Eine Geschichte der Liebe - Martin S. Bergmann - E-Book

Eine Geschichte der Liebe E-Book

Martin S. Bergmann

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Beschreibung

Mit kaum einem Phänomen hat sich die Menschheit länger und intensiver beschäftigt als mit der Liebe, die nach wie vor eines der rätselhaftesten Gefühle ist, mit denen der einzelne Mensch, aber auch die Spezies zu tun hat. Der Autor, kulturgeschichtlich interessierter Psychoanalytiker, hat bei seinen Nachforschungen herausgefunden, daß die Menschen von Anfang an, von den alten Ägyptern über die Griechen, den Romantikern bis hin zu den Neuzeitmenschen, aus jeweils unterschiedlicher Sicht und mit eigenen Vokabularien dem Rätsel der Liebe nachgespürt haben. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 615

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Martin S. Bergmann

Eine Geschichte der Liebe

Vom Umgang des Menschen mit einem rätselhaften Gefühl

Aus dem Amerikanischen von Reiner Stach

FISCHER Digital

Inhalt

Geist und Psyche Begründet [...]Für Ridi zu unserem [...]VorwortI. Die humanistische Vergangenheit Das wachsende Vokabular der Liebe1 Liebesdichtung im alten Ägypten2 Die sinnliche Dichtung der Sumerer3 Die Geburt der Aphrodite und ein neues Vokabular der Liebe4 Wie Platon die abendländische Auffassung der Liebe veränderte5 Liebe als Verlangen nach Wiedervereinigung: Platons zweite Theorie der Liebe6 Zur Affinität von griechischer Tragödie und Psychoanalyse7 Der römische Beitrag: die Entdeckung des Narziß8 Narzißmus und lchideal in der jüdischen und griechischen Kultur9 Liebe im Alten Testament10 Liebe im Neuen Testament11 Romantische und narzißtische Liebe vom Mittelalter bis zu Shakespeare und Milton12 Liebe in einer entzauberten Welt: vom 17. zum 19. JahrhundertII Der Beitrag der PsychoanalyseVorbemerkung1 Was Freud Platon verdankt: das Problem der Sublimierung2 Was Freud über die Liebe herausfand3 Biographische Anmerkungen zu Freuds Liebestheorien4 Liebe und Genitalität: eine Kontroverse in der Psychoanalyse5 Liebe und Homosexualität6 Übertragungsliebe und Liebe im wirklichen Leben7 Der Beitrag der neueren Psychoanalyse8 Spielarten der LiebeLiteraturverzeichnisNamen- und Sachregister

Geist und Psyche Begründet von Nina Kindler 1964

Für Ridi zu unserem 40. Jahrestag

 

Ich denke an deine Jugendtreue,

an die Liebe deiner Brautzeit,

wie du mir in der Wüste gefolgt bist,

im Land ohne Aussaat.

 

Jeremia 2:2

Vorwort

O laß, was stumme Liebe schrieb, gewähren:

sie wird dich lehren, mit dem Aug zu hören.

 

(Shakespeare, Sonett 23)

O die Liebe ist wirklich krumm,

Da ist keiner weise genug

Zu entdecken, was alles darin ist,

Denn er würde an Liebe denken

Bis die Sterne verlaufen wären

Und die Schatten den Mond verschlängen.

 

(William Butler Yeats, Brauner Pfennig)

Dieses Buch erzählt die Geschichte der Suche des Menschen nach dem Wesen der Liebe. Um diesem Vorhaben gerecht zu werden, mußte ich zahlreiche, von Spezialisten beherrschte Gebiete durchstreifen. Sollten auch Ägyptologen, Altphilologen, Bibel- und Shakespeare-Forscher, Historiker oder Philosophen dieses Buch lesen, so stimmen sie hoffentlich mit mir darin überein, daß ich in ihr jeweiliges Fachgebiet nur dann eingedrungen bin, wenn ich aus meiner Perspektive etwas Neues beitragen konnte. Dem Leser, der in allgemeinerem Sinne an der Liebe interessiert ist und der, bevor er sich in die Lektüre stürzt, zunächst einmal wissen möchte, auf was er sich einläßt, empfehle ich, das letzte Kapitel zuerst zu lesen und dann zu entscheiden, ob er das von mir abgesteckte Territorium durchqueren möchte.

An Neuerscheinungen zum Thema Liebe ist kein Mangel. Jene beispiellose »sexuelle Revolution« liegt hinter uns – zumindest in der westlichen Welt –, und es gibt Anzeichen dafür, daß selbst der Kommunismus trotz all seiner Starrheit nicht in der Lage sein wird, die Auswirkungen dieser Art von Revolution einzudämmen. Wir sind freimütiger geworden und auch klüger in bezug auf den Sex in all seinen Aspekten, und wir glauben, ein Anrecht auf sexuelles Glück zu haben. Doch auf die sexuelle Freiheit folgte ein Gefühl der Leere, das selbst in befriedigenden sexuellen Beziehungen auftaucht, wenn jene geheimnisvolle Zutat fehlt, die wir Liebe nennen. Es gibt noch einen weiteren Grund für eine erneut aufkommende Wißbegierde in Sachen Liebe: Man hat gesagt, wir lebten im Zeitalter des Narzißmus, und dieser wiederum steht in einer komplexen Beziehung zur Liebe, wie die Psychoanalytiker herausgefunden haben. Die meisten Autoren sind sich über diese Verbindung nicht im klaren; mit der Geschichte und der Psychologie des Narzißmus werde ich mich im folgenden jedoch ausführlich befassen.

Im Verlauf dieser Arbeit hat sich mir eine bestimmte Einsicht geradezu aufgedrängt: Oberflächlich betrachtet, entflammt uns die Liebe in Gestalt eines einheitlichen Gefühls, das heißt, all jene, die lieben, haben an diesem einen Gefühl teil. Untersucht man die Liebe jedoch eingehender, so entdeckt man verschiedene Arten von Liebe. Es gibt Liebende, die zu einer der klar umrissenen Gruppen zählen, die ich im abschließenden Kapitel beschreibe; bei anderen ist eine Mischung verschiedener Arten von Liebe zu beobachten. Die innere Entwicklung eines Menschen bis zu dem Zeitpunkt, da er sich verliebt, bestimmt die Art und Weise, in der er lieben wird, und den Verlauf, den seine Liebe nehmen wird.

Viele der Bücher zum Thema Liebe, die ich gelesen habe, zitieren die berühmte Arie des Cherubino in Mozarts Hochzeit des Figaro: »Voi che sapete che cosa e amor …« (»Ihr, die ihr wißt, was Liebe ist …«). Die Frage »Was ist Liebe?« wird nach Hagstrum (1980) vom Heranwachsenden aufgeworfen, dessen geschlechtliche Identität noch im Fluß ist – eine Mischung von Narziß und Adonis. Je ambivalenter die geschlechtliche Identität ist, desto rätselhafter scheint die Liebe. Ich denke, es ist kein Zufall, daß gerade die Griechen, die ihre Homosexualität in geringerem Maß als andere unterdrückten, auch die ersten waren, die Liebe als etwas Rätselhaftes erfuhren. Den griechischen und römischen Philosophen und Dichtern verdanken wir nicht nur die ersten Einsichten in das Wesen der Liebe, sondern auch einige der scharfsinnigsten Beobachtungen, die vor Sigmund Freud zu diesem Thema angestellt wurden. Mir ist klargeworden, daß man die Ideen Freuds zum Thema Liebe besser versteht, wenn man sie vor dem Hintergrund des westlichen Denkens betrachtet, das auf das antike Griechenland und auf die Bibel zurückgeht. Meiner Ansicht nach verdankt die Psychoanalyse ihren humanistischen Wurzeln weit mehr, als Freud und andere Psychoanalytiker eingestanden. Gleichzeitig hat jedoch die Psychoanalyse ein neues Licht auf diese humanistische Vergangenheit geworfen.

Der Literaturkritiker Harold Bloom schrieb über Freud, »dessen Auseinandersetzung mit der gesamten Vorwelt« sei »die umfassendste und intensivste unseres Jahrhunderts« gewesen (wobei Bloom den Begriff »Vorwelt« als das Gegenteil der »Nachwelt« faßte[1], um den Kampf jedes schöpferischen Denkers gegen den von der Tradition ausgeübten Druck zu bezeichnen). Freud – so Bloom weiter – habe sich der Rolle des Bewußtseins in unserem Zeitalter derart bemächtigt, daß wir mehr als vierzig Jahre nach seinem Tod bei der Erörterung geistiger Tätigkeiten noch immer über kein anderes gängiges Vokabular verfügen als das von ihm übernommene. Mein eigenes Buch bestätigt das; denn als ich daranging, die Suche des Menschen nach einem Verständnis der Liebe zu schildern, vermochte ich die Vergangenheit nicht anders wahrzunehmen als durch die Brille Freuds. Und was Freuds eigenen Kampf mit der Vergangenheit betrifft, so scheint mir Platon sein wichtigster Gegenspieler zu sein – also derjenige, der ihn am meisten beeinflußte und gegen dessen Einfluß er sich zur Wehr setzte. Der einzige vergleichbare »Gegenspieler« war Nietzsche.

Ich glaube, es gibt eine unbewußte Kontinuität zwischen den Mythen, Sagen und philosophischen Theorien der Antike einerseits und den Träumen und Neurosen von Männern und Frauen unseres modernen Zeitalters andererseits. Daher habe ich in diesem Buch klassische Texte und Assoziationen von Analysanden immer wieder nebeneinandergestellt.

