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Aufstehen, Essen suchen, arbeiten. Leerer Smalltalk. Überleben. Gib dich mit dem zufrieden, was du hast. Frag nicht nach mehr. Erwarte keine Wunder. Lebe bis zum nächsten Winter. Und sei nützlich! Halte es simpel, sei zufrieden. So war es die ganze Zeit und es hat funktioniert. Das ist dein Leben. Es ist ein gutes Leben. Was passiert allerdings, wenn dir die wenigen Säulen der Routine, der Zufriedenheit, die du noch hast, geraubt werden? Was passiert, wenn die Sicherheit, die du so lange zu wahren versuchtest, sich gegen dich richtet? Dann heißt es im Überleben, zu überleben. Das Buch beschäftigt sich mit der Frage, wie ein Leben in einer Gesellschaft ist, die alle auffängt, außer die, die sie nicht auffängt.
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Seitenzahl: 713
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Danksagungen sind immer eine Sache für sich, fast schon ein Problem. Irgendjemanden möchte ich ja danken, aber wem? Wer hat mir am meisten bei der Verwirklichung des Buches geholfen? Wer war innerhalb des Jahres, in dem ich daran geschrieben habe, die wichtigste Person für mich, und verdient es deshalb auf der pragmatischen Ebene meines Verstandes so sehr glorifiziert zu werden, dass ihm nun einige Zeilen Ruhm und Ehre gebühren?
Pustekuchen, ich danke euch einfach allen!
Julia, Kevin, Justus, Ramsay, Simon, Emely, Cynthia und all die Menschen, denen ich nach der Bekanntgabe des Buches so auf den Nerv gegangen ist, jawohl, diese Danksagung wurde erst danach geschrieben, lustig was heutzutage alles so geht.
Ich danke euch dafür, dass ihr mir so sehr geholfen habt dieses Projekt zu verwirklichen, dass ihr mir zugehört habt, wenn ich darüber erzählt habe, dass ihr ruhig geblieben seid, wenn ich mich absolut verplant habe und für eure wundervolle Kritik.
Der größte Dank geht allerdings an meine Mutter und meinen Vater, die mich in meinem Leben unterstützen wie niemand sonst. Ich liebe euch.
Danke
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Er mochte den Geruch von Fisch in seiner Jugend sehr. In ihm lag die Erinnerung an längst vergangene Tage, an die Reisen mit seinem Vater. Sie gingen früher oft Angeln, gerade als er noch sehr klein war.
Stundenlang saßen sie am Flussufer und warteten auf den großen Fang. Groß fiel er leider nie aus, aber jeder Fisch war für sie wie ein Schatz. Jeder Fisch wurde von ihnen geehrt.
Damals brachte ihm sein Vater bei, wie ein Fang richtig auszunehmen war. Natürlich waren seine Hände viel zu klein, zu unbeholfen für diese Art der Arbeit. Sein Vater erklärte ihm, dass er zuerst einen dicken Stock oder ein stabiles Holzstück nehmen müsse, um damit dem Fisch kräftig auf den Kopf zu schlagen. Der alte Mann hatte dafür stets ein Messer und eine Bürste aus Holz mit roten Borsten – sie erinnerte ihn an eine Zahnbürste für einen Riesen – dabei. Mit dem Messer, dessen Griff im Vergleich zu der Klinge deutlich zu kurz gekommen war, schuppte sein Vater den bewusstlosen Fisch vom Schwanz bis zum Kopfende ab. Er erklärte ihm, dass er das mache, um die Schuppen und die Schleimschicht abzustreifen, die dafür sorgen, dass der Fisch grazil durch das Wasser gleiten könne. Natürlich wurde das Messer danach an ihn weitergereicht, mit einer genauen Anleitung, die besagte, dass man an der Afterflosse – also der letzten Flosse an der unteren Fischseite – ansetzt und ungefähr bis zu den Brustflossen schneidet. Er durfte nicht zu hoch ansetzen oder zu tief schneiden, da er sonst Gefahr lief, die Gallenblase zu treffen. Die Gallenflüssigkeit hätte dafür gesorgt, dass das gesamte Fleisch einen bitteren Geschmack bekommen hätte.
Ob größere Raubfische sich eine Strategie ausgedacht haben, um dieses Problem zu umgehen? Oder schmecken sie schlichtweg nichts?
Im nächsten Schritt sollte er in den Fisch greifen und die Organe entnehmen. Hinten ging es erstaunlich leicht, Richtung Kopf musste er kräftig ziehen. Danach waren die Kiemen dran.
Sie wurden aufgeklappt und herausgenommen, warum wusste er nicht. Sein Vater erklärte es nicht und er fragte nie nach. Während der Prozedur wurde der Fisch einige Male mit Wasser abgespült.
War das alles einmal geschafft, flog der Fisch in einen Blecheimer. Mit ihm an guten Tagen acht oder zehn weitere hinterher. Die ersten Fische, die von seiner kleinen ungeschickten Hand entleert wurden, endeten allesamt mit bitterem Fleisch. Diese Fische wurden natürlich nicht weggeschmissen. Sein Vater bestand darauf, dass er sie aß. Nach einem guten Fang gab es damals bis zu vier Tage bitteren Fisch. Gebraten, geräuchert, gebacken oder gekocht. Sein Vater ließ ihn dabei nie allein, sondern aß mit.
Je älter er wurde, desto unruhiger wurde er während des Angelns. Ruhig sitzenbleiben, still sein und nicht die ganze Zeit an der Angel herumzuspielen, war eine echte Herausforderung für so ein Kind.
Vor seiner Zeit, als sein Vater noch im Militär diente, lernte dieser eine Taktik, die er damals bei ihm anwenden konnte.
Anstatt über Stunden an einer Stelle auszuharren, wanderten sie in Richtung der Strömung. So wurde aus einem gemächlichen Angelausflug eine Wandertour über Stunden und Kilometer hinweg. Seine kurzen Beine hielten das nicht lange aus, sobald er müde und erschöpft war, was nach wenigen hundert Metern eintrat, hob sein Vater ihn hoch und schulterte den kleinen Bengel in einer Tragetasche auf seinem Rücken. In jener Leinenkonstruktion schlief er den Rest des Ausfluges, während sein Vater sich um die Beute kümmerte.
Wenn er jetzt über den alten Hafen läuft, wo die Möwen vor Hunger kreischen und der Wind ihm seinen offenen Mantel nach hinten schlägt, löst der Geruch nichts anderes als Kummer und Ekel in ihm aus. Was sicherlich auch dem Fakt geschuldet ist, dass es nicht mehr der Geruch von frischem gekühltem Fisch oder guter Räucherware ist, sondern ein fauliger, der im zersplittertem Betonweg oder an den zusammengeschusterten Tischen haftet.
Die Zeiten haben sich geändert und trotzdem ist es unglaublich, wie die Menschheit versucht, an alten Traditionen, wie einem Markt, festzuhalten. Dabei dem Drang für sich selbst zu kämpfen und weiter zurückzuschreiten, in Zeiten, die von Barbarei und der Macht des Stärkeren beherrscht werden, entgegenwirkt. Der Mensch klammert sich an jedes kleine Stück Zivilisation, das er kennt.
Er zieht seinen Mantel zusammen und überschlägt ihn vor seinem Körper. Knöpfe hat er schon lange nicht mehr, so nimmt er einen alten zerrissenen Gürtel und schnürt ihn sich um seinen Bauch. Mit den Händen in der Tasche und alten Schrauben sowie Büroklammern in den Händen, läuft er los. Einen Schritt vor den anderen, bemüht er sich, die Übelkeit zu unterbinden. Stattdessen konzentriert er sich auf seine Umgebung. Die dunklen, von dem Wasser und der Zeit zerfressenen Bootsstege, vollenden dabei das Bild.
Heute Mittag lag noch ein dichter Nebel über dem Meer, der immer wieder aufgewirbelt wurde, wenn die Wellen etwas höher ausfielen, bevor sie dann an den hohen Steinwänden des Hafens zerbrachen. Wobei der Nebel ihn mehr an eine dicke Schicht aus Schnee erinnerte. Grauen Schnee, der früher auf den Straßen lag, bevor der Berufsverkehr jegliche Schneeähnlichkeit aus ihm herausquetschte.
Es scheint bald wieder zu gewittern.
Vier Schiffe liegen am Hafen an. Er weiß, dass eines ein Fischerboot und das andere ein Händlerschiff ist. Wobei Händler ein hochtrabender Begriff ist, da sie nur als Lieferanten fungieren. Heutzutage reisen die Händler selbständig in die entferntesten Ecken der Welt, was ein lebensgefährlicher Akt ist, der viele bereits vor dem ersten abgeschlossenen Handel das Leben kostet.
Die anderen beiden Schiffe kennt er nicht. Selbst die beiden, mit denen er vertraut ist, erkennt er nur an ihren Flaggen. Fischerboote zeichnen sich durch einen einfachen Fisch auf ihrer Flagge aus. Ein Symbol wie es früher Christen verwendeten. Dabei kann man nicht von einer großen gläubigen Fischerorganisation reden, die es nutzt, um ihre Liebe und Zugehörigkeit zu Gott widerzuspiegeln. Die Bedeutung hinter dem Fischsymbol ist eine Simplere für die Fischer. Sie nahmen, was sie kannten.
