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Zärtlichkeit, Wut, Liebe, Verzweiflung – eine Mutter zwischen Fürsorge und Freiheit. Nach „Eine Frau am Telefon“ der neue Roman von Carole Fives
Ihr kleiner Sohn ist hübsch, blondgelockt, von allen bewundert. Doch er lässt seiner Mutter keine freie Minute. Der Vater ist abgehauen, die junge Frau hat weder Familie noch Freunde, die sie unterstützen könnten. Auch die Nachbarn, er ist Polizist, sie scheint nicht zu arbeiten, wollen nichts mit ihr zu tun haben. Wenn der Kleine endlich schläft, gönnt sich die junge Frau kleine Fluchten. Sie verlässt die Wohnung, erst nur ganz kurz, dann immer länger. Bis sie einmal eine ganze Nacht lang wegbleibt, das Kind allein zurück in der Wohnung lässt … Carole Fives’ neuer Roman ist ein unheimliches Leseerlebnis, dem man sich nicht entziehen kann, und er zeigt zugleich, wie schwierig und ausweglos die Lage alleinerziehender Frauen sein kann.
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Seitenzahl: 150
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Ihr kleiner Sohn ist hübsch, blondgelockt, von allen bewundert. Doch er lässt seiner Mutter keine freie Minute. Der Vater ist abgehauen, die junge Frau hat weder Familie noch Freunde, die sie unterstützen könnten. Auch die Nachbarn, er ist Polizist, sie scheint nicht zu arbeiten, wollen nichts mit ihr zu tun haben. Wenn der Kleine endlich schläft, gönnt sich die junge Frau kleine Fluchten. Sie verlässt die Wohnung, erst nur ganz kurz, dann immer länger. Bis sie einmal eine ganze Nacht lang wegbleibt, das Kind allein zurück in der Wohnung lässt … Carole Fives’ neuer Roman ist ein unheimliches Leseerlebnis, dem man sich nicht entziehen kann, und er zeigt zugleich, wie schwierig und ausweglos die Lage alleinerziehender Frauen sein kann.
Carole Fives
Kleine Fluchten
Roman
Aus dem Französischen von Anne Braun
Paul Zsolnay Verlag
Für meinen Sohn Odilon
Es waren eben, wie es scheint, unabhängige Ziegen, die um jeden Preis ihre eigenen Herren sein und frei leben wollten.
Alphonse Daudet
Wie unbekümmert das Kind seine Nudeln gegessen hat, sein Gemüse. Es hat sogar den ganzen Becher Erdbeerjoghurt weggeputzt und das Fläschchen mit warmer Milch. Somit müsste es jetzt satt sein.
Sie hat ihm eine Geschichte vorgelesen und ist bei ihm sitzen geblieben, bis sich die kleinen Fäuste entspannten und ihre Hand endlich losließen.
Sie hat noch ein paar Minuten gewartet, in dem halbdunklen Zimmer, in dem nur das Häschen-Nachtlicht brannte.
Vorsichtig und möglichst leise macht sie die Wohnungstür hinter sich zu.
Unten im Eingangsbereich geht automatisch das Licht an.
Noch so viele Menschen auf der Straße.
Ein kühler Wind schlägt ihr entgegen.
Gehen, einfach nur gehen. Nur einmal kurz um den Block.
Aus den offenen Fenstern einer Wohnung dringt Musik, Salsa-Rhythmen. Sie kann die Umrisse von Menschen sehen. Stimmen singen auf Spanisch einen Refrain mit, den sie nicht kennt. Als sich jemand aus dem Fenster beugt, geht sie schnell weiter.
Vor dem Schaufenster einer Immobilienagentur bleibt sie stehen. Anzeigen laufen über den beleuchteten LED-Bildschirm. Oberster Stock mit Terrasse, 1100 Euro. Sonnige Triplex-Wohnung, 850 Euro. Einfamilienhaus mit Garten, Landleben in der Stadt, 1200 Euro. Ideale Lage, Ost-West-Ausrichtung, 850 Euro. Traumhaftes kleines Loft, Typ Canut, Hanglage in Croix-Rousse, 880 Euro.