Ich bin zuversichtlich, daß Leser, welche die Psychoanalyse aus privaten oder beruflichen Gründen schätzen, dieses Buch zur Kenntnis nehmen werden, einschließlich derer, die in ihrem Beruf mit dem Problem seelischer Gesundheit zu tun haben und denen es auf ein möglichst umfassendes Verständnis dessen ankommt, was die Psychoanalyse zum Thema Liebe beigetragen hat. Letztere werden mein Buch lesen, um die Effektivität ihrer klinischen Arbeit zu steigern. Ich hoffe jedoch, ein Buch geschrieben zu haben, das auch weiteren Interessen entgegenkommt – ein Buch, das all jenen etwas Neues und Bedeutsames zu sagen hat, die unsere humanistische Vergangenheit schätzen und für wichtig halten und die daher erfahren wollen, wie sich die Psychoanalyse in diese lange Tradition einfügt.

Schließlich möchte ich mich auch noch an jene wenden, die ihr Glück in der Liebe suchten, über das Ergebnis ihrer Bemühungen in Verwirrung geraten sind und daher zu meinem Buch greifen. Eine der frühesten Metaphern der Liebe vergleicht sie mit einer Krankheit, die nur der oder die Geliebte heilen kann. Eine solche Macht haben Bücher nicht. Doch kann es durchaus sein – auch wenn dieses Buch nicht der Heilung dienen soll –, daß ein Verständnis des langen Kampfes unserer Kultur um ein Begreifen der Liebe, die Auffassungen eines bestimmten Autors, den ich zitiere, oder auch nur eines der angeführten Fallbeispiele es dem Leser ermöglichen, seine Schwierigkeiten in einem neuen Licht zu sehen, das hilfreich ist und Hoffnung gibt; das wäre dann ein Gewinn nicht nur für den Leser, sondern auch für mich.

Vielen Analysanden, Studenten und Kollegen bin ich für ihre hilfreichen Ideen zu Dank verpflichtet. Bedauerlicherweise kann ich nicht jeden von ihnen anführen. Professor Peter Gay las die erste Version dieses Buchs und vereinte dabei die Sorgfalt eines Lektors mit der Belesenheit dessen, der mit der Literatur zum Thema Liebe vertraut ist. Nicht weniger Dank schulde ich Dr. Otto Kernberg, der zur Vertiefung des analytischen Wissens auf diesem Gebiet außerordentlich viel beigetragen hat; er las die erste Version und gab wertvolle Anregungen. Aus den Anmerkungen von Dr. Arlene Richards und Anne Rose, die das Manuskript ebenfalls gelesen haben, habe ich großen Gewinn gezogen. Meine Ehefrau und mein Sohn Michael waren hilfreiche Mitarbeiter. Professor Bernard Bothmer und Lee Pomerantz verschafften mir Zugang zu sumerischen und ägyptischen Quellen, an die der Laie nicht so leicht herankommt. Mit Dr. Giorgio DiGregorio erörterte ich ausführlich das vielschichtige Kapitel über Freud. Einige Abschnitte dieses Buchs wurden in Oxford geschrieben, wo mir die Mitarbeiter der Bodleian Library beim Aufspüren zahlreicher Publikationen sehr behilflich waren. Ermutigung erfuhr ich auch durch meine beiden Assistentinnen Andrea Madden und Martha Meade, die nicht nur mit der Textverarbeitung umgehen konnten, sondern auch ein lebendiges inhaltliches Interesse an meinem Buch nahmen. Jeder, der schreibt, kennt den Schmerz, den der gleichgültige Gesichtsausdruck einer Sekretärin verursachen kann. Diese Marter blieb mir erspart. Ich möchte auch Barbara Frank für das Korrekturlesen danken.

Mit der Arbeit an diesem Buch begann ich vor etwa zwanzig Jahren. Meine erste Veröffentlichung zum Thema Liebe erschien 1971. Frühere Fassungen einiger der Kapitel erschienen in den Zeitschriften The Psychoanalytic Quarterly, Journal of the American Psychoanalytic Association, International Journal of Psycho-Analytic Psycho-Therapy und American Imago. Ich danke den Herausgebern für die Erlaubnis, diese Texte teilweise wiederabzudrucken.

Ich möchte auch dem Postgraduate Center for Psychotherapy danken, das mir das Privileg verlieh, als »Psychoanalytiker des Jahres« diese Arbeit in einer Reihe von Vorlesungen vorstellen zu dürfen. Von den anschließenden Gesprächsrunden hat das Buch profitiert.

I Die humanistische Vergangenheit

Das wachsende Vokabular der Liebe

1 Liebesdichtung im alten Ägypten

Die Poesie ist der Pflug, der die Zeit umwendet,

so daß die tiefen Schichten der Zeit,

die schwarze Erde, oben erscheint.

 

Ossip Mandelstam

Die meisten derer, die über Liebe schreiben, zitieren zustimmend einen Satz von La Rochefoucauld, der besagt, die meisten Leute würden sich gar nicht verlieben, wenn sie nicht von der Liebe reden hörten. La Rochefoucauld war einer der Erfinder der Maxime als literarische Form; in diesem Fall jedoch warf er eine entscheidende Frage auf, die man etwa so formulieren könnte: Ist die Liebe im wesentlichen ein soziales Phänomen, das sich in einem Umfeld ganz bestimmter Einstellungen entwickelt und in anderen völlig fehlt? Oder repräsentiert sie ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen und tritt überall auf, wo immer es menschliche Wesen gibt? Der Versuch, dieses Problem zu klären, brachte mich auf die Frage, wann eigentlich die Liebe entdeckt worden sei. Die Nachforschungen führten mich in das Neue Reich Ägyptens (ca. 1550–1080 v. Chr.), wo wir die früheste Liebesdichtung antreffen.

Ägyptische Liebesdichtung

Als Vorbedingung einer Liebesdichtung, die sich ihrer selbst bewußt ist, muß die jeweilige Sprache das Wort Liebe kennen. Die Ägypter hatten dafür eine Hieroglyphe, die für das Substantiv wie für das Verb stand. Diese Hieroglyphe bestand aus drei Teilen: einer Hacke, einem Mund und einer männlichen Figur mit einer Hand im Mund.[2]

Die ägyptischen Liebesgedichte wurden auf Papyrusrollen oder auf Vasen festgehalten, und zwar in den Jahren 1300 bis 1100 v. Chr., also im Zeitalter des Neuen Reichs. Nach unseren Begriffen sind sie alt, nicht jedoch nach ägyptischen Maßstäben, denn die überlieferte Geschichte Ägyptens beginnt bereits um 3000 v. Chr. Papyrusrollen und Ton sind weniger dauerhaft als Inschriften in Stein; es ist daher durchaus möglich, daß es auch schon früher Liebesgedichte gegeben hat, die jedoch nicht überdauerten. Insgesamt haben die Ägyptologen 55 Liebesgedichte gesammelt, die sämtlich in die Zeit des Neuen Reichs datieren.

Wenn man mit Liebeslyrik bereits vertraut ist und dann auf die der alten Ägypter stößt, so erstaunt einen die thematische Vielfalt und die Differenziertheit der Gefühle, die sie zum Ausdruck bringt. Das Bemerkenswerteste an diesen Gedichten ist jedoch das Fehlen schmerzlicher Assoziationen wie Scham, Schuld und Zwiespalt, welche die Liebespoesie späterer Zeiten weitgehend kennzeichnen wird. Einem Leser, der das Hohelied aus der Bibel kennt, werden viele der Metaphern vertraut vorkommen.

[Eine Frau:]

Der Bruder verführt mein Herz mit seiner Stimme

und läßt mich Krankheit befallen.

Er ist ein Nachbar des Hauses meiner Mutter,

und doch weiß ich nicht, wie ich zu ihm gehen kann.

Gut wäre in meiner Sache vielleicht meine Mutter.

Ach laß es, sie zu sehen![3]

 

Sieh, mein Herz ist unwillig, an ihn zu denken,

und doch ergreift mich die Liebe zu ihm.

(Schott 1950, S. 39f.)

 

[Ein Mann:]

Sieben Tage sah ich die Schwester nicht.

Krankheit hat mich befallen.

 

Mein Herz wird schwer.

Ich habe mich selbst vergessen.

 

Wenn die Ärzte zu mir kommen,

bin ich mit ihren Mitteln nicht zufrieden.

Keinen Ausweg finden die Beschwörer.

Meine Krankheit wird nicht erkannt.

 

Wenn man mir sagt: Siehe, sie ist da! belebt es mich.

Ihr Name ist das, was mich erhebt.

[…]

Wenn ich sie sehe, dann gesunde ich.

 

Wenn sie ihr Auge öffnet, verjüngt sich mein Leib.

Wenn sie spricht, dann erstarke ich.

Wenn ich sie umarme, verjagt sie von mir das Übel.

Sie ging von mir vor sieben Tagen.

(Ebd., S. 43)

Diese Metapher der Liebe als eine Art Krankheit findet sich auch im Hohelied (2,5): »Stärkt mich mit Traubenkuchen,/erquickt mich mit Äpfeln;/denn ich bin krank vor Liebe.«

Der einzige Mißton in unseren Ohren ist die beständige Anrede der geliebten Person als »Schwester«, wenn ein Mann der Sprecher ist, und als »Bruder«, wenn es die Stimme einer Frau ist. Im alten Ägypten waren dies die üblichen Koseworte (Lichtheim 1976, S. 181). Im Gegensatz zu den Ägyptern jedoch, deren Pharaonen das Vorrecht hatten, das Inzesttabu zu überschreiten und ihre Schwestern zu heiraten, reagieren wir auf die Assoziation von Geschwistern mit Geliebten empfindlich. Ganz allgemein zog man in der Antike keine so scharfe Trennungslinie zwischen geschwisterlicher und sexueller Liebe. Im Hohelied, das griechischen Ursprungs ist (Rozelaar 1954; Hadas 1963), heißt es: »Verzaubert hast du mich / meine Schwester Braut; / ja verzaubert« (4,9), und weiter: »Wie schön ist deine Liebe, / meine Schwester Braut« (4,10). Da Liebe als überwältigendes Gefühl erfahren wird, das sich der Kontrolle des gesunden Ichs entzieht, ist die Krankheitsmetapher durchaus treffend.

