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Charlène ist eine lebenslustige Frau, sie trinkt und raucht und trägt das Herz auf der Zunge. Sie ist Anfang sechzig, beide Kinder sind aus dem Haus, ein Ersatz für den verstorbenen Gatten ist leider noch nicht gefunden. Um dieses Problem zu besprechen, ruft die Mutter ihre Tochter an, und wir hören ihr dabei zu. Dating, Fernsehserien, der Hund ... Aber es geht auch um ernstere Dinge – die Leere etwa, die sie manchmal umgibt, oder ihre schwere Krankheit. Trotzdem bringen einen die Anrufe fast immer zum Lachen. Charlène ist selbstsüchtig, politisch unkorrekt, unhöflich, vorwurfsvoll und widersprüchlich. Dann wiederum ist sie besorgt, zärtlich, zerbrechlich. Unmöglich, ihr lange böse zu sein ...
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Seitenzahl: 123
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Charlène ist eine lebenslustige Frau, sie trinkt und raucht, ab und zu auch einen Joint, und trägt das Herz auf der Zunge. Sie ist Anfang sechzig, beide Kinder sind längst aus dem Haus, ein Ersatz für den verstorbenen Gatten ist leider noch nicht gefunden.
Um dieses Problem zu besprechen, ruft Charlène ihre Tochter an, und wir hören ihr beim Telefonieren zu. Dating, Fernsehserien, der Hund … Aber natürlich geht es auch um ernstere Dinge – die Leere etwa, die sie zwischendurch umgibt, die schwere Krankheit, die sie zu überwinden hat. Trotzdem bringen einen die Anrufe nahezu ausnahmslos zum Lachen. Charlène ist selbstsüchtig, politisch unkorrekt, unhöflich, vorwurfsvoll und widersprüchlich. Und dann ruft sie nochmal an und macht sich Sorgen, ist zärtlich und zerbrechlich. Unmöglich, ihr lange böse zu sein …
Deuticke E-Book
Carole Fives
Eine Frau am Telefon
Roman
Aus dem Französischen von Anne Braun
Deuticke
Ich freue mich, wenn du mich anrufst,
ach weißt du, wann immer du willst.
Valérie Mréjen
Es gibt keine Minute zu verlieren, wir müssen hinaus … sofort … Es ist wirklich ein Fall von unterlassener Hilfeleistung gegenüber einer Person in Gefahr.
Nathalie Sarraute
Hallo, ich bin’s, Mama, meine Stimme ist total hinüber, aber ich konnte nicht zum Arzt gehen, die sind alle im Urlaub, aber gut, wie geht es dir? Alles in Ordnung? … Dein Bruder wollte nicht, dass ich es dir sage, aber ich mache mir Sorgen wegen meiner roten Blutkörperchen und wegen der weißen übrigens auch; ich habe von beiden zu wenig. In einem Monat gehe ich wieder zur Blutuntersuchung, das muss kontrolliert werden, ich habe echt Angst, und es geht mir nicht sehr gut. Ruf doch zurück, wenn du magst.
Störe ich? Na ja, du hättest dein Handy ja ausschalten können. Ich bin schon seit sechs Uhr wach, deshalb … Was? Ich habe deine Freunde geweckt? Wieso? Schlaft ihr etwa alle zusammen in diesem Ferienhaus? Muss ja eine schäbige Bruchbude sein! Ah, das hab ich nicht gewusst. Aber man erreicht dich ja nie. Gut, wenn du mir in dem Ton kommst, werde ich euch nicht mehr belästigen, ich habe verstanden. Ich werde ganz allein hier herumsitzen, ohne von dir zu hören. Na schön, amüsier dich, und denk ab und zu mal an mich.
Aber was ist, wenn ich dir dringend etwas sagen muss? Dann muss ich dich doch erreichen können, was mache ich da? Tja, dann eben nicht, ich warte, bis du mich anrufst.
Nochmal ich, ich bin am Durchdrehen. Ich habe schon ein ganzes Päckchen geraucht und eine Kanne Kaffee getrunken. Und alles wieder ins Klo gekotzt. Das Zeug war bitter wie Galle. Deshalb hab ich dich angerufen, ich musste einfach mit jemandem reden, entschuldige. Natürlich weiß ich, dass du im Urlaub bist. Und ihr wollt morgens immer ausschlafen, schon gut, schon gut, ich melde mich wieder.
Du bist es? Nein, nein, kein bisschen, ich bin nur gerade auf Meetic, dieser Online-Singlebörse. Ich habe mich angemeldet, kostet 29,90 im Monat. Da ist einer, der sich Patch nennt, und der mir ganz gut gefällt, weil er ziemlich viel raucht.