Ein paar Schritte weiter noch eine Wohnung mit offenen Fenstern, noch eine Party. Die Musik rockiger, lauter.
Ein Kurierfahrer mit Motorroller fährt sie auf dem Trottoir fast um, sie springt zur Seite und hätte sich beinahe noch entschuldigt.
Ein Grüppchen angetrunkener Jugendlicher torkelt über die Straße, also wirklich! Eigentlich aber auch cool!
Da vibriert auch schon das Smartphone in ihrer Tasche.
Sie geht langsamer, kostet die letzten Schritte aus.
Den Zugangsausweis an die Rufanlage halten, die Treppe hinaufstürmen.
Sechster Stock rechts.
Ganz außer Atem schließt sie die Wohnungstür auf.
Drinnen rührt sich nichts.
In dem kleinen Zimmer nur das regelmäßige leise Schnarchen des Kindes.
Es ist noch erkältet, morgen wird sie ihm die Nase durchspülen, auch wenn es dann immer Theater macht.
Für heute Abend reicht es.
Aber jetzt hat sie neue Kraft geschöpft, sie kann weitermachen.
Sie saßen dicht an dicht, gefangen in diesem winzigen Wartezimmer.
Eine Frau zog vor aller Augen eine riesige Brust hervor, presste den Kopf des Säuglings in ihrem Tragetuch daran. Auf dem kleinen Sofa ließ eine verschleierte Mutter ihr Töchterchen vom Smartphone Kinderlieder hören. Roter, roter Teppich, trällerte es aus dem Gerät. Kein einziges Spielzeug im ganzen Raum, kein Buch, nicht einmal ein kaputtes Feuerwehrauto oder ein armseliges Plüschtier, das hier war ein Kinderarzt, der anscheinend meinte, Kinder bräuchten nicht zu spielen, ein Idiot, ganz klar, warum war sie für einen Idioten durch die halbe Stadt gefahren, hatte sie das wirklich nötig, diesen zusätzlichen Stress?
Sie hätte den paar auf Google gefundenen Bewertungen über Alain Gérard, Kinderarzt in Lyon im 5. Bezirk, Glauben schenken sollen.
Hatte Myriam M. am 12. Dezember, vor knapp drei Monaten, nicht geschrieben, dieser Facharzt habe sich geweigert, ihre Tochter zu messen und zu wiegen — unter dem Vorwand, sie sei schließlich als Notfall gekommen, wegen einer simplen Mittelohrentzündung. Er hatte ihr sogar unterstellt, wie Myriam M. empört schrieb, ihre Tochter würde nur »Theater spielen«, und schließlich habe er sie noch als »verwöhntes Prinzesschen« betitelt. Aber dieser Kinderarzt verstehe sich immerhin darauf, einem sein Kartenlesegerät hinzuhalten, das ja, und Myriam M. schloss mit den Worten: »Sechzig Euro für gerade mal drei Minuten, so ein Halsabschneider!«
Wie die Datenschutzrichtlinien von Google das hatten durchgehen lassen, und wieso der Kinderarzt, ob Halsabschneider oder nicht, es hinnahm, dass dieser Kommentar für jeden lesbar war, der seinen Namen in die Suchmaschine eingab, war eine andere Geschichte, doch Myriams Meinung hatte ihre erste Intuition bestätigt, der sie ehrlich gesagt ohnehin nie folgte. Auf ihre Intuition hatte sie ihr ganzes Leben lang nie gehört, eher im Gegenteil, und jetzt sah man ja, wohin das führte. Dabei war es eine Freundin gewesen, die ihr diesen Doktor Gérard empfohlen hatte, ja, sie hatte ihr per SMS geschrieben, bei Alain Gérard sei ihr Sohn in den besten Händen, denn er »arbeite mit KV-Techniken«. Die Mutter des Kindes wusste nicht, was genau sich hinter diesem Kürzel verbarg: kurze oder künstliche oder vielleicht etwa kognitive Verhaltenstherapie? Jedenfalls hatte sie schnell einen Termin bei diesem Spezialisten gemacht, und erst als sie am Vorabend im Internet noch schnell die Adresse überprüfen wollte, war sie auf Myriams Kommentar gestoßen.