Menschen, die ihre Dienste als Lieferanten anbieten, zeigen es hingegen mit einem blauen Kreis auf ihren Gebäuden, Ständen, Tieren oder Schiffen.
Er freut sich, zu sehen, dass die beiden Schiffe Kohledampfer sind. Kohle ist teuer und viele bevorzugen es mit Segelschiffen zu reisen. Er hält kurz inne und begutachtet sie genau, immerhin sieht man solche Raritäten nicht oft. Wäre er ein Händler, würde er wohl am ehesten mit diesen Lieferanten einen Handel eingehen. Immerhin halten Stahlschiffe einiges an Feindkontakt aus, was sie sicher gegen Überfälle macht. Außerdem fahren diese hier ja mit der wertvollen dunklen Ressource, eines hat sogar Extrasegel, es muss unglaublich schnell sein. Sollte ihm die Kohle in der Mission ausgehen, ist es nicht einmal gezwungen abzubrechen, sondern kann weitersegeln.
Ein gewohntes und unwillkommenes Rumoren seines Magens reißt ihn aus den Gedanken. Also läuft er weiter. Allerdings muss er feststellen, dass sich das Unbehagen in seiner Körpermitte vergrößert, umso länger er mit den Gedanken bei dem Nebel und dem bald erscheinenden Sturm bleibt.
Aus den Augen, aus dem Sinn, ist seine Devise in diesem Fall. Also schaut er nicht mehr auf das offene Meer, sondern bewusst auf die andere Seite.
Während seiner kleinen Wanderung kommt er an einigen Betonblöcken vorbei, die von der Siedlungsregierung als neue Häuser vor 26 Jahren aufgebaut wurden, als Beton noch nicht die rare Ware war, die sie heute ist. Vor diesen Blöcken sitzen Familien in zerlumpter Kleidung, löchrigen Jeans und alten Mänteln. Während vereinzelte Kinder einem alten Volleyball hinterherjagen, kochen die Eltern in einem großen bronzefarbenen Topf über einem offenen Feuer einen Eintopf. Die Frau, von der er annimmt, dass sie die Mutter ist, schüttet frisches Gemüse hinein. Er kann Karotten und Kartoffeln erkennen.
Als er weiterläuft, sieht er einen älteren Herren mit einem langen geflochtenen Bart an einer rostigen Straßenlaterne sitzen. Sein Kopf ist nach vorne gefallen, die blaue Kappe in sein Gesicht gerutscht und die strähnigen grauen Haare entblößt. In seinem Schoß liegt eine Flasche aus braunem Glas, vermutlich einst mit Alkohol befüllt. Er hofft, dass der arme Mann sich nicht an einem zu starken Selbstgebrannten vergriffen und dadurch seinem Leben ein vorzeitiges Ende verschafft hat.
Die Schuhe, die er trägt, würden in der Eigenschaft des Zehenschutzes eine glatte Sechs bekommen. Die Löcher geben Sicht auf eine grüne Socke, die wiederum den großen ungeschnittenen Zeh entblößt und an diesem Zeh nagt bereits eine Ratte.
Ein fettes zerzaustes Exemplar, dessen Fell von grauen Flecken durchzogen wird. Wann wohl die ersten Menschen auftauchen werden, um die Ratte oder den leblosen Mann für ihr Mittagessen zu ernten?
Auch hiervon heißt es für ihn wieder den Blick abzuwenden und weiter voranzuschreiten. Er ist froh, dass er bisher nie, wie schwer die Zeit auch war, gezwungen wurde, Mensch zu essen.
Irgendwann erreicht er endlich sein Ziel: die Marktstraße.
Abgegrenzt wird sie durch die steile 25 Meter hohe Steinwand, die das Festland von den kalten unbarmherzigen Händen des Ozeans trennt. Wo bisher vereinzelt die Häuser der Siedlung standen, erhebt sich ein riesiger Komplex aus alten Fabrikhallen. Die erstaunlich gut erhalten sind, was eventuell daran liegen mag, dass die Siedlungsregierung zeitnah nach der Gründung die Gebäude für sich in Anspruch genommen hat.
Den Anfang der Marktstraße macht ein ordentlicher Zimmermannstisch. Vor ihn wurde eine Eisenstange in den Boden gerammt und ein erstaunlich weißes Stofftuch, mit einem blauen Kreis darauf gehangen. Hinter dem Tisch steht ein ungefähr zwei Meter großer Mann mit verschränkten Armen. Die grauen Gummistiefel, die Leinenhose in der schmeichelhaften Farbe Ocker und das weiße Unterhemd, welches er trägt, schreien förmlich: Schaut mich an, ihr zittert, doch ich als Lieferant bin abgehärtet. Ich bin in der Lage jede Lieferung an jeden Ort zu bringen! Seine genügsamen braunen Augen und das faltige Gesicht unterstützen die Aussage. Beide nicken sich respektvoll zu und er geht weiter.
Es folgen einige Stände aus alten Paletten, hinter ihnen Menschen, die ihre Waren und Dienstleistungen anbieten.
Er mag die Marktstraße aber es bereitet ihm Kopfschmerzen, dass überall Siedlungsbeschützer unterwegs sind, die man allerdings nicht direkt erkennt. Jeder könnte einer sein: der Verkäufer, der Betrunkene, die alte nette Dame oder eben der Lieferant. Allerdings passieren dadurch keine Verbrechen.
Was er an der Marktstraße dafür sehr schätzt, ist, dass die Siedlungsregierung eine gewisse Ordnung veranlasste. Zuerst kommen die Dienstleistungen: Söldner, Babysitter, manche bieten auch ihr eigenes Fleisch an, so etwas halt. Der Grund dafür ist, dass Menschen zuerst die Probleme lösen sollen, die man mit Hilfe anderer Menschen lösen kann, bevor sie an materielle Güter denken.
Nach den Dienstleistungen kommen die Gemüseanbieter. Natürlich haben die Händler, die Zugriff auf gute Ernte oder resistente Gemüsesorten haben, sich die Plätze weit vorne erkauft. Meistens sind es Pilze oder Kartoffeln, je nach Saison kann man auch mit einer Karotte oder einigen Radieschen überrascht werden. Der Kürbis und verschiedene Kohlsorten stellen sich ebenfalls als unglaublich widerstandsfähig heraus. Die Menschen mit dem schlechten, mickrigen und schimmligen Gemüse kommen danach.
Nach dem Gemüse folgt das Fleisch, zuerst Schwein, Rind, Lamm. Ein weiteres Geheimnis, welches sich vor ihm verschließt, ist, wie man es schafft diese Nutztiere zu halten. Da es allerdings offensichtlich wenige Menschen gibt, die es schaffen, ist der Preis entsprechend hoch. Wird die Ware nicht verkauft, wird das Fleisch selbst gegessen, ein zu viel existiert nicht. Nach dem „Luxusfleisch“ kommen Katzen, Ratten, Insekten und Hunde. Die meisten schon geräuchert. Gerade die Insekten werden wie an alten Straßenständen auf großen Blechstücken angebraten. Ratten und Katzen werden roh und im Ganzen verkauft. Die Erfahrung hat ihm gezeigt, dass eine Katze zwei Menschen für fünf Tage ernähren kann. Hunde allerdings werden portioniert verkauft.
Nach diesen Tieren folgt der Fischfang und danach Brot und Mehl, das direkt über ein Außenfenster durch die Siedlungsregierung herausgegeben wird. Dieses ist für jeden kostenlos und rationiert, als Dank dafür, dass man ein nützliches Individuum für die Gemeinde darstellt. Und tatsächlich stellt das auch jeder dar.
Die Angehörigen der Siedlungsregierung sind die Einzigen, die die Möglichkeit haben Weizen und Roggen anzubauen oder es zu mahlen. Innerhalb ihrer riesigen Fabrikhallen besitzen sie mehrere mechanische Mühlen, die sie mit Holzkohle antreiben. So wird es jedenfalls erzählt.
Dass sie mit Sicherheit auch die Einzigen bleiben, die in der Lage sind, diesen Prozess durchzuführen, dafür sorgen sie.
Er wird sich wohl nie daran gewöhnen, dass die Menschheit mitmacht, sich an diesen Status anpasst und den Schein einer Gesellschaft aufrechterhält, dass sie einfach aufgegeben haben. Dabei hat er früher selbst mitgemacht, bestimmt 23 Jahre hat er selbst daran geglaubt. Leider findet dieser Glauben keinen Nährboden mehr in ihm, wenn er daran denkt, wie sehr er die alte Welt mochte.
Er liebte es, einkaufen zu gehen, Eis in den kühlen Einkaufszentren zu schlecken. Er liebte es die Freiheit zu haben, alles erleben zu können, feiern zu können, er hatte eine wirklich sehr schöne Jugend. Die nun Jahrzehnt um Jahrzehnt zurückliegt.
Nachdem der Lieferant begrüßt wurde, heißt es für ihn jetzt, seine Einkäufe zu erledigen. Er läuft über den Marktplatz und begutachtet, welche Händler anwesend sind, was sie für Gemüse anbieten und ob etwas Exotisches es bis hierher geschafft hat. Man könnte meinen, da die Siedlung direkt an der Küste liegt, würden sich hier viele Waren im Umlauf befinden und dass man Sachen erspähen könnte, die es allein wegen ihrer Verderblichkeit nicht bis in das Innere des Landes schaffen würden.