Nun einige Fragmente, in denen die Wonnen der Liebe zum Ausdruck kommen:

Ich habe den Geliebten in seinem Zimmer gefunden.

Mein Herz war überglücklich.

Wir sagten: »Ich werde nicht von Dir fortgehen!«

Meine Hand ist in Deiner Hand!

 

Ich wandle, indem ich bei Dir bin,

an jedem schönen Platze.

(Schott 1950, S. 52)

 

Überaus schön ist diese Stunde.

Möge die Stunde zur Ewigkeit anschwellen.

Seit ich mit Dir geschlafen habe,

hast Du mein Herz erhoben.

 

Ob es klagt oder frohlockt,

entferne Dich nicht von mir!

(Ebd., S. 56)

Die Ambivalenz, die der Liebende angesichts der Tatsache empfindet, daß ihn Liebe übermannt hat, beschreiben die ägyptischen Texte durch die Metapher der Falle. In einer Kultur, die sich ihre Nahrungsgrundlage zum Teil dadurch verschaffte, daß sie Wildvögeln mit Fallen nachstellte, lag diese Metapher nahe.

[Eine Frau:]

Die Stimme der Wildgans schreit,

die von ihrem Köder gepackt ist.

Deine Liebe, die mich zurückhält,

kann ich nicht lösen.

 

Ich werde meine Netze abschlagen.

Was soll ich meiner Mutter sagen,

zu der ich jeden Tag gehe,

mit Vogelfang beladen?

 

Heute habe ich keine Falle aufgestellt.

Die Liebe zu Dir hat mich gefangen.

(Ebd., S. 51)

Diese Metapher von der Fallenstellerin, die selbst in eine Falle gerät, hat etwas Humoristisches. Während die Frau das Bild der gefangenen Wildvögel verwendet, beschreibt der Mann seine »Zwangslage«, indem er scherzhaft die Metapher des domestizierten Viehs anführt:

Trefflich kennt sich aus im Schlingenwerfen die Geliebte,

ohne für Viehsteuer aufzukommen.

Sie wirft Schlingen gegen mich mit ihrem Haar.

Sie läßt mich eingefangen werden mit ihrem Auge.

Sie läßt mich gebändigt werden mit ihrem Schmuck.

Sie brandmarkt mich mit ihrem Siegelring.

(Ebd., S. 63)

In einigen der Gedichte wendet sich der Liebende an sein eigenes Herz. Solche Gedichte lassen erkennen, daß Liebe bereits als innerpsychisches Geschehen erlebt wurde, dem man durch den metaphorischen Gebrauch des Herzens symbolische Gestalt verlieh.

Mein Herz springt eilends,

sobald ich an meine Liebe zu Dir denke.

Es läßt mich nicht wie ein Mensch gehen

und hüpft auf seinem Platze.

[…]

 

»Halte nicht an! Du erreichst das Ziel!«

sagt es mir, so oft ich an ihn denke.

Mache mir, mein Herz, keinen Kummer!

Warum handelst Du töricht?

(Ebd., S. 41)

Die Ägypter erlebten das Herz als eine innerpsychische Struktur, abgetrennt von der übrigen Persönlichkeit. In diesem Gedicht wird das Herz bezichtigt, das Werkzeug der Liebe zu sein. Diese Gleichsetzung von Herz und Liebe ist uns erhalten geblieben: Wenn wir uns verlieben, so sprechen wir davon, unser Herz zu verlieren.

In einigen der ägyptischen Gedichte finden sich Andeutungen von Masochismus und vielleicht auch Fetischismus.

Ach wäre ich ihre Negerin,

die ihr als Fußwäscherin dient!

Dann würde ich die Haut

ihres ganzen Leibes erblicken.

 

Ach wäre ich der Wäscher ihrer Kleider

für einen einzigen Monat.

Da (wäre ich glücklich)[4], das Öl herauszuwaschen,

das in ihrem Kleide ist.

[…]

 

Ach wäre ich ihr Siegelring,

der an ihrem Finger sitzt.

(Da würde sie mich hüten)

wie etwas, was ihr eine schöne Lebenszeit macht.

(Ebd., S. 66f.)

Die Natur ist belebt und nimmt an der Liebe Anteil. Die Bäume wetteifern miteinander, indem sie den Liebenden verborgene Orte bieten; doch können sie auch mißgünstig werden, wenn sie merken, daß die Liebenden dies als allzu selbstverständlich hinnehmen.

Die kleine Sykomore,

die sie mit ihrer Hand gepflanzt hat,

bewegt ihren Mund, zu sprechen.

[…]

 

»Ach verbringe den Tag in schöner Weise,

morgen und (über)morgen bis zu drei Tagen,

während Du in meinem Schatten sitzt.

Ihr Freund ist zu ihrer Rechten.

 

Sie macht ihn trunken

und folgt dem, was er sagt,

während sich der Bierstand in Trunkenheit verwirrt,

und sie mit ihrem Geliebten zurückbleibt.

 

Es ergeht sich unter mir

die Geliebte in ihrem Wandel.

Ich bin verschwiegen

und verrate mit keinem Wort, was ich sehe.«

(Ebd., S. 59–61)

Das Neue Reich war eine glanzvolle Epoche in der Geschichte Ägyptens. Die eingedrungenen Hyksos waren wieder vertrieben worden, und Ägypten wurde zu einer Weltmacht, deren Gebiet sich bis an den Euphrat erstreckte. In dieser Ära fand die religiöse Revolution des Echnaton statt, nach Ansicht Freuds das Vorbild für die Figur des Moses und für den Auszug der Juden aus Ägypten. Die glanzvolle Zeit der Pyramiden hatten die Ägypter des Neuen Reichs bereits hinter sich. Als jene Epoche versunken war, folgte ihr zunächst eine Zeit der Desillusionierung und des Pessimismus. Während des Neuen Reichs befaßten sich die Ägypter mit dem Gedanken eines Strafgerichts im Jenseits. Die Grabstätten von Memphis zeigen den Verstorbenen vor dem Gericht des Osiris stehend, wo sein irdisches Tun gewogen wird. Auf der einen Waagschale hockt Maat, die Göttin der Wahrheit, auf der anderen liegt das Herz des Toten. Für den Fall, daß er diesen Test nicht besteht, wartet ein Krokodil darauf, das Herz aufzufressen. Zauberworte an den Wänden des Grabs sollen verhindern, daß es dazu kommt, darunter ein besonderer Spruch, der dem Herzen untersagt, gegen Verstorbene auszusagen.

Das ägyptische Totenbuch enthält ein faszinierendes Kapitel mit sogenannten negativen Bekenntnissen: Der Verstorbene erklärt, was er nicht getan hat. Hier finden sich Aussagen wie zum Beispiel: »Ich habe keine Milch von den Mündern der Kinder genommen. Ich habe keine Gewichte gefälscht, habe nicht gefischt in den Fischgründen der Götter.« Bei einigen der negativen Bekenntnisse geht es um ausgesprochen moralische Streitfragen, wie etwa: »Ich habe keinen Sklaven bei seinem Herrn verleumdet.« Andere betreffen sexuelle Beziehungen: »Ich hatte keinen geschlechtlichen Umgang mit einem Jungen« (Pritchard 1969, S. 34). Aus diesen negativen Bekenntnissen erfahren wir viel über die Versuchungen, mit denen die alten Ägypter zu kämpfen hatten.

Diese Liebesdichtung taucht in einer komplexen Gesellschaft auf, in der Schuldgefühle bereits hochentwickelt und Techniken ihrer Bekämpfung fest verankert sind. Homosexualität und vor allem die Verführung von Jungen müssen weit verbreitet gewesen sein, denn andernfalls würden sie in den »negativen Bekenntnissen« nicht ausdrücklich genannt.

Das Erstaunliche an diesen Gedichten ist ihr Reichtum an Metaphern. Im Wesen der Liebe selbst gibt es ein Moment, das der Herausbildung von Metaphern entgegenkommt. Sie ist ein intensives Gefühl, doch den Liebenden versagen die Worte, und ihre Sprache geht ins Metaphorische über. Erstaunlicherweise sind die meisten ägyptischen Liebesgedichte von profanem Charakter. Die Ägypter erleben die Liebe nicht als das Werk irgendwelcher Götter, obgleich sie doch ihre goldene Göttin um Vereinigung mit dem Geliebten und um Erwiderung ihrer Liebe bitten. Die Ägypter scheinen auch den Schmerz der Ambivalenz nicht gekannt zu haben, der sich einstellt, wenn man gleichzeitig liebt und haßt. Nur schwache Anzeichen deuten darauf hin, daß es auch innerpsychische Konflikte gegeben hat; im wesentlichen standen die Liebenden in harmonischer Beziehung zu ihren eigenen Liebesgefühlen. Unerlaubte Liebe scheint es nicht zu geben, auch nicht den Kampf zwischen Gehorsam und Liebe gegenüber den Eltern. Kein Gefühl von Schuld oder von Unzulänglichkeit quält die Liebenden, und der Gedanke ist ihnen fern, sie könnten möglicherweise die Liebe nicht verdienen, die sie begehren. Schwere Schuld lastet auf dem Neuen Reich der Ägypter, doch in ihrer Liebesdichtung findet sich nichts davon.

Die Liebesdichter des alten Ägypten erfanden die metaphorische Sprache, die wir noch heute benutzen. Daß es vor 3500 Jahren diese Dichtung in einer Kultur gegeben hat, die in der westlichen Welt eine nur periphere Rolle spielte, scheint mir ein Beweis für die Hypothese, daß die Liebe kein Habitus ist, der nur in bestimmten Kulturen gepflegt wird. Um ins 19. Jahrhundert zu springen: Sicherlich war die verzweifelte Suche Madame Bovarys nach einem Liebhaber von ihrer Lektüre romantischer Literatur beeinflußt. Doch die Lehre, die ich aus Flauberts Meisterwerk ziehe, ist nicht die, daß Lektüre den Hunger nach Liebe hervorruft; vielmehr lösten die Romane in Madame Bovary Liebesphantasien aus, die sie nicht in ihre reale Welt zu übertragen vermochte, und diese Unfähigkeit, Phantasie in Realität zu überführen, führte zu ihrem Verderben.

