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Sofja Tolstaja

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Beschreibung

Nach «Eine Frage der Schuld» Tolstajas zweiter Roman – als Weltpremiere bei Manesse

Mit dem spektakulären Erfolg ihres Romans «Eine Frage der Schuld» trat Sofja Tolstaja hierzulande aus dem Schatten ihres berühmten Ehemannes. Ihr zweites Buch erzählt erneut von der alles umstürzenden Macht der Leidenschaft - und wirft ein weiteres Schlaglicht auf das Eheleben der Tolstois. Jahrzehntelang schlummerte das Kleinod in einem Moskauer Archiv; nun wird es zum ersten Mal der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

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Inhaltsverzeichnis
MANESSE BIBLIOTHEK DER WELT LITERATUR
ERSTER TEIL
I
II
III
IV
Copyright
MANESSE BIBLIOTHEK DER WELT LITERATUR
ERSTER TEIL
I
«Warum weinst du, Mama, sag doch, sag», bedrängte der kleine sechsjährige Knabe seine Mutter, löste ihre Hände vom tränenfeuchten Gesicht und sah sie unter langen Wimpern mit seinen leuchtenden blauen Augen an. Er war drauf und dran, in ihr Weinen einzustimmen, seine Augen waren voll Tränen.
«Meine Mutter, deine Großmutter, liegt im Sterben, und dies dauert mich so, ich möchte zu ihr. Aljoscha, Lieber, bleib gesund, wenn ich weg bin, sei brav, gehorche der Njanja1…»
Der Knabe warf sich seiner Mutter an den Hals und fing nun wirklich an zu weinen.
Die Türklingel lenkte ihn ab, er rief:«Papa ist da»und rannte, ihn in Empfang zu nehmen.
Alexandra Alexejewna erhob sich ebenfalls und begrüßte, ein Telegramm in der Hand, ihren Mann.
«Steht es schlechter?», fragte er.
«Ganz und gar schlecht, ich packe gerade und fahre hin… Ich kann nicht länger warten, mein Herz verzehrt sich.»
Und wieder begann sie zu schluchzen.
Verängstigt und betrübt blickte Aljoscha die Mutter an, trat zu ihr hin und nahm still ihre Hand; doch als er sah, dass der Vater etwas mitgebracht hatte, lief er wieder zu ihm zurück und lachte.
«Was ist das, Papa? Woher hast du das?»
Pjotr Afanassjewitsch hielt zwei ausnehmend große Blumenzwiebeln in Händen. Er bemühte sich, sie zu verbergen, denn angesichts der Trauer seiner Frau schien es ihm unschicklich, sie mitgebracht zu haben. Doch Aljoscha hatte sie bereits an sich genommen und zeigte sie der Mutter.
«Das sind ganz besondere Blumenzwiebeln», begann Pjotr Afanassjewitsch verlegen zu erklären,«ich habe sie von einem Freund, einem deutschen Gärtner, und werde sie nun unbedingt auch pflanzen… Es sind japanische… Sieh doch, Saschenka, sie wiegen sicher anderthalb Pfund…»
Doch Sascha konnte für das Gewicht der Blumenzwiebeln kein Interesse aufbringen. Ihr Herz zersprang vor Trauer. Auf der Krim lag ihre Mutter im Sterben, die sie so sehr liebte, ihr einziger wahrer Freund auf dieser Welt, der wie niemand sonst sie verstand. Selbst als Sascha bereits verheiratet war, versuchten sie, so oft wie möglich zusammen zu sein, und verbrachten alle Sommer gemeinsam. In diesem Jahr jedoch war ihre Mutter erkrankt. Im Sommer hatte sie eine Kumys2-Kur gemacht und war dann im Herbst mit dem jüngsten Sohn auf die Krim gefahren. Doch weder Kumys noch das warme Klima hatten geholfen. Die Nachrichten, die Sascha erhielt, wurden zunehmend schlechter, und so hatte sie sich heute entschieden, auf die Krim zu reisen.