Leider ist dem nicht so. Die Realität sieht stattdessen so aus, dass die großen Händler untereinander handeln und sich so die guten Sachen zukommen lassen. Natürlich achtet die Siedlungsregierung darauf, dass sich die wohlhabendsten der Händler nicht ihre Bäuche vollschlagen, sondern ein ebenso wertvolles Glied in der Gemeinschaft bilden, wie alle anderen auch.
Wie an den meisten Tagen, gibt es auch heute kaum Interessantes zu sehen
Neue Händlergesichter gibt es ebenfalls keine zu entdecken, er kennt zwar nicht alle Anwesenden beim Namen, aber er weiß, dass sie nett sind.
80 Prozent der Händler, die an den Ständen stehen, stellen ältere Damen dar, die mit krummen Rücken und zu langen Mänteln ihrer Männer die Waren anbieten. Dem Wind, dem Regen, der Kälte und jeder anderen Widrigkeit, die ihnen das Leben entgegenwirft, trotzen sie wie Zinnsoldaten, mit ihren Hüten aus altem Zeitungspapier.
Er bewundert sie dafür und gleichzeitig fragt er sich, warum sie diese Hüte tragen. Er weiß nur, dass sie es früher auch schon taten. Hier findet sich also erneut ein Festhalten an alter Zeit. Ihn soll es nicht stören. Eine Erinnerung, die ihnen an kalten Tagen etwas Wärme spendet, während sie ihre Waren mit dem Lächeln einer gütigen Großmutter anbieten, schadet niemandem.
Er lächelt ihnen zu und die, für die er bereits arbeitete oder die er schon länger kennt, begrüßt er mit einem leichten Winken.
An den Fleischständen angekommen, erkennt er, dass die angebotenen Ratten heute besonders wohlgenährt aussehen. Fett genug, um ein zurückhaltendes Ehepaar mit einer Ratte für mehrere Tage zu ernähren. Ihm fällt ein, dass der Informationszureicher vor ein paar Tagen von einem Mord erzählte. Ob es da eine Parallele gibt? Während er nachdenkt und bemerkt, dass sein Magen erneut auf die Barrikaden geht, erreicht er endlich die Fischstände.
Die alte Dame, die den Stand seiner Begierde betreut, sieht ihn und das Lächeln, welches bisher eher wie ein Standard-Berufslächeln wirkte, verwandelt sich in ein herzliches warmes.
„Guten Tag mein Junge, es freut mich, dass du gekommen bist“, spricht sie mit leicht kratziger brüchiger Stimme.
Er nickt ihr zu und gibt ebenfalls ein leichtes Lächeln von sich. In dem Zusammentreffen vermeidet er es, zu reden, aus Angst ein einzelnes Wort könnte seinem Magen den Rest geben. Die Dame fährt fort: „Weißt du eigentlich, wie schwer es war, an einen Lachs heranzukommen? Mein Mann kannte zum Glück einen Fischer, der gerade von einem Fluss wiedergekommen ist. Ich hoffe, du hast die Schrauben für mich dabei.“
Wortlos greift er in seine Tasche, zieht eben jene heraus und legt sie vor die Frau auf den Tisch. Sie sammelt sie auf, spielt ein bisschen mit ihnen herum, lässt sie von der einen in die andere Hand gleiten und steckt sie dann in ihre Tasche.
„Ich danke dir.“ Natürlich erklärt sie ihm noch, dass sie diese Schrauben für ihre Tür braucht. Eine Information, die eher durch seinen Kopf, als in diesen fließt.
Sie dreht sich um und bückt sich langsam, wobei eine Hand ihren Rücken festhält. Mit der Freien greift sie in einen Korb und zieht einen Fisch hervor. Mit einem Lachs hat er nicht mehr viel gemeinsam, der abgerundete Bauch fehlt, da das Tier anscheinend nicht genügend Nahrung bekam. Die charakteristischen grauen Punkte auf dem Rücken sind komplett verschwunden. Sehr klein geraten ist er auch noch. Das Einzige, was an einen Lachs erinnert, ist die typische spitze Form seines Mauls.
Wortlos nimmt er den Fisch und schnüffelt kurz daran. Er riecht leicht verdorben, was man auch an der matten Augenfarbe und der geringen Schleimschicht des Fisches erkennt. Zum Abschied nickt er noch einmal höflich und geht dann weiter in Richtung Ausgabefenster.
Zu seinem Verwundern gibt es heute keine Schlange, besser für ihn. Er muss kurz warten, bis ein älterer kleiner Mann hervortritt. Sein Gesicht wird durch einige Falten nach unten gezogen, was ihn aufgrund seiner dünnen Statur, an eine Kerze mit herunterlaufendem Wachs erinnert. Der Mann legt einen Brotlaib und eine Box mit Mehl hin.
„Ich habe gesehen, was Sie letzte Woche am nördlichen Ende für das Siedlungszusammenkunftshaus gebaut haben, eine wirklich gute Idee. Wir brauchen in diesen Zeiten deutlich mehr Kultur, das hält die Leute bei Laune und sorgt vor allem dafür, dass unsere Geschichte nicht verfälscht wird.“ Seine Stimme wirkt wie die eines Radiomoderators, der sich entschied, in seinem Studio die besten Zigarren auszutesten.
„Natürlich wird es unglaublich schwer die Bezahlung zu regulieren, wir sollten auch ein Auge darauf werfen, was dort aufgeführt wird. Zum Glück ist das nicht meine Aufgabe. Für uns beide heißt es also einfach genießen. Und Sie mein Freund können ordentlich stolz auf sich sein. Immerhin haben Sie damit einmal mehr bewiesen, was für ein gutes Mitglied dieser Siedlung Sie sind!“ Als er mit seiner Erklärung fertig ist, klopft er ihm väterlich gegen den Arm.
Er nimmt das Brot und lächelt noch einmal nett, bevor er geht. Er versteht nicht, warum dieser alte Mann einen so großen Aufstand um die von ihm gebaute Bühne macht. Für ihn war es nur eine gute Gelegenheit, das Essen der nächsten Tage zu sichern.
Als der Händler damals auf ihn zukam und ihm erklärte, dass er der Siedlungsregierung den Vorschlag unterbreitet habe, eine Bühne zu errichten, war ihm zunächst nicht klar, was das Ganze mit ihm zu tun hatte, oder ob der Händler nur ein bisschen zu tief ins Glas geschaut hatte. Als der Händler dann allerdings erklärte, dass er sich wünsche, dass die Bühne von ihm aufgebaut würde und ihm erzählte, was der Lohn dafür sei, wäre er ein Dummkopf gewesen, dieses Angebot auszuschlagen. Kostenfreies Essen für die nächsten fünf Tage klang einfach zu verlockend. Zudem stellte die Siedlungsregierung die Materialien.
Es klang, wie das perfekte Projekt, also nahm er es an und binnen vier Tage war es erledigt.
Leider gibt es keinen Ausgang für die Marktstraße, er muss den gesamten Weg wieder zurücklaufen.
Sein Magen ist nicht sonderlich begeistert von diesem Zustand. Allmählich breitet sich die Übelkeit auch auf seinen Gleichgewichtssinn aus. Also entscheidet er sich dazu, seine Kapuze hochzuziehen, um sich von äußeren Eindrücken abzuschirmen. In einer Hand das Brot und den Fisch, in der anderen Hand die Box mit Mehl. Es hilft, wenn der Wind ihm nicht mehr in das Ohr pfeift, der Gestank des Fisches sich nicht mehr, wie eine Dunstglocke um seinen Kopf legt, oder sein Blick von der Unendlichkeit des Meeres verschont wird.
Als er das Ende des Hafens erreicht, geht er in das Innere der Siedlung. Umso weiter weg er vom Hafen ist, umso besser geht es ihm. Diese faulige Fischluft schafft es seit zwei Jahren, ihn jedes Mal mehr und leider auch schneller aus der Fassung zu bringen.
Einmal baute er an einem Steg etwas und konnte den ganzen Tag nicht den Ort verlassen. Was zur Folge hatte, dass er sich erst mehrmals übergab und dann irgendwann in Ohnmacht fiel. Er wachte bei sich Zuhause auf. Die ganze Situation schob er ganz einfach darauf, dass der Nebel besonders schlimm war an diesem Tag. Natürlich könnte er zu einem Arzt gehen, um das Problem zu besprechen, aber Ärzte sind zu teuer und für das Lazarett innerhalb des Siedlungsregierungsgebäudes, sind seine Beschwerden nicht akut genug.
Auf seinem Weg zu seinem Haus entscheidet er sich, einen Bogen um den Exekutionsplatz zu machen. Wenn er es richtig in Erinnerung hat, soll heute eine Hinrichtung stattfinden. Etwas Aufreibenderes kann er sich im Moment nicht vorstellen. Er biegt in einen kleinen Seitenweg ab und achtet nicht weiter auf die Häuser, die er liebevoll Blöcke nennt.
Einige Mal ist er dabei beinahe in spielende Kinder gerannt. Vor seinem Heim angekommen, reißt er die Kapuze herunter. Legt den Inhalt seiner Hände auf den Boden, streckt die Arme über seinen Kopf und atmet mit geschlossenen Augen tief ein und aus. Die kalte, salzige Luft strömt wohltuend in seine Lunge. Er hält sie einige Sekunden in sich und merkt, wie sie langsam wärmer wird. Bis sie nicht mehr von seiner Körpertemperatur unterschieden werden kann. Dann atmet er aus.
