Eine Geschichte aus zwei Städten - Charles Dickens - E-Book

Eine Geschichte aus zwei Städten E-Book

Charles Dickens.

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Beschreibung

Dickens schrieb diesen Roman 1859, als sein eigenes Leben starke Veränderungen erfuhr. Er ließ sich scheiden, seine britische Wochenzeitschrift Household Words ging ein, während er eine neue Zeitschrift All the Year Round startete. "It was the best of times, it was the worst of times, it was the age of wisdom, it was the age of foolishness…" so beginnt sein Roman über das Leben des Dr. Manette und seiner Tochter Lucie in zwei Städten, London und Paris. Eine düstere, im Londoner Nebel spielende Anfangsszene, eine Reise nach Paris, um den jahrelang unschuldig in der Bastille gefangen gehaltenen Dr. Manette nach London zurückzuholen, die Liebesgeschichte seiner Tochter Lucie zu Charles Darnay, einem in London lebenden Marquis de Evremonde, und die dramatischen Verknüpfungen mit der Pariser Hauptstadt während der Schreckensherrschaft der la guillotine sind der Inhalt dieses Romans, wobei ein ewig betrunkener Protagonist, Sydney Carton, aus einer Nebenrolle heraus der tragische Held dieser Geschichte wird.

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Eine Geschichte aus zwei Städten

 

Charles Dickens

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

©2016-Re-Image Publishing

Copyright: Dieses Werk ist für die Länder verfügbar, in denen das Urheberrecht Leben+ 70 beträgt und in den USA

Inhalt
Erstes Buch. Ins Leben zurückgerufen
Erstes Kapitel. Damals
Zweites Kapitel. Der Postwagen
Drittes Kapitel. Nächtliche Schatten
Viertes Kapitel. Die Vorbereitung
Fünftes Kapitel: Die Weinschenke
Sechstes Kapitel. Der Schuhmacher
Zweites Buch. Der goldene Faden
Erstes Kapitel: Fünf Jahre später
Zweites Kapitel. Ein Schauspiel
Drittes Kapitel: Eine Enttäuschung
Viertes Kapitel: Glückwünsche
Fünftes Kapitel: Der Schakal
Sechstes Kapitel. Hunderte von Leuten
Siebentes Kapitel. Der Herr Marquis in der Stadt
Achtes Kapitel. Der Herr Marquis auf dem Lande
Neuntes Kapitel. Das Medusenhaupt
Zehntes Kapitel. Zwei Versprechen
Elftes Kapitel: Ein Gegenstück
Zwölftes Kapitel: Der Mann von Zartgefühl
Dreizehntes Kapitel: Der Mann ohne Zartgefühl
Vierzehntes Kapitel: Der ehrliche Geschäftsmann
Fünfzehntes Kapitel: Ein Strickzeug
Sechzehntes Kapitel. Es wird weitergestrickt
Siebzehntes Kapitel. Eine Nacht
Achtzehntes Kapitel. Neun Tage
Neunzehntes Kapitel: Ein ärztliches Gutachten
Zwanzigstes Kapitel. Eine Bitte
Einundzwanzigstes Kapitel. Widerhallende Schritte
Zweiundzwanzigstes Kapitel: Immer höhere See
Dreiundzwanzigstes Kapitel. Feuer
Vierundzwanzigstes Kapitel. An den Magnetfelsen getrieben
Drittes Buch. Ein Unwetter nimmt seinen Lauf
Zweites Kapitel. Der Schleifstein
Drittes Kapitel. Der Schatten
Viertes Kapitel. Windstille im Sturm
Fünftes Kapitel: Der Holzhacker
Sechstes Kapitel. Triumph
Siebentes Kapitel: Man pocht an die Tür
Achtes Kapitel. Eine Handvoll Karten
Neuntes Kapitel. Das Spiel ist gemacht
Zehntes Kapitel. Ein Schatten steht auf
Elftes Kapitel: Dämmerung
Zwölftes Kapitel: Dunkelheit
Dreizehntes Kapitel: Zweiundfünfzig
Vierzehntes Kapitel. Ausgestrickt
Fünfzehntes Kapitel: Die Schritte verhallen für immer

Erstes Buch. Ins Leben zurückgerufen

Erstes Kapitel. Damals

Es war die beste und die schlimmste Zeit, ein Jahrhundert der Weisheit und des Unsinns, eine Epoche des Glaubens und des Unglaubens, eine Periode des Lichts und der Finsternis: es war der Frühling der Hoffnung und der Winter der Verzweiflung; wir hatten alles, wir hatten nichts vor uns; wir steuerten alle unmittelbar dem Himmel zu und auch alle unmittelbar in die entgegengesetzte Richtung – mit einem Wort, diese Zeit war der unsrigen so ähnlich, daß ihre geräuschvollsten Vertreter im guten wie im bösen nur den Superlativ auf sie angewendet wissen wollten.

Auf dem Thron von England saß damals ein König mit einem großen Mund und eine Königin mit einem glatten Gesicht; den von Frankreich zierte ein Herrscherpaar mit ganz denselben Eigenschaften. Und in beiden Ländern erschien es allen mächtigen Herren und Grundbesitzern klarer als Kristall, daß im allgemeinen der Stand der Dinge geordnet sei für alle Zeiten.

Es war im Jahre des Herrn eintausendsiebenhundertfünfundsiebzig. England erfreute sich damals wie noch heute der Gnade übersinnlicher Offenbarungen. Mrs. Southcott hatte eben ihren gebenedeiten fünfundzwanzigsten Geburtstag gefeiert, auf dessen bedeutsames Herannahen ein prophetischer Leibgardist die Welt durch die Ankündigung hingewiesen hatte, man möge sich darauf gefaßt machen, daß London und Westminster von der Erde verschlungen würden. Sogar das Hahnengassengespenst war erst seit einem Dutzend Jährchen zur Ruhe gebracht, nachdem es seine Botschaften in derselben Weise, wie seine übernatürlich unoriginellen Nachfolger erst im letzten Jahre noch getan haben, durch Klopfen kundgegeben hatte. Botschaften im wirklichen Sinn des Wortes waren jüngst der englischen Krone und Nation von einem Kongreß britischer Untertanen in Amerika zugegangen; sie haben seltsamerweise einen weit wichtigeren Einfluß auf das menschliche Geschlecht ausgeübt als alle Mitteilungen, die seitdem von der Sippe der Hahnengassengeister hervorgegackert worden sind.

Mit Frankreich, das, was übersinnliche Dinge betrifft, im ganzen weit weniger begünstigt als sein Schwesterland mit dem Schild und dem Dreizack, ging es ungemein glatt und schnell bergab, indem es Papiergeld machte und es vertat. Unter der Führung seiner christlichen Hirten vergnügte es sich nebenbei mit allerlei menschenfreundlichen Heldentaten, indem es zum Beispiel über einen jungen Menschen, der bei strömendem Regen zu Ehren einer fünfzig oder sechzig Schritt vor ihm vorübergehenden Mönchsprozession nicht in den Kot knien wollte, sein Urteil dahin aussprach, daß man ihm die Hände abhauen, die Zunge herausreißen und seinen noch lebenden Leib verbrennen solle. Wohl möglich, daß um die Zeit, in der dieser arme Unglückliche seinen grausamen Tod erlitt, der Holzhauer Schicksal in den Wäldern Frankreichs oder Norwegens bereits die Bäume zum Fällen und für die Sägemühle bezeichnet hatte, deren Bretter zur Herstellung eines in der Geschichte mit Schrecken genannten beweglichen Gerüstes mit einem Sack und einem Beil dienen sollten. Möglich auch, daß in der Umgegend von Paris unter den rohen Schuppen der Bauernhöfe von ländlichem Schmutz bespritzte, von Schweinen umschnüffelte und als Hühnerstiege dienende Karren standen, die der Bauer Tod sich schon vorgemerkt hatte, um das Futter der Revolution heranzuführen. Jener Holzhauer und jener Bauer sind unablässig in Tätigkeit, aber sie arbeiten im stillen fort, und niemand hört ihren leisen Tritt. Um so besser; denn der Argwohn, daß sie wach seien, hätte für atheistisch und hochverräterisch gegolten.

In England konnte man sich auf Ordnung und öffentlichen Schutz nicht eben viel zugute tun. Verwegene Einbrüche durch bewaffnete Kerle und Beraubungen auf offener Straße kamen selbst in der Hauptstadt fast jede Nacht vor. Man warnte die Familien, aufs Land zu ziehen, ohne vorher ihre Möbel in einem Lagerhaus untergestellt zu haben. Der nächtliche Räuber war bei Tag ein Geschäftsmann in der Stadt, und wenn er von irgendeinem Gewerbsgenossen, den er in seiner Eigenschaft als ›Kapitän‹ anhielt, erkannt und mit mißliebigen Vorstellungen behelligt wurde, so schoß er ihm tapfer eine Kugel durch den Kopf und ritt davon. Der Postwagen wurde von sieben Räubern angefallen; der Kondukteur schoß drei davon nieder, erlag aber selbst den anderen vier, ›weil ihm die Munition ausgegangen war‹, und nun erst konnte der Wagen mit Muße geplündert werden. Der Lord-Mayor von London, diese hochmächtige Person, mußte auf dem Turnhamer Rasen einem einzelnen Straßenräuber stillhalten und angesichts seines Gefolges seinen werten Leib von dem Galgenstrick ausplündern lassen. Gefangene in den Londoner Gefängnissen lieferten ihren Schließern förmliche Schlachten, und die Majestät des Gesetzes ließ sie mit Musketensalven zu Paaren treiben. In den Salons des Hofes stibitzten Diebe den vornehmen Herren Diamantenkreuze von den Hälsen weg. Musketiere zogen nach Saint Giles, um auf Schleichwaren zu fahnden, und wurden von einem Pöbelhaufen, den sie ihrerseits in gleicher Weise bearbeiteten, mit Schüssen empfangen. Das waren lauter Dinge, die man für nichts Außerordentliches ansah. Dabei hatte der Henker alle Hände voll zu tun, indem er das eine Mal die unterschiedlichen Verbrecher in langen Reihen aufknüpfte, ein ander Mal sein Amt samstags an einem einzelnen Hauseinbrecher übte, der am Dienstag ergriffen worden war, heute in Newgate dutzendweise Leuten ein Brandmal in die Hand eindrückte, morgen vor dem Tor von Westminsterhall Flugschriften den Flammen übergab und dann wieder einen grausamen Mörder und einen armen Strauchdieb, der einem Bauernbuben ein Sechspencestück abgejagt hatte, vom Leben zum Tod brachte.