Zu spät, der Termin war gemacht: sechzehn Uhr, und jetzt war es halb sechs, und sie warteten seit fast zwei Stunden.
Die Frau mit der Brust war schon drangekommen, das kleine Mädchen und seine Mutter ebenfalls, im Wartezimmer saßen nur noch sie beide und ein etwa vierzigjähriger Mann, den sie bisher kaum beachtet hatte. Wartete er auf seine Frau oder auf sein Kind? Im Moment zupfte er jedenfalls nervös an seinem kurzen Bart herum. Endlich ließ sich der Spezialist wieder blicken, und sie wollte schon aufstehen, als er plötzlich einen anderen Namen sagte, einen ganz anderen als ihren, und der Mann mit dem Bart erhob sich, und seine spitzen Lederschuhe quietschten auf dem Linoleumboden des Wartezimmers, als er dem Kinderarzt folgte. Ihr Sohn schaute sie fragend an. »Und der Doktor?« Mit leiser Stimme beruhigte sie ihn: »Gleich sind wir dran.«
Sie mussten noch eine ganze Stunde warten, und die verbrachte sie hauptsächlich damit, sich zu fragen, was ein vierzigjähriger Typ wohl in der Praxis eines Kinderarztes zu suchen hatte, auch wenn der auf dieses mysteriöse KV spezialisiert war. Litt er an speziellen Symptomen, die nur ein Facharzt für Kleinkinder behandeln konnte? War er vielleicht in der oralen oder analen Phase steckengeblieben? Machte er noch ins Bett? Sie stand auf und öffnete das einzige Fenster im Raum. Sie nahm das Kind auf den Arm, und sie betrachteten zusammen das, was es vor dem Fenster zu sehen gab: einen gepflasterten Innenhof, auf den andere, genauso stumme Fenster der umliegenden Gebäude zeigten, und mitten auf dem Hof ein Baum, ein riesiger Baum, dessen Blätter das Kind zu faszinieren schienen, das Zittern der Blätter bei Einbruch der Nacht.
Irgendwann tauchte der Arzt wieder auf. Er trug ein halboffenes Leinenhemd und eine helle Stoffhose, war braungebrannt und hatte entspannte Gesichtszüge, wahrscheinlich das Resultat einer überspannten exotischen Entspannungsmethode, wie sie annahm. Doktor Gérard gab ihnen zu verstehen, ihm zu folgen. Mit seinen muskulösen Fingern klopfte er auf seine Uhr, als wolle er deutlich machen, dass sie beide, Mutter und Kind, zu spät dran waren. Als würden sie und ihr Kind nicht schon seit Stunden auf diesen Moment warten, vor dem sie sich gleichzeitig auch fürchteten.
Er führte sie in ein Zimmer, das kein Fenster und auch keine Tür hatte, außer der, durch die sie gerade eingetreten waren und die sich hinter ihren Schritten wieder aufzulösen schien.
»Sie waren noch nie bei mir! Wieso jetzt?«
Sie hätte ihn gern gefragt, wo der Mann mit den spitzen Schuhen abgeblieben war, durch was für eine verborgene Tür oder über was für eine verborgene Treppe er ihn habe verschwinden lassen, genau wie die anderen Personen, mit denen sie im Wartezimmer gesessen hatte. Das Kind fragte sich das offenbar auch, denn es tapste zu einem Schrank und versuchte, durch die Metalltür zu spähen.
»Finger weg!«, schimpfte der Kinderarzt.