Seine Welt steht wieder still und er hat nicht das Gefühl, dass sich sein Magen dazu entschieden hätte, einen Sturm auf hoher See nachzuahmen. Mit den Händen fährt er sich durch seine lockigen Haare, ihm rutscht ein ungewolltes Lachen heraus. Für den Moment scheint die Welt in Ordnung. Als er die Augen öffnet, sieht er wie ihn zwei Kinder voller Neugier anschauen. Beide tragen weder Schuhe noch Socken und als Oberteil nur ein braunes Gewand, was sie wie laufende Mülltüten wirken lässt. Er räuspert sich kurz, winkt ihnen zu, sammelt seinen Einkauf ein und geht zu seiner Tür.
Der Block, in dem er lebt, ist einer aus der letzten Bauphase der Siedlung. Nicht, dass das irgendeinen Unterschied zu den anderen Blöcken macht. Alle sind sie grau und fensterlos. Alle aus Beton mit Türen aus Pressspanplatten. Er fragte sich früher immer, warum sie keine Fenster haben, warum keine Möglichkeit Licht hineinzulassen. Die Antwort war leicht.
Wegen der Stürme. Als die Siedlung errichtet wurde, reagierte die Siedlungsregierung auf dieses Problem unglaublich schnell. Die ersten Stürme kamen auf und sie entschieden sich, dass Fenster zu gefährlich waren. Der Fakt, dass der Großteil der Fenster im Landesinneren verbaut wurden und niemand mehr in der Lage ist, neue Fenster herzustellen, gehört wahrscheinlich auch mit dazu. Wer Licht wolle, der soll entweder am Tag draußen arbeiten oder die Tür offenlassen, zuschließen kann man sie sowieso nicht. Muss man aber auch nicht, da die Siedlungsbeschützer überall sind und im Zweifel einer Straftat sofort eingreifen.
Er legt seine Hand auf die Klinke der Tür und drückt sie nach unten. Sie öffnet sich und er betritt den Block. Seine Augen brauchen einen Moment, um sich an das dunklere Ambiente zu gewöhnen. Hier steht er, in seinem Reich, königliche 25 Quadratmeter groß und drei Meter hoch. Ein Zimmer. Da er und seine Frau keine Kinder haben, steht ihnen auch nicht mehr zur Verfügung.
In der Mitte des Blocks steht ein alter Tisch mit drei Stühlen. Der Lack platzt bereits ab. Auf diesem befindet sich eine braune Tonvase mit Grashalmen darin und ein Holzbrett, auf dem ein Messer liegt. In der rechten Ecke liegen zwei Matratzen auf dem Boden. Aufgewertet wird der Boden durch verstreute Blätter mit kleinen Zeichnungen. Die meisten bilden die Siedlung ab, allesamt wurden sie mit Buntstiften gemalt. An der anderen Seite, also an der linken Wand, befindet sich eine Keramikschüssel auf dem Boden, an dessen Rand farblose Handtücher und Waschlappen hängen. Links neben der Tür liegen verstreut Sachen auf dem Boden; einige von ihm, andere von seiner Frau. Mehr ist innerhalb ihres Klotzes nicht zu finden.
Nichts davon ist ihr Eigentum, alles wurde vor ihrem Einzug eingerichtet. Mit Ausnahme der beiden Matratzen, die erhielten sie als Dank für seine gute Arbeit.
Wenn man sich als besonders wertvolles Mitglied der Siedlung herausstellt, kann man damit rechnen, dass die Siedlungsregierung einem mit einigen Annehmlichkeiten belohnt. Zum Beispiel mit einem Regal, Matratzen, Holzkinderspielzeug, zusätzlichem Essen, neuer Kleidung oder Ähnlichem. Erstaunlicherweise bestraft sie einen nicht aktiv dafür, wenn das Gegenteil der Fall ist. Das übernimmt die Bevölkerung für sie. Wer faul ist, zu viel trinkt und einfach entbehrt werden kann, wird schnell einmal von ihr umgebracht. Diese Menschen leisten dann ihren Beitrag, indem sie andere Menschen, Insekten-, Hunde-, Ratten- oder Katzenfarmen ernähren.
Die Siedlungsregierung bringt nur die Bevölkerung um, die systemkritische Handlungen durchführt. Dies dient als öffentliche Abschreckungsmaßnahme, dabei macht sie keinen Halt vor Eltern, Kindern, oder Mitgliedern des eigenen Regierungsorgans. Immerhin ist die Siedlung jeder einzelne Mensch, eine Masse, eine Familie. Und als eben diese duldet sie keine schwarzen Schafe in ihrer Mitte.
Er schiebt mit seinem Fuß einige Kleidungsstücke beiseite, läuft in den Block hinein und setzt sich mit dem Gesicht zur offenen Tür hin. Er überlegt, was er jetzt machen könnte, für heute hat er erst einmal keine Aufträge und bis die beiden am Abend zum Essen erscheinen müssen, zu dem sie eingeladen wurden, vergehen noch ein paar Stunden. So sitzt er da und tippt einige Male mit den Fingern auf die Tischplatte. Dabei pfeift er die Melodie von Auld lang syne.
Er stößt das Messer beiseite und legt seinen erschöpften Kopf ab. Mit geschlossenen Augen lauscht er der Welt außerhalb der kalten 60 Quadratmeter großen Betonschutzmauer um ihn herum.
Lachende Kinder, das Geräusch eines Feuers, zwei Menschen, die schreien und das Stöhnen von anderen Menschen, sind alles, was er hört. Alle haben etwas Profanes zu erledigen, nur er liegt da und lauscht den Tönen ihrer Taten. Seine Gedanken schweifen ab. Er erinnert sich an einen Moment aus seiner Jugend in dem er mit Geldscheinen so tat, als ob er einen ganzen Fächer aus ihnen hat. Die kühle Luft der Scheine, trockneten die Schweißperlen auf seiner Stirn. Er wusste, dass er sich die gesamte Welt damit kaufen kann, dass er der gewiefteste Ganove von allen ist. Oder jedenfalls sein wollte.
Heute gibt es keine allgemeingültige Währung mehr, alles wird über Tauschgeschäfte geregelt, den Preis bestimmen die Händler selbständig. Braucht jemand Schrauben, bekommt er die. Braucht jemand einen Lachs, ertauscht er ihn. Dieses System hat zur Folge, dass die Leute keine Steuern zahlen, die Reichen sich nicht übermäßigen Reichtum anhäufen können, beziehungsweise sie die Siedlungsregierung daran hindert und jeder etwas hat, was andere wollen. Allerdings fußt dieses System auf der sehr knappen Lebensmittellage. Es läuft gut, solange die Menschen tauschen. Wenn sie sich dazu entscheiden, nur noch sich selbst zu versorgen, bricht alles zusammen. Was bei ihrem Drang an der Zivilisation festzuhalten, wohl eher nicht geschehen wird. Die Menschen wissen, dass die Siedlung ihre einzige Überlebenschance ist, dass ihnen keine andere Möglichkeit bleibt als sich den Gesetzen und Sitten zu unterwerfen.
Er ist sich zudem sicher, dass die Siedlungsregierung es nicht zulassen würde, wenn der Frieden oder der Status quo gestört würde.
Während er über all jenes nachdenkt, merkt er, wie er immer mehr abschweift. Die Geräusche der Außenwelt dringen nicht mehr bis zu ihm vor, sie verschwimmen im Rauschen seiner Gedanken.
Das Nächste, was er wahrnimmt, ist eine Hand, die ihm über den Rücken fährt. Warme Lippen drücken sich auf seinen Nacken, die Hand streicht zu seinem Kopf und fährt ihm durch die Haare. Sie spielt mit seinen Locken, schön sanft, mit wenig Druck. Er fühlt, wie die zweite Hand sich neben der ersten positioniert und mit mehr Druck über seine Kopfhaut streicht. Diese Kopfmassage begleitet ihn langsam aus seinem Halbschlaf wieder zurück in die reale Welt. Als sie aufhört, entfernen sich die Hände, mit leisen Schritten.
Langsam hebt er seinen Kopf, öffnet die Augen und schaut direkt hinaus durch die offene Tür, die ersten Züge der Dämmerung haben bereits eingesetzt.
„Wenn man am Tag einschläft, erwacht man entweder ausgeschlafen, oder mit Kopfschmerzen die, die Frage mit sich ziehen, welches Jahr überhaupt ist.“ Das sagte seine Mutter früher einmal zu ihm, als Antwort auf die Frage, weshalb sie nie einen Mittagsschlaf hielt, und stattdessen häkelte.
Er sieht vor dem Block gegenüber seinem eigenen eine junge Frau, die ein Feuer anzuzünden versucht. Offenbar funktioniert es, immerhin erzeugen die beiden Steine, die sie gegeneinanderschlägt, Funken. Es hat seit Wochen nicht mehr geregnet, also ist das Gras in der Feuerstelle, auch trocken genug.
Mit etwas Druck fährt er sich von der Stirn aus über die Augen, wobei er seine schmalen Augenbrauen leicht in die Augäpfel drückt. Die Nasenspitze nach unten zieht und sich den Speichel von seinen Lippen wischt.