Alles dies und noch tausend ähnliche Dinge geschahen, begannen und endigten in dem lieben alten Jahr eintausendsiebenhundertfünfundsiebzig. Und auf dem Schauplatz dieser Ereignisse traten, während der Holzhauer und der Bauer unbeachtet fortarbeiteten, jene beiden mächtigen Mundwerke und jenes Paar glatter und hübscher Frauengesichter geräuschvoll genug auf und behaupteten ihre göttlichen Rechte mit gewaltiger Hand. So führte das Jahr eintausendsiebenhundertfünfundsiebzig ihre Majestäten sowohl wie die Myriaden kleiner Wesen, darunter auch die Personen unserer Geschichte, dahin auf den vor ihnen liegenden Pfaden.

Zweites Kapitel. Der Postwagen

Es war die Straße nach Dover, die an einem Freitag im November abends spät vor der ersten der Personen lag, mit denen unsere Erzählung zu schaffen hat, und auf derselben Straße rumpelte auch die Postkutsche von Dover Shooters Hill hinan. Die Person stapfte gleich den übrigen Fahrgästen neben dem Wagen im Straßenschmutz bergan – nicht weil den Umständen nach ein Spaziergang besonderes Vergnügen gewährte, sondern weil die Steigung so stark, das Pferdegeschirr so lästig, der Schlamm so tief und die Kutsche so schwer war, daß die Rosse schon dreimal hatten halten müssen und außerdem einmal sogar die meuterische Absicht verraten hatten, mit Sack und Pack wieder nach Blackheath umzukehren. Aber Zügel und Peitsche und Postknecht und Kondukteur kannten den Kriegsartikel, der ein solches Unternehmen verbot, mochte es auch noch so sehr zugunsten der Annahme sprechen, daß manche Tiere Vernunft im Leibe haben. So hatte das Gespann nachgeben müssen und war zu seiner Pflicht zurückgekehrt.

Mit gesenkten Köpfen und zitternden Schweifen arbeiteten sich die Pferde durch den tiefen Schmutz, indem sie zwischenhinein stolperten und strauchelten, als wollte bei ihnen alles aus den Gelenken gehen. Sooft der Kutscher sie mit einem behutsamen ›Brrr!‹ haltmachen ließ, schüttelte das hintere Handpferd ungestüm den Kopf und damit zugleich das Geschirr, als wollte es mit besonderem Nachdruck andeuten, daß die Kutsche da nicht hinaufzubringen sei. Und wenn das Pferd in solcher Weise rasselte, fuhr der Fahrgast, wie ängstliche Reisende zu tun pflegen, zusammen und zeigte sich sehr beunruhigt.

Auf allen Taleinschnitten lag ein brauender Nebel, der sich in seiner Trübseligkeit bergan wälzte wie ein böser Geist, der Ruhe sucht, ohne sie finden zu können. Er war feucht und ungemein kalt und bewegte sich in langsam aufeinanderfolgenden kleinen Wellenzügen, denen einer fauligen See nicht unähnlich, durch die Luft. Sein Gewölk ließ das Licht der Kutschenlaternen nur auf ein paar Schritte unterscheiden, und der Dampf der sich abmühenden Pferde ging darin auf, so daß man meinen konnte, die abgehetzten Tiere seien die Quelle des ganzen Nebelmeers.

Außer dem gedachten Reisenden schritten noch zwei andere neben der Kutsche her. Alle drei waren bis über die Ohren verhüllt und trugen Stulpenstiefel. Keiner davon hätte nach dem Augenschein sich ein Urteil über das Aussehen des andern bilden können, und die Gedanken eines jeden waren gegen die der Mitreisenden ebenso verhüllt wie ihre Gestalt. In jenen Tagen hütete man sich wohl vor allzu schneller Vertraulichkeit, da jeder, dem man auf der Straße begegnete, ein Räuber oder der Verbündete von Räubern sein konnte. Mit Charakteren solcher Art traf man besonders leicht zusammen, denn jedes Posthaus, jede Schenke konnte jemand aufweisen, der im Sold des ›Kapitäns‹ stand, mochte es nun der Wirt selbst oder irgendein unscheinbarer Stallbediensteter sein. So dachte auch der Kondukteur der Doverpost an jenem Freitag abend des Novembers siebzehnhundertfünfundsiebzig, während er, Shooters Hill hinanholpernd, auf seinem Platze hinten auf dem Wagen stand, die Füße aneinanderklopfte und weder Auge noch Hand von der Waffenkiste vor sich wandte, in der außer Säbeln und geladenen Pistolen auch eine schußbereite Muskete lag.

Die Doverpost befand sich wie gewöhnlich in der angenehmen Lage, daß der Kondukteur die Reisenden und jeder Reisende seine Mitpassagiere und den Kondukteur, kurz, einer den andern beargwöhnte und der Postillion sich auf niemand als auf seine Pferde verlassen mochte, obschon er auch, soweit das liebe Vieh in Frage kam, es mit gutem Gewissen auf beide Testamente hätte beschwören können, daß es nicht für eine solche Reise paßte.

»Hü!« rief der Postillion. »So recht. Jetzt nur noch einen Ruck, und ihr seid droben. Hol euch der Teufel dafür, denn ich habe Not genug gehabt, euch hinaufzubringen. – Joe!«

»Ja?« entgegnete der Kondukteur.

»Wieviel Uhr mag es sein, Joe?«

»Gut zehn Minuten nach elf.«

»Oh, Mord und Tod«, rief der Postknecht ärgerlich, »und noch nicht einmal auf dem Shooter! Zu – hü! Vorwärts mit euch!«

Das temperamentvolle Pferd, das in einem Akt der entschlossensten Weigerung von der Peitsche getroffen worden war, fing wieder kräftig an zu klettern, und die drei andern Rosse folgten seinem Beispiel. Noch einmal arbeitete sich die Doverpost vorwärts, und die Stulpenstiefel der Reisenden klatschten nebenher. Sie hatten mit dem Wagen haltgemacht und ihm treulich Gesellschaft geleistet. Wäre einem von den dreien der vermessene Gedanke gekommen, den andern den Vorschlag zu machen, sie wollten im Dunkel und Nebel ein wenig vorausgehen, so hätte er sich damit sicher der Gefahr ausgesetzt, auf der Stelle als Straßenräuber niedergeschossen zu werden.

Der letzte Anlauf brachte den Postwagen auf die Höhe des Berges. Die Pferde hielten wieder an, um zu verschnaufen, und der Kondukteur stieg ab, um für die kommende Talfahrt den Radschuh einzulegen und den Fahrgästen den Kutschenschlag zu öffnen.

»Pst, Joe!« sagte der Postillion in warnendem Ton, indem er von seinem Bock niederschaute.

»Was habt Ihr, Tom?«

Beide lauschten.

»Ich höre ein Pferd uns nachtraben, Joe.«

»Und ich sage, es galoppiert, Tom«, versetzte der Kondukteur, indem er seinen Schlag losließ und hurtig auf seinen Platz hinaufkletterte. »Meine Herren, in des Königs Namen, geschwind eingestiegen!«

Der für unsere Geschichte vorgemerkte Reisende stand eben auf dem Kutschentritt und wollte hinein; die beiden andern hielten dicht hinter ihm und waren im Begriff, ihm zu folgen. Er blieb halb in, halb außer der Kutsche auf seinem Tritt, das andere Paar drunten auf der Straße; sie alle blickten lauschenden Ohrs von dem Postillion auf den Kondukteur und von dem Kondukteur auf den Postillion. Beide gaben ihnen die Blicke wieder zurück, und selbst das temperamentvolle Pferd spitzte die Ohren und schaute rückwärts, ohne Widerspruch zu erheben.

Die Stille, die auf das Aufhören des Rädergerassels und Rossegestampfs folgte, machte das Schweigen der Nacht nur um so eindrucksvoller. Das Schnauben der Pferde teilte der Kutsche eine zitternde Bewegung mit, als wäre sie selbst auch sehr aufgeregt. Die Herzen der Passagiere klopften vielleicht hörbar laut; jedenfalls erzählte die stille Pause sehr verständlich von Leuten, die außer Atem waren, aber gleichwohl keine Luft einzuziehen wagten und unter beschleunigtem Herzschlag dessen harrten, was da kommen sollte.

Man hörte, daß ein Pferd in wütendem Galopp den Berg hinaufjagte.

»Hallo!« rief der Kondukteur, so laut er konnte, in die Nacht hinaus.

»Ihr dort – Halt! – oder ich gebe Feuer!«

Der Hufschlag hielt plötzlich inne, und mit Not kämpfte sich die Stimme eines Mannes durch den Nebel:

»Ist das die Doverpost?«

»Was kümmert's Euch, wer wir sind?« entgegnete der Kondukteur.

»Wer seid Ihr?«

»Ich frage, ob dies die Doverpost ist.«

»Wozu braucht Ihr das zu wissen?«

»Ich will zu einem ihrer Passagiere.«

»Wie heißt der Passagier?«

»Mr. Jarvis Lorry.«

Der Reisende auf dem Tritt ließ sogleich merken, daß dies sein Name sei. Der Kondukteur, der Postillion und die beiden andern Passagiere betrachteten ihn mißtrauisch.