Sie hatte zu packen, musste den geliebten einzigen Sohn alleinlassen, und dabei waren ihre Nerven ohnehin furchtbar empfindlich. Jede Nacht litt sie unter ihrer Neuralgie, konnte keine Ruhe finden und blickte voll Verdruss auf den gesunden Schlaf ihres rotwangigen, durch nichts zu erschütternden Gatten. Der kam nach einem langen Tag in der Versicherungsgesellschaft nachmittags um vier nach Hause und begab sich sofort in seinen - für die Stadt recht großen - Garten, wo er begeistert in der Erde grub und dabei die ganze Welt vergaß.
Pjotr Afanassjewitschs Berufung war es, Gärtner zu sein. Nichts auf der Welt liebte er so sehr wie die Erde und den Anbau von allem, was wuchs. Auch jetzt noch zog es ihn in den Garten, wenngleich der Herbst bereits Einzug gehalten und der Frost die Blumen hatte erfrieren lassen, alles Gemüse ausgegraben und die Erde aus den Treibkästen genommen war.
Nun aber war es ihm unangenehm, seine Frau alleinzulassen, obendrein empfand er Mitleid mit ihr; er war ein anständiger, gutmütiger Gatte, unkompliziert, schlicht und sanft.
«Soll ich dir helfen, Sascha?»
«Nein, das ist nicht nötig, du weißt doch nicht, was ich brauche… Ich weiß es ja selbst nicht einmal! Mein Gott! Mama, liebe, arme Mama! Sie wartet sicher schon auf mich… Parascha, bitte, komm. Pack doch alles so schnell als möglich…»
«Heißen Sie, die schwarze Mantille einzupacken? »
«Ja, natürlich, man weiß nie; vielleicht werde ich sie brauchen… Das Briefpapier hierhin, das Reisetintenfass… Reichen Sie mir das Eau de Cologne… Petja, es müssen noch die Dokumente beantragt werden; schreib schnell ein Gesuch und lass es besiegeln…3 Auf, auf.»
«So reg dich doch nicht auf, Saschenka, du bist ja gar nicht mehr du selbst. Deine Neuralgie macht dir wohl zu schaffen…»
«An alles muss man selbst denken, auch wenn man ganz verzweifelt ist. Aljoscha, lauf und ruf die Njanja.»
Eine junge, hochgewachsene, überaus liebreizende Frau trat ein, Aljoscha auf dem Arm.
«So groß und wird noch getragen! Aber, aber!», sagte Pjotr Afanassjewitsch und nahm den Knaben aus dem Arm der Kinderfrau.
«Solange ich fort bin, gehen Sie bitte nur mit Aljoscha spazieren, wenn es nicht mehr als drei Grad Frost hat, und auch dann nur, wenn kein Wind geht. Dies bloß für den Fall, dass ich lange bleiben muss.»
«Sehr wohl.»
«Und versorgen Sie ihn gut, sonst ruiniert ihm Pjotr Afanassjewitsch mit seinem Vegetarismus noch den Magen.»
«Sie meinen also, es sei besser, Ihren Sohn mit einem sich zersetzenden Leichnam zu ernähren? »
«Wie dem auch sei, was er auch sagen mag, dass mir aber für Aljoscha jeden zweiten Tag Hühnchen gekauft wird. Hier haben Sie Haushaltsgeld. »
Der Reisekoffer, das Plaid und das Kissen, die Hutschachtel - alles war bereit. Auch die Reisegenehmigung der Polizeibehörde war gebracht worden. Sascha kleidete sich an, nahm ihren Beutel, legte ein Buch und die Geldbörse hinein. Ein Schauer durchlief ihren Körper von Kopf bis Fuß. Niemals zuvor war sie allein so weit gereist; niemals zuvor hatte sie sich von dem kleinen Sohn und ihrem Mann getrennt. Sie spürte, wie etwas in ihrem Herzen erstarb, da sie die beiden verlassen musste. Pjotr Afanassjewitsch versuchte, sie aufzumuntern, doch er war um sie besorgt; auch ängstigte ihn die schreckliche Leere und Einsamkeit, in der er zurückbleiben würde ohne seine heitere und kluge Sascha, die so viel Fürsorglichkeit, Ordnung und Sinn in sein Leben gebracht hatte.
