine geregelte und damit gerechtere Wohlstandsvermehrung für alle Volkswirtschaften ermöglichen. Sie hat dies so erfolgreich getan, dass sich das Verhältnis zwischen Gewinnern und Verlierern auf Kosten der Gründerstaaten mittlerweile umgekehrt hat. Mit seinem militanten Nationalismus hat der verärgerte Donald Trump diesem Treiben ein Ende gesetzt. Um zu einem neuen Gleichgewicht zu gelangen, braucht die WTO neue Regeln. Die Schweiz versucht, zu diesem «reformierten Multilateralismus», wie sie es nennt, einen Beitrag zu leisten. Ob die WTO fähig ist, Länder wie China, das seinerseits versucht, der Organisation seine Funktionsweise aufzudrücken, zu integrieren, ist offen. Sein Eindringen jedenfalls ist dem westlichen Universalismus entgegengesetzt.

Die Eidgenossenschaft bekennt sich zu den Prinzipien der weltweiten Kooperation und zum internationalen Recht als Schranke gegen die blosse Macht. Es liegt ihr viel daran, dass die UNO mit ihren Spezialagenturen auf der Höhe der heutigen Herausforderungen agiert. Genf ist für sie ein wichtiges Handlungsfeld, besonders in der Umweltpolitik, denn die Stadt ist Sitz der Intergouvernementalen Expertengruppe für Klimawandel (IPCC), die von der Weltorganisation für Meteorologie und vom UNO-Umweltprogramm 1988 gebildet worden ist. Generell bedacht, die Potenziale des internationalen Genf zu entwickeln, unterstützt der Bund etwa 15 Denk-, Diskussions- und Koordinationsplattformen in den verschiedensten Bereichen, in denen Fachkenntnisse vor Ort versammelt sind. Welche Folgen die Covid-19-Pandemie mit ihrer drastischen Reduktion von Konferenzen, Reisen und Büroarbeit für das Leben dieses internationalen Zentrums hat, kann heute noch nicht abgeschätzt werden. Die kurzfristigen finanziellen Gewinne mögen für die Organisation erfreulich sein; für das internationale Netzwerken in Genf aber ist diese Entwicklung beunruhigend.

Übers Ganze gesehen, muss die Schweiz in einem dynamischen geopolitischen Kontext und einer durch Klimaveränderungen durcheinandergewirbelten Umwelt ihre Stellung behaupten, ihre Abhängigkeiten annehmen und den Raum ihrer Souveränität verteidigen. Die Neutralität war in einer prioritären Aussenhandelspolitik ein wichtiges Instrument. Es gibt keine Garantie dafür, dass sie diese Schutzfunktion noch erfüllen kann, wenn die internationale Zusammenarbeit durch Multilateralismus und Allianzen geprägt ist, wenn Machtdemonstrationen auf Wertekonkurrenz beruhen und wenn zwischenstaatliche Konflikte in Bürgerkriege, terroristische Akte oder staatliche Gewalt umschlagen.

Die Europäische Union als grösste Herausforderung für die Schweiz

Unter all den Fragen, die Gegenstand dieser Publikation sind, dominiert eine alle anderen: die Beziehung zur Europäischen Union. Das Buch erscheint wenige Monate nach dem Entscheid des Bundesrats vom 26. Mai 2021, die Verhandlungen über ein Institutionelles Abkommen mit der EU abzubrechen. Nach fast 20 Jahren Diskussion und Verhandlung haben die EU und die Schweiz keinen Weg gefunden, ihre Beziehung auf eine stabile und dauerhafte Basis zu stellen, die weiter reicht als die sektoriellen bilateralen Verträge, die nach dem Urteil der EU keine Zukunft besitzen. Ohne rechtliches Gerüst für ihre Weiterentwicklung und Erneuerung drohen diese zu verkümmern und letztlich jegliche Substanz zu verlieren, sodass die Schweiz ohne festen wirtschaftlichen und politischen Partner dastünde: als «Drittstaat» inmitten Europas.

