Eine kleine Horrorfibel 2 - Judith Poschke - E-Book

Eine kleine Horrorfibel 2 E-Book

Judith Poschke

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Beschreibung

Und der Grusel geht weiter. Erlebt in Band Nummer zwei weitere Horrorkurzgeschichten, die euch den Abend versüßen.

Das E-Book Eine kleine Horrorfibel 2 wird angeboten von BoD - Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Horror,Kurzgeschichte,Grusel,Gänsehaut,kurzweilig

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Seitenzahl: 204

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die Frau in Weiß

Zwischen den Seiten

Urbexer

Kein Zurück

Unleserlich

Sprich es aus

Halloween

Merlin Mohn

Das Unbekannte

Jahrmarkt

Einfach nur ein Monster

Ein Freund

Vorwort

Ich hätte nicht damit gerechnet, dass nach Buch eins auch noch ein zweiter Teil folgt. Der Schreiberling in mir musste etwas ruhen. Das Private rutschte immer wieder dazwischen, man kennt es wohl zu gut. Vor allem, wenn der eigentliche Herzenswunsch ja nun bereits erfüllt ist. Doch da lauerten noch mehr Geschichten in mir, in meinem Kopf. Sie verlangten nach Aufmerksamkeit und wollten aufgeschrieben werden. Und gern gebe ich dem nach. Denn das Schreiben gehört zu mir, ist wie eine Art Therapie geworden, die mir hilft mich zu sortieren und Zeit mit mir selbst zu verbringen.

Doch was wäre das Schreiben ohne gute Inspiration. Ohne ein Fünkchen Wahrheit. Ich bedanke mich sehr bei meinem besten Freund Max für den Austausch von verrückten Ideen und bei meinem lieben Ehemann, der sich so manche Nacht mit mir um die Ohren schlagen musste, wenn mich die Geschichten nicht schlafen lassen wollten. Ohne diese Unterstützung würde mir vieles eindeutig schwerer fallen, wäre manche Geschichte vielleicht etwas harmloser oder würden nie zu Papier gebracht werden. Die Welt des Horrors ist meine Leinwand und dieses Buch ihre Bühne.

Ich wünsche viel Spaß und Gänsehaut beim Lesen neuer Gräueltaten, blutigen Abenteuern und blankem Entsetzen.

Die Frau in Weiß

Shirley legte erneut eine Schicht roten Lippenstift auf. Sie nutzte ihren kleinen Taschenspiegel dafür. Ein Taschenspiegel. Wer besaß noch so etwas? Die Jugend der heutigen Zeit nahm ihr Telefon für solche Zwecke. Knipsten sich selbst dabei für ein oder zwei Selfies, um dann schnell alles bei diesen Socialen Plattformen einzustellen. Ja, Shirley wusste von diesem Social Life. Auch sie nannte ein Handy ihr Eigentum, allerdings ohne Internet, ohne Apps. Wozu das Ganze? Sie brauchte nur eine Nummer, einen Mann. Vincent. Heute würde er kommen, heute würde er mit dem Zug im Bahnhof am Gleis neun einfahren. Um zweiundzwanzig Uhr wäre es soweit. Shirley zupfte ihr weißes Kleid zurecht. Das war sein Wunsch, seine Lady in Weiß, die auf ihn wartet und ihn empfängt. Nie im Leben hätte sie vermutet in ihrem Alter noch einmal die große Liebe zu finden. Ja, Vincent war süße fünfunddreißig Jahre alt und Shirley bereits in den Sechzigern. Aber wo die Liebe hinfällt.

Sie sah sich um. Zwei junge Mädchen standen ein paar Meter entfernt. Sie flüsterten aufgeregt und sahen sich immer wieder nach allen Seiten um. Ab und an entnahm Shirley ein paar Gesprächsfetzen. Es klang nach einer Geistergeschichte. Die beiden hübschen Dinger wirkten verängstigt, aber sie hatten einander. Und das wollte Shirley auch.

