Eine Frage der Schuld - Sofja Tolstaja - E-Book
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Sofja Tolstaja

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Beschreibung

Bewegende Geschichte einer jungen Frau in einer tragisch scheiternden Ehe

Wessen Schuld ist es, wenn aus Liebe Lieblosigkeit wird, aus Leidenschaft Wahn, aus Begehren Überdruß? – Sofja Tolstajas Roman zeichnet das differenzierte Porträt eines mehr und mehr sich entfremdenden Paares. Mit diesem überraschenden Fund, hier in deutscher Erstübersetzung, tritt die Autorin aus dem Schatten ihres weltberühmten Ehemannes.

Daß hochbegabte Frauen im Schatten hochbegabter Männer stehen, ist nichts Außergewöhnliches. Dem Angebeteten zuliebe leisten sie Verzicht, werden im besten Fall zu Musen, im schlechtesten zu Haushälterin nen. Dies ist auch das persönliche Schicksal der Sofja Tolstaja (1844–1919), nachzulesen in ihrer «Kleinen Autobiographie». Über Jahrzehnte hinweg war sie ihrem Mann, dem berühmten Tolstoi, treue Gefährtin, verstän dige Erstleserin und Kritikerin seiner Werke, Schreibkraft, «Ehefrau im althergebrachten Sinne» (nach Tolstois eigenem Bekunden) und nicht zuletzt Mutter von dreizehn gemein sa men Kindern. Niemand konnte ahnen, daß sich hinter der Frau an Tolstois Seite eine exzellente Schriftstellerin verbarg, hatte sie doch ihre erste Erzählung vor der Hochzeit verbrannt. Fünfund siebzig Jahre nach Tolstajas Tod aber machte man in ihrem Nachlaß einen Sen sations fund.
«Eine Frage der Schuld» handelt von der fatalen Entfrem dung zwischen Eheleu ten. Mit psychologi scher und sti listi scher Finesse schildert die Autorin, wie bohrende Eifersucht erst das Vertrauen zerstört und dann die beidseitige Achtung. Im Gegensatz zur frauen- und lust feindlichen «Kreutzersonate» Tolstois, als dessen Gegenstück Tolstajas kleiner feiner Roman angelegt ist, erfahren hier beide Seiten Gerechtigkeit. Mit «Eine Frage der Schuld» ist eine Auto rin zu entdecken, die fortan einen eige nen Rang und Namen in der Welt literatur beanspruchen kann.


• Eine kleine Sensation: Tolstajas Roman zum ersten Mal auf Deutsch!
• Replik der Ehefrau Tolstois auf dessen skandalöse „Kreutzersonate“: Überraschend anderer Blickwinkel auf das Werk des großen Dichters.