Ob auch schriftlose, primitive Gesellschaften Liebeslieder kennen, ist umstritten. Bowra, der primitive Gesänge untersuchte, vertritt die Auffassung, daß es in Gesellschaften, die vom Sammeln und Jagen leben, keine Liebeslieder gibt. Diese kommen erst auf, nachdem die nomadische Existenz der Jäger durch eine seßhafte, bäuerliche Lebensform abgelöst wurde. Bowra (1967, S. 200f.) berichtet, daß die Aborigines von Arnhemland die körperliche Liebe mit dem Monsun in Verbindung bringen. Blitze identifizieren sie mit der Paarung von Schlangen. Ihrer Auffassung nach sind Blitzstrahlen zuckende Schlangen, die sich umeinander winden. Soweit ich sehe, hat kein Dichter jemals den Blitz als sexuelles Symbol verwendet; doch bedenkt man die Gewalt des Monsuns, so klingt diese Metapher überzeugend. Wenn die Aborigines von Arnhemland tatsächlich keine Liebeslieder kannten, so wußten sie doch zumindest Gleichnisse und Metaphern zu gebrauchen – die Grundvoraussetzung aller Poesie.

Bowra war ein autodidaktisch gebildeter Altphilologe. Im Gegensatz zu seiner These hat der Anthropologe Paul Radin (1957) doch eine Anzahl von Liebesgedichten gesammelt, die unter Eingeborenen kursierten.

Wie die reißende Strömung des Flusses bei Onoiau,

Und wie der angeschwollene Strom im Tal,

So strömt mein sehnsüchtiges Herz dir nach,

O Aitofa, hab Erbarmen mit dem, der dich liebt, sonst stirbt er!

 

Sein Schmerz ist wie eine große Wolke, die den Himmel verfinstert,

Der Schmerz des Ehemanns, der um seine Frau trauert, die ihm fremd geworden,

Und wie der Himmel, den die Wolke immer weiter verdunkelt, so ist mein Kummer um sie.

(Tonga, Polynesien)

 

Ich würde mich ertränken, solltest du sterben,

Mich ertränken im Fluß Si Tumallam,

Würdest du in die Tiefe gestoßen,

Den tiefen Abgrund

Aus dem wir nicht mehr emporgelangen.

Einen gewundenen Strick mache ich mir –

Den Weg zum Tode.

(Batak, Sumatra)

Hier ein Wiegenlied, in dem die Liebe zwischen Eltern und Kind zum Ausdruck kommt:

Warum weinst du, mein Kind?

Der Himmel strahlt; die Sonne scheint;

Warum weinst du?

Geh zu deinem Vater; er liebt dich,

Geh und sag ihm, warum du weinst.

Wie? Du weinst noch immer?

Dein Vater liebt dich, ich liebkose dich,

Und doch bist du immer noch traurig.

Dann sag mir, mein Kind, warum weinst du?

(Balengi, Zentralafrika)

Sie scheinen aber auch zu wissen, daß Liebe nicht immer die reine Wonne ist:

Die Liebe ist keine ewige Pein.

Sie kam über mich wie das Feuer,

Das manchmal bei Hukanui wütet.

Wenn diese Geliebte mir nah ist,

Dann, O Kiri, glaube nicht, mein Schlaf sei süß.

Ich liege wach die liebe lange Nacht,

Aus Liebe, die heimlich an mir zehrt.

(Maori, Neuseeland)

2 Die sinnliche Dichtung der Sumerer

Das sumerische und babylonische Gilgamesch-Epos geht auf die Zeit um 2000 v. Chr. zurück. Wahrscheinlich ist es das älteste literarische Werk, das uns überliefert ist. Als das Gilgamesch-Epos verfaßt wurde, blickten die Sumerer bereits auf eine lange Geschichte zurück. Ihre Mythen waren fest verankert, und es gab einen wohlgeordneten Pantheon von Gottheiten. Gilgamesch war ein mächtiger und grausamer König.[5] Um seiner Macht Einhalt zu gebieten, schufen die Götter aus Lehm sein Ebenbild mit Namen Enkidu. Wir begegnen hier zum erstenmal einem Kreis von Vorstellungen, die in der Antike mit Liebe in Zusammenhang gebracht wurden; im Kontext von Platons Symposion werden wir auf sie zurückkommen. Die allgemeine Aussage dieser Mythologie lautet, der Mensch sei vor Urzeiten äußerst mächtig gewesen. Er war sich selbst genug, brauchte niemanden und wußte nichts von Liebe. Dieser Zustand, den man mit Freud als einen Zustand narzißtischer Befriedigung bezeichnen könnte, wird, sobald sich Religion entwickelt, zu einem Privileg der Götter. Nachdem dieses Bedürfnis auf die Götter projiziert worden ist, werden diese als Wesen betrachtet, die dem Menschen narzißtische Befriedigung mißgönnen. Darum spalten sie ihn auf in ein Doppelwesen und schaffen damit das Verlangen – ein für die Sterblichen charakteristischer Zustand, der den Göttern selbst unbekannt ist.

Die Tatsache, daß Liebe zwischen Freunden die Folge einer von den Göttern geschaffenen Entzweiung ist, kommt im Gilgamesch-Epos nur implizit vor. Nach kurzem Kampf schließen Gilgamesch und Enkidu eine lebenslange Freundschaft, und es ist der Tod des Enkidu, der für Gilgamesch eine entscheidende Wende bedeutet. Vom gewöhnlichen Helden der Vorzeit, der immerzu darauf aus ist, mit Ungeheuern zu kämpfen, verwandelt er sich in jemanden, der Unsterblichkeit sucht und sie auch beinahe findet – nur um sie wieder zu verlieren. Während die Ägypter das Jenseits für eine Fortsetzung des Lebens hielten und Pyramiden errichteten, damit der verstorbene König alles bei sich habe, dessen er in der Unterwelt bedürfen könnte, hatten die Assyrer eine recht trostlose Vorstellung von der künftigen Welt, und in ihren Epen kommt offen die Angst vor dem Tod zum Ausdruck. Im folgenden werde ich mich jedoch vorrangig mit dem Problem der Liebe in der sumerischen Mythologie und Literatur befassen.

Enkidu ist zunächst ein dämonisches Wesen, niedriger als der Mensch:

So verzehrt er auch mit den Gazellen das Gras,

Drängt er hin mit dem Wilde zur Tränke,

Ward wohl seinem Herzen am Wasser mit dem Getier.

(Schott 1988, S. 18)

Als Streiter für die Tiere versetzt er die Jäger in Angst und Schrecken. Er füllt ihre Fanggruben auf und zerreißt ihre Netze. Ein Jäger fragt seinen Vater um Rat, und dieser ersinnt ein Mittel, um Enkidu zu bändigen:

»Eine Dirne leih’ dir! Führ sie zur Steppe!

Mag das Weib dort bewält’gen den Mann wie ein Starker!

Wann denn das Wild herankommt zur Tränke,

Dann werfe sie ab ihr Kleid, er schwelge in ihrer Lust!

Sieht er sie erst, so wird er ihr nahn:

Doch sein Wild wird ihm untreu, das aufwuchs mit ihm in der Steppe.«[6]

(Ebd., S. 19f.)

Bei dieser »Dirne« handelt es sich um eine geweihte Prostituierte. Im entscheidenden Augenblick spornt der Jäger sie an:

»Dies ist er, Hure! mach frei deine Brust,

Deinen Schoß tu auf, daß deine Fülle er nehme!

Scheue dich nicht, nimm hin seinen Atemstoß!

Sieht er dich erst, so wird er dir nahn.

Dein Gewand entbreite, daß auf dir er sich bette,

Schaff ihm, dem Wildmenschen, das Werk des Weibes:

Dann wird sein Wild ihm untreu, das aufwuchs mit ihm in der Steppe;

Sein Liebesspiel wird er über dir raunen!«

[…]

Sechs Tage und sieben Nächte war Enkidu auf,

Daß er die Hure beschlief.

Als er von ihrem Genusse satt war,

Richtet’ er sein Antlitz hin auf sein Wild:

Da sie ihn, Enkidu, sahen,

Sprangen auf und davon die Gazellen,

Wich von seinem Leibe das Wild der Steppe.

Anspringen ließ Enkidu seinen gereinigten Leib,

Doch ihm versagten die Knie, da hinwegging sein Wild.

Gehemmt wurde Enkidu, seines Laufens ist nicht wie zuvor.

(Ebd., S. 21)

Daß hier das Wort »Fülle« für den weiblichen Körper steht, läßt an Rubens oder an Renoir denken. Geschlechtlicher Umgang entfremdet den Menschen von der Natur. Für Enkidu – wie auch für Adam in der Genesis – bedeutet sexuelles Wissen das Ende der Unschuld.

Ein Gewand zog sie aus:

Ihn bekleidete sie mit dem einen,

Das andere Gewand behielt sie selbst an.

Sie nahm ihn an die Hand, ihn wie ein Gott

Zu führen zu des Hirten Tisch, zur Stätte des Hofes.

(Ebd., S. 26)

Die »Milch des Getiers« wird Enkidu symbolisch abgewöhnt. Zwar hat er nun seine Wildheit eingebüßt, dafür aber an Erkenntnis gewonnen. Das Mädchen spricht ihm Mut zu:

»Weise bist du, Enkidu, bist wie ein Gott!

Warum läufst du in die Steppe mit dem Getier?«

(Ebd., S. 22)

Auch die Bibel spricht davon, daß Adam Eva »erkennt«. Der sexuelle Akt hat Enkidu zivilisiert und weise gemacht. Doch handelt es sich keineswegs um ein Liebesgedicht – trotz der Bedeutung, die der sexuellen Begegnung beigemessen wird.