Ein Brennen durchzieht seine Augen, als ob er zu lange nicht mehr geblinzelt hätte, und ein Gähnen bahnt sich aus seiner Körpermitte an, um sich mit einem lauten Ton die Freiheit aus seinem Körper zu erkämpfen. Er schmatzt ein paar Mal und leckt sich über seine trockenen Lippen.
Es kommt ihm vor, als würde seine Haut spannen, als wäre sie ausgetrocknet, ein klarer Fall von: Er ist durstig.
Sein Blick wandert durch den Block in Richtung rascheln, er sieht seine Frau auf dem Boden ihre Bilder ordnen. Begrüßen kann er sie gleich noch, er steht erst einmal auf und verlässt den Block. An der rechten Wand seines Heimes steht ein Blecheimer mit Wasser aus dem Brunnen, daneben zwei braune Tontassen, die seine Frau vor einigen Monaten im Siedlungszusammenkunftshaus bekommen hat.
Am Ende jeder Woche darf ein Mensch aus jedem Block dahin gehen und bekommt etwas von dem zugeordnet, was die Siedlungsregierung aus Materialien rund um die Siedlung, hergestellt hat. Man kann zwar Wünsche angeben, was man benötige, zum Beispiel Tassen, oder Kleidung, berücksichtigt werden sie allerdings nur, wenn genügend andere Menschen dasselbe benötigen. Die Regierungshandwerker fangen nicht wegen fünf Exemplaren an Ton sammeln zu lassen. Bei jedem Gegenstand sieht die Grenze anders aus, einige Sachen werden auch eigenständig produziert, wie Holzkohle, zum Ende der Trockenzeit. Die Menschen können sich dann ihre Ration für die Regenzeit abholen.
Was zu viel produziert wurde, wird entweder eingelagert, oder an andere Siedlungen verkauft, die in Gebieten liegen, in denen es deutlich mehr regnet. Er hebt den Eimer an und greift mit der freien Hand die Henkel der Tassen, beides trägt er in den Block. Im Inneren angekommen schüttet er etwas in die Keramikschüssel. Er befüllt sich seine Tasse und trinkt sie mit einem Zug leer. Ein wohltuendes „Ah“ verlässt seine Lippen. Seine Haut nimmt direkt die Flüssigkeit auf und die Kopfschmerzen werden etwas besser, jedenfalls bildet er sich das ein.
Danach stellt er sich zu seiner Frau und revanchiert sich bei ihr mit demselben liebevollen Rückenstreichen.
„Was machst du da?“, fragt er sie, während er unter ihre roten Haare entlangfährt.
„Ich suche dieses eine Bild, die Siedlungsregierung will es bis morgen haben, damit ich weiter zeichnen darf, hast du es zufällig gesehen? Ich meine das mit den Rosen und dem T im Vordergrund.“ Er hockt sich hin und hilft ihr bei der Suche. Auf dem Haufen, vor dem sie kniet sind mehre Zeichnungen der Siedlung und eine des Siedlungsregierungsrates.
Im Vierfüßlergang krabbelt er durch den Block und schaut sich um, unter dem Tisch liegt eine Zeichnung, er greift nach ihr. Es ist die steile Küste abgebildet, eine Welle ist gerade dabei an ihr zu zerschlagen, er legt sie wieder hin. Vorsichtshalber hebt er eine Matratze an, außer Dreck liegt allerdings nichts unter der vergilbten Schlafmöglichkeit.
Rund um die Keramikschüssel und den Eimer, oder den Tassen liegen auch keine Blätter. Er krabbelt erneut einen Kontrollgang durch den Block, aber entdeckt keine weiteren Bilder. Als er wieder bei seiner Frau angekommen ist, will er ihr gerade sagen, dass er nichts gefunden hat, als er ein beiges Blatt Papier aus der Seite ihrer Hose herausschauen sieht. Er greift danach, während er es auseinanderfaltet, setzt er sich in den Schneidersitz und wer hätte es gedacht, das Bild mit den Rosen.
Die Perspektive zeigt die Hinrichtungsstätte von schräg unten, mehrere Holzbalken, die in Form eines T zusammengeschraubt wurden, mit jeweils zwei kleineren Balken in den schrägen, um es zu stabilisieren. An den Rändern hängen zwei Seile herunter, die an ihren Enden zu kleinen Löchern zusammengeknotet wurden durch die, die Verurteilten ihre Hände stecken. Hinter der Hinrichtungsstätte sieht man einige Blöcke, die um den Platz herumstehen und eine Ebene weiter in der Tiefe die Rosen. Sie überragen alles andere, stehen da mit dem strahlenden Rot der Liebe in all ihrer Pracht am Rande des Bildes, keine Dornen, kein Anzeichen von Gefährlichkeit nur die Rosen selbst. Das Symbol der Vollkommenheit. Wenn er raten müsste, würde er behaupten, dass sie dort aus der Erde emporwachsen, wo das Siedlungsregierungsgebäude steht. Es ist klug, dass sie ein schmeichelndes Motiv zum Vorzeigen ausgewählt hat, wobei er weiß, dass sie es auch so meint und nicht nur zum Schein dieses Bild gezeichnet hat, so wie er es vermutlich getan hätte.
„Ich glaube, ich habe es gefunden,“ informiert er sie, während er es weiter begutachtet. Sie schaut hoch und in ihrem jungen Gesicht zeichnet sich die Erleichterung ab.
„Echt? Wo war es?“
„Hinten in deiner Hose.“ Anscheinend hat sie nicht mitbekommen, dass er es herausgezogen hat.
„Danke mein Schatz.“ Sie nimmt es ihm aus der Hand und faltet es, während sie es an denselben Ort zurücksteckt. Ebenfalls auf Händen und Füßen krabbelt sie in seine Richtung.
„Manchmal vergisst man die Dinge, die einem am nächsten sind, der zerstreute Künstlergeist. Denk aber nicht, ich würde dich ...“, sagt sie und macht eine dramatische Kunstpause, um sich auf die Unterlippe zu beißen, „vergessen.“
Als sie bei ihm ankommt, legt sie ihre Hände auf seine Beine, bevor sie ihn küssen kann, entgegnet er: „Noch bist du keine Künstlerin.“ Nach einem kurzen Kuss läuft sie zur Tür, um sie zu schließen. Der Raum wird mit Dunkelheit gefüllt, lediglich ein kleiner Lichtstrahl fällt durch den Boden der Tür. Natürlich kennt sie sich in ihrem Reich, mit Ausnahme ihres Mannes, am besten aus.
Sie nimmt ihn bei der Hand, routiniert gehen sie zu den Matratzen. Als er spürt, dass sie stehenbleibt, dreht er sie zu sich um und hebt ihr Kinn leicht an.
Mit einer Hand streicht er ihr eine kleine Strähne aus ihrem Gesicht. Seine Augen werden sich nie an die komplette Dunkelheit des Blockes gewöhnen, seine Hände erinnern sich dafür umso besser an die typischen Stellen ihres Gesichtes, die von einzelnen Strähnen ihres dichten Haares verdeckt werden.
Er küsst sie und zieht sie dabei fester an sich heran, sie reagiert, indem sie an seinem Rücken hinab fährt und seine beiden Gesäßhälften durch den Hosenstoff hindurch erkundet. Er nimmt es als sportlichen Wettkampf war, und macht es ihr gleich. Jedes Mal wieder ist er erstaunt, wie gut ihr wohlgeformtes Gesäß in seinen Händen liegt.
Sie drückt ihn leicht von sich weg und streicht über den Stoff seines Mantels, bis sie zu seinem Gürtel ankommt, den sie löst. Er fällt klappernd zu Boden. Der nutzlosen Kleidung entledigt, schmiegt sie ihren Körper an seinen. Ihre Lippen berühren seine Brust, während sich der Duft ihrer Haare in seine Nase schleicht. Er hebt ihren Kopf hoch und umschließt ihre Lippen. Sie öffnen das Tor für des Teufels Tango, den sie mit all ihrer Lust und Liebe auf dem nackten Boden bestreiten.
Dennoch halten sie das lustvolle Spiel schlicht. Sie konzentrieren sich auf die Wärme, die, die beiden Körper füreinander ausstrahlen. Heute sind die fleischlichen Hülsen ihrer Seele hungriger als sonst aufeinander.
Er schmeckt sie.
Sie liebt ihn.
Er umgarnt sie.
Sie genießt.
Am Ende liegen beide nebeneinander und streicheln über die Arme des Partners, dem sie einst ihre Treue bis zum Tod geschworen haben.
„Ich glaube, die Sonne geht gleich unter“, bemerkt er. Beide wissen, was das bedeutet.
Er küsst sie noch einmal, bevor er aufsteht, und mit langsamen Schritten zu der Keramikschüssel tappst. Dort wäscht er sich die wichtigsten Stellen, um ausgehtauglich auszusehen. Er öffnet die Tür und lässt die frische Luft um seine Brustwarzen wehen.
Der Sonnenuntergang hat bereits eingesetzt, was für die beiden bedeutet, dass sie losmüssen. Im Kleidungshaufen sucht er für seine Frau neue Klamotten raus und wirft sie ihr zu, für sich selbst sucht er einen Pullover. Als er keinen findet, entscheidet er sich, denselben anzuziehen, den er den gesamten Tag über trug, zusammen mit derselben Hose. Während er sich seinen Pullover anzieht, beobachtet er seine Frau wie sie sich ihre Kleidung überstreift und kann dabei nicht anders, als wie ein frisch pubertierender Junge mit Grinsen anzufangen. Sie bemerkt es und antwortet ihm mit einem provokanten Luftkuss, den er gekonnt fängt und sich auf die Wange klebt.