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Seitenzahl: 269

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Inhaltsverzeichnis
 
MANESSE BIBLIOTHEK DER WELTLITERATUR
 
ERSTER TEIL
I
II
III
 
Copyright
MANESSE BIBLIOTHEK DER WELTLITERATUR
ERSTER TEIL

I

Es war ein wundervoller, klarer, jubilierender Tag. Ein wahres Fest sommerlicher Blütezeit. Wie schön und heiter waren der lichte blaue Himmel, die heißen Sonnenstrahlen, die in den üppigen Bäumen und blühenden Büschen zahlreich lärmenden Vögel! Und wie herrlich spiegelte in der Ferne ein tiefer blauer See den Himmel und die farbenfrohe, saftige, reiche Flora seiner Ufer.
Einen genauso festlichen, blühenden und heiteren Anblick boten die beiden Mädchen, die den Weg vom See zu dem großen weißen Steinhaus entlangliefen - barfuß, die Schuhe in den Händen, die nassen Handtücher über die Schultern geworfen, die Haare aufgelöst. Das Barfußlaufen nicht gewohnt, traten die ungebräunten kleinen Füße zaghaft und leicht, von der Berührung wie erschauernd, auf das taufeuchte Gras, und die Mädchen lachten laut.
«Nicht, daß uns noch jemand sieht», sagte die eine.
«Na und, muß uns das peinlich sein?»fragte die andere mit erstaunt geweiteten Augen.«Die Bauersfrauen laufen doch alle barfuß.»
«Das stachelt aber, tut richtig weh.»
«Ist doch nicht schlimm, du mußt so laufen, leichtfüßig!»
Das schwarzäugige zierliche Mädchen rannte so schnell los, daß es völlig außer Atem, rot und erregt auf der Terrasse des Hauses ankam; um sich blickend, besann es sich plötzlich und blieb, schrecklich verlegen, wie angewurzelt stehen.
«Was hast du, Anna?»fragte die Mutter streng und verwundert und betrachtete ihre verwirrte Tochter vom Kopf bis zu den Füßen.
«Natascha und ich haben gebadet, und… und... wir haben ausprobiert, wie es sich barfuß läuft. Wir wußten nicht...», sagte Anna und suchte dabei ihre Füße zu verstecken.
Sie warf einen schrägen Blick auf die ihr hingestreckte Hand, dann sah sie dem Besucher, der sich vom Teetisch erhoben hatte, in die Augen und reichte ihm mit einem schuldbewußten Lächeln die ihrige.«Ich wußte nicht, daß Sie hier sind. Guten Tag, Fürst... Ich bin gleich wieder da.»
Und schon war das Mädchen weg. Ohne innezuhalten, huschte auch das andere vorbei.
Der Mann, der Anna die Hand hingestreckt hatte, war ein alter Bekannter ihrer Mutter, der etwa fünfunddreißigjährige Fürst Prosorski, der auf der Durchfahrt von seinem abgelegenen Gut hin und wieder bei den Ilmenews vorbeikam. Er kannte die Kinder von klein auf, mochte die schlichte, fröhliche Lebensart des ganzen Hauses und hatte sich bereits des öfteren am Anblick der heranwachsenden Mädchen erfreut.
Als Anna und Natascha nacheinander ins Haus geschlüpft waren, lächelte er noch lange froh. Eine ganze Weile schon hatte er bei den Ilmenews keinen Besuch mehr gemacht, und wie es oft zu sein pflegt, in den Jahren, die er im Ausland verbracht hatte, war mit den Mädchen etwas vor sich gegangen. Sie hatten aufgehört, Mädchen zu sein, und waren unversehens ins Frauenalter eingetreten.
Der Fürst fühlte das dunkel, ohne sich über irgend etwas Rechenschaft abzulegen, und wieder ging ihm das Bild der schlanken bloßen Beine, der dunklen aufgelösten Haare auf Annas zurückgeworfenem Kopf und ihre geschmeidige Gestalt unter dem weiten weißen Morgenkleid durch den Sinn.
«Mein Gott, wie schön ist es hier!»sagte er, die Augen auf die Tür geheftet, hinter der die Mädchen verschwunden waren, und spürte in sich einen jugendlichen, belebenden geistigen Aufschwung.«Wie froh, wie heiter! Ach, die Jugend! »fügte er seufzend hinzu.«Dahingegangen ist unsere Jugend, Olga Pawlowna, aber sich an ihr zu ergötzen ist keinem benommen.»
«Nun, würde die Jugend ewig währen, dann wüßte man sie nicht zu schätzen... Meinen Sie, die Leute schenkten ihr Beachtung oder schätzten sie? Nicht im geringsten», urteilte Olga Pawlowna ruhig.
Nachdem sie noch ein wenig mit dem Fürsten geplaudert hatte, entschuldigte sie sich mit der Bemerkung, nach dem Rechten sehen zu müssen, zum Frühstück würden sich jedoch alle versammeln.
«Hier sind Zeitungen, Fürst, lesen Sie einstweilen, ein interessanter Artikel über die Zustände in Frankreich ist dabei.»
Olga Pawlowna entfernte sich, während die beiden Schwestern bald wieder zur Stelle waren. In den dunklen Kleidern von strenger Schlichtheit, die sie jetzt trugen, und mit ihrem glattgekämmten Haar wirkten sie ziemlich steif.
«Schade, daß Sie sich umgezogen haben», sagte der Fürst.«Jetzt sind Sie wohlanständige Fräuleins, vorher sahen Sie hübscher und auch natürlicher aus.»
«So ist es schicklicher», sagte Natascha, die sich Kaffee eingoß.
«Alles nur Vorurteile», bemerkte Anna kurz.«Was man gewohnt ist, das ist schicklich», fügte sie hinzu und begann rasch wie ein Vogel eine Beere nach der anderen aus ihrem Schälchen zu picken.
«Sind Sie frohgemut?»erkundigte sich der Fürst.
«Schrecklich!»erwiderte Anna.«Natascha und ich haben so schöne Beschäftigungen. Ich lese jetzt Philosophie und schreibe eine Erzählung. Natascha findet sie gut: Ich lese ihr jeden Abend vor, was ich morgens geschrieben habe.»
«Und was für Philosophie lesen Sie?»
«Dmitri Iwanowitsch hat mir jetzt Büchner und Feuerbach gegeben.1 Er meint, das brauche ich für meine geistige Entwicklung. Und mir ist alles restlos klargeworden! Ich verstehe, daß einen derart einleuchtende Beweise auch zur Materialistin machen können.»
«Wie alt sind Sie denn?»
«Bald achtzehn.»
«Geben Sie Büchner und Feuerbach auf, verderben Sie sich Ihre reine Seele nicht. Sie können sie nicht begreifen und werden nur die Orientierung verlieren.»
«Durch das Lesen von Philosophie? Niemals! Im Gegenteil, ich werde Aufschluß über mich selbst und meine Zweifel finden. Ich habe auch Ihre Aufsätze gelesen, aber sie sind schwierig, ich kann damit noch nicht sehr viel anfangen.»