Doch die Zeit lief davon; bis zur Abfahrt des Zuges blieben nur mehr drei Viertelstunden, und der Weg zum Bahnhof war weit. Sascha küsste die Njanja und Parascha, dann ihren Mann; schließlich, gleichsam ihre letzten Kräfte sammelnd, nahm sie Aljoscha auf den Arm und küsste unter Tränen seine Augen, sein weiches, goldfarbenes Haar, seine Hände und Lippen. Darauf machte sie segnend das Kreuzzeichen über ihm und eilte zur Tür.
«Mama, Mama, leb wohl, lass mich dich segnen», rief der Knabe. Sascha kam zurück, Aljoscha schlug ernsthaft und ungelenk das Kreuz über ihr und war es zufrieden.
Pjotr Afanassjewitsch erinnerte sich plötzlich, dass er seine Frau ja begleiten müsse, und lief sich anzukleiden. Sascha indes wollte allein sein und suchte ihn mit aufgeregten Worten davon abzuhalten. Pjotr Afanassjewitsch, der eigentlich vorgehabt hatte, eine gerade erhaltene Druckschrift über die Zimmerpflanzenzucht zu lesen, war in seinem Innern froh darüber, dass er zu Hause bleiben konnte.
«Bitte kümmere dich um Aljoscha und tröste ihn», sagte Sascha noch.
Es wurde dunkel, als Sascha ihr Heim verließ. In der Droschke warf sie einen Blick auf ihr Gepäck, zählte die Taschen und schloss die Augen. Sie konnte nicht mehr weinen noch an die Daheimgebliebenen oder daran denken, was sie auf der Krim erwartete. Zu sehr hatte sie die Aufregung und die Unruhe der letzten Tage ermüdet, und das leichte Wogen des Wagens ließ sie unruhig einschlafen.
II
«Bin ich nicht zu spät?», fragte Sascha, als sie am neu erbauten, mit elektrischem Licht hell erleuchteten Bahnhof ankam.
«Auf den Zug nach Kursk? Nein, es bleiben noch zwanzig Minuten bis zur Abfahrt», antwortete der Träger, der das Gepäck aus dem Wagen nahm.«Wohin soll es gehen?»
«Auf die Krim, eine direkte Verbindung. Welches ist Ihre Nummer?»
«Sechsundachtzig. Welcher Klasse?»
«Zweiter.»
Trotz des schweren Gepäcks lief der Dienstmann so schnell, dass Sascha kaum hinterherkam. Er warf die Taschen in den Gepäckwagen und ging, das Billett zu kaufen.
«Kursk: 7 Pud 16, Tula: 4 Pud 24, Jalta: 3 Pud 8»,4 verlautbarte mit knappen Worten und seltsam kehliger Stimme der Bedienstete an der Gepäckwaage. Da war auch schon die Nummer sechsundachtzig. Der Träger brachte das Billett und den Gepäckschein; die Klingel ertönte, und wieder lief Sascha schnell den Bahnsteig entlang, andere eilende Reisende überholend, dem Träger hinterher.
«Zweiter Klasse, Damenkupee…»
«Bitte sehr, nur eine weitere Dame…»
«Wunderbar. Ich danke Ihnen», sagte Sascha, gab dem Träger dreißig Kopeken und trat in das halbdunkle Kupee. Der Träger verstaute das Gepäck und sagte, sich verneigend:«Gute Fahrt.»
«Vielen Dank. Aber wo sind das Plaid und das Kissen?»
«Hier.»
«Geben Sie es doch bitte herüber.»
Der Träger holte das Plaid aus dem Gepäcknetz, es klingelte zum dritten Mal, er sprang aus dem Waggon, ein Pfiff ertönte, die Dampflokomotive begann zu keuchen, und, nachdem der Zug einmal kurz zitternd zurückgesetzt hatte, als ob er alle Kraft zusammennehmen müsse, setzte er sich langsam in Bewegung.