Beide sind angezogen, was für sie der Startschuss ist, um loszulaufen. Er steht bereits in der Blocktür, sie greift nach einer Plastiktüte mit abgetragenem Motiv und legt das Brot, das Mehl und den Lachs hinein. Er lässt sie vorweg laufen und schließt hinter sich die Tür.
Das abendliche Rot streift über die Dächer der Blöcke, und legt den überdimensionalen Trampelpfad, in einem Farbton, welcher eine gewisse Art von Fruchtbarkeit ausstrahlt.
Sie laufen an ein paar Blöcken entlang und begutachten das schöne Grau und die Detailverliebtheit der unauffälligen Wandmaserung. Ansonsten lässt sich nicht mehr als derselbe Anblick wie jeden Tag entdecken. Im immer gleichen Ablauf fliegt sein Leben nur so dahin, obwohl er sich über diesen Zustand glücklich schätzen sollte. Er hat eine Frau, vielleicht bald ein Kind, Ordnung, Schutz und das alles in diesen Zeiten. Er hat das Glück, unter der Siedlungsregierung zu überleben, manchmal fragt er sich nur, ob es auch Leben ist. Eigentlich schade.
Im Normalfall würden jetzt die Menschen allesamt vor ihren Blöcken sitzen und kochen. Oder sie würden sich treffen, Lebensmittel kombinieren und einen Eintopf für mehrere Familien zubereiten, während die Männer den Selbstgebrannten auf seine Qualität überprüfen, und dabei ihr Augenlicht sowie ihr Leben auf Messers Schneide legen.
Nur heute nicht, sie alle schauen sich die Hinrichtung an. Er nimmt die weiche Künstlerhand, seiner Frau und umschließt sie mit seinen Fingern. Sie antwortet mit der gleichen Handlung und fragt: „Wollen wir einen kleinen Umweg in Richtung Exekutionsplatz unternehmen?"
Sich eine Hinrichtung anschauen und daran zu ergötzen, dass das Leben eines Menschen beendet ist, sein Körper als Mahnmal einige Tage am T hängenbleibt, um danach der Bevölkerung als Nahrung zu dienen?
Er weiß nicht so recht, eigentlich ist es jetzt nicht wirklich das, was er momentan gebrauchen könnte. Er überlegt, während sie einige Schritte weiterlaufen und schaut zu ihr hinab. Das bronzene Licht der Sonne umspielt eine ihrer Gesichtshälften. Die roten Locken ihres langen Haares scheinen Feuer zu fangen, brennen sich direkt in sein Herz.
Der dichte Filzmantel, den sie trägt, der ihr unglaublich gut passt, versinkt mit seinem Marineblau im Licht und bildet eine ruhige See am Abend. Er stellt sich vor wie aus ihrem Mantel kleine Schiffe Richtung Norden zu ihrem Gesicht segeln und auf den kleinen Sommersprosseninseln rund um ihre Nase Reichtümer und Schätze finden. Die anmutigen Vulkane ihrer braunen Augen bieten einen guten Platz, um sie zu entladen. Diese Sommersprossen, diese unglaublich schönen Sommersprossen, die sich um ihre zarte Nase ausbreiten, den kleinen Nasenflügeln schmeicheln, um dann entlang ihrer Wangenknochen die Inselkette zu bilden, könnte er sich stundenlang anschauen.
Er kann es deutlich fühlen, wie eine Eruption ausgehend ihrer feurigen Präsenz trifft es ihn. Er hat sich auf ein Neues in sie verliebt.
„Du bist unglaublich schön und ich liebe Dich mit jeder Faser meines Körpers.“ Gebildet in seiner Mitte, fließen die Wörter aus seinem Mund, noch bevor der Kopf überhaupt begreifen konnte.
„Das habe ich vorhin gemerkt, du kleiner Charmeur, nur leider beantwortet das nicht meine Frage.“ Mit einem Lächeln hebt sie die Hand, die seine umschließt, um seine, mit Hornhaut Überzogene, zu küssen.
„Ja, wenn du willst, können wir zum Exekutionsplatz gehen.“
So laufen sie los. Umso näher sie dem Exekutionsplatz kommen, umso mehr Menschen laufen ihnen entgegen. Anscheinend haben sie bereits den spannenden Teil verpasst, er trauert nicht wirklich darüber. Worüber er eher trauert, ist, dass wenige der Menschen einen Bogen um seine Frau machen.
Ein kleiner Junge, ungefähr fünf Jahre alt, mit einer alten Stoffmütze, die seine Ohren bedeckt und fingerlosen Handschuhen zupft an der Jacke seines Vaters. Mit großen Augen schaut er ihn an, fragt wissbegierig: „Papa, Papa. Warum hat der dicke Mann die Frau dort hängen lassen?“
Sein Vater schaut herunter und spricht mit ruhigen Worten, die einen Hauch Härte in sich tragen, „Wir können froh sein, dass die Siedlungsregierung uns Schutz und eine Zivilisation bietet, dieses Weibsstück hat das nicht zu schätzen gewusst und war das Leben nicht wert. Falls sie irgendwelche Freunde in der Siedlung hat, können sie jetzt lernen, was ihre Taten bedeuten und sich sinnvoll eingliedern.“
Während er das erklärt, laufen die beiden an ihnen vorbei und verschwinden hinter ihren Rücken. Er ist sich sicher, dass nach seiner Erklärung noch mehr folgte, was der Vater an Lebensweisheiten seinem jungen Spross auf den Weg geben will, und er zum Glück nicht mehr hören kann.
Die Sonne, die immer tiefer am Himmel steht und die Schatten der Blöcke in langgezogene Quader verwandelt, scheint beiden in ihren Rücken. Alle Menschen, die ihnen entgegenkommen erhaschen dadurch die letzten Strahlen des Tageslichtes, während sie sich darüber unterhalten, wie sehr die junge Dame es doch verdient hatte oder wie froh sie sind in dieser Zeit so strukturiert leben zu können. Nach jeder Hinrichtung ist es doch immer das Gleiche.
Die Blöcke an ihren Seiten werden weniger und langsam breitet sich der Gehweg aus, ein paar Meter weiter erreichen sie dann den Exekutionsplatz.
Mit ungefähr 20 mal 20 Metern ist er nicht sonderlich groß, an seinen Grenzen ist eine feine Linie in den Sand gezogen.
Genau im Zentrum steht das T, neben ihm eine Holzkonstruktion, welches den kleinen Bruder eines Rednerpultes darstellen soll.
Auf den Knien mit beiden Händen innerhalb der Seilschlaufen hängt eine Frau am T, ihr Kopf liegt auf ihrem Brustbein, die Haare sind abrasiert.
Ihr Oberkörper ist nackt, es gibt sich alles der Schwerkraft hin, selbst das Blut auf diesem. Innerhalb der nächsten Dutzend Stunden wird ihre Haut blass und die Lippen blau werden. Ihre Adern werden hervortreten und sich wie kleine Würmer um ihren Körper winden.
In dieser letzten Metamorphose wird ihr Körper einen Wandel durchlaufen, der, sobald er vollendet ist, zeigt, wie sehr sich das leblose seelenlose Fleisch nach der Erde sehnt.
Seine Frau nimmt diesen Anblick als gegeben hin, es ist zur Gewohnheit geworden, dass es zu Hinrichtungen kommt. Ob es viele sind, muss jeder für sich selbst entscheiden. Er schätzt die Zahl im Jahr auf ungefähr neun.
Würden ihre Handgelenke nicht so fest in den Schlaufen hängen, würde der gesamte Körper auf den Boden fallen. Erst jetzt fällt ihm auf, wie wund geschoren sie eigentlich sind. Anscheinend hat sie sich kräftig gewehrt. Gegen den Informationszureicher, der innerhalb der Siedlung auch gleichzeitig als Urteilsvollstrecker fungiert, kam sie dennoch nicht an. Die Frau schien in ihren letzten Atemzügen große Angst gehabt zu haben, denn ihre grüne Stoffhose weist einen noch nicht komplett getrockneten Urinfleck auf. Das wenige Fett an ihrem Körper, entblößt unter ihrer Haut die einzelnen Rippen.
„Kanntest du sie?“ Mit diesen Worten reißt ihn seine Frau aus seiner Beobachtung. Er denkt nach, kennt er sie? Hat er bereits einmal für sie, oder ihre Familie, falls sie eine hat, gearbeitet?
Nach einigen Sekunden bleibt ihm nichts anderes übrig als den Kopf zu schütteln. Auf ihrem Brustkorb wurde eine Fünf hineingeschnitten. Er hofft, dass sie das Siedlungseigentum als Akt der Rebellion zerstört hat. Wenn sie einfach nur etwas zerstörte, weil sie zuvor Streit, oder zu viel Alkohol im Blut hatte, hätte sie damit ihr Leben weggeschmissen. Ein bisschen Mitleid hat er schon.
Die Sonne hielt es für angebracht, das cineastische Bild zu verfeinern, in dem sie ihren Weg fortsetzt und gekonnt den Großteil ihres Lichtes hinter den Blöcken verschwinden lässt, mit Ausnahme der Strahlen, die ihre kurzgeschorenen Haare erreichen.