«Wovon handelt denn Ihre Erzählung?»
«Davon, wie man lieben muß. Sie werden sie nicht verstehen. Natascha, ja, die versteht sie ganz wunderbar.»
«Das Verstehen bereitet keine Schwierigkeiten, Anna ist bloß allzu sentimental. Sie träumt von einer Liebe, die rein und ideal sein muß, fast so wie ein Gebet», sagte Natascha.
«Wie verträgt sich das mit dem Materialismus, Anna Alexandrowna? Da sind Sie schon in der Klemme …»
«Ach, da ist ja der Schmetterling, den Mischa für seine Sammlung gesucht hat», schrie Anna plötzlich auf und stürzte mit flinken, kräftigen Beinen zur Brüstung der Terrasse, um einen gro ßen dunklen Schmetterling zu fangen.
Der Fürst erglühte beim Anblick der graziösen Figur Annas, die, den Schmetterling in der Hand, von der Brüstung heruntersprang.
«Wir sollten einen Spaziergang machen, einen ganz langen, und Mischa mitnehmen», schlug Natascha vor.
Alle stimmten zu, holten ihre Hüte, riefen den kleinen Mischa und beschlossen, ins Nachbardorf zu dessen Amme zu gehen.
Der Weg führte durch Felder, es war staubig und heiß; alle bewegten sich träge, und das Gespräch wollte nicht recht in Fluß kommen. Anna ging voraus; der Fürst holte sie ein und sagte lächelnd:«Wie klar und einfach alles in Ihrem Leben ist! Und sosehr Sie auch danach trachten, sich Fragen zu stellen, für Sie gibt es einfach keine, kann es sie gar nicht geben. Sie selbst mit Ihrer Jugend, mit Ihrer Klarheit und Ihrem Glauben an das Leben - Sie selbst sind die Antwort auf alle Zweifel. Gott, wie ich Sie beneide!»
«Nein, beneiden Sie mich nicht. Ich bin voller Zweifel, und... ich bin so unentwickelt», fügte sie traurig hinzu.«Seit ich begriffen habe, daß alles auf der Welt lediglich Bewegung ist und das Verhältnis der Atome zueinander, weiß ich nicht, ob es Gott gibt. Dmitri Iwanowitsch - Sie kennen ihn, das ist der Student, der uns aus Sosnowka besuchen kommt - meint, Gott sei Einbildung, einen göttlichen Willen gebe es nicht, alles werde durch das Gesetz der Natur bestimmt. Das sind ja alles bloß Worte eines Ungläubigen. Möglicherweise hat er auch recht, aber ich kann noch nicht alles begreifen. Manchmal verlangt es mich so sehr zu beten - aber zu wem?»
«Sie sollten auf niemanden hören. Dmitri Iwanowitsch verunsichert Sie, und das ist nicht gut», sagte der Fürst, den Blick auf die Durchsichtigkeit der Haut an Annas Schläfen geheftet, durch die feine blaue Äderchen pulsten.
Sie wurde rot.«Daß er mich verunsichert, ist wahr. Aber er bemüht sich so um meine Entwicklung! Mischa, Mischa, wo willst du hin?»schrie sie plötzlich auf.
Aber es war schon zu spät. Mischa, auf den keiner geachtet hatte, war nicht mit über die Brücke gegangen, sondern um sie herum in den Sumpf hinein und bis zu den Knien eingesunken. Der Fürst hielt ihm seinen Stock hin und zog ihn heraus. Mischa war jedoch schon ganz durchnäßt. Natascha, die in einiger Entfernung Blumen zum Trocknen gesammelt hatte, rannte herbei und begann ihn mit Gras und Tüchern abzureiben, wobei sie ihn mit ärgerlicher Stimme ausschimpfte. Anna lachte. Weiterzugehen kam nun nicht mehr in Frage, sie sahen sich gezwungen umzukehren.
Am Abend erschien auch Dmitri Iwanowitsch vom Nachbargut, ein flachsblonder blasser Student mit Brille und ungehemmtem Auftreten. Ohne sich vor irgend jemandem zu genieren, wich er den ganzen Abend nicht von Annas Seite. Sie saßen, mit der Lektüre eines Buches beschäftigt, zusammen auf der Vortreppe zur Terrasse, und Dmitri Iwanowitsch hielt fortwährend im Vorlesen inne, um Anna eifrig das Darwinsche System auseinanderzusetzen.
Dem Fürsten blieb nichts anderes übrig, als mit der zum Tee wiedererschienenen und zu Anna und ihrem Gesprächspartner hinüberschielenden Olga Pawlowna vorliebzunehmen, da Natascha nicht bei Laune war und aus irgendeinem Grund wenig Neigung zeigte, sich mit dem Fürsten zu unterhalten.
Als er am späten Abend aufbrach, sagte er, auf der Durchfahrt von Petersburg zu seinem Dorf werde er auf jeden Fall wieder vorbeikommen. Beim Abschiednehmen warf er Dmitri Iwanowitsch einen ärgerlichen Blick zu und gab ihm wie versehentlich nicht die Hand.
«Ja, für ihn spricht die Jugend», dachte der Fürst, und als er das Haus der Ilmenews verlassen hatte und seinen Blick auf den bestirnten Himmel und den jetzt dunkel daliegenden See mit der rätselhaften bewaldeten Ferne an seinen Ufern richtete, war ihm, als wäre alles auf der Welt plötzlich verloschen, alles Glück irgendwo hinter ihm zurückgeblieben, untergegangen in dieser geheimnisvollen Nacht, und es schauderte ihm.
«Dieses Mädchen, das unlängst noch ein Kind gewesen ist, das ich auf dem Arm gehalten habe, und ich - nein, das ist unmöglich!»Es benahm ihm den Atem.«Es kann nicht sein! Was ist das? Wieder das gleiche, und zum wievielten Mal schon! Doch nein, das ist nicht das gleiche, das ist etwas Neues!»
Abermals trat ihm Anna vor Augen, und in Gedanken entblößte er ihre schlanken Beine und ihren ganzen schmiegsamen, kräftigen jungfräulichen Körper.
«Und die Augen! Schwarz wie die Nacht und klar, ohne Falsch... Was ist sie für ein Wesen? Etwas ganz Besonderes. Aber wann ist das bloß geschehen? Warum scheint mir auf einmal, daß ich nicht ohne diese klaren Augen, ohne diesen reinen, fröhlichen und lieben Blick leben kann? Vor kurzem noch habe ich diese Mädchen so gleichmütig und mit solcher Freude betrachtet... Und jetzt? Plötzlich habe ich erkannt, daß sie eine Frau ist, daß es niemanden außer ihr gibt, und ich muß, ja ich kann nicht anders, als von diesem Kind Besitz zu ergreifen...»
Das Blut schoß dem Fürsten in den Kopf. Er kniff die Augen zu, um sich Anna deutlicher ins Gedächtnis zu rufen; die Kutsche rollte schaukelnd den Feldweg entlang, ihr Dahinfahren wiegte ihn ein und verstärkte sein Wonnegefühl und sein Begehren in dieser wundervollen Sommernacht.