Sascha blickte aus dem Fenster, auf die Menschen, die langsam den Bahnsteig entlangschritten. Dann betrachtete Sascha ihre Reisegefährtin: eine Dame mittleren Alters, deren Äußeres beruhigend auf Sascha wirkte. Sascha holte ihr Buch hervor, befestigte den Reisekerzenhalter an der Wand und vertiefte sich in die«Consolation de Marcia»von Seneca.5
«Quelle folie en effet de se punir de ses misères, de les aggraver par un mal nouveau»,6 las Sascha in der Trostschrift an Marcia, die ihren Sohn verloren hatte. Seneca rät, sich nicht der Trauer hinzugeben. Er führt das Beispiel zweier Frauen aus dem römischen Altertum an: Oktavia und Livia trauerten beide um einen verstorbenen Sohn. Die Erstere versenkte sich ganz in düsteren Schmerz und verbat, den Namen ihres Sohnes in ihrer Gegenwart zu erwähnen. Livia hingegen führte nach dem Tod ihres Sohnes ein ruhiges Leben, erinnerte sich immerwährend an ihn, sprach viel von ihm und machte so sein Andenken zu einem Begleiter ihres Lebens.
«Kann man denn überhaupt Trost finden? Kann man denn, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat, so wie ich die Mutter verliere, über Linderung des Schmerzes nachdenken? Man kann so nicht leben, es ist ganz unmöglich…», dachte Sascha, Tränen traten ihr in die Augen und ließen sie nicht weiterlesen.
«Mais si nuls sanglots ne rappellent à la vie ce qui n’est plus», las sie alsdann, «si le destin est immuable, à jamais fixé dans ses lois, que les plus touchantes misères ne sauraient changer; si enfin la mort ne lâche point sa proie, cessons une douleur qui serait sans fruit. Soyons donc maître et pas jouet de sa violence …»7
«Ihr Billett», ertönte die tiefe Bassstimme des Kontrolleurs. Sascha zuckte zusammen und begriff zunächst nicht. Eilfertig suchte sie dann in ihrer Tasche und reichte ihm ihren Fahrschein. Der Kontrolleur sagte:«Moskau - Jalta», der Kondukteur notierte es in seinem Buch; wohltuend erfrischte der Lufthauch, der durch die geöffnete Tür ins Abteil strömte, und wieder war es still.
Ta-tam, ta-tam: Mit eintönigem, stählernem Dröhnen lärmten die Räder des Zuges über die Gleise. Sascha schloss das Buch und ließ das Gelesene auf sich wirken. In ihrem Innern tobte ein schwerer Kampf zwischen ihrer Trauer und Verzweiflung über den bevorstehenden Tod der Mutter und ihrem Wunsch, nicht zu leiden, ihrem Wunsch, jemand möge ihr gestatten, ihr junges, übervolles Leben weiterzuleben.
Ta-tam, ta-tam peinigten lärmend die Räder. Sascha konnte sich nur schwer an dieses unerträgliche Getöse gewöhnen. Sie hörte genau hin, dann verwirrten sich ihre Gedanken, und sie dämmerte ein. Und jäh erstand aus dem eintönigen Geräusch in ihrer Vorstellung eine Melodie, aus der sich ein vollendetes musikalisches Thema ergab, die sich schließlich sogar mit den leisen Tönen der Begleitstimme eines ganzen Orchesters vereinigte. Die Melodie war feierlich, traurig und großartig.
Sascha war überaus musikalisch. Sie spielte gut Klavier und sang sicher mit ihrer nicht sehr kräftigen, aber eindringlichen und feinen Stimme. Als sie noch jung war, sollte sie das Konservatorium besuchen. Doch Sascha heiratete früh. Ihr Gatte war zwar bemüht, ihrer Beschäftigung mit der Musik Verständnis entgegenzubringen, empfand allerdings eine solche Abneigung gegen die Musik, dass dies zu verbergen ihm nicht gelang. Sascha spielte und sang nur in seiner Abwesenheit und hatte wegen ihrer Schlaflosigkeit und Nervosität zuletzt gar gänzlich damit aufgehört.