In der Zwischenzeit hat Gilgamesch einen Traum, der die Ankunft Enkidus vorwegnimmt. In diesem Traum wird er von Enkidu bezwungen, was seine Mutter folgendermaßen deutet:

»Gleich der (Feste) des Anu[7] gewaltig ist seine Stärke!

Wie über einem (Weib hast du) über ihm geraunt,

(…) er aber wird dich immer wieder (erretten).«

(Ebd., S. 23f.)

Offensichtlich nutzten die Alten ihre Träume eher als Indizien denn zur analytischen Therapie. Für einen Psychoanalytiker ist die Weisheit von Enkidus Mutter wahrhaft erstaunlich, denn es sollten noch weitere viertausend Jahre vergehen, ehe Freud herausfand, daß der Homosexuelle sich in den verliebt, der ihn besiegt hat. Wenn der Junge keine Chance sieht, es mit dem Vater aufzunehmen oder ihn zu besiegen, oder wenn die Tochter einer attraktiven Frau sich nicht in der Lage sieht, es mit ihrer Mutter aufzunehmen, dann – so Freuds Vermutung – geht jene Rivalität in Liebe über. Wie auch heutzutage viele Mütter von Homosexuellen, so fördert Gilgameschs Mutter den Wechsel zur Homosexualität, da Enkidu für sie weniger bedrohlich ist als eine Frau.

Das Gilgamesch-Epos enthält noch eine weitere Episode von besonderer Bedeutung. Die Göttin Ischtar verliebt sich in Gilgamesch und macht ihm Versprechungen:

»Komm, Gilgamesch! Du sollst mein Gatte sein!

Schenk, o schenke mir deine Fülle!

Du sollst mein Mann sein, ich will dein Weib sein!

Ich will dir bespannen lassen einen Wagen von Gold und Lasurstein,

Mit goldenen Rädern und Hörnern von Mondstein!

Mit Stürmen, mit großen Mauleseln soll er bespannt sein!

Unter Zederndüften betritt unser Haus!

Dir sollen beim Eintritt in unser Haus

Türpfosten und Thronsessel die Füße küssen!

Vor dir sollen knien Könige, Vornehme und Fürsten,

Die Lullubäer des Gebirgs und das Land sollen dir Abgaben bringen!

Die Ziegen sollen dir Drillinge werfen, die Schafe Zwillinge!

Dein lastbarer Esel hole das Maultier ein!

Dein Roß vorm Wagen, der feurigste Renner sei’s!

Dein (Rind) im Joch habe keins, das ihm gleichkommt!«

(Ebd., S. 55)

Doch der Reichtum, den die Göttin ihm anbietet, bringt Gilgamesch nicht in Versuchung, denn er kennt ihre Geschichte. Ischtar ist der Prototyp der schönen Frau, die Unglück über die Männer bringt, und Gilgamesch sagt es ihr ins Gesicht, was sich abgespielt hat:

»Dumuzi, deinem Jugendgeliebten –

Ihm hast Jahr für Jahr du zu weinen bestimmt.

Da du die bunte Racke liebtest,

Hast du sie geschlagen, ihr den Flügel zerbrochen,

In den Wäldern weilt sie nun, ›mein Flügel‹ rufend!

Da den Leu du liebtest, den kraftvollkommenen,

Grubst du ihm Gruben, sieben und abermals sieben.

Da du liebtest das schlachtenfromme Roß,

Hast ihm Peitsche du, Stachel und Peitschenschnur bestimmt,

Sieben Doppelstunden[8] zu rennen bestimmt,

[…]

Da du liebtest Ischullânu, deines Vaters Palmgärtner,

Der ständig dir Körbe voll Datteln brachte

Täglich prangen ließ deinen Tisch –

Erhobst du zu ihm die Augen, gingst zu ihm hin:

›Mein Ischullânu, ach, genießen wir deine Kraft!

Und deine Hand sei ausgestreckt, faß an unsere Blöße!‹

Ischullânu redete zu dir:

›Was verlangst du eigentlich da von mir?

Buk nicht meine Mutter? Hab ich nicht gegessen?

Daß ich nun essen müßte mein Brot unter Beschimpfungen und Flüchen,

Daß Halfagras nur meine Bedeckung wäre gegen die Kälte?‹

Da du nun diese seine Rede hörtest,

Hast du ihn geschlagen, in einen Verkümmerten verwandelt,

Auch ließest du ihn wohnen inmitten von Mühsal.«

(Ebd., S. 57)

Eine derart mutige Herausforderung einer Göttin findet sich auch in der Ilias, wo Helena Aphrodite die Stirn bietet. Unter den Bedingungen des Monotheismus ist eine solche Abweisung kaum denkbar; sie war aber sehr wohl denkbar, solange die Beziehungen zwischen Göttern und Sterblichen sexuellen Charakter annehmen konnten. Ischtar hegt die gleichen bösen Absichten wie Kirke gegenüber Odysseus und seiner Mannschaft. Im Mythos überwindet jedoch Odysseus die Zauberkräfte Kirkes und vermag sie sexuell zu genießen. Dazu verhilft ihm Hermes, ein mächtiger Gott männlichen Geschlechts.

Weder Gilgamesch noch sein Doppelgänger Enkidu entdecken die Liebe zum anderen Geschlecht. Mit einigen von Freuds Erkenntnissen steht das Epos recht gut im Einklang, insbesondere mit der Vermutung, daß die Angst vor der Frau und ihrer zerstörerischen, kastrierenden Macht älter ist als die Fähigkeit des Mannes, sie zu lieben. Die Liebe zum eigenen Doppelgänger – »narzißtische« Liebe in der Sprache der Psychoanalyse – ist möglicherweise älter als heterosexuelle Liebe.

Gilgamesch, der mit der Göttin der Fruchtbarkeit verheiratet ist, erlangt auch das Recht der ersten Nacht:

Für Gilgamesch, den König von Uruk-Markt, als Erstwerber,

Ist geöffnet das Netz der Leute![9]

Die, so zu Ehefraun bestimmt sind, beschläft er,

Er zuvor, danach erst der Ehemann.

(Ebd., S. 27)

Das mittelalterliche »Recht der ersten Nacht« – das lateinische jus primae noctis – deutete Freud (1918a) als eine Sitte, die dem Vater symbolisch das Recht auf seine Töchter gibt, gleichzeitig aber auch die Feindschaft der Frau gegenüber dem, der sie defloriert, vom Ehemann auf den König-Vater verschiebt. Bereits in der Frühgeschichte der Zivilisation war dieser Brauch gang und gäbe.

Der bereits erwähnte Assyriologe Samuel Noah Kramer machte bei der Untersuchung assyrischer Schrifttafeln eine Entdeckung, über die er später in einem Buch berichtete:

 

»Je öfter ich es durchlas, desto unmißverständlicher war der Inhalt. Ich hielt eines der ältesten Liebeslieder in der Hand, die der Griffel eines Menschen je aufgezeichnet hat.

Bald wurde mir klar, daß es sich nicht um ein weltliches Gedicht handelte, um eine Liebeserklärung zwischen ›einem Mann und einem Mädchen‹, sondern um einen König und die von ihm erwählte Braut. Zweifellos war es dazu bestimmt gewesen, bei der ›heiligen‹ Hochzeit, einer der weihevollsten antiken Zeremonien, vorgetragen zu werden. Einmal im Jahr war es nach sumerischer Anschauung die heilige Pflicht des Herrschers, sich mit einer Priesterin und Vestalin Inannas, der Göttin der Liebe und Fortpflanzung, zu verbinden, um die Fruchtbarkeit des Bodens und des Frauenschoßes zu sichern. Die altehrwürdige Zeremonie fand am Neujahrstage statt, und es gingen ihr große Feste und Gelage voraus, bei denen musiziert, gesungen und getanzt wurde« (Kramer 1959, S. 170)

 

Unser Interesse an der Liebesdichtung weist allerdings in die entgegengesetzte Richtung, auf die früheste Beschreibung sexueller Liebe. Doch als kultisches Liebeslied ist das von Kramer entdeckte Gedicht auch in dieser Hinsicht interessant:

Bräutigam, teurer meinem Herzen,

Groß ist deine Schönheit, süß wie Honig.

Löwe, teurer meinem Herzen,

Groß ist deine Schönheit, süß wie Honig.

Du hast mich berückt, laß mich zitternd vor dir stehen,

Bräutigam, du sollst mich in deine Schlafkammer führen.

Du hast mich berückt, laß mich zitternd vor dir stehen,

Löwe, du sollst mich in deine Schlafkammer führen.

Bräutigam, laß dich von mir liebkosen,

Meine köstliche Liebkosung ist würziger als Honig.

In der Schlafkammer, mit Honig gefüllt,

Laß uns deine große Schönheit genießen.

Löwe, laß dich von mir liebkosen,

Meine köstliche Liebkosung ist würziger als Honig.

Bräutigam, du hast Gefallen gefunden an mir.

Sag es meiner Mutter, sie wird dir Leckerbissen schenken,

Meinem Vater, er wird dich mit Gaben überhäufen.

Deine Seele, ich weiß, wie ich deine Seele trösten will.

Bräutigam, schlaf in unserem Haus, bis der Morgen graut.

(Kramer, ebd.)

In einem weiteren Gedicht, das dem gleichen Zweck diente, heißt es unter anderem:

Mein Gott, der Weinmagd Trunk ist süß.

Wie ihr Trunk so süß ist ihre Vulva, süß ist ihr Trunk.

Wie ihre Lippen so süß ist ihre Vulva, süß ist ihr Trunk.

Süß ist ihr Mischtrunk, süß ist ihr Trunk.