»Bleibt, wo Ihr seid«, rief der Kondukteur der Stimme im Nebel zu, »denn wenn mir aus Versehen etwas passiert, so könnt ich's Euer Lebtage nicht wiedergutmachen. Der Gentleman namens Lorry soll unumwunden antworten.«

»Was gibt's?« fragte darauf der Passagier mit leiser, unsicherer Stimme. »Wer will etwas von mir? Ist es Jerry?«

»Die Stimme dieses Jerry gefällt mir gar nicht, wenn er wirklich so heißt«, brummte der Kondukteur vor sich hin. »Der Jerry ist heiserer, als mir lieb ist.«

»Ja, Mr. Lorry.«

»Was gibt's?«

»Man hat mich Euch mit einer Depesche nachgeschickt. Von T. und Co.«

»Ich kenne diesen Boten, Kondukteur«, sagte Lorry, wieder auf die Straße hinaustretend, wobei ihm die beiden andern Passagiere, die nicht geschwind genug in die Kutsche kommen, den Schlag schließen und das Fenster aufziehen konnten, von hinten her mehr, als sich mit der Höflichkeit vertrug, Beihilfe leisteten. »Laßt ihn herankommen; es ist alles in Ordnung.«

»Ich will's hoffen, bin aber noch nicht so fest überzeugt davon«, sagte der Kondukteur rauh vor sich hin. »He, Ihr!«

»Nun, was soll's?« entgegnete Jerry, noch heiserer als zuvor.

»Reitet im Schritt heran – habt Ihr mich verstanden? Und wenn Ihr an Eurem Sattel Halfter habt, so kommt mir ihnen mit der Hand nicht zu nahe; denn ich habe verteufelt schnell etwas versehen, und wenn es geschieht, so nimmt es die Form von Blei an. So, jetzt laßt Euch einmal mustern.«

Die Gestalt des Reiters kam langsam durch den wirbelnden Nebel an die Seite des Postwagens, wo der Reisende stand. Dann machte der Fremde halt, blickte zu dem Kondukteur auf und händigte dem Passagier ein Brieflein aus. Das Roß des Boten schnaubte mächtig, Mann und Tier waren vom Huf bis zur Hutspitze mit Schmutz bespritzt.

»Kondukteur«, sagte der Passagier in ruhigem, geschäftlichem Ton.

Der wachsame Kondukteur, der die Rechte am Schaft, die Linke am Lauf seiner Muskete hatte und kein Auge von dem Reiter wandte, antwortete kurz:

»Sir!«

»Es ist nichts zu befürchten. Ich bin Beamter von Tellsons Bank. Ihr müßt Tellsons Bank in London kennen. Ich reise in Geschäftsangelegenheiten nach Paris. Hier ist eine Krone Trinkgeld. Darf ich dies lesen?«

»So macht nur schnell, Sir.«

Er trat an die auf seiner Seite brennende Kutschenlaterne, öffnete das Schreiben und las – zuerst für sich, dann laut:

»›Wartet in Dover auf Mamsell.‹ Ihr seht, es ist nicht lang, Kondukteur. Jerry, sagt, meine Antwort darauf sei: Ins Leben zurückgerufen.«

Jerry richtete sich in seinem Sattel auf. »Das ist eine verteufelt kuriose Antwort«, sagte er in seinem heisersten Tone.

»Richtet das aus, und man wird daraus ersehen, daß ich den Brief erhalten habe, ohne daß ich Euch eine schriftliche Antwort mitgebe. Jetzt macht, daß Ihr wieder zurückkommt. Gute Nacht!«

Mit diesen Worten öffnete der Passagier den Wagenschlag und stieg ein. Diesmal halfen ihm seine Reisegefährten nicht, sondern taten, als ob sie schliefen, nachdem sie zuvor mit aller Behendigkeit Uhren und Börsen in ihren Stiefeln verborgen hatten. Ihr angeblicher Schlummer sollte sie wohl nur vor der Gefahr bewahren, irgend etwas anderes tun zu müssen.

Die Kutsche holperte wieder weiter, und da es jetzt bergab ging, wurde der Nebel immer dichter. Der Kondukteur legte die Muskete wieder in den Kasten, musterte seinen übrigen Inhalt, sah nach den Pistolen, die er noch außerdem in seinem Gürtel stecken hatte, und visitierte dann einen kleinen Behälter unter seinem Sitz, in dem sich einiges Schmiedegerät, ein paar Fackeln und eine Zunderbüchse befanden. Er war nämlich mit solcher Sorgfalt ausgestattet worden, um für den hin und wieder vorkommenden Fall, daß die Kutschenlichter vom Sturm ausgeblasen wurden, im Innern der Kutsche mittels Stahl und Stein mit leidlicher Sicherheit und Gemächlichkeit, wenn's gut ging, binnen fünf Minuten eine Flamme zustande bringen zu können.

»Tom!« flüsterte er über das Kutschendach herunter.

»Ja, Joe?«

»Habt Ihr gehört, was da ausgerichtet werden soll?«

»Ja, Joe.«

»Was denkt Ihr Euch dabei, Tom?«

»Nichts, Joe.«

»Wie das seltsam zusammentrifft!« sagte der Kondukteur vor sich hin. »Mir geht es gerade ebenso.«

Sobald Jerry sich in Nacht und Nebel allein sah, stieg er ab, nicht nur, um es seinem Pferd leichter zu machen, sondern auch, um sich den Schmutz aus dem Gesicht zu wischen und aus seiner Hutkrempe das Wasser zu schütteln, das sich dort gesammelt hatte. So stand er da, die Zügel seines Tiers um den schwer besudelten Ärmel geschlungen, bis er von dem weiterrollenden Postwagen nichts mehr hörte und die Nacht wieder mäuschenstill geworden war. Dann wandte er sich, um zu Fuß bergab zu gehen.

»Nach dem Galopp von Temple Bar her mag ich mich deinen vier Beinen nicht mehr anvertrauen, alte Mähre, bis ich dich wieder in der Ebene habe«, sagte der heisere Bote, sein Tier betrachtend. »›Ins Leben zurückgerufen.‹ Das ist eine verteufelt kuriose Botschaft, und du könntest dich nicht auf viele dergleichen einlassen, Jerry. Laß dir sagen, Jerry, du kämst auf einen verdammt schlechten Weg, wenn ins Leben zurückrufen Mode würde.«

Drittes Kapitel. Nächtliche Schatten

Es ist eine wunderbare, des Nachdenkens werte Tatsache, daß jedes menschliche Wesen in seiner Eigenart für andere zu einem tiefen Geheimnis wird. Wenn ich nachts in einer großen Stadt anlange, so erfüllt es mich mit feierlichen Gedanken, daß jedes von jenen dunkel aufeinandergehäuften Häusern sein eigenes Geheimnis einschließt und jedes klopfende Herz in den Hunderttausenden von menschlichen Wesen irgendeine heimliche, ihm besonders teure Vorstellung birgt. Selbst das Grausen, das uns den Tod einflößt, hat hierin seinen Grund. Ich kann nicht mehr in dem mir teuer gewordenen Buche blättern und darf nicht hoffen, es mit der Zeit zu Ende zu lesen. Ich soll nicht mehr schauen in die Tiefen des unergründlichen Wassers, in dem ich, je nachdem es durch augenblickliche Lichter erhellt wurde, manchen weit unter der Oberfläche befindlichen Schatz erschaute. Das Schicksal wollte es, daß das Buch sich schloß und für immer mit einer unlösbaren Klammer versehen ward, nachdem ich kaum eine Seite gelesen hatte. Es war bestimmt, daß das Wasser den starren Banden ewigen Eises verfiel, als das Licht noch auf seiner Oberfläche spielte und ich in ahnungsloser Unwissenheit am Ufer stand. Mein Freund ist tot; mein Nachbar ist tot; meine Liebe, der Schatz meiner Seele, ist tot. Wir haben da die unerbittliche Fortdauer eines Geheimnisses, das stets in jeder Persönlichkeit war und das ich bis zum Ende meines Daseins in der meinigen trage. Und gibt es wohl auf irgendeinem Friedhof dieser Stadt, den ich durchwandle, einen Schläfer, der unerforschlicher wäre, als es mir im Kern ihres Wesens ihre rührigen Bewohner sind oder ich es ihnen bin?

Was dieses natürliche, unveräußerliche Erbe betrifft, so besaß es der Bote auf seinem Roß ebensogut wie der König, der erste Staatsminister oder der reichste Kaufmann von London. Nicht anders ging es den drei im engen Raum einer holpernden Postkutsche eingeschlossenen Passagieren, die sich wechselseitig so vollkommene Geheimnisse waren, als führen sie stundenweit voneinander jeder in einer eigenen sechsspännigen Equipage.

Der Bote ritt in leichtem Trab wieder zurück und hielt dabei fleißig vor den Wirtshäusern, um sich einen Trunk zu holen, zeigte sich aber dabei nicht geneigt, viele Worte zu machen, und hatte den Hut über die Augen gezogen. Freilich hatte er Augen, denen ein solcher Schmuck recht gut anstand, denn sie waren dunkel auf der Oberfläche, ohne Tiefe in Form oder Farbe und viel zu nah beieinander, als fürchte jedes, über etwas ertappt zu werden, wenn sie nicht treu zusammenhielten. Sie hatten einen finstern Ausdruck, und der alte Hut saß über ihnen wie ein dreieckiger Spucknapf, während unter ihnen die Flügel der dicken, Kinn und Hals umhüllenden Halsbinde fast bis zu den Knien niederfielen. Wenn er zu einem Trunk haltmachte, drückte er, solange er mit der Rechten sich den Branntwein in die Kehle goß, mit der Linken seine Binde nieder, zog sie aber, sobald er sich angefeuchtet hatte, augenblicklich wieder in die Höhe.