Ein Klingeln - das Ende der Melodie, der Zug hielt an. Saschas Reisegefährtin warf eilig Mantel und Hut über.
«Was ist?», fragte Sascha.
«Ein großer Speisesaal, man sollte etwas essen», antwortete die Reisegefährtin.«Kommen Sie.»
«Ja, sofort.»Sascha beeilte sich, und zusammen liefen sie schnell zum Eingang des hell erleuchteten Bahnhofs, mitgerissen von der geschäftig dahineilenden Masse von Passagieren, die rücksichtslos zum Essen hinstürzten, zu den Bediensteten in ihren Fracks, den weißen Köchen an den Tischen mit den Speisen und den Kellnern in den weißen Schürzen. Sascha aß ohne Hunger eine heiße, fettige Kohlsuppe, bezahlte, suchte mit den Augen ihre Begleiterin und war froh, als sie sich wieder in ihrem Kupee niederlassen konnte.
III
Nach zwei Tagen ermüdender Fahrt kam der Zug schließlich in Simferopol an. Es war bereits Nacht, die Droschke glitt leise über die dunklen Straßen der unbekannten Stadt dahin, die im Licht des Mondes ganz aus weißem Stein zu sein schien. Nichts war zu erkennen, und Sascha war so müde, dass sie froh war, sich im geräumigen Zimmer des Gasthofs niederlassen zu können, in dem hinter einem Paravent aus Holz ein Bett stand, ein Waschtisch, ordentlich angeordnet eine Gruppe aus Diwan und Sesseln - alles ganz so wie in allen Gasthöfen der russischen Provinz.
Als sich die Tür hinter Sascha schloss und sie spürte, dass sie allein war, wurde ihr so schrecklich zumute, dass sie laut nach dem Zimmerkellner rief.«Bringen Sie mir etwas Tee und den Fahrplan der Postkutschen nach Jalta.»
«Die Postkutsche fährt um sieben Uhr», erklärte ihr der Bedienstete, während er mit einem schmutzigen Handtuch die Krümel vom Tisch fegte.
Sascha holte ihr Buch hervor und begann zu lesen. Doch sie war unfähig zu begreifen, was sie las. Ta-tam-ta - in ihr erklang wieder jene unbekannte, doch prachtvolle Melodie.
«Ach Mama, vielleicht bist du ja schon nicht mehr! Mein Gott, lass mich noch einmal in ihre großen, ernsten Augen sehen, die mich so oft liebevoll und nachsichtig anblickten, wie es nur die Mutter tut!»
Sascha schlief kaum in dieser Nacht, sie fürchtete, die Abfahrt der Kutsche zu versäumen. Gegen sieben Uhr am nächsten Morgen trat sie, nachdem sie ihre Sachen gepackt hatte, aus dem Gasthof. Es war frisch und klar. Die Kutsche war bereits angespannt und stand vor dem Eingang. Ein Deutscher sprach in gebrochenem Russisch mit dem Kondukteur und fragte nach seinem Gepäck. Ein junger Kadett rauchte großtuerisch seine Papirossa und fröstelte unausgeschlafen in der Morgenfrische. Es kamen noch zwei weitere Herren, keine Damen, was Sascha verunsicherte. Der Deutsche war Sascha beim Einsteigen in die Kutsche behilflich und nahm dann neben ihr Platz; angelegentlich betrachtete er sie; sie drängte sich ganz in die Ecke und begann vor sich hin zu träumen. Doch plötzlich belebte sich ihre Miene.
«Oh, wie wunderschön!», entfuhr es ihr unwillkürlich.«Die Berggipfel über den Wolken!»
«Die Dame reist zum ersten Mal?»,8 fragte lächelnd der Deutsche.