Sie wollte nicht mehr allein sein. Shirley wollte jemanden haben, in den letzten goldenen Jahren, mit dem sie noch ein paar schöne Erinnerungen teilen konnte. An einen zweiten Frühling hatte sie gar keinen Gedanken verschwendet. Und doch war es Vincent, der auf ihre Anzeige antwortete. Alte Schule eben, wenn man auf der Straße keinen Mann kennen lernte, dann über eine Annonce in der Zeitung. Zuerst schrieben sie nur Briefe. Ja Briefe, keine Textnachrichten oder E-Mails. Shirley war sofort begeistert. Und dann entdeckten sie auch noch so viele Gemeinsamkeiten. Sie standen auf die gleichen Filme, schwarzweiß und schnulzig. Liebten das gleiche Essen, ein schönes saftiges Steak mit Kräuterbutter und einem Glas Rotwein. Vincent schwärmte von Italien, las gerne Gedichtbände und wollte einfach nur sesshaft werden, mit der richtigen Frau an seiner Seite. Wie oft beschwerte er sich über die zügellosen jungen Dinger, mit viel zu kurzen Röcken, der Aufmerksamkeitsspanne einer Fruchtfliege und der Intelligenz eines Erdnussflips. Shirley war verliebt. Bei jedem Gang zum Briefkasten flogen die Schmetterlinge in ihrem Bauch wie wildgewordene Schwärme im Kreis. Ihre Finger glitten über die wunderschöne und klare, leicht verspielte geschwungene Schrift. Das Herz tat einen Hüpfer, wenn sie die Worte las: „Liebste Shirley“.

Und dann stand da plötzlich seine Telefonnummer. „Ruf an“, las sie ganz unverblümt. Lange zögerte Shirley damit, konnte ihm nicht zurückschreiben. Viel zu groß war die Angst davor, er würde ihre Stimme hören und dann erkennen, dass es eine Zweitverschwendung war sich mit ihr abzugeben. Sie zu alt wäre, zu weit weg. Denn nicht nur die Jahre trennten sie, sondern auch gut achthundert Kilometer. Es vergingen ein paar Tage bis Shirley erneut ein Schreiben von Vincent im Briefkasten fand, in welchem er sich für sein aufdringliches Verhalten entschuldigte und hoffte, sie wäre nun nicht verschreckt und würde sich von ihm abwenden. Und das gab ihr Mut. Er wollte es wirklich. Also griff Shirley zum Telefon und wählte zittrig die aufgeschriebene Nummer. Und dann erklang diese süße Melodie nach zwei Mal läuten am anderen Ende der Leitung.