(Ebd., S. 172)

Ich gelange zu einer etwas anderen Deutung dieser Lieder. Was Kramer hier entdeckte, ist ein Gedicht, das zwischen Fruchtbarkeitshymnus und Liebesdichtung steht. Zwar ist der Kontext noch immer das religiöse Ritual, und der Geschlechtsverkehr mit der Priesterin hatte stattzufinden, um eine ertragreiche Ernte zu sichern. Doch die Sprache ist bereits die Sprache erotischer Verführung. Der Vergleich von Liebe mit Wein findet sich auch im Hohelied: »wieviel süßer ist deine Liebe als Wein, / der Duft deiner Salben köstlicher / als alle Balsamdüfte. / Von deinen Lippen, Braut, tropft Honig; / Milch und Honig ist unter deiner Zunge« (4,10–11).

In der frühen Liebesdichtung spielt es eine bedeutsame Rolle, daß der Geliebte von den Eltern akzeptiert wird, insbesondere von der Mutter. Im Hohelied heißt es dazu: »Ich packte ihn, ließ ihn nicht mehr los,/bis ich ihn ins Haus meiner Mutter brachte,/in die Kammer derer, die mich geboren hat« (3,4). Aus psychoanalytischer Sicht kann man diese Zeilen als symbolischen Ausdruck des Wunsches lesen, der Geliebte möge zu einem Zwillingsbruder werden, von dem man sich niemals mehr trennen muß.

Unüblich in der Dichtung ist der direkte Bezug auf die weiblichen Genitalien, die von den meisten Autoren eher metaphorisch umschrieben werden. Shulamith sagt im Hohelied: »Meiner Mutter Söhne waren mir böse,/ließen mich Weinberge hüten;/den eigenen Weinberg konnte ich nicht hüten« (1,6). Die wenigen Sekunden, die man benötigt, um den Weinberg als Metapher der Vagina und »ihre Fülle nehmen« als Geschlechtsverkehr zu entschlüsseln, bieten offenbar dem Leser zusätzliche Lust; außerdem kann er auf diese Weise einiges an moralischer Kritik vermeiden, die durch einen deutlicheren sexuellen Hinweis ausgelöst würde.

Ischtar, der wir bereits früher begegneten, ist der semitische Name für Inanna: die mächtigste Gottheit der Sumerer im 3. Jahrtausend v. Chr., also gleichsam in der Morgendämmerung der Geschichte. Nach Friedrich (1978) ist sie die Göttin des sexuellen Verlangens, eines Verlangens, das von der Mutterschaft losgelöst ist. Von den Göttinnen der Fruchtbarkeit beginnt sie sich bereits zu unterscheiden. Und Inanna ist es auch, bei der wir erstmals auf die männliche Angst vor der unersättlichen Sexualität der Frau stoßen: Sie ist grausame Kriegsgöttin und zugleich Göttin des sexuellen Begehrens.

Die von Wolkstein und Kramer (1983) publizierten Inanna-Hymnen schildern die Geschichte der Werbung zwischen dem Schäferkönig Dumuzi (dem biblischen Tammuz) und Inanna, der Göttin des Himmels und der Erde. Es beginnt damit, daß der Sonnengott Utto seiner Schwester ein Hochzeitsgeschenk aus Flachs verspricht. Die spröde Göttin fragt, wer denn den Flachs hecheln werde. Utto verspricht, dies selbst zu tun; daraufhin fragt sie weiter, wer denn die Borte, die Längs- und Querfäden ihrer Hochzeitslaken spinnen und wer sie schließlich bleichen werde. Der Bruder verspricht die Erledigung immer weiterer solcher Arbeiten, bis sie endlich die Frage stellt, die ihr – wie wir annehmen dürfen – schon die ganze Zeit auf der Seele lag: Wer wird sich mit ihr ins Bett und auf die neu gesponnenen Hochzeitslaken legen? An diesem Punkt steht der sumerische Gott kurz vor dem Inzest, doch er hält inne und schlägt ihr den Schäfer Dumuzi als Bräutigam vor. Diese Wahl resultiert aus einem Wettstreit: Ein Bauer hat haufenweise Getreide angeboten, daneben Flachs, Kleider und Bier. Der Schäfer bietet Milch, Wolle und Käse zum Geschenk, und er trägt den Sieg davon.

Inanna bittet ihre Mutter Ningal um Rat, die ihr jedoch versichert, der Bräutigam werde wie Mutter und Vater zu ihr sein. Daraufhin wendet sich Inanna an Dumuzi: Ihre Vulva sei voller Verlangen, wie ein junger Mond. Ihr unbebautes Land liege brach, und sie wolle, daß ihre Vulva gepflügt werde. Bei diesen Worten richtet sich die Männlichkeit des Schäferkönigs auf wie die See, die sich erhebt, und Inanna bittet ihn um seine dicke, süße Milch. Er streut den süßen Samen aus. Seine Fülle ist ihre Lust. Fest sind ihre Hälse aneinandergepreßt.

Süß ist der Schlaf Hand in Hand

Süßer noch der Schlaf Herz an Herz.

Bevor Inanna für ihren nichtinzestuösen Liebhaber bereit ist, muß sie ihren sexuellen Wünschen gegenüber dem Bruder entsagen, und sie bedarf der Versicherung ihrer Mutter, daß der Geliebte beide Eltern ersetzen werde. In diesem Sinn feiert die Hymne den Übergang der Libido von einem – wie Freud es genannt hat – inzestuösen zu einem nichtinzestuösen Liebesobjekt.

Ich badete mich für den wilden Stier

Ich badete mich für den Schäfer Dumuzi

Ich bestrich meine Seiten mit duftender Salbe

Ich bestrich meinen Mund mit süß duftendem Bernstein

Ich schwärzte meine Augen.

 

Er formte meine Lenden mit seinen schönen Händen

Der Schäfer Dumuzi füllte meinen Schoß mit Rahm und Milch

Er strich über mein Schamhaar […]

Er legte seine Hand auf meine heilige Vulva

[…]

 

Mein Geliebter, die Freude meiner Augen, kam zu mir

Gemeinsam frohlockten wir

Er hatte seine Lust an mir

Er führte mich in sein Haus.

(Wolkstein/Kramer 1983, S. 43f., 48)

Entsprechend dem Fruchtbarkeitszyklus endet diese Liebe in Übersättigung. Dumuzi bittet um seine Freiheit. Inanna steigt hinab in die Unterwelt. In der landläufigen Version dieses Mythos sucht Astarte dort ihren ermordeten Liebhaber Tammuz. In der Version von Wolkstein und Kramer dagegen ist dafür kein Motiv ersichtlich, denn Dumuzi wird erst getötet, nachdem Inanna in die Welt der Lebenden zurückgekehrt ist. Bei ihrem Abstieg in die Unterwelt passiert Inanna sieben Tore, vor denen sie mehr und mehr entkleidet wird. Zuerst muß sie ihre Steppenkrone abnehmen, dann ihre Halskette aus Lapislazuli. Auf all ihren Schmuck muß sie verzichten. Nackt und tief gebeugt gelangt sie ins Reich der Toten. An jedem Tor fragt sie »Was ist das?«, und jedesmal erhält sie dieselbe Antwort: »Die Pfade der Unterwelt sind vollkommen, und niemand darf sie erforschen.« Während sie in der Unterwelt gefangengehalten wird, herrscht auf der Erde tiefe Ödnis: Der Bulle weigert sich, die Kuh zu decken, der Esel nähert sich nicht mehr der Eselin, und die Männer in den Straßen sprechen keine Dienstmädchen mehr an. Mit Hilfe von Magie kehrt Inanna schließlich zurück, und die Götter erwecken sie wieder zum Leben. Doch die Dämonen der Unterwelt folgen ihr, Dämonen, die durch nichts zu beschwichtigen sind: Sie essen kein Opfermahl, trinken kein Trankopfer, nehmen keine Geschenke an und haben auch an der Liebe keinerlei Interesse. Sie reißen die Frau aus den Armen ihres Mannes, das Kind von den Knien des Vaters und die Braut aus ihrem Brautgemach. Man fühlt sich bei der Lektüre dieser Zeilen unweigerlich an mittelalterliche Holzschnitte erinnert, die den Totentanz darstellen: Auch dort hatten die Künstler ein sadistisches Vergnügen daran, das Herannahen des Todes in Situationen darzustellen, in denen niemand ihn erwartet.

Die Dämonen verlangen nun von Inanna einen Ersatz für ihre Befreiung. Einige Menschen, die ihr nahestehen, bieten sich selbst an, doch Inanna vermag sich nicht von ihnen zu trennen. Schließlich stoßen sie auf Dumuzi; auf ihn richtet Inanna das Auge des Todes. »Nehmt ihn!« schreit sie, und die Dämonen zerstückeln Dumuzi mit ihren Äxten.

Dieser Mythos existiert in zwei Fassungen. Im Zentrum der einen Version steht die Klage darüber, daß Tammuz, Osiris oder Adonis von wilden Tieren oder eifersüchtigen Nebenbuhlern getötet wurden. In der anderen, von den Sumerern bevorzugten Version des Mythos ist es die Göttin selbst, die ihren früheren Liebhaber tötet. Alljährlich feiert man ihre Hochzeit, und alljährlich werden der Abstieg Inannas und die Zerstückelung des Dumuzi dramatisch dargestellt.

Wahrscheinlich aufgrund des Bildnisses der Aphrodite haben Gelehrte sowohl Ischtar als auch Inanna als Göttinnen der Liebe bezeichnet. Liest man jedoch den Text genau, so scheint es mir richtiger zu sein, in ihnen Göttinnen der Fortpflanzung und des sexuellen Begehrens zu sehen. Die Hymnen an diese Göttinnen sind zwar schön und sinnlich; doch erreichen sie nicht das Niveau der ägyptischen Liebesdichtung, und sie zeigen auch nicht jenes Interesse an den Liebesbeziehungen Sterblicher, das für Aphrodite kennzeichnend ist.