«Ja», antwortete Sascha einsilbig, ohne ihren Blick von den sonnigen Gipfeln abzuwenden. Sie bewunderte die kleinen Wolken, die leicht und luftig an den Berghängen standen. Der Deutsche sah Sascha einfühlsam und wohlwollend an, wie man ein Kind ansieht. Bald entspann sich ein Gespräch: Der Deutsche war Apotheker; der Kadett reiste nach Jalta zu seiner Mutter, denn in seinem Korps war die Diphtherie ausgebrochen, und man hatte alle Zöglinge nach Hause geschickt. Sascha fühlte sich nicht mehr so allein; man stand ihr bei, und der Kadett plauderte derart heiter, dass er Sascha mit seinem Frohsinn ansteckte.
«Halt!»Die Postkutsche kam plötzlich zum Stehen. Der Kondukteur sprang vom Kutschbock herunter.
«Das Rad ist gebrochen, wir können nicht weiter. Nach Aluschta ist es noch eine Werst 9.»
«Was kann man denn tun?»
«Das muss gerichtet werden.»
«Werden wir lange stehen bleiben?»
«So drei Stunden.»
«Ich komme zu spät, ich werde die Mutter nicht mehr sehen!», war das Erste, was Sascha durch den Kopf ging. Doch das Gefühl der Selbsterhaltung ist allen Menschen eigen, und so versuchte Sascha, ihre verzweifelte Ungeduld zu bezwingen. Sie ging mit den anderen Passagieren zu Fuß zur nächsten Station, aß dort einen Borschtsch zu Mittag und machte, um die Zeit herumzubringen, mit dem fröhlichen Kadetten einen Spaziergang. Sie folgten einem steinigen Weg, als plötzlich ein ungewohntes, unbekanntes Getöse Sascha innehalten ließ.
Sie war noch nie zuvor gereist, hatte nichts gesehen außer Moskau und dem Dorf, in dem sie geboren wurde. Voller Neugier blickte sie um sich, horchte aufmerksam und rief plötzlich laut:«Das Meer!»
Ja, das Meer, laut, aufgewühlt, mit seinen schweren, graublauen Wogen; geheimnisvoll, furchterregend und zugleich überwältigend in seiner Erhabenheit und grenzenlosen Tiefe.
«Das also ist das Meer!»Sascha lief zum Ufer; das Wasser rollte auf sie zu und von ihr fort; die ewig gleichförmige Bewegung der Wellen peinigte und verstörte Sascha. Sie war tief erschüttert.
«Das Meer, das Meer!», wiederholte sie, und eine ihr noch unbekannte Erregung krampfte ihr Herz zusammen.
Lange sah sie aufs Meer, bis der junge Kadett, der Muscheln und Steine gesammelt hatte, sie zur Eile antrieb und sie drängte, zur Station zurückzukehren.«Die Kutsche wird abfahren, Alexandra Alexejewna», rief er ihr zu.
Nachdem Sascha mit ihrem Begleiter an der Station angekommen war, mussten sie noch eine ganze Stunde warten, doch schließlich war alles gerichtet, und sie fuhren weiter.
Je näher sie Jalta kamen, desto banger wurde Sascha. Da, endlich, die Lichter Jaltas, immer näher und näher… Sascha wollte gar nicht mehr ankommen, doch die Postkutsche hielt, und eine ihr wohlbekannte Stimme rief fragend:«Sascha?»
«Ja, was ist mit Mama?»- Was nur wird ihr der Bruder antworten?
«Sie ist am Leben, aber sehr schwach.»
«Gott sei es gedankt! Wo ist sie?»
«Im Hotel ‹Rossija›.»
«Wer ist bei ihr?»
«Stell dir vor, wir haben hier Warwara Iwanowna getroffen, und Mama ist so froh darüber, dass die Gute ihr kaum von der Seite weicht.»
Als Sascha ins Hotel kam, wagte sie nicht, sogleich zur Mutter hineinzugehen. Zuerst sollte die Kranke unterrichtet werden, und Sascha musste sich auf den schweren Anblick der sterbenden Mutter vorbereiten.