„Vincent Carlo Denero am Telefon.“

Dieser Name. Diese Stimme. So tief, so sanft. In Shirley regte sich etwas, etwas von dem sie nicht wusste, dass es überhaupt da war. Begierde, Lust. Aber dennoch ließ die Aufregung ihre Stimme erbeben. Zögerlich presste sie ihren Namen heraus. Und Vincent lachte auf. Er freute sich. Sagte ihr wie sehnsüchtig er darauf gewartet hätte, dass sie anrief und er würde sie gar nicht mehr aus seinem Kopf bekommen. Shirley fiel ein Stein vom Herzen. Sie krabbelte in ihren grauen Locken, zwirbelte eine Strähne um ihren Finger und versuchte mit den richtigen Worten ihre Freude auszudrücken. Vincent sprach wie ein Wasserfall. Er erzählte ihr bei ihrem ersten Telefonat, dass er sich heute zur Feier des Tages ein Steak gönnen würde. Vielleicht könnten sie am Telefon zusammen essen. Er wolle ihr unbedingt von seinen Plänen erzählen dieses Jahr Venedig zu besuchen. Shirley fühlte sich glücklich und schnell verflog die Furcht vor dem Unbekannten. Vincent gab ihr das Gefühl als wären sie alte Vertraute. Solche wie sie früher hatte. Schulkameraden, Arbeitskollegen. Shirley kannte diese Freundschaften. Sie wusste auch noch wie es war verliebt zu sein. Doch die Menschen kamen und gingen. Die meisten gingen, sie waren eigentlich alle fort. Und Shirley war das nun egal. Vorbei die Zeit der Einsamkeit. Vorbei die Zeit der Trostlosigkeit. Da war dieser junge Mann, der sich nichts sehnlicher wünschte, als seinen Freitagabend mit ihr und dem Telefon zu verbringen. Shirley stimmte der Telefonverabredung zu. So wie auch allen anderen Verabredungen. Dank dem Handy gingen sie manchmal zusammen einkaufen, begleiteten sich gegenseitig bei Spaziergängen oder saßen zusammen vor dem gleichen Film und schwärmten und diskutierten über die Story und die Darsteller. Dann begann Vincent ihr abends vorzulesen. Gedichte zum Einschlafen. Shirley schwärmte von seiner glockenhaften Stimme und erwischte sich manchmal dabei, wie ihre Hände über ihren Körper glitten, während sie im Bett lag und seinen Reimen lauschte. Besonders eifrig war sie bei schlüpfrigen Gedichten. Manchmal entfuhr ihr ein leises Stöhnen und dann erschrak sie plötzlich und horchte auf, ob Vincent es vernommen hatte. Doch selbst wenn dem so wäre, er sagte nie etwas. Er las einfach weiter. Shirley ertappte sich immer öfter dabei, wie sie sich an pikanten Stellen berührte. Das Prickeln genoss, wenn sie mit ihm sprach und fragte sich, ob es ihm auch so ginge. Doch nie hätte sie ihn gefragt. Nein, es war wieder Vincent, der den Vorstoß wagte und sie einen Nachmittag mit „Shirley, ich fühle mich schmutzig, aber ich träume oft von dir und was wir da tun ist, nun ja, etwas das Freunde nicht unbedingt miteinander unternehmen“ am Telefon begrüßte. Shirley schluckte schwer. Er entschuldigte sich sofort und wollte gerade auflegen, als sie ihn keuchend und nervös davon abhielt, in dem sie ihm zusicherte, dass es ihr auch so oft erging. Sie beließen dieses Gespräch dabei und redeten zwei bis drei Tage nicht miteinander. Zu groß war die Scham. Doch dann rief er wieder an und sagte, er würde es ohne sie nicht aushalten. Ohne ihre Stimme, zu wissen das es ihr gut ginge, ob sie ihn auch vermissen würde. Und Shirley war dankbar. Sie hatte kaum geschlafen, saß so oft am Handy und wollte seine Nummer tippen. Und nun nahm er ihr diese Bürde ab. Beide gestanden sich die Sehnsucht nach der anderen Person. Die Sehnsucht nach Nähe und dann klang Vincent anders als sonst. Er klang verunsichert, ängstlich wie ein Kind.

„Vincent, was ist denn mein Schatz?“

„Sei mir nicht böse“, sagte er langsam. Und dann stöhnte er. „Aber deine Stimme, ich habe dich so sehr gebraucht.“ Sein Atem ging schneller. Das Stöhnen wurde intensiver. „Shirley, bitte sag mir wo deine Hand ist.“

Shirley riss die Augen auf. War das wirklich das, was sie gerade dachte? Wollte er Telefonsex? Panisch sprang sie von ihrem kleinen Hocker auf. „Vincent ich-“

„Ich höre sofort auf, wenn du es willst, aber du sollst wissen, wenn ich gerade bei dir wäre, dann würde ich mich jetzt gegen deinen Körper pressen. Würde mit meiner Hand unter dein Oberteil fassen, deine Brüste kneten, erst sanft, dann fester. Deine Nippel kneifen.“