II

Tags darauf saßen in einem geräumigen hellen Zimmer des Obergeschosses die beiden Schwestern zusammen am Tisch. Natascha nähte, und Anna las ihr mit bewegter Stimme ihre Erzählung vor. Das große italienische Fenster war weit geöffnet, die Luft von Geräuschen und Unruhe erfüllt: Im See quakten die Frösche, im Garten sangen die Nachtigallen, und vom Dorf klang der Gesang von Männerstimmen herüber. Annas Stimme zitterte leicht beim Lesen.
«‹In einem kleinen, ärmlich eingerichteten Zimmer saß eine junge Frau und nähte fleißig etwas Großes und Weißes. Hin und wieder blickte sie zum Fenster und lauschte seufzend auf die Schritte draußen, die der Vogel in seinem Käfig über ihr mit seinem Gesang beinahe übertönte. Die junge Frau hatte vor kurzem geheiratet und erwartete ihren Mann vom Unterricht zurück. Sie waren beide arm, arbeiteten beide, doch …›»
«Und das sind deine Ideale, Anna? Oh, daß du dich mal nicht täuschst! Man kann doch nicht Blümchen und Vögelchen zu seinem alleinigen Lebensinhalt machen, zumal wenn man arm ist! Es gibt auch die Prosa des Lebens: Krankheiten, Küche, Unzulänglichkeiten, Streit... Das aber übergehst du im Leben wie in deiner Erzählung. »
«All das sollte es nicht geben, das heißt, damit darf man sich nicht abfinden. Allein ein geistiges Leben sollte man führen, alles andere ist Nebensache. Ich fühle mich imstande, eine solche geistige Höhe zu erreichen, daß ich niemals Hunger verspüren werde. Ein Stück Brot genügt doch zum Leben, nicht wahr? Nun, das wird man mir reichen. Weißt du, Natascha, manchmal, wenn ich renne, ist mir - ein bißchen nur noch, nur noch kräftig vom Erdboden abstoßen, und ich fliege los. Genauso verhält es sich mit der Seele, ja mit ihr erst recht, sie muß stets bereit sein davonzufliegen - dorthin, in die Unendlichkeit... Ich weiß das und fühle es! Daß das niemand begreifen will!»
«Wie kann man denn auf der Erde ein unirdisches Leben führen?»wollte Natascha wissen.«Gestern noch hast du davon gesprochen, daß man unbedingt heiraten müsse. Nun, in der Ehe, mit Kindern und den Sorgen wirst du mit einem dir gereichten Stück Brot nicht überleben und nirgendwo hinfliegen.»
Anna wurde nachdenklich.«Ja, wenn man die Ehe so wie ihr alle betrachtet, dann ist es besser, überhaupt nicht zu heiraten. Vor allem braucht man Liebe, und sie muß über allem Irdischen stehen, vollkommen sein... Ich kann das nicht erklären, ich fühle es nur.»
«Genug jetzt, Anna. Komm, gehen wir hinunter. Dmitri Iwanowitsch ist auch schon da. Anna, liebst du ihn?»
«Ich weiß es nicht. Ich unterhalte mich gern mit ihm, aber wenn ich ihm abends die Hand gebe und er sie drückt, so auf ganz besondere Weise, und seine Hand schweißig ist, wird er mir auf einmal dermaßen zuwider! Doch er kennt sich aus in allem, worauf es ankommt, glaube ich, er ist gebildet und klug, er hat seine eigenen Ideale.»
Die Schwestern gingen nach unten. Auf der Terrasse war niemand außer Dmitri Iwanowitsch und Mischas Lehrer. Sie sprachen über die Verhältnisse an der Universität und tranken Tee. Anna fragte Dmitri Iwanowitsch, ob er ihr etwas Hübsches zu lesen mitgebracht habe.
«Was verstehen Sie unter hübsch?»wollte er wissen und brachte aus seiner Jackentasche Gedichte Tjuttschews2 zum Vorschein.«Das habe ich zufällig bei mir», sagte er.
Anna schlug das Bändchen auf und blätterte darin.«Ich kenne dieses Buch. Und wie ich diese Gedichte liebe! ‹Tränen, o Tränen, von Menschen vergossen›», las sie.«Das kann ich auswendig. ‹Ströme, noch nie zum Versiegen gebracht...›3 Ja, das sind die schmerzlichsten Tränen, viele dieser Tränen werde ich in meinem Leben vergießen müssen.»
«Ich habe den Eindruck, Sie persönlich werden keine vergießen müssen. Sie sind immer so heiter, so fröhlich. Nur zu träumerisch veranlagt, Anna Alexandrowna. So kommt man nicht durchs Leben.»
«Wie sonst, Ihrer Meinung nach?»
«Man muß vor allem gesellschaftliche und irdische Interessen zu seinem Lebensinhalt machen, Anteil nehmen an den Belangen der Menschheit, anstatt sich immerzu mit seiner inneren Schwäche abzuquälen.»
«Und was ist dazu nötig?»
«Auf jeden Fall, daß man aufhört, in den Wolken zu schweben, und tätig wird. Versuchen Sie, vernunftvoller zu leben, Anna Alexandrowna, ohne Vorurteile und - vor allem - ohne weinerliche religiöse Heuchelei.»