›Nein, Jerry, nein‹, fuhr der Bote auf seinem Ritt in dem alten Thema fort, ›das wäre nichts für dich, Jerry. Du bist ein ehrlicher Geschäftsmann, Jerry, und dies paßt nicht in deinen Kram. Zurückgerufen –! Ei der Kuckuck, man sollte meinen, er sei ein Trinker gewesen.‹

Der Auftrag verwirrte ihm den Sinn dermaßen, daß er mehrmals den Hut abnehmen mußte, um sich den Kopf zu kratzen. Sein Scheitel war elend kahl; sonst aber hatte er steifes schwarzes Haar, das überall hervorwucherte und fast bis auf seine stumpfe Nase herabwuchs. Der Kopf schien aus einer Schlosserwerkstatt zu kommen, denn er sah weit eher einer oben mit Spitzeisen geschirmten Mauer als einem natürlichen Schopf ähnlich, so daß der beste Kunstspringer es abgelehnt haben würde, über diesen allergefährlichsten Menschen von der Welt einen Satz zu machen.

Während er mit dem Auftrag, den er durch den Wächter im Portierstübchen neben der Haustür von Tellsons Bank bei Temple Bar an die vornehmeren Personen drinnen ausrichten zu lassen hatte, seines Weges trabte, nahmen die Schatten der Nacht für ihn lauter Gestalten an, die aus seiner Botschaft hervorzuquellen schienen und die sich auch auf sein Roß übertrugen und ihm Grund zu innerer Unruhe gaben. Diese mußte wohl sehr stark sein, denn das Tier scheute vor jedem Schatten am Wege.

Wie lange holterte und polterte, rasselte und schütterte der Postwagen mit seinen drei unerforschlichen Personen im Innern auf dem langweiligen Weg dahin! Auch ihnen enthüllten sich die Schatten der Nacht in den Formen, die ihnen die müden Augen und die unsteten Gedanken eingaben.

Tellsons Bank kam dabei in dem Postwagen nicht zu kurz. Während der Bankpassagier, den einen Arm durch die Riemenschlinge gezogen, die das Ihrige tat, um ihn davor zu bewahren, auf einen Nachbar zu taumeln und ihn in die Ecke zu quetschen, wenn die Kutsche einen besonders schweren Stoß erlitt, mit halbgeschlossenen Augen auf seinem Sitz nickte, wurden für ihn die kleinen Kutschenfenster, die trüb hereinblinkenden Kutschenlichter und der mächtige Reisesack des gegenüber sitzenden Passagiers zu einer Bank mit eifrigem Geschäftsbetrieb. Das Rasseln des Pferdegeschirrs war das Geklingel des Geldes, und in fünf Minuten wurden mehr Wechsel honoriert, als Tellson trotz seinen ausgedehnten in- und ausländischen Geschäftsverbindungen in dreimal soviel Zeit auszuzahlen gewohnt war.

Dann taten sich Tellsons unterirdische feste Räume mit ihren wertvollen Schätzen und Geheimnissen, wie sie dem Passagier bekannt waren – und er wußte nicht wenig davon –, vor ihm auf, und er ging, die großen Schlüssel und das matt brennende Licht in der Hand, darunter umher und fand alles so sicher und wohlverwahrt, so still und in Ordnung, wie er es zuletzt gesehen hatte.

Aber obschon die Bank unablässig in seiner Phantasie arbeitete und auch der Postwagen ihn stets in unklarer Weise, wie etwa ein Schmerz, wenn man ein Opiat genommen hat, an seine Gegenwart erinnerte, so war doch auch noch ein anderer Gedankenstrom vorhanden, der ihm die ganze Nacht hindurch keine Ruhe ließ. Er befand sich auf dem Wege, jemand aus dem Grabe herauszuholen.

Die Schatten der Nacht zeigten ihm allerdings unter der Menge der Gesichter, die sie ihm vorführten, das wahre der begrabenen Person nicht; dafür aber vergegenwärtigten ihm alle die Umrisse eines Mannes von fünfundvierzig Jahren, die sich hauptsächlich durch den Ausdruck der Leidenschaften und ihres unheimlichen Wesens voneinander unterschieden. Stolz, Verachtung, Trotz, Starrsinn, Unterwürfigkeit und Jammern kamen der Reihe nach, ebenso der Wechsel in den eingesunkenen, leichenfahlen Wangen und in den abgezehrten Körperformen. Das Gesicht blieb jedoch in der Hauptsache dasselbe, und jeder der Köpfe war vor der Zeit weiß geworden. Wohl hundertmal fragte der schlummernde Reisende dieses Gespenst:

›Wie lange schon begraben?‹

Und jedesmal lautete die Antwort gleich:

›Fast achtzehn Jahre.‹

›Habt Ihr alle Hoffnung aufgegeben, ausgegraben zu werden?‹

›Längst.‹

›Ihr wißt doch, daß Ihr ins Leben zurückgerufen seid?‹

›Man sagt es mir.‹

›Ich hoffe, das hat einen Wert für Euch?‹

›Ich weiß es nicht.‹

›Soll ich sie Euch zeigen? Wollt Ihr mich zu ihr begleiten?‹

Die Antworten auf diese Fragen waren verschieden und widersprechend. Bisweilen lautete die gebrochene Erwiderung: ›Halt! Es würde mich töten, wenn ich sie zu bald sähe.‹ Ein ander Mal wurde sie durch einen milden Tränenregen eingeleitet und hieß: ›Bringt mich zu ihr.‹ Bisweilen folgte auf die Frage ein wirres Glotzen und die Entgegnung: ›Ich kenne sie nicht – verstehe Euch nicht.‹

Unter solchem eingebildeten Zwiegespräch konnte der Passagier in seiner Phantasie graben, graben und graben – jetzt mit einem Spaten, jetzt mit einem großen Schlüssel oder wohl gar mit den Händen –, um das unglückliche Wesen herauszuschaffen. Und war es endlich, Gesicht und Haare mit Erde beklebt, gehoben, so zerfiel es plötzlich wieder zu Staub. Der Passagier konnte dann zusammenfahren und das Fenster niederdrücken, um sich durch Regen und Nebel, die seine Wangen feucht machten, an die Wirklichkeit erinnern zu lassen.

Doch selbst wenn seine Augen sich für Nebel und Regen, für den beweglichen Lichtstreifen auf der Straße und für die ruckweise weiter und weiter zurückweichenden Heckenpartien am Wege auftaten, pflegten die Nachtschatten außerhalb der Kutsche mit dem Gang der Nachtschatten im Innern wieder zusammenzutreffen. Da stand vielleicht das wirkliche Bankhaus bei Temple Bar, das wirkliche Geschäft des abgelaufenen Tages, der feste Kellerraum, der ihm nachgeschickte Eilbote und die Antwort, die er durch ihn zurückbringen ließ. Und mitten aus diesen Bildern trat dann wieder das gespenstische Gesicht hervor, das er abermals anredete:

›Wie lange schon begraben?‹

›Fast achtzehn Jahre.‹

›Ich hoffe, das Leben hat noch einen Wert für Euch.‹

›Weiß nicht.‹

Und er grub, grub immerfort, bis ihn einer der Mitreisenden durch eine ungeduldige Bewegung mahnte, er solle das Fenster wieder hochziehen. Dann legte er seinen Arm aufs neue in die Lederschlinge und machte sich Gedanken über die beiden schlummernden Gestalten, bis zuletzt sein Geist wieder von ihnen abkam und abermals sich in die Bank und zu dem Grabe verirrte.

›Wie lange schon begraben?‹

›Fast achtzehn Jahre.‹

›Hattet Ihr alle Hoffnung aufgegeben, ausgegraben zu werden?‹

›Längst.‹

Diese Worte dröhnten noch so deutlich in seinen Ohren wie nur irgendein wirklich gesprochenes Wort, als der müde Reisende zu dem Bewußtsein erwachte, daß es Tag und die Schatten der Nacht dahin seien.

Er ließ das Fenster herunter und schaute nach der aufgehenden Sonne hinaus. Da war ein Strich umgepflügten Landes und der Pflug noch an derselben Stelle, wo man am Abend zuvor die Pferde ausgespannt hatte, auf dem Acker. Jenseits sah man ein Buschwäldchen, in dem noch viele Blätter von brennendem Rot oder goldigem Gelb an den Zweigen zitterten. Die Erde war kalt und feucht, der Himmel aber klar, und die Sonne erhob sich in ruhiger Pracht.

»Achtzehn Jahre!« sagte der Passagier, zur Sonne aufblickend. »Barmherziger Schöpfer des Tages! Achtzehn Jahre lang lebendig begraben zu sein!«

Viertes Kapitel. Die Vorbereitung

Als der Postwagen im Laufe des Vormittags glücklich Dover erreichte, öffnete wie gewöhnlich der Oberkellner des Hotels König Georg den Kutschenschlag. Er tat es mit einem gewissen zeremoniösen Schnörkel, denn im Winter war eine Postreise von London her ein Unternehmen, zu dessen Vollbringung man einen wagehalsigen Reisenden wohl beglückwünschen konnte.

Diesmal galt die Gratulation nur einem einzigen Passagier, denn die zwei anderen hatten sich unterwegs an ihren Bestimmungsorten absetzen lassen. Das moderige Innere des Wagens mit seinem nassen, schmutzigen Stroh, dem widerlichen Geruch und seiner Dunkelheit nahm sich ungefähr wie ein großer Hundestall aus, während Mr. Lorry, der Passagier, als er sich aus dem Loch und aus den Strohfesseln herausschüttelte, mit den dichten zottigen Umhüllungen, dem niederhängenden Hutrande und den bespritzten Beinen den dazugehörigen Hund vorstellen konnte.