Shirley entfuhr ein Schrei. Die Ekstase setzte ein. Etwas Warmes kroch ihre Beine hinauf und verharrte in ihrem Intimbereich. Seine Worte hallten in ihr wieder und die Lust stieg in ihr auf. Die Wärme drohte sie zu verbrennen. Sie führte ihre Hand, die freie Hand, unter ihren Rock und begann ihren Schambereich zu massieren. Und dann taten sie es. Sie flüsterten sich Dinge zu, sie atmeten gemeinsam schnell und dann wieder langsam. Shirley begann zu schwitzen, sie legte sich auf ihr Bett, in ihrem dunklen Schlafzimmer. Den Rock weit hoch gerafft, die Bluse leicht geöffnet. Vincent bat sie genau zu beschreiben, was sie gerade tat und Shirley gehorchte. Dann gab er ihr Anweisungen. Seine Stimme wurde fester, fordernder und dann ja dann… Shirley schluchzte laut auf, während Vincent ein lautes Stöhnen von sich gab. War das ein Orgasmus? Shirley fühlte sich befreit und gleichermaßen erschöpft. Sie war vor Vincent nur einmal verliebt gewesen und es gab wenig Sex in ihrem Leben. Die Erinnerungen darin glichen einem schlechten Zahnarztbesuch. Ihr erstes Mal tat einfach nur unglaublich weh. Sie war sechzehn Jahre. Der Junge hieß Freddie und verkaufte ihr im Kino immer die Samstagskarten. Sie taten es in einem kleinen Hinterzimmer, im Stehen. Freddie stocherte kurz und wild in ihr herum, bis er fand wonach er anscheinend gesucht hatte, denn nach einem brennenden Schmerz spürte Shirley nur noch heiße Flüssigkeit und Freddie zog sich schwitzend zurück. Manchmal hatte sie immer noch den muffigen Geruch der Fundsachen in ihrer Nase, die um sie herum lagen. Freddie vermied danach jeden Blickkontakt und ignorierte sie. Dann kam Carl, der damalige Bekannte ihrer besten Freundin Luisa. Sie gingen ein paar Mal miteinander aus, bis er sie in seinem Wagen befummelte. Es geschah auf einem kleinen Waldweg. Carl legte die Rücksitzbank um und presste seinen schweren Körper auf Shirleys zierliche Gestalt. Ohne große Vorbereitung legte er sofort los. Und wieder brannte es. Zuerst hatte Shirley nichts dagegen, denn Carl war nett und sie erhoffte sich ein wenig mehr. Allerdings ging er wie eine Maschine vor und bohrte sich einfach in sie hinein. Er nahm keine Rücksicht auf sie und als er von vorne genug hatte, drehte er sie rabiat um, riss ihren Slip hinunter und rammte ihr sein Genital von hinten hinein. Shirley verspürte nur Schmerz und schrie mehrmals leise auf, doch das schien Carl nur noch mehr zu animieren. Und sie wollte nicht ungehorsam sein. Sie weinte still, schrie leiser, damit es schnell vorbei ging. Dann spürte sie wieder dieser heißen Saft, der an ihrem Oberschenkel hinunter lief und Carl ließ sich auf sie fallen und flüsterte ihr ins Ohr, wie toll es war. Carl traf sich danach noch ein paar Mal mit ihr. Immer ging es nur um ihn und es endete immer mit dem harten Akt von hinten. Manchmal packte er dabei noch eine von Shirleys Brüsten und quetschte diese, damit Shirley noch lauter schrie. Sie war sehr froh darüber, als Carl langsam das Interesse an ihr verlor und sich irgendwann nicht mehr meldete und so gab sie nicht nur einen Mann auf, sondern auch den Sex.

Aber Vincent? Vincent war anders. Er war gefühlvoll, er wusste was sie brauchte, ging auf sie ein und er war nicht einmal hier. Glücklich ging sie duschen und folgte erneut seinen Anweisungen und empfand einen weiteren Glücksmoment unter dem heißen und dampfenden Wasser. Und so vergingen die Tage, vergingen Wochen. Shirley und Vincent verbrachten weitere wundervolle Stunden am Telefon. Nie fiel ein böses Wort. Nie stritten sie sich und dann war es Shirley, die mutig sein wollte. Eines Abends saß sie eingekuschelt auf ihrem Lesesessel, lauschte Vincents unterhaltsamen Erzählungen seines Alltages und platzte plötzlich mit der Frage heraus: „Wollen wir uns nicht einmal treffen?“

Vincent verstummte. Shirley hielt den Atem an. Es waren nur ein paar Sekunden, doch sie fühlten sich wie Stunden an.