«Versuchen kann man es», sagte Anna traurig.«Aber was ist das für ein Ausdruck - ‹weinerliche religiöse Heuchelei›? Gehören Sie denn keiner Religion an? Kann man überhaupt ohne sie leben? Sagen Sie, glauben Sie an Gott?»
Dmitri Iwanowitsch lächelte spöttisch und herablassend.«Was gefällt Ihnen denn so an dem Wort ‹Gott›?»
«Nicht das Wort brauche ich, sondern die göttliche Idee. Und diese Idee werde ich Ihnen nicht opfern, hören Sie?»versetzte Anna plötzlich hitzig.«Wenn es keinen Gott gibt, dann gibt es auch mich nicht, nichts gibt es, gar nichts... Kein Leben!»Annas Gesicht glühte, ihre Augen funkelten, ihre Stimme bebte, den Tränen nahe, wandte sie sich ab und verstummte.
Dmitri Iwanowitsch war im Begriff, wieder ironisch zu lächeln, doch als er sie ansah, wurde ihm unwohl in seiner Haut, und er schlug die Augen nieder.
Die Nacht brach an. Der Mond war längst aufgegangen und beschien unweit des Hauses eine kleine Lichtung am See. Die Umrisse des dunklen Grüns der sie einfassenden Bäume zeichneten sich vor dem Hintergrund des hellen Himmels noch dunkler ab. Dieses Licht aus der Dunkelheit lockte so sehr, daß Anna, als alle bereits schlafen gegangen waren, den Blick auf die Lichtung gerichtet, noch lange auf der Terrasse stand. Das Chaos der Gedanken, die sie in letzter Zeit aufgrund der Lektüre philosophischer Bücher und der Gespräche mit Dmitri Iwanowitsch beschäftigten, schien sich langsam aufzulösen.
Ein Rascheln im Garten ließ sie zusammenzucken. Aus dem Dunkel schritt Dmitri Iwanowitsch auf sie zu. Er kam vom Nebengebäude her, in dem Mischas Lehrer wohnte, um sich durch den Garten auf den Heimweg zu machen, doch als er Anna bemerkte, stieg er zur Terrasse herauf und trat zu ihr. Ärgerlich darüber, daß er sie in ihrer Stimmung störte, hielt sie, statt ihn anzusehen, ihren Blick schweigend auf die mondbeschienene Lichtung und in die Ferne jenseits des Sees gerichtet.
«Wie entflammt Sie aussahen, als Sie von Gott sprachen, Anna Alexandrowna!»
Anna schwieg mißmutig.
«Anna Alexandrowna, wieviel Feuer und Energie Sie haben! Aus Ihnen könnte eine tätige, großartige Frau werden, wenn Sie einem aufgeklärten Menschen Ihr Vertrauen schenken, sich seinem Einfluß anvertrauen würden, wenn Sie ihn liebgewännen...»
Dmitri Iwanowitsch stahl sich leise an Anna heran, faßte nach ihrer Hand und drückte unvermutet einen Kuß darauf.
Was in diesem Augenblick mit Anna geschah, hatte er in keiner Weise erwartet. Dieses grazile, zarte Mädchen verwandelte sich in eine Furie. Ihre schwarzen Augen schleuderten zornige Blitze gegen Dmitri Iwanowitsch, daß er zur Salzsäule erstarrte. Sie entriß ihm ihre Hand, drehte sie angeekelt herum, um sie an ihrem Kleid abzuwischen, und schrie:«Wie können Sie es wagen! Pfui, was für eine Niedertracht! Ich... ich hasse Sie!»
Scham, Verzweiflung, Wut wegen der Störung ihrer andächtigen Stimmung - alles stieg in ihr auf. Sie stürzte davon, geradewegs ins Schlafzimmer ihrer Mutter, und warf sich laut schluchzend auf deren Liegestatt.
Olga Pawlowna, die bereits im Hinüberdämmern war, bekam einen furchtbaren Schreck.«Was ist passiert? Was hast du?»
«Mama, wie konnte er es wagen! Dmitri Iwanowitsch hat mir soeben auf der Terrasse die Hand geküßt. Was für eine Niedertracht!»
Anna griff das Eau-de-Cologne-Fläschchen von der Frisiertoilette, um, immer noch schluchzend, Dmitri Iwanowitschs Kuß abzuwaschen.
«Wo hast du ihn denn gesehen?»
«Er... nein, ich war auf der Terrasse und betrachtete den Mond, da kreuzte er auf, ich fand das ärgerlich, er sagte etwas, aber ich wollte allein sein, und plötzlich packte er unversehens meine Hand und drückte einen Kuß darauf.»Anna zuckte zusammen und wischte ihre feingliedrige Hand abermals an ihrem Kleid ab.
«Das geschieht dir ganz recht. Was ist das für eine Art, als junges Mädchen allein auf der Terrasse zu bleiben, wenn das ganze Haus schläft», sagte Olga Pawlowna unwillig.«Aber beruhige dich doch», fuhr sie sanfter fort,«ich werde Dmitri Iwanowitsch schreiben und ihn bitten, seine Besuche einzustellen.»
«Bitte, Mama!»
«Schon gut, geh schlafen. Mir haben eure Gespräche ohnehin mißfallen. Geh schon, deine Schwester hat sich längst hingelegt.»
Anna konnte sich nicht so bald beruhigen. Oben in ihrem Zimmer angekommen, saß sie noch lange still am Tisch, um ihr erregtes Herz zu besänftigen, bevor sie endlich ihr Tagebuch zur Hand nahm, um zu notieren:
 