»Geht morgen ein Schiff nach Calais, Kellner?«

»Ja, Sir, wenn das Wetter aushält und der Wind sich ordentlich macht. Die Flut wird nachmittags zwei Uhr der Ausfahrt zustatten kommen. Bett, Sir?«

»Das werde ich heute nacht nicht brauchen. Aber gebt mir ein Schlafzimmer und schickt mir einen Barbier.«

»Und ein Frühstück, Sir? Ja, Sir. Hier hinauf, Sir, wenn's beliebt! Führt den Herrn ins Concord! Den Reisesack des Gentlemans und heißes Wasser ins Concord! Zieht im Concord dem Gentleman die Stiefel aus! Ihr werdet ein schönes Steinkohlenfeuer finden, Sir! Schickt den Barbier nach dem Concord! Hurtig da, nach dem Concord!«

Das Concordzimmer wurde immer den Postreisenden angewiesen, und in Anbetracht des Umstandes, daß die Postpassagiere vom Kopf bis zu den Füßen eingemummt anzukommen pflegten, konnte man die interessante Wahrnehmung machen, daß nur eine einzige Art von Menschen hineinzugehen schien, während doch die allerverschiedensten wieder heraustraten. So kam es, daß ein anderer Kellner, zwei Portiers, mehrere Dienstmädchen und die Wirtin, die sich zufällig an verschiedenen Stellen des Wegs zwischen dem Concord- und dem Kaffeezimmer aufhielten, einen Gentleman von etwa Sechzig in einem förmlichen, zwar ziemlich verbrauchten, aber doch gut erhaltenen braunen Anzug mit breiten Armelaufschlägen und großen Taschenpatten auftauchen sahen, der hinunterging, um sein Frühstück einzunehmen.

An diesem Vormittag gab es im Kaffeezimmer keinen anderen Gast als den Gentleman in Braun. Der Frühstückstisch war vor den Kamin gerückt, und als der Fremde in der vollen Beleuchtung des Feuers dasaß und der Bedienung harrte, verhielt er sich so regungslos, als sei er im Begriff, sich porträtieren zu lassen. Die Hände auf die Knie gelegt, sah er sehr regelmäßig und ordentlich aus, und eine laute Uhr tickte in der Pattentasche der Weste eine helltönende Predigt, als wolle sie ihre Würde und ihr hohes Alter gegen den Leichtsinn und die rasche Vergänglichkeit der lodernden Flamme behaupten. Er hatte einen hübschen Fuß und war ein bißchen eitel darauf, denn die braunen Strümpfe vom feinsten Gewebe lagen glatt und knapp an, und auch seine Schnallenschuhe nahmen sich trotz ihrer Einfachheit recht sauber aus. Eine flachsfarbige Perücke mit kurzem krausem Haar, das jedoch eher aus Seiden- oder Glasfäden als aus natürlichen Haaren zu bestehen schien, bedeckte seinen Kopf. Die Leinwand entsprach an Feinheit allerdings nicht den Strümpfen, war aber so weiß wie der Schaum der Wellen, die sich am nahen Ufer brachen, oder wie die von der Sonne beleuchteten Reusenpunkte weit draußen in der See. Ein gewöhnlich ruhiges und beherrschtes Gesicht wurde unter der wunderlichen Perücke durch ein Paar feuchte klare Augen erhellt, mit denen ihr Eigentümer wohl manche Not gehabt haben mochte, bis sie im Lauf der Jahre an den zurückhaltenden und gemessenen Ausdruck von Tellsons Bank gewöhnt waren. Auf seinen Wangen lag ein frisches Rot, und sein furchiges Antlitz trug nur wenige Spuren der Sorge. Nun, vielleicht hatten die unverheirateten Kontoristen in Tellsons Bank hauptsächlich mit den Sorgen anderer Leute, mit Sorgen aus zweiter Hand zu tun, die wahrscheinlich wie die Kleider aus zweiter Hand schneller ein Ende nehmen.

Um das Bild des Mannes, der einem Porträtmaler sitzt, vollständig zu machen, schlummerte Mr. Lorry endlich ein. Die Ankunft des Frühstücks weckte ihn wieder. Als er seinen Stuhl an den Tisch rückte, sagte er zu dem Kellner:

»Ich wünsche, daß Ihr Vorbereitungen trefft für die Aufnahme eines jungen Frauenzimmers, das heute noch hier ankommen wird. Sie fragt vielleicht nach Mr. Jarvis Lorry, vielleicht auch einfach nach einem Herrn von Tellsons Bank. Habt die Güte, mich von ihrer Ankunft in Kenntnis zu setzen.«

»Ja, Sir. Tellsons Bank in London, Sir?«

»Ja.«

»Ja, Sir. Die Herren Reisenden dieses Hauses beehren uns auf dem Hin- und Herweg von London nach Paris oft mit ihrem Zuspruch, Sir. Tellson und Kompanie läßt mächtig viel reisen, Sir.«

»Ja. Wir sind ebensogut ein französisches wie ein englisches Bankhaus.«

»Ja, Sir. Ihr selbst aber seid wohl an das Reisen nicht sehr gewöhnt, Sir?«

»In letzter Zeit nicht mehr. Es ist schon fünfzehn Jahre her, seit wir … seit ich meine letzte Reise nach Frankreich machte.«

»Wirklich, Sir? Nun, damals war ich noch nicht im Hause, auch mein Prinzipal noch nicht, Sir. Der ›Georg‹ befand sich zu jener Zeit in anderen Händen, Sir.«

»Ganz recht.«

»Aber ich wollte eine schöne Wette darauf eingehen, Sir, daß ein Haus wie das von Tellson und Kompanie, ich will nicht sagen, nur vor fünfzehn, sondern schon vor fünfzig Jahren florierte.«

»Ihr könnt die Zahl dreifach nehmen und hundertfünfzig sagen, ohne sehr gegen die Wahrheit zu verstoßen.«

»Wirklich, Sir?«

Und Augen und Mund weit aufsperrend, trat der Kellner von dem Tische zurück, warf seine Serviette vom rechten unter den linken Arm, nahm eine gemütliche Haltung an und betrachtete den Gast, während dieser aß und trank, wie von einem Wachtturm oder einer Sternwarte aus, nach dem würdigen Brauch der Kellner in allen Jahrhunderten.

Nach Beendigung des Frühstücks erhob sich Mr. Lorry, um einen Spaziergang am Strande zu machen. Die kleine, schmale winkelige Stadt Dover hielt sich vom Strande fern und verbarg als ein Vogel Strauß der See ihren Kopf in den Kalksteinklippen. Das Gestade war eine Wüste, in der Wasser und Steine sich untereinander tummelten; die See tat, was sie mochte, und ihr Lieblingsgeschäft war Zerstören. Sie donnerte gegen die Stadt, donnerte gegen die Klippen und hauste wie toll an der Küste. Die Luft um die Häuser her hatte einen so starken Fischgeruch, daß man hätte meinen sollen, kranke Fische badeten darin, wie die kranken Menschen im Wasser drunten zu baden pflegten. In dem Hafen wurde etwas Fischerei betrieben; doch diente er noch weit mehr solchen Spaziergängern zum Tummelplatz, die nachts, namentlich um die Zeit der Fluthöhe, eifrig aufs Meer hinausspähten. Kleine Kaufleute ohne Geschäft kamen oft auf eine unerklärliche Weise zu großem Vermögen, und es war merkwürdig, daß in der ganzen Nachbarschaft niemand den Laternenanzünder ausstehen konnte.

Es wurde Nachmittag, und die Luft, die mitunter so klar gewesen war, daß man die französische Küste sehen konnte, füllte sich aufs neue mit Dunst und Nebel. Auch Mr. Lorrys Gedanken schienen sich zu umwölken. Als er nach Einbruch der Dunkelheit neben dem Kamin des Kaffeezimmers saß und wie am Morgen auf das Frühstück so jetzt auf die Hauptmahlzeit wartete, beschäftigte sich sein Geist emsig damit, in den rotglühenden Kohlen zu graben und zu graben und zu graben.

Eine Flasche guten Rotweins nach dem Essen konnte einem Kohlengräber bei so heißer Arbeit nicht schaden, weil sie höchstens dazu diente, ihm das Geschäft ein wenig zu verleiden. Mr. Lorry war schon geraume Zeit müßig gewesen und hatte eben mit einer so vollkommen befriedigten Miene, wie man sie nur bei einem ältlichen Gentleman mit frischer Gesichtsfarbe am Schluß einer Flasche finden kann, das letzte Glas eingeschenkt, als sich von der engen Straße her das Gerassel eines Wagens vernehmen ließ, der bald darauf in den Hof des Gasthauses einfuhr.

Er setzte das Glas unberührt wieder auf den Tisch und sagte zu sich selber: ›Das ist die Mamsell.‹

Einige Minuten später trat der Kellner ein, um zu melden, daß Miß Manette von London angelangt sei und sich darauf freue, den Gentleman von Tellsons zu empfangen.

»Schon?«

Miß Manette hatte unterwegs einige Erfrischungen zu sich genommen und brauchte für den Augenblick nichts, brannte aber vor Begier, den Gentleman von Tellsons sogleich bei sich zu sehen, wofern es ihm gelegen und nicht unangenehm sei.

So blieb dem Gentleman von Tellsons keine andere Wahl, als mit einer Miene stumpfer Verzweiflung sein Glas zu leeren, sein wunderliches Flachsperücklein zurechtzurücken und dem Kellner nach Miß Manettes Zimmer zu folgen. Es war ein großes dunkles Gemach mit schwarzen Roßhaarmöbeln und schweren dunkelfarbigen Tischen, so daß man an eine Trauerparade gemahnt wurde. Man hatte die Tische so lange geölt und geölt, bis die zwei hohen Lichter der mittleren Tafel auf jeder Tischplatte düster widerstrahlten, als seien sie tief in das schwarze Mahagoniholz eingesenkt und als könne kein annehmbares Licht von ihnen erlangt werden, ehe sie ausgegraben wären.