»Ich … also das heißt … eine Freundin von mir hat mir Ihren Namen gegeben … sie hat Sie mir empfohlen …«
Sie buchstabierte den Namen der Freundin, R.I.C.H.E.U.X, Hélène Richeux. Dieser Namen sollte eine Art Opfergabe sein, ein Zeichen für Gemeinsamkeit, sie war nicht seine Patientin, gut, aber sie war nicht rein zufällig hier, sie hatte seinen Namen nicht aus den Gelben Seiten, sie war nicht wie diese Myriam M., die einen bedeutenden Kinderarzt wie ihn wegen einer banalen Mittelohrentzündung belästigte, sie wusste, dass er ein Fachmann für KV war … Der Name der Freundin schien Dr. Alain Gérard nichts zu sagen, er wischte die Information mit einer Handbewegung beiseite, und weiter?
Das Kind kletterte auf ihren Schoß, als wenn es sich der Anwesenheit seiner Mutter in diesem Raum vergewissern wollte, als wenn es sich ebenfalls fragen würde, ob diese Szene hier wirklich real war.
Der Kleine leide unter Juckreiz, sagte sie, als wollte sie sich bei Alain Gérard dafür entschuldigen, er kratze sich, also manchmal, er habe Hautflecken, an den Beinen und Knien, Pusteln, die sich dann verkrusteten, beeilte sie sich hinzuzufügen, und an den Ellbogen ebenfalls …
»Und weiter?«
Sie war so verdutzt, dass sie die hingeworfene Frage des Kinderarztes quasi wiederholte: »Was weiter?«
Alain Gérard erstarrte. »Wer hat Ihnen gesagt, ich könne Wunder bewirken? Ich bin doch kein Zauberer!«
Der Kleine lachte. Er kannte dieses Wort, ein Zauberer, ein Clown, eine Zirkusnummer, das war es also, worauf sie seit Stunden gewartet hatten, was für eine unverhoffte Wendung!
»Ich dachte mir, dieser Juckreiz hätte vielleicht einen tieferen Grund … Und dann auch der Schlaf, er wacht immer noch jede Nacht auf …«
Alain Gérard kritzelte ein paar Sätze in das Kinder-Untersuchungsheft.
»Sechzig Euro.«
Und aus seinem Zauberhut zog er nicht etwa ein Kaninchen, nein, auch keine Taube oder wenigstens einen blütenweißen Schal, sondern ein dunkles Kartenlesegerät.
Sie holte tief Luft und dachte, um sich Mut zu machen, an Myriam M., die das auch schon erlebt hatte. »Kann ich Ihnen einen Scheck ausstellen?« Alain Gérard knallte das Gerät auf seinen Schreibtisch zurück, während sie ihr Scheckheft aus der Tasche kramte. Dieses Detail, nein, es war nicht nur ein Detail, es erinnerte sie an eine Anekdote, die über einen bekannten Psychoanalytiker erzählt wurde. Der wurde sehr ungehalten, als ein Patient nicht bar bezahlen wollte. Er riss seine Schreibtischschublade auf und warf ein großes Bündel Geldscheine in die Luft, die durch den ganzen Raum flogen. Dabei schrie er etwas wie: »Ich will Bargeld, nur Bares ist Wahres!«
Aber ganz genau konnte sie sich nicht an diese Anekdote erinnern, sie konnte sich Geschichten, egal ob witzig oder nicht, überhaupt schlecht merken.
Kurz darauf standen sie wieder auf der Straße. Sie schnallte das Kind in seinen Buggy, und es schlief sehr schnell ein. Der Buggy sauste geradeaus, immer geradeaus, die steilen Straßen von Croix-Rousse hinunter. Das braungebrannte Gesicht von Alain Gérard verfolgte sie, es schien sich über sie beide lustig zu machen. Wenig später schob sich das Gesicht des Typen mit den spitzen Schuhen vor das des Kinderarztes. Der Buggy sauste den Hügel hinunter, während das Gelächter der beiden Männer durch den Lyoner Abend vibrierte.