«Ja, diese Liebe war ein Fehler, trügerische Einbildung. Was will ich eigentlich, was macht mich unzufrieden? Was zerreißt mir so das Herz? Verlangt es die Jugend nach Leben, wo es doch gar kein wahres Leben gibt, oder tun mir alle leid, die unglücklich sind? Glücklich sind alle Egoisten. Wodurch wird den Menschen das Glück zuteil? Durch das Schicksal?... Was ist denn das Schicksal überhaupt? Ein Naturgesetz, Bewegung des Universums, göttlicher Wille. Göttlicher, ja, zweifellos. Es tut gut, zu Gott zu beten! Wenn das Gebet aber nur ein Spiel für die Gramgebeugten ist? Ich jedenfalls kann nicht damit brechen. Ich kann nicht akzeptieren, daß alles auf der Welt nichts anderes sein soll als Bewegung der Atome, daß ich nur deshalb gut oder böse bin, weil das Wetter gut oder schlecht ist, daß Menschen moralisch sind, weil ihr Blut sich langsamer bewegt und ihnen Leidenschaft fehlt, daß eine gewisse Verbindung von Teilchen der Materie Umwälzungen in den Menschen und ihren Schicksalen auslöst... Lieber Gott, was für ein Chaos herrscht in meinem Kopf! Wie rätselhaft ist alles auf der Welt, wie armselig bin ich, wie unentwickelt, kraftlos und verwirrt… Lieber Gott, hilf mir, erleuchte mich!...»
 