Im Zentrum des Disputs: die Souveränität, ein Begriff, der allen Ländern der Welt teuer ist, dessen Wert sie indes in einer Kosten-Nutzen-Rechnung kühl abwägen und je nach ihrer Grösse und ihrem Gewicht modulieren. In der Schweiz hat die Diskussion vor 30 Jahren, als sich die Frage des Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum stellte, eine entscheidende Wende genommen. Der damalige Bundesrat beschrieb das Dilemma mit der Frage, die bis heute nicht an Gültigkeit eingebüsst hat: Ist die Schweiz souveräner als Mitglied einer europäischen Verbindung, deren Politik sie mit vollen Rechten mitgestalten könnte – oder im Gegenteil als unabhängiger Staat, der aber für den Zugang zum grossen Markt den von anderen gestellten Bedingungen unterworfen ist? Ist der sogenannte autonome Nachvollzug von Regeln der anderen ein Zeichen von Souveränität oder vielmehr eines von Abhängigkeit?

Diese Fragen wurden wieder und wieder debattiert – und anschliessend überdeckt vom vorübergehenden Erfolg des sektoriellen bilateralen Wegs. Er war für die Schweiz so vorteilhaft, dass sie es versäumte, sich dessen mögliches Ende überhaupt nur vorzustellen. Von dem Moment an, als der Bundesrat unter dem Druck der Europagegner jegliche Perspektive eines Beitritts aufgab, war auch für die Europäische Union klar, dass der Bilateralismus kein Übergangsregime mehr war. Sie konnte der Schweiz folglich keine Ausnahmen mehr zugestehen, in deren Genuss nicht auch ihre Mitgliedstaaten kämen.

Das Institutionelle Rahmenabkommen, das das Gleichgewicht zwischen den wirtschaftlichen Bedürfnissen der Schweiz und den Gleichbehandlungsbedürfnissen der EU wiederherstellen sollte, wurde in der Schweiz als nicht hinnehmbarer Souveränitätsverlust wahrgenommen – allerdings einer überhöhten Souveränität, die sich um jegliches politische und moralische Engagement gegenüber jenen, auf deren Werk ihr Wohlstand ebenfalls beruht, foutiert; einer Souveränität, die den Einfluss der Macht auf das internationale Recht zu ignorieren scheint; und einer Souveränität, die die realen Opfer der Schwächsten ignoriert.

Das Scheitern des Institutionellen Abkommens wird Gewinner und Verlierer hervorbringen – bezüglich Beschäftigung, Wettbewerbsfähigkeit, Bildung, Forschung und nicht zuletzt der schweizerischen Diplomatie, deren Ruf als verlässliche Partnerin gelitten haben dürfte. Erst die spürbaren Folgen werden zeigen, was die von den Abkommensgegnern verteidigte Souveränität wirklich bedeutet – sowohl innerhalb als auch ausserhalb der Schweiz. Die EU dürfte nicht bereit sein, die Gespräche mit einem Partner, den sie als unberechenbar erfahren hat, wieder aufzunehmen, ohne sich zuvor entsprechend abzusichern.

In ihrer Geschichte hat sich die Schweiz Allianzen fast immer widersetzt. Ob sie dies auch weiterhin wird tun können, wird sich weisen. Ihre Neutralität stammt aus Zeiten, die von Konflikten in der Nachbarschaft geprägt waren. Heute ist sie von der Europäischen Union umgeben, die sich den Frieden zur Aufgabe gemacht hat.

Überblick über die Kapitel

Die einzelnen Kapitel dieses Buches zeigen, welche Bedingungen dieses 21. Jahrhundert der Schweiz auferlegt und sie zu Veränderungen in ihrer Aussenpolitik zwingt. Im Folgenden ein Überblick dazu.