„Ich dachte schon du würdest nie fragen“, sagte Vincent und gab ihr den lebenswichtigen Atem zurück, denn Shirley wurde bereits schwindlig. Aufgeregt stöberten beide in ihren Terminkalendern. Vincent sagte sogleich zu, Shirley zu besuchen. Er würde mit dem Zug kommen und wollte gern ein paar Tage bleiben. Vincent versprach ihr sich auf seiner Arbeit wegen Urlaub zu erkundigen. Und wenn es passen sollte, warum dann nicht auch zusammen nach Venedig gehen? Schmiedeten sie hier gerade Zukunftspläne? Um freie Tage musste Shirley sich nicht mehr kümmern, eher das kein wichtiger Arzttermin anstand. Aber der Gedanke daran, mit Vincent nach Italien zu reisen. Shirley brachte die Nacht kein Auge zu. Sie überlegte hin und her. War das wirklich eine gute Idee? Immerhin wussten sie nicht einmal wie der andere aussah. Aber diese Sache schien Vincent ebenfalls zu beschäftigen. Am nächsten Tag bekam Shirley eine Textnachricht mit Anhang. Zögerlich öffnete sie die Datei und kam sofort ins Schwärmen. Auf diesem Bild war ein unglaublich gut aussehender Mann. Durchtrainiert, mit einem weißen Hemd, leicht geöffnet. Eine stramme, nackte Brust schien hindurch und sein Lächeln strahlte ihr entgegen. Er hatte ein Auge zugekniffen und das andere leuchtete ihr rehbraun entgegen. Sein Teint war etwas dunkler, Sonnenstudio vermutete Shirley, aber sie war fasziniert von seinem Anblick. Seine dunklen Haarsträhnen, die ihm verspielt ins Gesicht fielen. Unvorstellbar, dass dieser heiße Adonis tatsächlich mit ihr zusammen sein wollte. Mit der alten vertrockneten Shirley, die keine Freunde hatte, nichts im Leben, dass ihr Freude bereitete. Außer ihn, außer diesem Mann. Shirley nahm ihren ganzen Mut zusammen und fischte ihr schönstes Kleid aus ihrem Schrank. Es war schneeweiß und etwas durchsichtig. Sie band sich ihre Haare zusammen, nein lieber offen. Ach doch zusammen? Ihr Gesicht war schmal und blass. Sie trug etwas Rouge auf und einen rosafarbenen Lippenstift. Aufgeregt knipste sie ein paar Bilder von sich im Schlafzimmer. Es brauchte viele Anläufe bis Shirley zufrieden war. Immer noch sehr nervös, pikte sie eines der Bilder raus und drückte auf senden. Sie wartete, wartete auf eine Antwort. Doch das Telefon schwieg. Shirley knabberte an ihren Fingernägeln. Wein, da hilft nur ein Glas Wein. Sie trank einen großen Schluck Rotwein aus einem bauchigen Glas, dann einen weiteren und plötzlich klingelte das Handy.

„Ist da meine Aphrodite?“, fragte Vincent, doch seine Stimme klang heute traurig. Shirley erkannte das sofort.

„Was ist los?“, antwortete sie Vincent mit eine Gegenfrage.

Vincent berichtete Shirley davon, dass er eine große Dummheit begangen hatte. Leider kam er in der Vergangenheit mit den falschen Leuten zusammen. Er musste sich damals Geld leihen, weil er in Nöten war und diese wollten es nun sofort und bis auf den letzten Cent zurück, plus Zinsen. Sie drohten ihm mit körperlicher Gewalt oder noch schlimmerem, wenn er nicht bis zu einem bestimmten Stichtag zahlen würde. Eine kleine Summe konnte er aufbringen, aber es würde nicht für alles reichen. Somit könne er Shirley erst einmal nicht besuchen und auch die Reise nach Venedig würde ausfallen. Vincent gestand, dass er Shirley mittlerweile sehr liebe und verehre. Er wolle sie nicht ins Unglück stürzen. Also würde er sich heute von ihr verabschieden.

„Aber wenigstens habe ich ja dein Bild. Das kann ich mir nun immer und immer wieder ansehen. Du bist unglaublich schön. Noch schöner, als ich erwartet habe.“

„Wie viel ist es denn?“ Shirley besaß ein Sparbuch. Da sie nie fort ging oder Familie und Freunde hatte, landeten fast ihre ganze Rente und das vorherige Gehalt auf dieses extra Konto.

„Nein meine Liebste, das möchte ich dir nicht sagen. Ich schäme mich so schon in Grund und Boden. Für meine Fehler muss ich alleine einstehen. Ich wollte dir nur Lebewohl sagen.“

„Bitte Vincent, ich möchte dir aber helfen. Ich möchte dich sehen, ich will dass du vorbei kommst. Ich habe mich schon so sehr auf dich gefreut.“ Shirley bekam es mit der Angst zu tun. Sie war doch endlich glücklich gewesen. Wie konnte sie ihn nun einfach so gehen lassen, wenn die Möglichkeit bestand ihm zu helfen. In ihrer derzeitigen Verfassung würde sie einfach alles für ihn geben, nur damit Vincent bei ihr bleiben würde.