Anna warf das Tagebuch in den Tischkasten, kniete nieder und betete lange. Eine Ewigkeit hatte sie das nicht mehr getan. Ein solches Bedürfnis zu beten überkommt die Menschen entweder bei großem Leid oder bei großem moralischem Wachstum. So verhielt es sich bei Anna.
Als sie sich erhob, erschöpft und zerschlagen, fühlte sie, daß sich mit ihr etwas vollzogen hatte und von nun an alles anders sein würde. Sie legte sich ins Bett, löste die rosa Bänder des weißen Musselinvorhangs und ließ ihn herabfallen.
Alles war verstummt, kein Laut von draußen zu hören. Traurig blickte der blasse Sommerhimmel drein, auf der einen Seite angeleuchtet von dem soeben hinter dem Horizont versunkenen Mond, auf der anderen von der noch nicht aufgegangenen Sonne.
Die Augen auf das Fenster gerichtet, zitterte Anna nervös und sank in einen unruhigen Schlaf.

III

Für Anna brach unmerklich eine ganz neue Phase ihres Mädchenlebens an. Es war, als hätte sie alles Suchen und Zweifeln, all die Fragen und die ihrem Leben angelegten geistigen Fesseln von sich abgeschüttelt. Die Jugend verlangte ihr Recht. Die sorglose, fröhliche Anna begann der göttlichen Welt mit solch mutiger Klarheit in die Augen zu sehen, als hätte sie neue freudvolle Seiten an ihr entdeckt, die ihr bisher verborgen geblieben waren.
«Natascha, ich will jetzt bei mir Ordnung schaffen», sagte sie einmal zu ihrer Schwester, während sie ihr Malzeug zusammensuchte.«Solange es nicht zu trübe ist, werde ich den ganzen Herbst über mit Ölfarben malen, und zwar täglich. Nach dem Mittagessen spazierengehen, lesen und Tagebuch führen. Wenn du mit dem Unterricht in der Schule anfängst, helfe ich dir.»
«Na, das wage ich zu bezweifeln. Deine Hilfe kenne ich: Kommst für fünf Minuten angelaufen, plauderst ein bißchen, liest etwas Nutzloses vor - und das war es.»
«Ach, Natascha, deiner Ansicht nach braucht man bloß rechnen zu können. Für mich aber ist ethische Entfaltung noch wichtiger.»
«Und die sollen wir beide wohl in ein paar Wochen schaffen? Bis zu unserer Abfahrt nach Moskau haben wir für die Schule höchstens zwei Monate zur Verfügung. Geb’s Gott, daß wir die Anfangsgründe fürs Lesen und Schreiben legen, an Entfaltung ist gar nicht zu denken.»
«Ja, wenn wir den ganzen Winter hierblieben! »
«Von wegen! Das geht nicht. Mama langweilt sich, und Mischa soll aufs Gymnasium.»
«Wann geht es denn los?»wollte Anna wissen.
«Morgen abend kommen die großen Mädchen, ich habe versprochen, ihnen vorzulesen. Und Montag mache ich die Schule auf. Ich muß das Ganze bloß selbst in Gang bringen, danach kann ich es dem Lehrer übergeben.»
«Nun, ich gehe jetzt, sonst wird es zu spät.»Damit griff Anna nach einer kleinen Leinwand, dem Farbkasten und einem Sonnenschirm, trat hinaus in den Garten und ging los in Richtung See. An der Stelle, die sie schon lange als außergewöhnlich malerisch ins Auge gefaßt hatte, steckte sie den Schirm in den Boden und machte sich an die Arbeit. Sie malte leicht und frohgemut. Der blaue Himmelsstreif zwischen den herabhängenden Ästen gelang ihr so gut, daß sie sich selbst an ihrem Bild ergötzte. Nervös bewegte sie ihre Hand zwischen Palette und Leinwand hin und her und war so von ihrer Arbeit in Anspruch genommen, daß sie nicht bemerkte, wie von hinten Fürst Prosorski an sie herantrat, der auf dem Rückweg von Petersburg den Ilmenews wieder einen Besuch abstattete.
«Hier finde ich Sie also», sagte er zu Anna.«Oh, wie schön Sie malen! Sie sind sehr begabt, das habe ich gar nicht gewußt.»
«Wirklich? Ich habe vor, viel zu arbeiten. Und wenn Sie das sagen, dann erst recht. Sie kennen sich ja in allem aus», fügte sie hinzu und sah dem Fürsten zutraulich und liebevoll in die Augen. Dieses Verhältnis hatte sie von klein auf zu ihm gehabt, ohne sich jemals des Warum bewußt geworden zu sein. Wahrscheinlich lag es daran, daß sie alle, angefangen bei der alten Kinderfrau, Olga Pawlowna und Mischa, den Fürsten schon so lange als Gast der Familie kannten und ihn liebgewonnen hatten. Als Nachbar von Olga Pawlowna stand er seit seiner Kindheit mit ihr auf vertrautem Fuße. Nachdem sie geheiratet und als Mitgift das Gut erhalten hatte, auf dem sie aufgewachsen war, hatte der Fürst seine gelegentlichen Besuche fortgesetzt. Später dann, als Witwe, konnte sie sich lange nicht entschließen, hierher zurückzukehren. Erst nach Jahren sah der Fürst sie wieder - ihre Töchter waren inzwischen groß geworden, und sie selbst war gealtert.