Es war so dunkel, daß Mr. Lorry, der sich durch den abgenutzten türkischen Teppichläufer leiten ließ, schon glaubte, Miß Manette sei für einen Augenblick in das anstoßende Zimmer getreten. Als er aber die zwei hohen Kerzen hinter sich hatte, bemerkte er neben dem Tische zwischen diesem und dem Kamin, zu seinem Empfang bereit, eine junge Dame von nicht mehr als siebzehn Jahren in einem Reitmantel, die den Reisestrohhut am Bande in der Hand hielt. Seine Augen ruhten auf einer kleinen, schmächtigen, hübschen Figur, einer Fülle goldenen Haars, einem Augenpaar, das dem seinigen mit fragenden Blicken begegnete, und einer Stirn, die die bei solcher Jugend und Glätte befremdliche Eigenschaft besaß, durch Heben und Zusammenziehen der Brauen einen Ausdruck anzunehmen, der nicht gerade ein Anzeichen von Verwirrung, von Staunen, von Unruhe oder auch nur von gespannter Aufmerksamkeit genannt werden konnte, wohl aber etwas von allen diesen vier Affekten in sich faßte. Während nun seine Blicke auf diesem Bilde hafteten, fiel ihm plötzlich die lebhafte Ähnlichkeit mit einem Kinde auf, das er bei einer Fahrt über den Kanal von Dover bei kaltem Hagelwetter und hochgehender See in den Armen gehabt hatte. Die Erinnerung war jedoch nur flüchtig und einem Hauche auf der Oberfläche des einzigen Pfeilerspiegels ähnlich, auf dessen Rahmen eine Spitalprozession von verkrüppelten und kopflosen schwarzen Genien einer Versammlung von schwarzen weiblichen Gottheiten in schwarzen Körben Früchte vom Toten Meer darbrachte. Er machte Miß Manette eine förmliche Verbeugung.

»Ich bitte, nehmt Platz, Sir«, begann eine sehr helle und angenehme junge Stimme mit einem ganz leichten Anflug von ausländischem Akzent.

»Ich küß Euch die Hand, Miß«, sagte Mr. Lorry mit den Manieren einer älteren Generation, während er nach einer abermaligen förmlichen Verbeugung seinen Sitz einnahm.

»Ich habe gestern von der Bank einen Brief erhalten, der von einer Neuigkeit oder einer Entdeckung spricht …«

»Das Wort ist nicht wesentlich, Miß; Ihr könnt es so oder so nennen.«

»Es handelt sich um das kleine Eigentum meines Vaters, den ich nie sah und der schon so lange tot ist.«

Mr. Lorry rückte auf seinem Stuhl und warf einen ängstlichen Blick auf die Spitalprozession der schwarzen Genien. Als ob sie für irgend jemand Hilfe bringen könnten in ihren abgeschmackten Körben!

»Es soll dadurch notwendig werden, daß ich nach Paris reise und dort gemeinschaftlich handle mit einem Herrn, der ausdrücklich wegen dieser Angelegenheit nach Paris geschickt worden sei.«

»Der bin ich.«

»Das habe ich erwartet, Sir.«

Sie machte einen Knicks vor ihm (damals knicksten die jungen Frauenzimmer noch), um ihm damit zu verstehen zu geben, daß sie fühle, um wieviel älter und weiser er sei. Und er verbeugte sich abermals.

»Ich habe darauf der Bank geantwortet, Sir, wenn meinen sachverständigen freundlichen Beratern meine Reise nach Paris nötig erscheine, so werde ich als eine Waise, die keinen Verwandten hat, der sie begleiten kann, mich glücklich schätzen, dieser Notwendigkeit unter dem Schutz des würdigen Herrn nachzukommen. Der Gentleman hatte zwar London schon verlassen; aber ich glaube, es ist ihm ein Bote nachgeschickt worden mit der Bitte, er möchte die Güte haben, mich hier zu erwarten.«

»Ich bin so glücklich gewesen, mit diesem Dienst betraut zu werden«, erwiderte Mr. Lorry. »Und noch glücklicher wird mich seine Ausführung machen.«

»Ich danke Euch, danke Euch von ganzem Herzen, Sir. Man hat mir in der Bank gesagt, der Herr werde mir die ganze Angelegenheit auseinandersetzen, und ich müsse mich darauf gefaßt machen, überraschende Dinge zu hören. Ich habe mein Bestes getan, um mich darauf vorzubereiten, und bin natürlich in hohem Grade auf Eure Mitteilungen gespannt.«

»Natürlich«, versetzte Mr. Lorry. »Ja … ich …«

Nach einer Pause fügte er, die Perücke gegen das Ohr rückend, hinzu:

»Es ist sehr schwer, den Anfang zu finden.«

Und so fing er lieber nicht an, begegnete aber in seiner Unschlüssigkeit ihrem Blicke. Die junge Stirn furchte sich zu jenem eigentümlichen Ausdruck, der zwar auffallend, aber doch hübsch und charakteristisch war; dabei hob sie ihre Hand, als greife sie mit dieser unwillkürlichen Bewegung nach einem flüchtigen Schatten oder wolle ihn festhalten.

»Seid Ihr mir ganz fremd, Sir?«

»Bin ich's nicht?«

Mr. Lorry öffnete seine Hände und streckte sie mit einem überzeugenden Lächeln aus.

Die Linie zwischen den Brauen und unmittelbar über dem Mädchennäschen, die so zart und fein wie nur immer möglich war, wurde ausdrucksvoller, als die Miß, nachdenkend, sich auf den Stuhl niederließ, neben dem sie bisher gestanden. Er wandte keinen Blick von dem gedankenvollen Wesen, und sobald sie ihre Augen wieder erhob, fuhr er fort:

»Ich nehme an, daß ich Euch in Eurem Adoptivvaterlande am besten wie eine junge englische Lady Miß Manette anrede.«

»Wenn es Euch so beliebt, Sir.«

»Miß Manette, ich bin ein Geschäftsmann und als solcher beauftragt, ein Geschäft auszurichten. Diesem meinem Auftrag gemäß braucht Ihr mich nicht anders zu betrachten, als ob ich eine sprechende Maschine sei – in der Tat, ich bin auch kaum etwas anderes. Mit Eurer Erlaubnis, Miß, will ich Euch die Geschichte eines unserer Kunden erzählen.«

»Geschichte?«

Er schien absichtlich das Wort, das sie wiederholt hatte, nicht zu verstehen, indem er hastig fortfuhr:

»Ja, eines Kunden. Im Bankgeschäft nennen wir gewöhnlich diejenigen, die mit uns in Geldbeziehungen treten, unsere Kunden. Es war ein Herr aus Frankreich, ein Gelehrter, ein Mann von ausgedehnten Kenntnissen, ein Doktor.«

»Nicht aus Beauvais?«

»Nun ja, aus Beauvais. Gleich Eurem Vater, dem Monsieur Manette, war der Herr aus Beauvais und wie Euer Vater auch in Paris sehr angesehen. Ich hatte die Ehre, ihn dort kennenzulernen. Unsere Beziehungen waren geschäftlicher, aber doch vertraulicher Art. Ich arbeitete damals in unserem französischen Haus, und zwar schon seit etwa zwanzig Jahren.«

»Damals, Sir – darf ich fragen, was Ihr mit diesem ›damals‹ meint?«

»Ich spreche von der Zeit vor zwanzig Jahren, Miß. Er heiratete – eine englische Dame –, und ich war einer der Bevollmächtigten. Seine Angelegenheiten befanden sich wie die vieler französischer Herren und Familien ganz in Tellsons Händen. So bin ich denn oder war ich in der einen oder anderen Weise der Vertraute für viele unserer Kunden. Dabei handelt es sich nur um geschäftliche Beziehungen, die mit besonderem Interesse, Gefühl und Freundschaft nichts zu schaffen haben. Ich übernahm im Laufe meines Geschäftslebens bald diesen, bald jenen Dienst, geradeso wie ich im Laufe des Geschäftstages von einem unserer Kunden zum anderen übergehe; kurz, ich habe keine Gefühle – bin eine bloße Maschine. Um fortzufahren …«

»Aber Eure Geschichte betrifft wohl meinen Vater, Sir, und ich fange an zu glauben« – die seltsam gefurchte Stirn war ihm mit großer Aufmerksamkeit zugewendet –, »daß Ihr es wart, der mich nach England brachte, als ich nach dem Tode meiner Mutter, die meinen Vater nur um zwei Jahre überlebte, verwaist in der Welt stand. Ja, ich bin fest überzeugt davon.«

Mr. Lorry nahm die zögernde kleine Hand, die vertrauensvoll sich genähert hatte, um die seinige zu ergreifen, und brachte sie mit einiger Förmlichkeit an seine Lippen. Dann führte er die junge Dame wieder zu ihrem Stuhl, stützte seine Linke auf die Lehne und benutzte seine Rechte abwechselnd, um sich das Kinn zu reiben, die Perücke gegen das Ohr zu ziehen oder seinen Worten Nachdruck zu geben, während er auf das achtsam zu ihm aufschauende Gesichtchen niederblickte.