In Kapitel 1 betrachtet Sacha Zala die Ziele und Zwecke der schweizerischen Aussenpolitik, wie sie in der Bundesverfassung und anderen Dokumenten sowie der Praxis erscheinen. Er zeigt auf, wie sich die Schweizer Aussenpolitik seit 1848 zwischen den Polen Souveränität, Neutralität und Aussenhandel sowie dem später wichtiger werdenden humanitären Engagement bewegte. Dabei stellte die Aussenhandelspolitik eine Konstante dar; Souveränität und Neutralität wurden je nach innenpolitischer Verfassung und Weltlage unterschiedlich gewichtet und interpretiert. Während unmittelbar nach der Gründung des Bundesstaats die Souveränität im Zentrum stand, entwickelte sich in der Folge der beiden Weltkriege und insbesondere beim Beitritt zum Völkerbund die Neutralität zur prägenden aussenpolitischen Doktrin – eine Stellung, die sie bis heute einnimmt. Im Windschatten dieses Diskurses pflegte die Schweiz eine aktive Aussenpolitik, die auf Nischen ausgerichtet war, namentlich den technischen und humanitären Internationalismus. Ausserdem verstand es die Schweiz, ihre machtpolitisch schwache Stellung durch ein ausgeprägtes Engagement für ein funktionierendes Völkerrecht zu kompensieren, sich früh als Standort für multilaterale Organisationen zu positionieren und ihre Neutralität über die Guten Dienste auch für andere nutzbar zu machen. Der Autor hält fest, dass das in breiten Kreisen der Bevölkerung und Politik verabsolutierte Neutralitätsverständnis bis heute anhält und für das Schwanken zwischen multilateralem Engagement und Abschottung verantwortlich ist. Dies hat die Partizipation an internationalen Entwicklungen erschwert.

In Kapitel 2 analysiert Pascal Sciarini Akteure und Prozesse der schweizerischen Aussenpolitik. Er hält einleitend fest, dass die Zuständigkeit des Bundes für die auswärtigen Angelegenheiten im dezentralen Bundesstaat eine Ausnahme darstellt. Zwar darf sich der Bund nicht über die Kantone hinwegsetzen; die Verfassung sieht die Mitwirkung verschiedener Akteure an der Festlegung der Aussenpolitik ausdrücklich vor. Dies sowie spätere institutionelle Reformen, mit denen die Stellung der Kantone und des Parlaments in der Aussenpolitik gestärkt wurde, änderten an der Dominanz des Bundesrats jedoch wenig. Der Autor zeigt auf, wie die Schweizer Aussenpolitik und Aussenwirtschaftspolitik, die lange in den Händen einer kleinen Elite lag, von immer mehr Akteuren geprägt wird. Eine besondere Dynamik entwickelte die mit der wirtschaftlichen Globalisierung einhergehende zunehmende Durchdringung von Aussen- und Innenpolitik. In praktisch allen Departementen bildeten sich mit Aussenpolitik befasste Ämter; vorparlamentarische Konsultationen wurden informeller und selektiver; und zivilgesellschaftliche Akteure wie NGOs und andere öffentliche Interessengruppen brachten sich zunehmend in die Aussenpolitik ein. Schliesslich wurde die Mitbestimmung durch das Volk in mehreren Verfassungsrevisionen ausgebaut, was zu einer deutlichen Zunahme von Abstimmungen mit aussenpolitischen Themen führte. Ein sinnvolles Gleichgewicht zwischen Wahrung der Interessen der Schweiz in ihren Aussenbeziehungen und den innen- und aussenpolitischen Restriktionen ist, so hält der Autor abschliessend fest, immer schwieriger zu finden.