Ich habe schon mindestens an zehn Typen geschrieben, aber kein einziger hat mir geantwortet. Ich muss dazusagen, dass ich meine Mails um drei Uhr nachts losgeschickt habe, das kommt natürlich nicht gut an, stimmt’s?
Laurentditlolo, 58 Jahre. Sucht eine ganz besondere Frau, bevorzugt attraktiv und intelligent. Also so etwas wie mich, super! Oh, und wer ist das? Gérard428? Hey, ist der süß! Nicht auf allen Fotos, das nicht, auf anderen wirkt er wie ein alter Knacker. Und der da, er mag was? Corridas? Hilfe!
Ich kann dich nicht mehr hören, hast du aufgelegt? Willst du mir nicht helfen, jemanden zu finden? Oder wäre es dir lieber, wenn deine alte Mutter ihre letzten Tage in größter Einsamkeit verbringt? Sei doch bitte etwas moderner, heutzutage machen das alle, sogar Colette. Echt wahr, Colette hat sich auf wer weiß wie vielen Internetportalen angemeldet, sie sucht in ganz Frankreich nach Männern. Wenn du wüsstest, wie viele Frauen allein sind, ganze Heerscharen. Selbst wenn sie gut aussehen, interessant sind und super verdienen, muss ihnen klar sein: VOR EINER ALLEINSTEHENDEN FRAU HAT MAN(N) ANGST. Aber gut, in deinem Alter hat man das nicht nötig. Genieß es, genieß es, denn wenn du erstmal über fünfzig bist, ist Schluss mit lustig, das kannst du mir glauben.
Herrje, die suchen alle nur junge Dinger auf dieser Seite, aber bedauere, ich bin so alt, wie ich bin. Ich werde deshalb doch kein falsches Alter angeben, oder? Ach was, ich könnte natürlich achtundfünfzig sagen. Was hältst du davon? Achtundfünfzig klingt jünger als zweiundsechzig, das käme besser an. Stimmt, ist eigentlich egal, wo kann man hier seine persönlichen Angaben ändern?
Hallo, ich bin’s. Deinen Anruf heute früh hab ich verpasst. Ist echt schön, der neue Klingelton, den du mir aufs Handy geladen hast, immer wenn ich ihn höre, singe ich mit und vergesse ganz, dass ich rangehen sollte. Hast du deinen Bruder angerufen und ihm zum Geburtstag des Kleinen gratuliert? Ich hab’s wieder mal vergessen, und da haben sie mich alle vier angerufen und »Zum Geburtstag viel Glück« ins Telefon gegrölt. Wie stehe ich jetzt da? Nein, nein, ich kaufe ihm nichts, sie haben von mir zu Weihnachten schon genug bekommen, das muss auch mal reichen. Mit meiner kleinen Rente? Und dann soll ich euch auch noch mit Geschenken überschütten? Nein, was für eine verkehrte Welt!
Ich habe meine Blutergebnisse erhalten, aber ich habe nichts kapiert von dem, was da steht … »Blutplättchen 55.000/µl … Hämoglobin 10,1 g/dL … Erythrozyten …« Weißt du, was Erythrozyten sind? Und die Blutplättchen, meinst du, die sind wichtig? So ein Mist! Ich gehe natürlich zu meinem Hausarzt, sobald ich kann, aber jetzt, wo die Ferien vorbei sind, ist er krank geworden, stell dir vor! Hast du das schon mal erlebt – ein Arzt, der krank wird?
Nein, zu irgendeinem Vertreter gehe ich nicht, ich bin an meinen Doktor gewöhnt und warte lieber, bis er wieder da ist.
Wann kommst du nochmal? Wann – bald? Das sagt dein Bruder auch immer, aber außer zu Weihnachten lasst ihr euch nicht blicken … Hey, warum beantragst du nicht deine Versetzung? Wenn ihr näher bei mir wohnen würdet, könnte ich euch zum Essen einladen, ich könnte zu euch kommen und euch den Haushalt machen … Und wenn es mit dem Geld eng wird bei euch, würde ich mich um euch kümmern. Ich könnte sogar den Keller ausbauen, für den Winter eine Heizung installieren lassen, der Keller ist groß, ihr hättet genug Platz. Tsss, warte ab, bis du in meinem Alter bist. Dann wirst du an mich und meine Worte denken. Du wirst sagen: O ja, Mama hat recht gehabt und ich unrecht, und jetzt, wo sie nicht mehr da ist … Man hat nur eine Mutter, das solltet ihr ausnutzen …
Was schaust du dir gerade im Fernsehen an? Dann schalte ich denselben Sender ein, das gibt mir das Gefühl, dass wir zusammen sind.