Fürst Prosorski war weniger schön als auf eine verfeinerte Art elegant. Seine umfassende Bildung und ein großes Vermögen hatten ihm überall die Türen geöffnet. Er war viel gereist und hatte eine stürmische, fröhliche Jugend verlebt, um schließlich, all dessen überdrüssig, auf dem Lande ansässig zu werden. Jetzt befaßte er sich mit Philosophie und hielt sich für einen großen Denker. Das war seine Schwäche. Er schrieb Aufsätze, und viele glaubten, er sei tatsächlich sehr klug. Nur sensible und kenntnisreiche Leute sahen, daß die Philosophie des Fürsten in Wirklichkeit überaus dürftig und lächerlich war. Seine Beiträge, die in Zeitschriften erschienen, hatten nichts Originelles, waren nichts als der Abklatsch abgenutzter Themen und Ideen von Denkern aus alten und neuen Zeiten. All das war jedoch so geschickt gemacht, daß der größte Teil der Leserschaft seine Aufsätze sogar mit einer gewissen Begeisterung las, und dieser kleine Erfolg bereitete dem Fürsten unendliche Freude.
Aber nicht das veranlaßte Anna, dem Fürsten zutraulich und liebevoll zu begegnen. Sie mochte seine ganz eigene, von großer Weltläufigkeit geprägte Anteil nehmende Freundlichkeit, die er allen Frauen entgegenbrachte und mit der er sie für sich einnahm. Auch Natascha und Anna hatten sich diesem Charme nicht entziehen können, so daß die Besuche des Fürsten für die ganze Familie jedesmal ein Fest waren. Er verstand es, wie sie gern scherzhaft sagten, interessante Fragen aufzuwerfen und die unterhaltsamsten Gespräche zu führen, Olga Pawlowna im richtigen Moment beim Legen einer Patience und Mischa bei seiner Schmetterlings- und Käfersammlung zu helfen, mit der alten Kinderfrau zu scherzen und dem Gesinde ein großzügiges Trinkgeld zu geben,«für Tee».
«Im Haus sind Sie schon gewesen, Fürst?»fragte Anna.
«Ja, ich habe alle gesehen und nach Ihnen gesucht. Und bin hierhergeschickt worden. Ohne Sie ist es drinnen ja wie in einer Laterne ohne Licht, alles dunkel und langweilig.»
«Das denken Sie doch nicht im Ernst? Was soll denn an mir sein?»fragte sie errötend. Es erschien ihr als unverhofftes Glück, daß dieser anziehende, von allen geliebte Fürst so von ihr sprach, einem völlig unbedeutenden jungen Mädchen, das er schon als Kind gekannt hatte. Und ihr fiel ein, was für ein schlechtes, ungebärdiges, faules und taktloses Kind sie gewesen war. Auch erinnerte sie sich, wie sachte und einfühlsam er ihr manchmal Einhalt geboten hatte, wenn sie sich, lebhaft und entschieden, wie sie war, zu überzogenen Äußerungen oder Handlungen hinreißen ließ. Sie hatte immer geglaubt, daß er sie verachte und Gefallen an Natascha finde, und heute nun lobte er plötzlich ihr Bild und sagte, daß er sich ohne sie langweile. Ein ungeahntes, ganz und gar unerklärliches Glücksempfinden bemächtigte sich ihrer.
Anna malte weiter. Sie konnte sich nicht losreißen vom Anblick der prächtigen über den See geneigten Hängebirke, deren weißer Stamm auf ihrem Bild unnatürlich anmutete, doch vor dem Hintergrund des bereits herbstlich bunten Laubes ungemein schön war. Sie fühlte den Blick des Fürsten auf sich, ihre Hand zitterte, und ihr Herz hämmerte.
«Genug, ich kann nicht mehr», sagte Anna schließlich.«Was ist mit mir, warum bin ich so aufregt?»dachte sie.«Bestimmt darum, weil er mich gelobt hat!»Es dunkelte und wurde frisch. Sie klappte den Schirm zu, packte ihre Sachen zusammen, die ihr der Fürst sogleich abnahm, und beide machten sich auf den Weg zum Haus.
Der Fürst ging hinterdrein und betrachtete mit dem Blick des Frauenkenners wohlgefällig ihren
Titel der russischen Ausgaben:
«Tschja wina? Po powodu ‹Krejzerowoi sonaty›
Lwa Tolstowo»(1893 /1994)
«Kratkaja awtobiografija gr. Sofji Andrejewny Tolstoi»(1913 /1921)
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
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Diese Buchausgabe der Manesse Bibliothek der Weltliteraturwurde aus der Berthold Bembo gesetzt und in Fadenheftung gebunden.EOS Titan liefert Salzer, St. Pölten. Alle verwendeten Materialien entsprechen alterungs- beständiger Qualität, die Papiere sind chlor- und säurefrei.
eISBN : 978-3-641-03388-0
 
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