In Kapitel 3 beleuchtet Cédric Dupont das Verhältnis der Schweiz zu den Vereinten Nationen sowie die Bedeutung des «internationalen Genf» für die Aussenpolitik der Schweiz. Er stellt dar, wie sich nach der Mitgliedschaft der Schweiz im Völkerbund die nachfolgende Beteiligung an der UNO durch ein starkes und konstantes Spannungsverhältnis zwischen Neutralität und internationaler Solidarität auszeichnet. Die Schweiz konzentrierte sich lange Jahre auf eine «technische» Solidarität, bis sie 2002 im zweiten Anlauf der UNO beitrat. Ihr anschliessendes Engagement für die Reform des Menschenrechtsrats zeigte die Möglichkeiten der Schweiz, aber auch ihre Grenzen auf. Die Abhängigkeit von der europäischen und der amerikanischen Position wurde in diesem Prozess eher bestätigt denn überwunden. Auch jüngere Geschäfte wie die Kandidatur für einen nicht ständigen Sitz im Sicherheitsrat oder der UNO-Migrationspakt stellt der Autor in den Kontext des Spannungsfelds zwischen internationalem Engagement und nationaler Eigenständigkeit. Dass sich Genf früh als Sitz für internationale Organisationen positionieren konnte, jüngst jedoch ein paar Rückschläge verzeichnete, führt der Autor zwar auf die zunehmende Konkurrenz, aber auch die letztlich machtpolitisch schwache Position der Schweiz zurück. Dennoch sieht er im internationalen Genf eine unabdingbare Plattform für den für die Schweizer Aussenpolitik bedeutsamen Multilateralismus.

Kapitel 4 befasst sich mit dem Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union. Es ist das wichtigste Handlungs- und auch Problemfeld der Schweizer Aussenpolitik, da es das Verhältnis der Schweiz zu ihren unmittelbaren Nachbarn regelt. Verschiedene Möglichkeiten werden seit Langem diskutiert und immer wieder gegeneinander abgewogen: eine reine Freihandelsbeziehung, entlang dem Abkommen von 1972; eine wirtschaftspolitische Allianz, analog dem 1992 abgelehnten EWR-Vertrag; ein sektorieller Marktzugang mit den Bilateralen I und II, einschliesslich einer Aussicht auf einen Beitritt; und zuletzt ein institutionelles Rahmenabkommen zur Bewahrung und Stabilisierung des Bilateralismus. Ein EU-Beitritt stand kaum je ernsthaft zur Debatte. Keine dieser Varianten vermochte bisher eine dauerhafte Akzeptanz zu finden. Die Zukunft der Beziehungen zur EU ist offen. Das Thema wird der Schweiz indes erhalten bleiben, denn die EU hat gezeigt, dass sie ihre Integration trotz wiederholter Krisen fortzusetzen gewillt ist. Die Frage dieser so bewegten wie unsicheren, aber letztlich unentbehrlichen Beziehung der Schweiz zur EU wird in diesem Kapitel aus vier Perspektiven betrachtet.

Anhand der Chronologie des Rahmenabkommens, des aktuell jüngsten Versuchs einer gemeinsamen institutionellen Grundlage, zeigt Joëlle Kuntz, wie umständlich und zögerlich die Beziehungen zur EU seitens der Schweiz gestaltet werden. 2002 als Vorschlag von der Schweiz lanciert, wurde das Rahmenabkommen Ende Mai 2021, nach jahrelangen Gesprächen, Auseinandersetzungen und Verhandlungen, vom Bundesrat als nicht zufriedenstellend bezeichnet; die Verhandlungen wurden einseitig abgebrochen.

Fabio Wasserfallen geht der Frage nach, weshalb dieses Rahmenabkommen, das von der Schweiz ins Spiel gebracht wurde, einer derart starken Kritik ausgesetzt war. Er führt dafür vier Gründe auf: die mangelnde Einigkeit seitens des Bundesrats, die schwindende Kohäsionskraft der wirtschaftlichen Interessen, das mangelnde Verständnis der Schweiz für die Veränderungen der EU sowie schliesslich das Versäumnis, das Abkommen auch in Gegenüberstellung zu real existierenden Alternativen zu diskutieren. Der Schweiz fehle es schlicht an der Einsicht, dass der bilaterale Weg in der aktuellen Form am Ende ist: Die Verträge drohen zu erodieren.