Gestern Abend kam ein schöner Film, mit dieser Kleinwüchsigen, der war echt toll. Es ging um die Welt der Mode, und da geht es zwischenmenschlich ganz schön hart zu. Ein Glück, dass diese kleine Frau da war!
Weißt du, warum mir im Internet kein Mensch auf meine Kontaktanzeigen geantwortet hat? Ich habe an der falschen Stelle angeklickt, bei: Ich bin eine Frau und suche eine Frau. Da ging natürlich nichts.
Als Pseudonym habe ich Chinchilla_417 genommen, wie findest du das? Klingt es einigermaßen jung? Das sind diese kleinen pelzigen Tiere, und da ich im Zeichen der Ratte geboren bin … Und du, was war nochmal dein Sternzeichen im chinesischen Horoskop? Schwein? Das ist gut, ein positives Zeichen. Also, das hatte ich reingestellt: Jung gebliebene Rentnerin wünscht sich einen netten, fürsorglichen Partner, der das Leben ebenso sehr liebt wie sie. Ich lebe mit meinem kleinen Hund allein, habe aber gute Freunde, und mein Hobby ist Ölmalerei.Ich liebe Van Gogh, Matisse, Picasso und alle großen Maler des 20. Jahrhunderts … Was hältst du davon? Ich habe absichtlich ganz sachlich geschrieben, damit mir keine notgeilen Idioten antworten.
Ach je, mir lagen so viele Männer zu Füßen, und jetzt? Jetzt muss ich es büßen. Klar, mit zwanzig konnte ich alle Männer haben, die ich haben wollte, was denkst du? Und ich war so bescheuert, euren Vater zu heiraten, diesen verrückten Psychopathen! Ausgerechnet ihn, und dabei hätte ich einen sehr netten, sensiblen Mann haben können. Der wollte mich heiraten, und ich habe ihn sitzenlassen … Dieser andere war extra aus Lyon gekommen, um bei meinen Eltern um meine Hand anzuhalten. Er hieß Pierre Rival, so was denkt man sich nicht aus. Meine Eltern mussten ihn ohne mich vom Bahnhof abholen, ich war da bereits mit eurem Vater auf und davon! Pierre Rival hatte mir als Geschenk eines dieser Peynet-Püppchen mitgebracht, die waren damals große Mode. Meine Eltern sind mit ihm essen gegangen und haben ihn dann wieder in den Zug nach Lyon gesetzt, er hat sich nie mehr gemeldet. Er war ein anständiger junger Mann, tüchtig und sparsam. Und ich hab ihm einen Korb gegeben wegen … eurem Vater, diesem Mistkerl!
Ich würde mich freuen, wenn du mich jeden Tag anrufst, die Uhrzeit ist mir egal, wann es dir passt, sagen wir morgens, wenn ich aufwache, gegen sieben oder acht, und abends, wenn ich durchhänge, gegen fünf oder sechs. Dann kann ich mir tagsüber sagen, bald ruft sie an, und wenn wir aufgelegt haben, kann ich mir das, was wir uns erzählt haben, nochmal durch den Kopf gehen lassen. Ich verlange ja nicht viel, ich will nur deine Stimme hören, auch wenn du nichts Spannendes zu erzählen hast. Für dich ist es eine Kleinigkeit, aber mir würde es enorm helfen, denn ich fühle mich oft schrecklich einsam.
Ha, er ist der Böse in diesem Film! Der Mistkerl! So ein Mistkerl! Er ist hinter dir, dreh dich um! Zu spät! Wie kann sie auch so blöd sein? Ah, ich mach lieber aus, diese Fernsehserien sind zu dämlich.
Ich ruf dich zurück, ist ja gleich zu Ende!
Nein, ich würde sofort nein sagen! Er ist der Mörder, ganz klar!
Schau, der Körper, da schwimmt er! Wie schrecklich! Ah, das Blut, so viel Blut an seinem Mantel, den werden sie schnappen.
Meetic? Nein, nein, da bin ich wieder raus, da sieht man immer dieselben Gesichter. Die Typen auf Meetic sind wie die, die zu Ikea gehen, sie suchen nur nach Standardmodellen. Und ich bin nun mal nicht Standard. Nein danke, von Männern habe ich die Nase voll. Lieben bedeutet leiden, und in meinem Alter ist mir das einfach zu anstrengend.
Ah, Tod durch Giftspritze, er ist verurteilt worden, damit hätte er rechnen müssen. Ich mag diese Fernsehserie, und nachher gehe ich ins Bett. Je bescheuerter, desto besser.