»Ja, ich war es, Miß Manette. Und Ihr werdet sehen, wie wahr ich eben von mir selbst gesprochen, als ich sagte, daß ich keine Gefühle habe und meine Beziehungen zu meinen Nebenmenschen rein geschäftlicher Natur seien, wenn Ihr Euch vergegenwärtigt, daß ich Euch seitdem nie wieder gesehen habe. Nein, Ihr wart von jener Zeit an Tellsons Mündel, und ich hatte in anderen Geschäften des Hauses Tellson zu tun. Gefühle? Dafür finde ich weder Zeit noch Gelegenheit. Ich verbringe mein Leben damit, Miß, daß ich stets eine ungeheure Geldmaschine drehe.«

Nach dieser eigentümlichen Schilderung seines täglichen Geschäftslebens strich Mr. Lorry mit beiden Händen die flachsfarbige Perücke auf seinem Kopfe glatt (wohl ein unnötiges Bemühen, da ihre glänzende Oberfläche schon vorher nicht glatter hätte sein können) und nahm seine frühere Haltung wieder ein.

»Wie Ihr bemerkt habt, Miß, paßt die bisherige Geschichte auf Euren Vater, den Ihr betrauert; jetzt aber kommt der Unterschied. Wenn Euer Vater nicht gestorben wäre, als er … Ihr müßt nicht erschrecken. Warum fahrt Ihr so zusammen?« Sie war wirklich zusammengefahren und faßte seinen Arm mit ihren beiden Händen.

»Ich bitte«, fuhr Mr. Lorry in beschwichtigendem Tone fort, indem er seine Linke von der Stuhllehne entfernte, um sie auf die flehenden Finger zu legen, die mit so heftigem Zittern seinen Arm umfaßt hielten, »ich bitte, bekämpft Eure Aufregung – eine Geschäftssache. Ich wollte sagen …«

Ihr Blick brachte ihn dermaßen außer Fassung, daß er innehielt, beiseite sah und dann von neuem anhob.

»Ich wollte sagen – wenn Monsieur Manette nicht gestorben, sondern nur plötzlich in aller Stille verschwunden und nach irgendeinem schrecklichen Platze entrückt worden wäre, den man wohl erraten, aber nicht ermitteln konnte; wenn er einen Feind gehabt hätte in einem Landsmann, dem ein Vorrecht zu Gebote stand, von dem zu meiner Zeit auch die mutigsten Männer dort über dem Wasser drüben nur mit Flüstern sprachen – die Befugnis zum Beispiel, Formulare auszufüllen, die irgend jemand für beliebige Zeit dem Vergessenwerden in einem Gefängnis überantworten –; wenn seine Gattin sich vor König und Königin, Hof und Geistlichkeit in den Staub geworfen hätte, um etwas von ihm zu erfahren, aber alles vergeblich: dann wäre die Geschichte Eures Vaters auch die jenes unglücklichen Mannes, des Doktors von Beauvais, gewesen.«

»Ich bitte Euch flehentlich, mir alles zu sagen, Sir!«

»Es soll geschehen. Ich bin im Begriff. Könnt Ihr es ertragen?«

»Ich kann alles ertragen, nur nicht die Ungewißheit, in der Ihr mich schweben laßt.«

»Ihr sprecht gefaßt, und Ihr seid es wohl auch. Recht so.« Freilich schien er innerlich weniger befriedigt zu sein, als seine Worte ausdrückten. »Eine Geschäftssache. Betrachtet es als ein Geschäft, das abgetan werden muß. Wohlan, wenn die Frau dieses Doktors trotz ihrem hohen Geiste und Mute um dieses Umstandes willen so sehr gelitten hätte, daß sie noch vor der Geburt ihres Kindes …«

»Dieses Kind war eine Tochter, Sir?«

»Eine Tochter. Eine – eine – Geschäftssache, – laßt Euch nicht beunruhigen, Miß. Wenn die arme Dame so furchtbar gelitten hätte, daß sie vor der Geburt ihres Kindes den Entschluß faßte, dem armen Wesen die Teilnahme an ihren eigenen Qualen zu ersparen, indem sie es in dem Glauben erzog, daß sein Vater tot sei … Nein, kniet nicht nieder! In des Himmels Namen, warum kniet Ihr denn vor mir?«

»Die Wahrheit! O mein lieber, guter, mitleidiger Herr, die Wahrheit!«

»Eine – eine Geschäftssache. Ihr bringt mich in Verwirrung, und wie kann ich ein Geschäft bereinigen, wenn mein Kopf nicht klar ist? Wir müssen uns zusammennehmen. Wenn Ihr nur so gut sein wolltet, mir zum Beispiel zu sagen, was neun mal neun Pence ausmacht oder wie viele Schillinge man zu zwanzig Guineen braucht. Das wäre schon ermutigender und würde mich über den Zustand Eures Geistes beruhigen.«

Er brachte sie sanft zu ihrem Stuhle; hier blieb sie, ohne auf sein Zureden unmittelbar zu antworten, so still sitzen, und ihre Hände, die noch immer seinen Arm umfaßt hielten, waren so viel ruhiger als vorher, daß er wieder ein Herz faßte.

»Recht so, recht so. Nur Mut. Geschäft – es handelt sich um ein Geschäft, ein wichtiges Geschäft … Miß Manette, Eure Mutter hat es in der angedeuteten Weise mit Euch gehalten. Und als sie starb – ich glaube, an gebrochenem Herzen, weil sie nie in dem fruchtlosen Forschen nach Eurem Vater innehielt –, konnte die von ihr zurückgelassene zweijährige Waise zu einem blühend schönen, glücklichen Wesen heranwachsen, ohne daß die schwere Wolke der Ungewißheit, ob die Kräfte Eures Vaters im Kerker sich früh verzehrten oder eine Reihe von Jahren hinsiechten, Euer Dasein trübte.«

Während er diese Worte sprach, blickte er mit mitleidsvoller Bewunderung auf das wallende Goldhaar nieder, als ob er sich ausmalte, daß es schon mit Grau durchzogen sein könnte.

»Ihr wißt, daß Eure Eltern kein großes Vermögen besaßen und daß es Eurer Mutter und Euch gesichert worden ist. Etwas Neues, Gold oder sonstiges Eigentum betreffend, kann ich Euch also nicht mitteilen, wohl aber die Kunde …«

Er fühlte einen festeren Druck an seinem Handgelenk und hielt deshalb inne. Der Zug auf ihrer Stirn, der ihm schon zu sehr aufgefallen war, hatte den Ausdruck des Schmerzes und Schreckens angenommen.

»… daß er – daß er aufgefunden worden ist. Er lebt. Daß er sich sehr verändert hat, ist freilich nur allzu wahrscheinlich; möglich, daß wir nur noch eine Ruine in ihm finden; doch wollen wir das Beste hoffen. Er lebt noch. Man hat Euren Vater in das Haus eines alten Dieners in Paris gebracht, und wir sind auf dem Wege zu ihm: ich, um seine Identität zu bestätigen, wenn ich kann, Ihr, um seinem Leben durch die Liebe einer Tochter Ruhe und Behagen wiederzugeben.«

Ein Schauder überströmte ihren Körper und ging von ihr auf ihn über. Vernehmlich zwar, aber mit leiser und angstvoller Stimme, als rede sie im Traum, sprach sie:

»Ich gehe hin, um seinen Geist zu sehen! Es wird sein Geist sein, nicht er.«

Mr. Lorry streichelte ruhig die Hände, die seinen Arm festhielten.

»So, so. Jetzt wär's heraus. Von dem Besten und dem Schlimmsten seid Ihr nunmehr unterrichtet. Ihr befindet Euch auf dem Wege zu dem armen, schwer mißhandelten Herrn; noch eine schöne Seereise und eine schöne Landreise, und Ihr werdet an seiner Seite sein.«

In demselben Tone, aber noch gedämpfter, fuhr sie fort:

»Ich bin frei, ich bin glücklich gewesen, und doch ist mir sein Geist nie nahe gekommen.«

»Noch eins«, sagte Mr. Lorry mit Nachdruck, als sehe er darin das beste Mittel, Aufmerksamkeit zu erzwingen; »er ist unter einem anderen Namen aufgefunden worden; sein eigener wurde entweder seitdem stets verheimlicht oder vergessen. Es wäre schlimmer als nutzlos, darüber Nachforschungen anzustellen – schlimmer als nutzlos, ausfindig machen zu wollen, ob er diese lange Reihe von Jahren vergessen oder absichtlich gefangengehalten wurde. Solche Nachforschungen würden jetzt zu nichts Gutem führen, sondern im Gegenteil gefährlich werden. Besser, man schweigt ganz und gar über die Sache und schafft ihn, jedenfalls für eine Weile, fort aus Frankreich. Sogar ich vermeide es, davon zu reden, obschon mir meine Nationalität Sicherheit gibt, und Tellsons nehmen sich in acht, trotz ihrer Bedeutung für den französischen Kredit. Ich trage keinen Fetzen Papier bei mir, der eine offene Beziehung darauf hätte. Es handelt sich ganz und gar um ein Dienstgeheimnis. Meine Beglaubigungs-, Einführungs- und Empfehlungsbriefe beschränken sich auf die paar Worte: ›Ins Leben zurückgerufen‹, und man kann unter ihnen alles verstehen. Doch was ist das? Sie hört mich nicht! Miß Manette!«

Sie saß vollkommen still und unbewegt unter seiner Hand und war nicht einmal gegen die Stuhllehne zurückgesunken, trotz dem Zustande von Bewußtlosigkeit, in dem sie sich befand. Ihre Augen standen offen und waren auf ihn gerichtet; auch schien der starre Ausdruck mit dem Meißel oder dem Brandeisen in ihre Stirn eingegraben zu sein. Sie hielt seinen Arm so fest umschlungen, daß er sich, um ihr nicht weh zu tun, scheute, ihre Hände loszumachen, und in dieser Not rief er, ohne sich von der Stelle zu rühren, laut um Hilfe.