Er hat sich sattgesehen an der blutverschmierten Leiche und bittet seine Frau darum, weiterzulaufen. Immerhin wollen sie nicht zu spät kommen.
Nach ein paar Minuten erreichen sie das westliche Viertel der Siedlung, weg vom Hafen in der Nähe eines dichten Waldes. Hier arbeitet er am liebsten, weniger Möwen, kein übler Geruch und an guten Tagen auch kein Nebel.
Die meisten Menschen haben bereits angefangen, ihr Essen zuzubereiten. Ein Vorgang wie er überall in der Siedlung und sicherlich auch auf der Welt synchron abläuft.
Das Hauptnahrungsmittel ist Eintopf. Pilze, Kartoffeln, Fleisch und das alles mit Wasser vermengt reicht, um die Menschen für einige Tage vor dem Hungertod zu bewahren. Dazu das Brot, welches jeder erhält und niemand kann sich beschweren. Ob sie es gerne würden?
Er glaubt nicht mehr daran, sie haben sich damit abgefunden, warum ein System ändern, das funktioniert? Ob sie die Ironie darin erkennen, ob sie dieselben Gedanken wie er haben, wenn er abends in sein trockenes Brot beißt?
Als die Siedlung damals errichtet wurde, war der Wald dichter und die Siedlungsregierung entschied sich dazu, einige Bäume zu fällen, um genügend Platz für die Blöcke zu schaffen.
Einige Nadelbäume wurden damals stehen gelassen und zieren jetzt das Westviertel. Womit es einen Kontrast zu dem Rest der Siedlung darstellt.
Sie kommen an einem Baumstumpf vorbei. Eigentlich ist er nicht weiter besonders, bis auf den Fakt, dass, als es vor zwei oder drei Wochen stürmte, der Baum umgerissen wurde. Das Holz verwendete dann die Siedlungsregierung, um neue Waren herzustellen. Für jeden Block gab es damals, eine Woche später im Siedlungszusammenkunftshaus ein neues Set an Holzbesteck. Ein Messer, eine Gabel und einen Löffel.
Die restlichen Meter unterhielten seine Frau und er sich darüber, was die junge Frau wohl für Siedlungseigentum zerstörte. Ob die Hinrichtungen die richtigen Methoden seien und wie zufrieden beide mit ihrer derzeitigen Arbeit sind.
Wenn sich das Gespräch in Richtung junge halbnackte Dame entwickelte, stellte er die kritischen Fragen, während seine Frau stets auf der Seite der Siedlungsregierung blieb. Sie erklärt ihm, in ihrer offenen Art, dass es wichtig sei, dass Menschen, wie die junge Frau bestraft werden. Dass die Menschheit nach wie vor am Abgrund stehe und nur überleben könne, wenn sich alle an das System hielten. Menschen wie sie würden laut ihrer Meinung die Sicherheit aller anderen gefährden. Laut seiner Frau hatte die junge Dame die Möglichkeit gehabt, sich ordentlich zu integrieren. Sie wurde von der Siedlungsregierung ebenso geliebt, wie alle anderen, erhielt ihr Brot und alles, was sie zum Leben brauchte sowie eine Gesellschaft voller Menschen, die sie unterstützen. Jedes Mal, wenn sie mit diesen Themen anfängt, beginnt er auf ein Neues ihre Punkte zu verstehen, sich ihre Sichtweise auf ein Neues anzueignen, obwohl er sie lange Zeit selbst glaubte. Manchmal hofft er, dass sein Dickschädel nachlässt und er es schafft, alle Zweifel, an der Gesellschaft zum Wohle seiner Frau, wegzuschmeißen.
Sie schwärmte während des Gespräches davon, wie groß der Zusammenhalt innerhalb der Siedlung ist, dass kaum Straftaten begangen wurden und so weiter. Irgendwann hörte er ihr nur noch zu und unterließ es, kritische Fragen zu stellen. Er wollte sich seinen Abend nicht durch einen eventuellen Streit versauen.
Der Block, zu dem sie eingeladen wurden und den sie auch endlich erreichen, ist wahrscheinlich einer der speziellsten Blöcke innerhalb ihrer Siedlung.
Vor dem Block brennt ein Feuer. Sorgsam wurde das Brennholz aufgestellt, um möglichst effizient Wärme und Brenndauer zu garantieren. Um das Feuer herum wurden dünne Metallstangen in den Boden gesteckt. Auf ihnen ruht eine Tonplatte.
Das Feuer beleuchtet die vordere Wand des Blockes, die Sonne in ihren letzten Atemzügen die restlichen und er kann voller Stolz seine Arbeit begutachten. Er kann das begutachten, was diesen Block so besonders macht. Er genießt diesen Moment jedes Mal ein bisschen, es kommt nicht oft vor, dass er auf seine Arbeit stolz ist.
Manchmal, an guten Tagen, schafft sein Gehirn es, die Erinnerung neu aufleben zu lassen.
Das Paar, welches ihn damals engagierte, er ein Händler und sie eine Farmerin, wollten eine möglichst effiziente Möglichkeit haben, um Pilze anzubauen. Jahre kümmerten sie sich darum, Ansehen bei der Siedlungsregierung zu gewinnen. In erster Linie schaffte er das, indem er Handel mit Leuten von Übersee betrieb, oft mit Gewürzen, die in den heimischen Wäldern nicht wachsen. Außerdem haben sie immer, wenn ihnen Angeboten wurde, dass sie ihren Block mit mehr Komfort ausstatten könnten, abgelehnt. Daher schlafen beide immer noch auf Pappeunterlagen und lagern ihre Kleidung wie er selbst auf einem Haufen, statt in einem bequemen Holzregal.
Sie sparten sich die dadurch angesammelte Gunst auf und reichten nach 5 Jahren den Antrag ein, ihren Block von außen zu verändern, dazu legten sie für jedes Mitglied des Regierungsrates eine Portion Cajun hinzu. Stolz erzählte der Händler, was in Cajun alles enthalten ist: Pfeffer, Chilischoten, Thymian, Oregano, Nelken und Zimt.
Die Ware war besonders wertvoll, da fast alle Zutaten in der Siedlung pure Raritäten darstellen. Die Aktion hatte natürlich ihre Risiken, hätte es auch nur einem Regierungsratmitglied missfallen, dass sie bestochen werden, hätte das ihren Tod bedeutet.
Zum Glück ging ihr Plan auf, sie erhielten die Genehmigung und engagierten ihn. Sie wollten, dass er ihnen etwas zusammenbaute, dass sie ihre Pilzfarm um ein zwanzig-faches Vergrößern konnten.
Davor haben sie in alten Plastikschalen ihre Pilze gezüchtet, jede Ernte hat 500 Gramm Champignons hervorgebracht, ihr Ziel war es also, 10 Kilogramm pro Ernte herauszuschlagen. Als Lohn baten sie ihm an, seine Frau und ihn einmal im Monat für ein komplettes Jahr mit einem Festessen zu belohnen sowie die Nahrung für fünf Tage des Monats zu stellen. Ein Angebot, welches er auf keinen Fall ablehnen konnte, dass Privatpersonen so prächtig bezahlen, ist selten.
Er überlegte, wie man den Block am besten konfigurieren konnte, machte sich einen Plan und legte ihnen dann diesen vor. Sie waren schnell von der Idee überzeugt und schlossen den Handel ab. Er macht sich an die Arbeit, drei Wochen dauerte es. Dieser Plan bestand daraus, an alle Wände des Blockes ein Gitterspalier zu bauen. Früher schlängelten sich an eben jenen Efeu entlang, diese Erinnerung nahm er und nutzte sie als Inspiration; er baute einige Horizontalfarmen an das Spalier und füllte sie mit Erde. Auf diese Art konnte das Pärchen auf kleinstem Platz über 10 Kilo Pilze anbauen.
Ein Jahr ist dieser Prozess, schon her und heute sind sie beide zum letzten Abendessen eingeladen, damit gilt das Geschäft als offiziell beendet.
Mit beiden Händen in der Hüfte steht er vor der Farm und bewundert sie.
„Du bist ein alter Angeber!“
Offenbar ist er mit seinem Meisterwerk, in solch hohem Maße zufrieden und in Gedanken versunken, dass seine Frau es für nötig hält ihn aus dieser Welt mit einem Kneifer in sein Gesäß zu befreien.
Das Feuer brennt weiter ruhig vor sich her, allerdings ist das Pärchen nicht anzutreffen. Er klopft an die Tür, welche rasch von einem 1,75 Meter großen Mann mit Halbglatze und Dreitagebart geöffnet wird.
Der Pullover und der Mantel, den der Mann trägt, besitzen kein einziges Loch. Sie spannen sich stattdessen über seinen überdimensional großen Bauch.
„Guten Abend meine Freunde, wollt ihr etwas trinken? Ich wollte gerade noch einmal los und Selbstgebrannten für uns besorgen.“ Während er redet, reichen sich beide Männer die Hand.
Amüsiert davon, wie während des Sprechens seine Wangen vibrieren, bedankt er sich für das Angebot.
„Alkohol wäre eine gute Idee.“
„Geht schon einmal rein, ich bin gleich wieder da!“ Verabschiedet sich der Dicke.
Der Raum, wie er sich vor ihnen erstreckt, gleicht viel mehr einer Wohnung von früher als einem Block. Ein Anblick, der ihn beinahe aus seinen abgenutzten Stiefeln fallen lässt.