Heike Scholten zeichnet im Gespräch mit Katja Gentinetta die Entwicklung des Europa-Diskurses in der Schweizer Bevölkerung nach. Sie zeigt, was die Begriffe und Bilder, die von den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern im Zusammenhang mit dem Verhältnis Schweiz – EU gebraucht wurden und werden, über die Einschätzung dieser Beziehung aussagen. Standen sich ursprünglich die «Unabhängigkeit» der Schweiz und die «Realität» der EU gegenüber, ist jüngst eher von «Lösungsorientierung» und «Gemeinschaft» die Rede – Begriffsfelder, die das Potenzial haben, die Europadebatte weiter zu öffnen, als dies die Politik derzeit zu denken wagt.

Matthias Oesch führt die Überlegungen an diesem Punkt weiter. Er stellt das Verhältnis Schweiz–EU in einen grösseren politischen und auch zeitlichen Rahmen. Er macht auf das zentrale Dilemma aufmerksam, dass der von der Schweiz gewählte bilaterale Weg zwar bisher funktioniert hat und innenpolitisch gestützt wird, aber von der EU seit mehreren Jahren nicht mehr als zukunftsfähiges Modell angesehen wird. Neben der aus demokratiepolitischer Sicht fragwürdigen «autonomen» Übernahme von EU-Recht ortet er ein wesentliches Problem darin, dass sich die Schweiz durch den Rückzug ihres Beitrittsgesuchs selbst zum «normalen» Drittstaat erklärt hat, jedoch weiterhin auf Sonderlösungen pocht. Nach Oesch wird die Schweiz mittelfristig nicht darum herumkommen, ihr Verhältnis zur EU grundsätzlicher zu klären und die Option des EU-Beitritts ins Auge zu fassen.

In Kapitel 5 analysiert Charlotte Sieber-Gasser die Schweizer Aussenpolitik im Bereich Aussenhandel und Investitionen. Sie stellt fest, dass sich die Struktur des Aussenhandels der Schweiz grundlegend verändert hat. Aussenhandelspolitik verschmilzt zunehmend mit der Innenpolitik und ist gleichzeitig zunehmend geprägt von der Politik globaler Wirtschaftsmächte. Die bestehenden Abkommen der Schweiz gewährleisten daher den Rechtsschutz für den notwendigen Marktzugang nur noch teilweise. Die Interessenwahrung ist damit erschwert. Im Wesentlichen sieht die Autorin drei mögliche Szenarien: das Festhalten an den bisherigen Leitprinzipien – pragmatische Integration, Vermeidung supranationaler Elemente, Agrarprotektionismus –, was jedoch längerfristig zu einer Marginalisierung der Schweizer Exportindustrie und der Abwanderung multinationaler Konzerne führt. Über ein Andocken an bestehende Handelspartnerschaften und den Abschluss neuer, substanzieller Abkommen könnte sich die Schweiz besser vor geopolitischen Unsicherheiten schützen. Mit einer Vertiefung der Rechtsbeziehungen der Schweiz zur EU – auch einem Beitritt – wären aus rein aussenhandelspolitischer Perspektive substanzielle Vorteile verbunden. Die Autorin plädiert deshalb für einen demokratischen Grundsatzentscheid über die Leitprinzipien der Aussenhandels- und Investitionspolitik der Schweiz, der richtungsweisend ist für die zukünftige Ausrichtung entlang einem der drei skizzierten Szenarien.

In Kapitel 6 befassen sich Aymo Brunetti und Cédric Tille mit der Schweizer Aussenpolitik im Bereich Finanzmärkte und Geldpolitik.