Eine wild aussehende Weibsperson – Mr. Lorry bemerkte sogar in seiner Aufregung, daß sie durchweg rot aussah und auch rote Haare hatte, in eine merkwürdig knapp anliegende Tracht gekleidet war und eine höchst wundersame Haube von der Gestalt eines mächtigen hölzernen Grenadierkübels oder eines großen Stiltoner Käses auf dem Kopf hatte – kam als Vortrab des Wirtshausgesindes in das Zimmer gerannt und erledigte alsbald die Frage, wie er von der armen jungen Dame loskäme, damit, daß sie ihm mit sehniger Faust einen Stoß vor die Brust versetzte, so daß er gegen die nächste Wand flog.

›Das muß wahrhaftig ein Mannsbild sein‹, dachte der atemlose Mr. Lorry, als er sich so gegen die Mauer geschleudert fühlte.

»Was soll euer Gegaff da!« rief die Weibsperson, gegen die Gasthausdienerschaft gewandt. »Warum geht ihr nicht, um das Nötige zu holen, und steht hier, um mich anzuglotzen? Ist denn so viel an mir zu sehen, he? Warum bringt ihr mir nichts? Paßt auf, ihr sollt was erleben, wenn nicht hurtig Riechsalz, kaltes Wasser und Weinessig herkommt. Nun, wird's bald?«

Es flog alles auseinander, um die gewünschten Belebungsmittel herbeizuschaffen, und die Frau legte in der Zwischenzeit die Ohnmächtige sanft auf das Sofa. Sie zeigte dabei viel Geschick und Zartheit, nannte sie ihr ›Schätzchen‹, ihr ›Vögelchen‹ und streifte mit Sorgfalt und Stolz das goldene Haar aus dem Antlitz der Patientin über die Schultern zurück.

»Und Ihr, Brauner, da«, sagte sie, entrüstet sich gegen Mr. Lorry umwendend, »konntet Ihr dem armen Kind nicht sagen, was Ihr ihm zu sagen hattet, ohne es auf den Tod zu erschrecken? Schaut sie an mit ihrem hübschen blassen Gesicht und ihren kalten Händen. Treiben's alle Bankiers so?«

Mr. Lorry war über diese schwer zu beantwortende Frage so übermäßig betroffen, daß er nur aus der Ferne mit sehr untätiger Teilnahme und Zerknirschung zuzuschauen vermochte, während das Mannweib, nachdem es die Hausdienerschaft unter der geheimnisvollen Drohung verbannt hatte, sie etwas nicht namhaft Gemachtes erleben zu lassen, wenn sie gaffend stehen bleibe, ihren Pflegling allmählich zur Besinnung brachte und durch Schmeichelworte bewog, das haltlose Köpfchen auf ihre Schulter zu legen.

»Ich hoffe, es geht ihr jetzt besser«, sagte Mr. Lorry.

»Dann ist jedenfalls Euer brauner Rock unschuldig daran. – Mein Herzkäferchen!«

»Ich hoffe«, bemerkte Mr. Lorry nach einer abermaligen Pause hilfloser Teilnahme und Zerknirschtheit, »daß Ihr Miß Manette nach Frankreich begleiten werdet.«

»Sehr wahrscheinlich«, versetzte die tüchtige Frau. »Wenn es mir immer bestimmt war, daß ich über das Salzwasser soll, meint Ihr, die Vorsehung würde mich auf einer Insel zurückhalten?«

Abermals eine schwer zu beantwortende Frage, und Mr. Jarvis Lorry zog sich zurück, wie um darüber nachzudenken.

Fünftes Kapitel: Die Weinschenke

Ein großes Weinfaß war auf die Straße gefallen und geborsten. Der Unfall hatte sich zugetragen, als man es abladen wollte; man konnte es nicht mehr halten, durch die Gewalt des Aufpralls sprangen die Reifen, und da lag es nun unmittelbar vor der Kellertür wie eine Nußschale zerschellt auf den Steinen.

Wer in der Nähe war, gab seine Arbeit oder seinen Müßiggang auf und eilte nach der Stelle, um von dem Wein etwas abzufangen. Die rauhen, unregelmäßigen Pflastersteine, mit denen die Straße überall belegt war und die ausdrücklich dazu bestimmt zu sein schienen, die Annäherung aller lebenden Wesen zu lähmen, hatten die kostbare Flüssigkeit in kleine Lachen abgedämmt, die nach dem Maßstab ihrer Größe von lärmenden Banden umlagert wurden. Dort knieten einige Männer nieder, benutzten die aneinandergefügten hohlen Hände als Löffel und schlürften daraus oder versuchten, den Weibern, die sich über ihre Schultern niederbeugten, zu etwas zu verhelfen, ehe der Wein zwischen ihren Fingern durchgelaufen war. Hier brauchten Männer und Weiber alte Topfscherben als Trinknäpfe oder tauchten die Kopftücher der Frauen ein, um sie in den Mund der Kinder auszuwringen. Die einen bauten kleine Schlammdämme, um den entströmenden Wein aufzuhalten, andere stürzten nach der Weisung von Leuten, die von den Fenstern aus zusahen, da- und dorthin, um die Bächlein abzuschneiden, die eine neue Richtung einschlagen wollten, und wieder andere hielten sich an die mit Hefe gefärbten Faßdauben, deren vom Wein getränkte Teile sie mit besonderem Hochgenuß beleckten und sogar benagten. Man bedurfte keiner Rinnen, um den Wein abzulassen; aber gleichwohl verschwand er und mit ihm so viel Kot, daß kein Gassenkehrer sauberer hätte fegen können.

Während der Dauer dieses Weinspiels tönte helles Gelächter und der Schall fröhlicher Stimmen aus dem Munde von Männern, Weibern und Kindern durch die Straße. Es ging zwar ziemlich roh, aber auch spaßhaft genug her; denn rasch hatte sich ein geselliges Treiben und eine augenfällige Neigung von seiten eines jeden, sich dem andern anzuschließen, entwickelt, so daß es namentlich unter den Glücklicheren oder Leichtherzigeren bald zu fröhlichen Umarmungen, Hochlebenlassen, Händedrücken und selbst zu lustigen Tänzen kam, zu denen man sich zu Dutzenden vereinigte. Diese Demonstrationen hörten übrigens ebenso plötzlich wieder auf, wie sie begonnen hatten, sobald der Wein aufgeschlürft war und die rechenartig arbeitenden Finger jede Stelle, wo er besonders massenhaft gestanden, mit der Zeichnung eines Bratrostes versehen hatten. Der Holzhacker setzte die Säge, die er in dem Scheit hatte stecken lassen, wieder in Bewegung; die Frau kehrte zu ihrem auf der Türschwelle abgesetzten heißen Aschentopf zurück, mit dem sie sich selbst oder ihrem Kinde den Schmerz der durchfrorenen Finger und Zehen zu beschwichtigen versuchte; Männer mit nackten Armen, verfilzten Haaren und leichenfahlen Gesichtern, die aus Kellerwohnungen an das winterliche Licht emporgekommen waren, verschwanden wieder in ihren Höhlen, und über den Schauplatz verbreitete sich ein Düster, das ihm weit natürlicher war als der Sonnenschein.

Es war Rotwein gewesen, und die Stelle, wo er ausgeflossen, war eine enge Straße der Vorstadt Saint Antoine in Paris. Er hatte auch viele Hände, viele Gesichter, manchen nackten Fuß und manchen Holzschuh gefärbt. Die Hände der Holzhacker ließen rote Fingerabdrücke an den Scheiten zurück, und die Stirn des Weibes mit dem Kind war von dem alten Lumpen befleckt, den sie sich wieder um den Kopf gewunden. Die sich an den Faßdauben gelabt hatten, waren um den Mund herum getigert, und ein so beschmierter langer Spaßmacher, auf dessen Stirn eine schmutzige lange Zipfelmütze niederfiel, malte mit seinen in die trübe Weinhefe getauchten Fingern das Wort ›Blut‹ an eine Wand.

Es sollte eine Zeit kommen, in der auch solcher Wein in den Straßen ausgegossen wurde und sein Rot viele Pflastersteine färbte.

Als nun auf Saint Antoine die Wolke wieder lagerte, die ein flüchtiger Sonnenblick von seinem Antlitz verdrängt hatte, trat abermals tiefe Finsternis ein; Kälte, Schmutz, Krankheit und Not waren die Gefolgsleute des heiligen Antonius – lauter mächtige Edle, namentlich die Not. Abgezehrte Fabrikarbeiter standen schaudernd an den Ecken, gingen in den Häusern ein und aus, schauten aus jedem Fenster und ließen ihre armseligen Fähnlein im Wind flattern. Die Fabrik, in der sie sich so heruntergearbeitet, hatte nichts gemein mit jener fabelhaften Mühle, die alte Leute jung machte, sondern übte gerade die entgegengesetzte Wirkung; die Kinder hatten alte Gesichter und tiefe Stimmen, und auf jedem war mit stets erneuten tiefen Furchen das Zeichen des Hungers eingegraben. Dies erschien als der vorherrschende Zug. Der Hunger sprach aus den hohen Häusern heraus durch die armseligen Linnen, die an den ausgespannten Leinen hingen, und wurde mit Stroh und Lumpen, Holz und Papier in sie hineingeflickt. Hunger bedeutete jeder der kleinen Holzabschnitte, die unter der Säge des Holzhackers fielen; Hunger glotzte aus den rauchlosen Schornsteinen in die Tiefe und schoß aus der schmutzigen Straße auf, in deren Kehricht sich kein Abfall vom Essen befand. Hunger war die Inschrift der Bäcker, deutlich ausgedrückt in den kleinen Laiben und dem spärlichen Brotvorrat – die der Wurstläden, lesbar in den Erzeugnissen von Hundefleisch, die zum Verkauf ausgeboten wurden. Der Hunger ließ seine dürren Knochen rasseln unter den in der gedrehten Walze röstenden Kastanien und zeigte sein Skelett auf jedem Teller mit schlechten, in einigen Tropfen widerwärtigen Öls gebratenen Kartoffeln.