Bist du’s, meine Süße? Der Arzt hat angerufen und ohne lange Vorrede gesagt: »Madame, hier spricht Doktor Plot. Ihre Ergebnisse sind sehr schlecht, Sie haben Krebs, wir sehen uns am Montag in meiner Praxis.« Und dann hat er aufgelegt. Ich und Krebs? Der gute Mann hat sie wohl nicht mehr alle!
Im Krankenhaus haben sie ein Szintigramm von mir gemacht. Der rote Pfeil ist der Krebs. Der Pfeil war direkt am Knochen, er hat gerade angefangen, ins Knochenmark einzudringen, höchste Zeit also. Der Professor sagte: »Es handelt sich um einen sehr aggressiven Krebs, und folglich müssen wir auch sehr aggressiv dagegen angehen.«
Komisch, ich habe Lungen wie ein Baby, obwohl ich dreißig Jahre lang geraucht habe. Und dann muss ich ausgerechnet Blutkrebs kriegen, ist doch irgendwie blöd.
Die Krankheit selbst ist mir fast egal, die Chemotherapie auch, aber was mir so richtig Angst macht, ist das Sterben. Ich kann doch nicht sterben, nachdem ich so ein beschissenes Leben hatte! Meinst du, mir fallen die Wimpern aus? Und auch die Augenbrauen?
Meine Bettnachbarin im Krankenhaus ist super. Sie heißt Corinne und ist im Endstadium, nicht mal eine Autotransplantation hat bei ihr noch was genützt. Sie hat zu mir gesagt: »Wart’s ab, wenn du mit der Chemo anfängst, wachst du eines Morgens auf, und deine Haare liegen alle auf dem Kopfkissen.« Deshalb habe ich mir die Haare lieber alle abrasiert. Corinne hat mir mit ihrer Geschichte von den Haaren auf dem Kopfkissen echt einen Schreck eingejagt. Und dann habe ich mir eine blonde Perücke à la Marilyn gekauft … Du wirst staunen – die beste Frisur, die ich je hatte. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich es mit meinen dünnen Haaren schon längst mit Perücken probiert.
Das Zimmer ist nicht schlecht, man kann die Gleise sehen und vorbeifahrende Güterzüge, das ist ganz interessant.
Corinne ist eigentlich Koreanerin und wurde als Kind adoptiert. Aber weder ihre Eltern noch ihre Kinder lassen sich noch bei ihr blicken, weil sie ihnen keinen Cent mehr geben kann. Und weil sie hier im Krankenhaus noch nie Besuch hatte, habe ich gestern Abend am Automaten Schokolade gekauft und ihr aufs Bett gelegt. Zum Dank hat sie mir einen Stern aus kleinen Glasperlen geschenkt. Die bastelt sie selbst, einfach wunderschön! Nein, nein, mach dir keine Sorgen, das Fernsehen hier ist gratis. Ich wollte es gleich bei meiner Ankunft bezahlen, aber sie haben gesagt: »Für euch Krebspatienten ist das Fernsehen umsonst.«
Hier im Krankenhaus hat man richtig intensive Begegnungen. Kranke verstehen sich auch ohne große Worte. Da war eine Frau, die »Nur Mut!« zu mir gesagt hat, und da habe ich ihre Hand genommen und sie umarmt, das ging weit über Worte hinaus.
Klar leide ich, aber gleichzeitig habe ich auch das Gefühl, das Abenteuer meines Lebens zu erleben.
Danke für deinen Besuch! Wir haben uns nie mehr so oft gesehen wie seit ich Krebs habe. Ihr ruft an, wir verbringen Zeit zusammen, wie mich das freut! Und wie war es für dich und deinen Bruder, mich ohne Haare zu sehen? Nun ja, ich habe Krebs und werde sterben, an den Gedanken müsst ihr euch gewöhnen. Ach was, ihr könnt sagen, was ihr wollt, ihr seid es nicht, die krepieren werdet.
Als ich damals meine eigene Mutter mit Krebs gesehen habe, hat es mir null ausgemacht. Wir standen uns sowieso nicht sehr nah, ich habe sie nur einmal im Jahr gesehen, zu Weihnachten, wenn überhaupt. Als sie dann gestorben ist, habe ich fast durchgedreht, weil mir klar wurde, dass es aus war, dass ich mit ihr nie die Beziehung haben würde, von der ich geträumt hatte. Aber das, worauf ich gehofft und immer gewartet hatte, war nicht mehr möglich. Aus und vorbei. Ich dachte, ich würde verrückt werden. Aber wie du siehst, habe ich es überlebt.