Die sumerischen Zeugnisse ermöglichen immerhin einige vorsichtige Schlußfolgerungen über die Anfänge der Liebesdichtung. Die sinnliche Qualität dieser Gedichte ist offenkundig, doch kann man sie als Liebesgedichte bezeichnen? Meine Antwort lautet nein; vielmehr handelt es sich um Vorläufer der weltlichen, erotischen Lyrik. Wirkliche Liebesdichtung zeichnet sich dadurch aus, daß es die Liebe des Liebenden selbst ist, die Anlaß zu Vers und Metapher gibt. Der Liebende preist die Geliebte in der Sprache der Verführung, er versucht, den Widerstand der sich Sträubenden zu mindern. Die Frau dagegen preist ihre eigene Fähigkeit, den Bräutigam zu erfreuen und zu befriedigen.

3 Die Geburt der Aphrodite und ein neues Vokabular der Liebe

Wissen und Naturbeherrschung des Menschen schritten voran,

und damit verblaßten das Rätsel und die Göttlichkeit

alles Natürlichen zu bloßer Naturwissenschaft.

Nur das Rätsel des Lebens und der Liebe, die das Leben

hervorbringt, blieb gänzlich ungelöst, und so wird

Aphrodite ihre Göttlichkeit für immer behalten

 

(J.E. Harrison 1903, S. 314).

In der prähistorischen Kunst sind menschliche Figuren nur von untergeordneter Bedeutung. Die Jäger malten große Tiere – offenbar, um ihre Angst vor ihnen zu überwinden. Erst als das Jagen und Sammeln durch Ackerbau abgelöst wurde, tauchen jene kleinen, weiblichen Figuren auf, deren markante Gesäße, Brüste und Vaginen übertrieben groß dargestellt sind. Außerdem sind diese Frauen häufig schwanger. Nach Ansicht von Gelehrten (Giedion 1965) stellen diese Figurinen keine Göttinnen dar, sondern sind mächtige magische Symbole. Man hat sie in Sumer, Ägypten, China und sogar im Dordogne-Tal in Südwest-Frankreich gefunden, und die frühesten stammen aus der Zeit um 4000 v. Chr. Aus ihnen entwickelten sich dann allmählich die Göttinnen der Fruchtbarkeit, wie etwa die syrische Göttin Astarte. Ihr Gemahl wurde Baal genannt; nach biblischem Bericht erregte er die Eifersucht Jahwes, des Gottes der Hebräer. Das Wort »Baal« bedeutete damals »Gebieter«; im heutigen Hebräisch bedeutet es »Ehemann«. Der Gemahl der Astarte hieß auch Adon, ein Wort von ähnlicher Bedeutung. Damit wiederum stehen zwei wichtige Namen in Zusammenhang: die biblische Anrede »Adonai« (»mein Herr«, d.h. Jahwe) und der griechische Adonis.

Baal bzw. Adon geht auf die Jagd; doch wilde Tiere mit menschlichen Zügen und Hörnern auf dem Kopf töten ihn. Mit Hilfe der Sonne, die alles sieht, findet ihn Astarte und begräbt ihn; auch werden einige Tiere geopfert, damit der Gott Nahrung habe, solange er sich in der Welt der Toten aufhält. (Seines Todes wurde unter Jammer und Klage gedacht, vor allem, wenn die Regenzeit sich verspätete.) Astarte tötet Mot, den Bruder Baals, dessen Name »Tod« bedeutet. Alljährlich kehrt Baal zurück, wenn die Erde grünt, und alles bricht in Jubel aus (Persson 1942, S. 313ff.).

Der Mythos von der ewigen Wiederkehr des ermordeten und zu neuem Leben erweckten Gottes, verbunden mit Trauer, Klage und Freude, gehört zu den ältesten Mythen überhaupt. Noch im Osterfest lassen sich seine Spuren finden. Bezüglich der Liebe zelebriert dieser Mythos zwei extreme Zustände: die Trauer um den Verlust und die Freude des Wiederfindens.

In Ägypten trat allmählich die Himmelskuh in Erscheinung, die nährende Allmutter, die dann immer ausgeprägtere menschliche Züge annahm. Nach Giedions Beschreibung (1965, S. 61) ist sie ein Fruchtbarkeitsidol, eine selbst-zeugende Göttin, eine Kuh aus den Sumpfgebieten des Nils, eine Hüterin des Nildeltas und überdies die Göttin des Hochzeitsbetts. Der Menschheit spendet sie Lebensfreude und sexuelles Verlangen. In der Kunstgeschichte taucht sie erstmals unter dem Namen Hathor auf: eine Frau von schöner Gestalt, deren Kopf jedoch noch immer der Kopf einer Kuh ist oder zumindest Hörner trägt. Möglicherweise waren rituelle Hymnen an Hathor die Vorläufer der erwähnten ägyptischen Liebesgedichte.

Als einziges Volk der Antike hatten die Griechen mit Aphrodite und Eros Götter, die ausschließlich für die Liebe zuständig waren. Vermutlich war das Gefühl der Liebe im Leben der Griechen zu einem bedeutenden Faktum geworden – aber auch zu einem Rätsel.

Aphrodite

Im Laufe ihrer Geschichte emanzipierte sich Aphrodite von der älteren semitischen Gottheit Ischtar, der Königin des Himmels und Gemahlin des Königs. Wie Ischtar hatte auch sie zunächst einen Bart und war wahrscheinlich androgyn, und wie ihre semitische Vorgängerin hat auch Aphrodite einen männlichen Gefährten, der stirbt und zum Leben wiedererweckt wird.

Durch Homer wurde die Zahl der olympischen Götter verbindlich festgelegt. Sie respektierten nun gleichsam wechselseitig ihre Autonomie. Diejenigen Götter, die bei Homer eine Rolle spielen, wurden zu Olympiern; die anderen hingegen, die später kamen, wurden ihr fremdes Flair niemals völlig los. Aphrodite gehört zu den Olympiern, Eros jedoch nicht, obgleich auch er ein Gott der Liebe ist. Entweder wußte Homer nichts über den Zusammenhang von Aphrodite mit dem Zyklus von Tod und Wiederauferstehung, oder er akzeptierte diesen Zusammenhang nicht, wie Friedrich (1978) vermutet.

Der Name Aphrodite ist außergriechischen Ursprungs; deshalb – und nicht zuletzt auch wegen ihres Beinamens Kypris (nach der Insel Zypern) – kann man annehmen, daß sie von Osten her nach Griechenland kam (Otto 1934; Burkert 1977). Der griechische Historiker, Reisende und Geograph Herodot behauptet, die Phönizier hätten Aphrodite von Askalon, der Stadt der Philister, zur griechischen Insel Kythera (Kithira) gebracht. Bereits lange vor Homer muß sie in den griechischen Pantheon eingebürgert worden sein.

Bei Homer ist Aphrodite die Frau des hinkenden Gottes Hephaistos und die Geliebte des Kriegsgottes Ares. Nach späteren Vorstellungen herrscht immer dann Friede auf Erden, wenn Ares in Aphrodites Armen schläft. Im 8. Gesang der Odyssee läßt Homer einen Barden auftreten, der die königlichen Gäste mit der Geschichte von Aphrodites Ehebruch unterhält. Sein Gesang erzählt davon, wie Hephaistos von der Sonne, der nichts entgeht, vor der Untreue seiner Frau gewarnt wird. Der Götterschmied schafft daraufhin ein wundersames Netz, das die ineinander verschlungenen Liebenden fängt: »Und sie vermochten kein Glied zu bewegen oder zu heben.« Alle Götter des Olymp werden herbeigerufen, um die Liebenden im Netz zu besichtigen. Ihr Schamgefühl hindert die Göttinnen daran, gleichfalls zu erscheinen; die Götter jedoch brechen in Gelächter aus. Apollon fragt Hermes, ob er die Blamage des Ares auf sich nehmen würde, wenn er auch Anteil an dessen Genuß gehabt hätte. Hermes ist sich völlig sicher, daß er mit dem Vergnügen auch die Schande in Kauf nehmen würde. Die ganze Episode verdeutlicht, wie geringschätzig die Olympier mit dem Band der Ehe umgingen. Weder Aphrodite noch Ares empfinden die geringste Schuld. Seinen Rivalen zu beschämen ist offenbar die härteste Strafe, die Hephaistos in den Sinn kommt.

In der Hochzeit mit dem hinkenden Gott vernimmt man den fernen Nachhall der kastrierenden Macht der Inanna, doch anders als diese ist Aphrodite keine grausame Göttin; diesen Charakterzug hat sie an Athene abgetreten. Im 5. Gesang der Ilias wird Aphrodite von Zeus ermahnt: Nicht »die Werke des Krieges«, sondern »die Werke der Hochzeit« seien ihre Sache, und das Schlachtfeld solle sie lieber Ares und Athene überlassen. Homer – so interpretiere ich diese Zeilen – ist psychologisch offenbar noch immer darum bemüht, die Göttin der Liebe von der Göttin des Krieges zu trennen. Der Aspekt der Grausamkeit, der bei Aphrodite verdrängt ist, kehrt wieder in Gestalt ihrer Liebe zum Kriegsgott Ares. (Daß man lieben kann, was man in sich selbst unterdrücken muß, ist eine bedeutende Einsicht der Psychoanalyse in das Wesen der Liebe.) Als Aphrodite sich in den Trojanischen Krieg einmischt, um ihren Sohn Äneas zu retten, wird sie von Diomedes verwundet. Verächtlich fordert er sie auf, den Kriegsschauplatz zu verlassen, denn ihr Geschäft sei es, »Weiber von schwachem Sinne« zu verleiten. Diomedes scheint der erste jener langen Reihe von Männern zu sein, welche die Liebe als ein weibliches Unternehmen betrachten, das parallel zum spezifisch männlichen Interesse am Krieg verläuft. Damit bringt er den Kern der mythologischen Wahrheit zum Ausdruck, denn tatsächlich werden Frauen häufiger als Männer zu Verehrerinnen und Opfern von Aphrodite. Eine Ausnahme in der Ilias ist lediglich Paris, dessen eigentliches Wesen von der Liebe bestimmt wird. Dieser Typus kehrt wieder in Gestalt von Shakespeares Romeo und Goethes Werther, doch würde man diese Figuren nicht als maskuline Charaktere bezeichnen.