Sie steht leise auf. Nur eine einzige brüske Bewegung, und das Kind würde aufwachen und erneut verlangen, dass sie bei ihm bleibt. »Zu mir, zu mir«, ruft es jedes Mal, wenn es spürt, dass sie sich entfernt. An diesem Abend hat sie ihre Hand lange auf dem kleinen warmen Schlafanzug liegen lassen und darauf gewartet, dass sich der kleine Körper entspannt und einschlummert. Sie lässt die Zimmertür einen Spalt breit offen, das Nachtlicht in der Steckdose brennt.
Als sich ihre Augen wieder an das Licht im Flur gewöhnt haben, hat sie das Gefühl, in einer anderen Wohnung zu sein.
In einer Wohnung ohne Kind, an einem Ort, nur für sie.
Aber es ist schon fast zweiundzwanzig Uhr, die Nacht wird kurz sein, gegen fünf, halb sechs wird der Kleine aufwachen und wieder »zu mir, zu mir« rufen.
Sie lässt die Rollläden herunter.
Auf der Straße die Busse, die Taxis, die Cafés …
Die Leute gehen aus, sie treffen sich, sind auf dem Weg ins Kino. Ein Pärchen überquert engumschlungen die Straße, was, wenn es der Vater des Kindes wäre?
Sie stellt den Wasserkessel auf, holt eine saubere Tasse aus dem Geschirrspüler. Sie hat eine ganze Stunde vor sich, vielleicht anderthalb. Da fällt ihr ein, dass sie ja noch Wäsche aufhängen muss. Und die Spülmaschine ausräumen. Wichtige E-Mails warten in ihrem Postfach.
Sie will France Inter hören, aber im CD-Fach steckt noch die CD mit den Kinderliedern, und die Melodie der »Schildkröten-Familie, die man nie, nie gesehen hat« schallt durch die ganze Wohnung, die Lautstärke war bis zum Anschlag aufgedreht. Sie stürzt sich auf das Gerät und schaltet es mit einer heftigen Bewegung aus. Lässt sich auf das Sofa fallen, das voller Spielsachen ist. Im Wohnzimmer sieht es aus wie in einer Kinderkrippe. Sie hat ihre Tasse mit dem heißen koffeinfreien Kaffee auf den Spielteppich gestellt. Ein Tabu, wenn das Kind anwesend ist! Sie erhebt sich und stellt die Tasse auf den Kaminsims. Da sie nun schon mal steht, räumt sie auch gleich noch das rote Bobbycar weg, mit dem sich ihr Sohn in den letzten Tagen praktisch ausschließlich fortbewegt hat. Sie schiebt es zwischen Wand und Sofa, ab in die Garage, murmelt sie vor sich hin. Das Gleiche macht sie mit dem kleinen Dreirad, dann mit dem Lauflernwagen. Stolpert über ein Feuerwehrauto — oder war es ein Legostein?
Sie hebt die bunten Klötzchen auf und legt sie in eine Stoffkiste. Sie sortiert, was auf dem Teppich liegt: auf die eine Seite die Bauernhof-Tiere, auf die andere die Spielzeugautos, die überall verstreuten Memory-Karten, die Instrumente aus dem Arztkoffer, die vermischt sind mit den Werkzeugen des perfekten kleinen Handwerkers: winzige Schraubenzieher und Hämmerchen, Küchengeräte, Besteckteile, zusammengewürfelte Teller, eine Plastiktomate kommt zum anderen Gemüse im Körbchen … auch ein paar Früchte stopft sie mit dazu, Ananas, Birne, ein blasses Ei, darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an.