IV
Man wies Sascha ein großes, kaltes Zimmer zu; ein anderes gab es nicht, alles war belegt. Die Kerze wurde entzündet, flackernd erleuchtete sie die Umgebung des kleinen Tisches, auf dem sie stand, der große Raum indes blieb in geheimnisvolles Dunkel gehüllt; das Gepäck wurde gebracht… Sascha aber stand immer noch, ohne abgelegt zu haben und bebend, wie gefesselt, mitten im Zimmer.
Der Bruder, der die Mutter nach Jalta begleitet hatte, ging, ihr die Nachricht von Saschas Ankunft zu überbringen. Unterdessen schickte er Warwara Iwanowna, eine entfernte Verwandte der Familie und gute Freundin der Mutter, die ihr Leben lang in Klostern gelebt hatte und nun zur Kur nach Jalta gekommen war, zu Sascha.
«Saschenka, ich grüße dich, leg doch ab, was stehst du denn so da?»
«Warwara Iwanowna, Liebe, seien Sie gegrüßt. Wie schön, dass Sie hier sind, ich habe solche Angst, Mama wiederzusehen, wie steht es um sie, sehr schlecht?»
«Es ist das Ende. Sie wird glücklich sein, dich zu sehen. Lass uns gehen, Saschenka, sei stark, alles liegt in Gottes Hand, man muss demütig sein und Ihn um Hilfe bitten.»
Im Flur kam Saschas Bruder ihnen bereits entgegen. Vor der Tür zum Zimmer der Mutter blieb Sascha stehen und bekreuzigte sich. Die alte Hausgehilfin Nastasja, die Schritte gehört hatte, öffnete leise die Tür und begann, als sie Saschas ansichtig wurde, sogleich zu weinen.
«Wer ist dort?», fragte mit sterbender Stimme die Kranke.
Entschiedenen und schnellen Schrittes trat Sascha an das Bett der Mutter, beugte sich rasch, ohne sie anzusehen, hinunter, küsste sie auf die Wange und ihre Hand und sank dahin.
«Schade, dass du im Herbst hergekommen bist, Saschenka, im Frühling ist es hier viel schöner», sagte die Mutter.
«Wir wollen doch nicht über mich sprechen, Mama, Liebe, wie geht es Ihnen?»
«Schlecht. Der Arzt hat mir Sülze aus Kalbsfuß angeraten, aber ich kann das nicht essen, es würgt mich… Dann brauche ich es doch auch nicht?»
Unvermittelt empfand Sascha eine gewisse Entfremdung der kranken Mutter gegenüber, die im Moment ihres Wiedersehens von Kalbsfußsülze sprach. Voller Schmerz begriff sie, dass der Tod bereits nahe war und der leidende Körper sich von der Seele zu trennen begann.
«Aber nein, Sie müssen sich doch nicht quälen, Mama. Wo tut es Ihnen weh?»
«Überall. Und das Atmen fällt mir schwer. Dreht mich um», wandte sie sich an den Sohn und Nastasja.
Die beiden betteten die Kranke auf die andere Seite.
«Doch nicht so. Saschenka, komm, reib mir die Seite ein.»
Mit zitternden Händen rieb Sascha den Rumpf der Mutter ein, und als diese ruhig geworden war, lief sie voller Verzweiflung aus dem Zimmer, setzte sich an einen kleinen Tisch und brach in Tränen aus.
Der finstere, graue Saal war leer. In der Mitte des Raumes plätscherte monoton der Wasserstrahl eines Brunnens in ein marmornes Becken. Sascha gab sich ihrem Schmerz wie wahnsinnig hin, verfluchte das Schicksal, die böse Macht, die ihr die geliebte Mutter nahm.
Warwara Iwanowna trat leise zu ihr.
«Saschenka, nimm Gottes Willen demütig
Copyright © 2010 by Manesse Verlag, Zürich in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung des
Staatlichen Tolstoi-Museums, Moskau.
Diese Buchausgabe der Manesse Bibliothek der Weltliteraturwurde aus der Berthold Bembo gesetzt und in Fadenheftung gebunden.
Alle verwendeten Materialien entsprechen alterungs- beständiger Qualität, die Papiere sind chlor- und säurefrei.
eISBN : 978-3-641-03851-9
www.manesse.ch
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