Helena wird von Aphrodite dazu gezwungen, auf Haus, Ehemann und Tochter zu verzichten – alles um der Leidenschaft zu ihrem Entführer Paris willen, welche die Göttin ihr eingeflößt hat. Doch das Moment von Unfreiwilligkeit, das dieser Leidenschaft anhaftet, befreit sie keineswegs von allem Schuldgefühl. Sobald sie einmal dem Bann der Göttin entzogen ist, empfindet Helena Scham und Schuld. Es wäre ihr lieber gewesen, vor ihrer Ankunft in Troja zu sterben und nicht zum Anlaß eines Krieges zu werden – so jedenfalls klagt sie gegenüber König Priamos, dem Vater des Paris. Sie fühlt sich schuldig des Verrats an ihrem Land, ihrer Tochter und ihrem Brautbett. Ihrem Ehemann Menelaus gelingt es später, sie in einer direkten Auseinandersetzung mit Paris zurückzugewinnen, so daß der Trojanische Krieg doch noch ein gutes Ende zu nehmen scheint. Doch Aphrodite, völlig gleichgültig gegenüber der politischen Fehde, entzieht Paris dem Schlachtfeld und bringt ihn zurück in Helenas Schlafzimmer.

Diese Gelegenheit ergreift Helena, um Aphrodite herauszufordern. Mit sicherem Instinkt hegt sie den Verdacht, daß Aphrodite selbst in Paris verliebt ist. Sie solle doch dem Olymp und der Welt der Götter den Rücken kehren, fordert sie spöttisch, und sich so lange für Paris aufopfern, bis er sie eines Tages zu seiner Frau oder vielleicht zu seiner Sklavin macht. Helena wird von Gewissensbissen geplagt, und nicht minder setzen ihr die Vorwürfe der trojanischen Frauen zu. Doch Aphrodites Macht ist unwiderstehlich. Wenn sie in Zorn gerate – so droht sie Helena –, dann werde sich die Liebe ihr gegenüber in Haß verwandeln und sie werde zugrunde gehen. Damit ist Helenas Aufstand gegen Aphrodite gebrochen, und demütig kehrt sie zurück in ihr Schlafzimmer.

Als Paris sich ihr nähert, macht sie ihm bittere Vorwürfe: Er habe damit geprahlt, Menelaus zu einem Zweikampf herauszufordern, nur um dann auf schimpfliche Weise zu flüchten. Doch dann ändert sie ihren Sinn und bittet ihn, Menelaus nicht noch einmal zu fordern – wobei sie die Augen von ihm abgewandt hält. Racine, der bedeutende französische Dramatiker, notierte am Rand seines Exemplars der Ilias, Helena habe ihre Augen darum abgewandt, weil sie Paris ausschelten wollte und befürchtete, ihre Liebe werde neuerlich aufflammen, wenn sie ihn betrachtete (Flacelière 1960). Doch im Bann Aphrodites überkommt sie süßes Verlangen nach Paris. Homer tadelt Helena nicht, obwohl sie verantwortlich ist für die Zerstörung Trojas. Die Verkörperung der gefährlichen Verführerin, die sie in den Augen späterer Generationen wurde, ist sie hier noch keineswegs. Die Liebe kommt von Aphrodite; sie, die Göttin der Liebe, ist die Verursacherin. Doch Helena fühlt diese Schuld, als sei es ihre eigene.

Psychoanalytiker mögen versucht sein, Aphrodite als eine bloße Projektion von Helenas inakzeptablen sexuellen und destruktiven Wünschen abzutun. Doch würde man damit das schöpferische Potential zum Verständnis der Liebe verfehlen, das der Mythos mit der Erfindung Aphrodites freisetzte. Die Figur der Aphrodite ermöglichte es Homer, eine feine Differenz innerhalb des Gefühls der Liebe zu beschreiben. Helena unterliegt Paris, doch sie verachtet ihn auch. Von ihrem Ichideal ist er weit entfernt. Eine wirklich gefährliche Frau wie Medea, deren verschmähte Liebe sich in tödlichen Haß verwandelt, kennt Homer noch nicht.

Dodds (1951) hat gezeigt, daß die Helden Homers eigentlich in zwei Welten leben: Die eine liegt jenseits der Kontrolle ihres Ichs und wird subjektiv als ein Bereich erfahren, der dem Einfluß verschiedener Götter unterliegt. Die andere ist eine autonome Welt und Objekt ihres eigenen Willens. Helenas Liebe zu Paris ist das Beispiel einer Liebe, die sich der Kontrolle des Ichs entzieht.

In der Odyssee schildert Homer einen anderen Typus von Liebe: den zwischen Odysseus und Penelope. Penelope ist die treue Ehefrau, die sämtliche Freier abweist und zwanzig Jahre lang auf ihren Mann wartet, während dieser in allen möglichen Häfen verweilt. Psychoanalytisch gesprochen, ist Penelope die Verkörperung der idealen Mutter der »Subphase der Wiederannäherung«, wie Mahler (1968; 1975) dies genannt hat: Sie ist die Mutter, die auf die Rückkehr ihres Kindes wartet und die, wenn es zurückkehrt, stets bereit ist, es »auftanken« zu lassen (Mahler 1975). Als mythische Erzählung handelt die Odyssee von einem Kind, das die Abenteuer des Lebens genießt, während es auf dem Heimweg ist.

Die nach Homer älteste überlieferte Quelle zu Aphrodite ist die fünfte Homerische Hymne, die aus der Zeit um 700 v. Chr. stammt. Hier streift Aphrodite durch die Wälder, begleitet von Wölfen, Löwen und Bären. Unter ihrem Einfluß werden diese Raubtiere von Liebe bezähmt und legen alle Wildheit ab. Selbst in Zeus vermag Aphrodite eine Leidenschaft für Hera und für sterbliche Frauen zu erwecken. Für einen Olympier ist das jedoch unter seinem Stand; Zeus rächt sich, indem er dafür sorgt, daß Aphrodite selbst sich in Anchises verliebt. Aus dieser Verbindung entspringt Äneas. Von besonderer Bedeutung hinsichtlich des Wesens der Aphrodite ist die Tatsache, daß sie zunächst Anchises heiraten möchte, sich dann aber rasch dazu überreden läßt, schon bei ihrem ersten Treffen mit ihm zu schlafen.

Hesiod zufolge, der nach Homer die maßgebliche Quelle zur griechischen Religion ist, hat Aphrodite drei Kinder von Ares: Deimos (Furcht), Phobos (Schrecken) und Harmonia. Auf begrifflicher Ebene bedeutet dies, daß bei Hesiod die Liebe mit Furcht, Schrecken und Harmonie in Zusammenhang gebracht wird. Von Hesiod stammt auch der Bericht über Aphrodites sonderbare Herkunft – eine Herkunft, die psychologisch gesehen dicht unter der Oberfläche wirksam geblieben sein dürfte, wann immer den Griechen das Bild dieser Göttin vor Augen stand: Uranos, der Gott des Himmels und der älteste der griechischen Götter überhaupt, hat geschlechtlichen Verkehr mit Gaia, der Göttin der Erde. Dabei wird er von seinem Sohn Kronos kastriert. Das abgetrennte Organ treibt in der wogenden See. Weißer Schaum quillt auf, aus dem Aphrodite hervortritt. Sie wird gnädig aufgenommen und von dem Westwind Zephyros nach Zypern gebracht, wo sie von den Horen in göttliche Gewänder gekleidet wird. Ihre Geburt wird mit einem großen Freudenfest gefeiert. Zur Zeit der Homerischen Hymnen wird diese Geburt allerdings nicht mehr erwähnt; vielmehr wird sie nun zur Tochter des Zeus und der Dione.

Warum haben die Griechen ihrer Liebesgöttin eine so sonderbare Geburt zugeschrieben? Um diese merkwürdige Herkunft zu entziffern, ist es nützlich, auf die Psychoanalyse zurückzugreifen: Ihr ist eine bestimmte Art sexueller Anziehung wohlvertraut, die sich nicht auf eine Person als ganze bezieht, sondern eher auf ein bestimmtes anatomisches Merkmal wie Brust, Penis, Form der Hüften oder des Gesäßes. Diese Art der Anziehung beruht auf Eigenschaften eines »Partialobjekts«, wie die Psychoanalytiker sagen, und geht auf Enttäuschungen zurück, die mit der frühesten Bezugsperson zu tun haben. Es ist, als glaube der Betreffende nicht mehr daran, daß man eine Person lieben könne – als glaube er, nur ein bestimmtes, leicht wiederzufindendes anatomisches Merkmal könne zur Quelle sexueller Anziehung werden. In der Version des von Hesiod überlieferten Mythos ist Aphrodite das Kind eines derartigen Partialobjekts, und in der Sprache des Mythos ist dies die Erklärung dafür, warum Aphrodite vor Ehe und Familienleben keinerlei Achtung hat. Man gewinnt den Eindruck, daß die psychischen Kräfte, die diesen Mythos formten, die Verbindung zwischen der Liebe und den gewöhnlichen Beziehungen von Ehepartnern sowie Müttern und Kindern zu kappen suchten. Tatsächlich wird in der gesamten griechischen Literatur immer wieder Aphrodites Macht hervorgehoben, selten jedoch ihr Mitgefühl.

Die Verursacherin des Trojanischen Krieges ist Aphrodite, die sich Helenas als Werkzeug bedient. Niemals zuvor wurde die Beziehung zwischen der Göttin und ihrer irdischen Repräsentantin auf so scharfsinnige Weise beschrieben.

Sappho, Euripides, Ovid

Snell (1946