Sie streicht die Decke auf dem Sofa gerade, platziert die Kissen darauf, richtet die Tischlampe wieder auf, deren Lampenschirm eine Delle abbekommen hat, bestimmt ein Ball, ach ja, die Bälle, sie sammelt die Bälle ein, versteckt sie oben im Flurschrank, damit das Kind nicht schon beim Aufwachen daran denkt und schon um fünf Uhr morgens auf den Köpfen der Nachbarn unter ihnen herumdribbelt. Liebevoll legt oder stellt sie die übrigen Spielsachen wieder an ihren Platz, räumt alles auf, denn am nächsten Morgen soll das Wohnzimmer wieder einladend aussehen, der Couchtisch schön sauber sein, damit das Kind Lust bekommt, ein Zeichenblatt darauf zu legen und zu malen, oder damit es sein Puppengeschirr an Ort und Stelle wiederfindet, die Messer bei den Messern, die Töpfe bei den Bratpfannen. Bei Tagesanbruch wird sich der Kleine auf seine Spielsachen stürzen, und ein neuer Tag beginnt. Da glaubt sie, im Kinderzimmer ein Wimmern zu hören, und verharrt reglos auf der Krabbel- und Lerndecke. Bitte nicht aufwachen! Nicht jetzt schon!
Der koffeinfreie Kaffee ist kalt, sie stellt ihn ins Spülbecken. Streckt sich. Der untere Rücken schmerzt vom dauernden Herumtragen des Kleinen. Maman, hoch, hoch. Sie ertappt sich oft in dieser Position, die Hände auf die Hüften gestützt, das Becken nach vorn geschoben, wie früher, als sie schwanger war. Sie ertappt sich manchmal dabei, dass sie von sich in der dritten Person spricht: »Maman macht jetzt dies, Maman muss noch jenes machen.«
Im Badezimmer ist die Wanne voller Spielsachen, Entchen, Angelruten, Gießkanne, sie bückt sich, sammelt eins nach dem anderen ein, legt die Sachen zum Trocknen auf den Wannenrand und kümmert sich dann um den Badvorleger und den Fußboden, beide pitschnass. Die feuchten Handtücher und die getragenen Sachen vom Tag wirft sie, ohne genauer nachzusehen, in den Wäschekorb. Sie putzt sich rasch die Zähne, nicht mal eine Minute lang. Die Wäsche. Beinahe hätte sie vergessen, dass sie noch Wäsche aufhängen muss. Sie öffnet die Trommel der Waschmaschine, zieht die feuchten Sachen heraus und legt sie in eine Plastikwanne. Die trägt sie in ihr Schlafzimmer. Der Wäscheständer hängt schon durch von der Ladung der letzten Maschine. Aber die Wäsche scheint halbwegs trocken zu sein, sie wirft alles wild durcheinander auf ihr Bett. Dann hängt sie die nassen T-Shirts, Babysöckchen, Lätzchen und Schlafanzüge auf.
Auf der Toilette schiebt sie mit dem Fuß den kleinen Schemel zur Seite, den das Kind braucht, um auf den Toilettensitz steigen zu können. Urinflecken auf der Klobrille, der Kleine ist erst seit ein paar Wochen sauber. Sauber, das sagt sich so leicht. Sie holt den Schwamm und eine Flasche Eau de Javel, besprüht damit den Sitz, dann den Innenrand der Klobrille. Wischt mit dem Schwamm nach und spült ihn dann im Badezimmer unter fließendem Wasser aus. Dieses Hin und Her wiederholt sie drei oder vier Mal. Mit dem Schwamm wischen, Schwamm ausspülen, mit dem Schwamm wischen. Dann fängt sie an, den Fußboden um die Toilette herum zu putzen, der ist auch verspritzt. Sie drückt den Schwamm aus und räumt ihn zusammen mit dem Javel in den Badezimmerschrank. Mit einem Seufzer der Erleichterung sinkt sie nun auf die Toilette. Doch sie kann nicht pinkeln. Summt ein Liedchen, das sie normalerweise ihrem Sohn vorsingt, um ihn zum Pinkeln zu bewegen: Pipi tropf tropf tropf … Regen tropf tropf tropf …
Einschlafen, hier und jetzt einschlafen, im grellen Licht der Toilette und mit dem stechenden Chlorgeruch von Javel in der Nase.