Die beiden besitzen tatsächlich ein richtiges Bett, ein Regal, ihre Keramikschüssel steht auf einer Holzkommode, die Klamotten liegen in einem Kleiderschrank, der Raum ist mit Kerzen beleuchtet und die Frau schneidet mit einem neuen Metallmesser das Gemüse.
Das Holz, aus dem die Möbel sind, ist zwar schlecht verarbeitet, die Matratzen sind genauso staubig und vergilbt und die Luft im Block ist durch die Kerzen stickig, aber sie haben all das. Sie leben fast wie in alten Zeiten. Ein Luxus.
Seine Frau greift in ihren Beutel und zieht das Brot sowie den Lachs heraus. Beides legt sie vor die Dame hin.
„Danke, dass wir kommen durften. Ich weiß, dass das Essen eigentlich der Lohn für meinen Mann ist, aber weil das heute unser letztes Festmahl ist, habe ich ihn extra einen Lachs besorgen lassen.“ Wäre sie nicht eingeschritten, hätten sich die beiden Frauen, noch einige Minuten anschauen können, wie er überrascht von all diesem Besitz vor ihnen steht. Mit etwas Glück wäre die eine oder andere Zuchtheuschrecke in seinen Mund gesprungen.
„Oh das wäre doch nicht nötig gewesen“, sagt die Farmerin mit ehrlicher Überraschung, während sie seine Frau umarmt.
„Lasst uns doch nach draußen gehen und langsam das Essen zubereiten, während wir auf meinen Mann warten.“ Aus ihrer Holzkommode holt sie eine große Metallpfanne heraus. Man kann erkennen, dass es ursprünglich einmal eine einfache Metallplatte war, bis jemand sich entschied, sie zu einer Art Wok zurechtzuschlagen. Innerhalb des postmodernen Woks liegt eine riesige Plastikdose. Nachdem die Farmerin den Wok auf dem Feuer platziert und die Dose geöffnet hat, erkennt er in ihr Karotten, Kohl, Mais, Zwiebeln, Fleisch und einen weißen faustgroßen Block.
Von dem Block, der vermutlich aus Hundefett besteht – wobei den beiden auch Schweinefett zuzutrauen wäre – schneidet sie ungefähr ein Viertel ab, um es in den Wok zu schmeißen. Seine ehemalige Auftraggeberin bittet seine Frau darum, einige Pilze zu pflücken, während er das Glück hat, dem Block beim Schmelzen zuzusehen. Freudig springt sie auf und schaut nach den besten und größten, die sie finden kann, um sie direkt danach zu schneiden.
„Wie kommst du eigentlich an Lachs. Ich dachte, die wären alle ausgestorben?“, fragt ihn die Gastgeberin.
„Ich kenne eine Fischverkäuferin und gegen ein paar Schrauben hat sie ihren Mann losgeschickt.“, antwortet er, als wäre es das Normalste auf der Welt. Sie überrascht zu sehen, lässt ihn Genugtuung verspüren. Rache ist süß.
„Mein Vater und ich waren früher viel angeln. Ich dachte, Lachs wäre ein schönes Geschenk“, schließt er seine Erklärung ab. Die Hände hält er an das Feuer, um sie sich etwas zu wärmen.
„Kommst du von hier?“ Fragt ihn die Farmerin.
„Tatsächlich ja, ich habe im Süden in einer größeren Stadt gewohnt.“ Eine Pause kehrt ein.
„Ich bin gespannt, wie das Fleisch aussieht, der Fisch hat nicht mehr viel mit dem gemeinsam, was ich aus meiner Kindheit kenne“, erzählt er weiter.
Sie schaut ihn fragend an, woraufhin er ihr die Unterschiede zwischen diesem Lachs und dem, wie er sie in Erinnerung hat, erklärt. Die Gastgeberin stimmt ihm zu, vieles hat sich an der Tier- und Pflanzenwelt verändert.
Seine Frau kommt mit dem Gemüse zurück, woraufhin ihm die Gastgeberin anbietet, den Fisch zu schneiden. Er nimmt an, geht in den Block und platziert den mickrigen Fisch vor sich, während draußen ein Gespräch zwischen den Frauen startet. Er wurde bereits ausgeweidet und entschuppt, eigentlich bleibt jetzt nur noch das Filetieren des Fisches übrig.
Er setzt schräg an den Kiemen an und schneidet langsam in Richtung Kopf. Am Ende angekommen, trennt er die obere Hälfte vom Kopf.
„Schade, kein rosa Fleisch. Nur mattes Weißes, wirkt fast wie eine Zwiebel. Es wäre auch zu schön gewesen“, jammert er.
Während er seiner Arbeit nachgeht, fällt ihm auf, wie scharf das Messer ist. Die kleinen Würfel des zerschnittenen Fisches schiebt er an seine linke Seite und formt einen Haufen mit ihnen, den er in die, vom Kochfeuer erleuchtete, Finsternis trägt.
Die beiden Damen unterhalten sich über das bevorstehende Gewitter. Er ist froh, dass das heute Vormittag keine Einbildung seinerseits war.
Die Farmerin steht über den Wok gebeugt und rührt mit einem Holzspatel, woher auch immer sie den gezaubert hat, das Gemüse im heißen Fett und Wasser um.
Er zeigt der Hausherrin seine Stückchen und schmeißt sie dann zu den anderen in die Pfanne. Mit in Türrichtung zeigenden Finger sagt er.
„Ich habe euch die Abfälle drin gelassen, vielleicht könnt ihr einem Züchter damit helfen.“ Sie winkt ab und erwidert.
„Ich glaube kaum, dass jemand die Gräten eines Fisches braucht, bitte sei so gut und schmeiß sie hinter dem Haus auf den Kompost.“
„Ihr habt einen Komposthaufen? Also richtig mit Würmern und dieses ganze Zeug?“, fragt er erstaunt.
Sie schaut von ihrer Arbeit hoch und lächelt verlegen, anscheinend wird ihr in diesem Moment der Wohlstand, welchen sie besitzt, bewusst.
„Ja, weißt du, es gibt zu wenig Züchter, die ihre Tiere rein pflanzlich ernähren. Der Kot der meisten Tiere ist nicht geeignet als Dünger und dadurch haben wir uns selbst ausgeholfen, ansonsten könnten wir das Niveau der Farm nicht so weit oben halten. Jeden Pilz, der nicht über den Markt geht, oder unseren eigenen Anforderungen nicht genügt, schmeißen wir auf den Kompost, manchmal bekommen wir auch Abfall der Leute aus unserer Umgebung.“
Verständnisvoll schluckt er den Schock der letzten Sekunden herunter und nickt.
Ein Komposthaufen ist für sich erst einmal natürlich nichts Großartiges. Er muss einfach wie so ziemlich alles, vorher von der Siedlungsregierung abgesegnet werden. Das ist das Erstaunliche dabei.
Er greift nach den Fischresten, trägt sie bis hinter den Block und tatsächlich befindet sich dort ein Komposthaufen.
Drei Meter in der Länge und ihm bis zu der Hüfte reichend. Umspannt wird er von einer grünen Kunststoffplane, die mit Hilfe kleiner Dübel in die Erde geschlagen wurden. Zum Glück haben die Menschen in der Umgebung ebenfalls ihre Feuer angezündet, sonst würde er in der Dunkelheit vermutlich nicht einmal die Hand vor dem Auge sehen.
Er löst zwei der Dübel und schlägt die Plane um, in der kalten Luft wird jeder Geruch sofort fortgetragen. Das untere Viertel des Komposthaufens sieht wie dunkle Erde aus. Der Rest nicht, dafür lebt dort irgendwas, was er bemerkt als er die Fischreste auf den Haufen schmeißt.
Ein kleiner Wurm schaut hinaus.
Anscheinend hatte der Forscher aus dem alten Filmklassiker Jurassic Park recht.
„Das Leben bahnt sich seinen Weg, es erobert neue Territorien, es überwindet sämtliche Barrieren ob schmerzlich oder gefährlich.“ Ein hoffnungsvoller Gedanke. Wenn die Erde es schafft zu überleben und die Natur es schafft, schafft es der Mensch vielleicht auch.
Wie gerne er jetzt einen Film schauen würde, ein riesiges Leinwandspektakel, mit Explosionen und Millionen von Budgetverschwendung.
Als er die Plane wieder befestigt und zu den beiden Damen läuft, hängt er seinen letzten Gedanken weiter hinterher. Er erkennt die Ironie daran, dass es ihn nach Unterhaltung sehnt, wobei er selbst erst vor einer Woche eine Bühne errichtet hat, die in Zukunft Unterhaltung vorbringen wird. Sofern die Siedlungsregierung sich dazu entscheidet ordentliche Schauspieler zu genehmigen.
Als er am Feuer ankommt, hört er die letzte Hälfte eines Satzes seiner Frau: „Als ich dort fertig war, bin ich noch einmal in den Wald gelaufen und habe einige Kräuter für euch gesammelt.“ Sie greift in ihre Plastiktüte und zieht ein Bündel mit Petersilie, Minze und Bärlauch heraus.
Der Gastgeber, der offensichtlich wieder da ist und zwei Flaschen mit einer klaren Flüssigkeit beiseitestellt, bedankt sich überschwänglich. Sie reicht ihm die Kräuter, die er einige Male zerreißt, und dann komplett in den Wok zu der heißen Masse wirft.