„65.000 Euro“, sagte Vincent in einem sehr ernsten Ton. Shirley schluckte schwer. Damit hatte sie nicht gerechnet. „Shirley?“

„Ich bin noch da. Ich, ich muss mit meiner Bank reden“, sagte sie zögerlich und überlegte, wann diese am nächsten Tag öffnen würde.

„Süße, das geht nicht! Das kann ich nicht von dir erwarten. Und ich wüsste gar nicht wie ich dir das zurückzahlen sollte. Ich fühle mich schon unwohl, nur weil wir darüber reden. Es würde ewig dauern, bis du dein Geld wieder hast.“

„Du hast dein ganzes Leben Zeit, Vinc. Und du läufst mir ja nicht weg. Ich mache das gerne für dich. Und die Zugfahrt lege ich auch noch oben drauf, falls du immer noch kommen möchtest.“

„Shirley… Natürlich möchte ich das, ich denke an nichts anderes. Du bist ein wahrer Engel und siehst auch noch so aus wie einer. Du rettest mir mein Leben. Sag mir wann ich die Überweisungsdaten senden kann und dann buche ich die Fahrt.“ Shirley konnte die Erleichterung in Vincents Stimme förmlich greifen.

„Ich leite alles in die Wege“, versicherte sie ihm. „Sei unbesorgt, wir bekommen das zusammen hin.“

Und auf Worte folgten Taten. Shirley rief am nächsten Morgen bei ihrer Bank an und sprach mit ihrem Finanzberater. Dieser war nicht glücklich darüber, dass sie so eine hohe Summe an jemanden überweisen wollte. Ob sie sich sicher wäre und wofür das Geld überhaupt sei. Vielleicht eine Anlage und er könnte sie noch dazu beraten? Doch Shirley schwieg zu diesem Thema. Klar, es klang verrückt. Wer würde schon einem jungen Mann, der so weit weg lebte, mit dem man nicht einmal eine richtige Beziehung führte, so viel Geld überweisen? Aber für Shirley war dieser Mann so viel mehr. Die Antwort auf ein Leben im Glück. Sie vertraute ihm. Sie liebte ihn. Nur darauf kam es an. Vincent antwortete schnell auf ihre Aufforderung, ihr seine Kontodaten zu senden. Aber er fragte auch wegen der Zugreise. Shirley buchte ihm sogar einen Platz in der ersten Klasse. Vincent war so aufgeregt. Noch vor dem Tag seiner Abreise gingen sie alle Details durch. Er müsste nur zwei Mal umsteigen. Seine Sachen waren schon gepackt.

„Ich weiß nicht ob ich dann meine Finger von dir lassen kann. Die Fahrt zu dir wird sehr interessant“, flüsterte er diabolisch in den Hörer.

„Wir könnten uns etwas zu Essen bestellen und bräuchten die Wohnung gar nicht verlassen“, kicherte Shirley. Sie blickte in ihren Kleiderschrank und zog ab und an einen Bügel heraus. „Was soll ich nur anziehen?“, sprach sie eher zu sich selbst, als an Vincent gerichtet.

„Etwas weißes, ein weißes Kleid. Wie ein Engel, der du bist.“

„Ich habe sogar ein weißes!“ Shirley schob ihre Cardigans beiseite und zog das Kleid vom Foto heraus.

„Das durchsichtige? Bitte mach mich nicht verrückt, ich muss noch so lange auf dich warten.“

„Vielleicht lasse ich den BH weg“, gurrte Shirley verschwörerisch.

Vincent stöhnte. „Dann trag auch deine Haare offen. Ich will meine Finger in deinen Locker vergraben.“

Shirley kicherte. Vincents Stimme schlug einen harten Ton an und er befahl ihr sich zu berühren und dabei laut zu sein, während er ihr dabei lustvoll ins Ohr stöhnte. „Ein letztes Mal! Ein letztes Mal, bevor ich morgen deine Haut auf meiner Haut spüren kann. Ich werde dafür sorgen, dass du nicht mehr weißt wo oben und unten ist!“

Shirley lag mit hochroten Wangen und nackt auf ihrem Bett. Sie lächelte süffisant vor sich hin und konnte es kaum erwarten.

„Vermutlich werde ich gar nicht schlafen können.“

„Ich auch nicht Vincent. Ich bin schon so nervös!“

„Das ist süß mein Schatz, aber wir versuchen es trotzdem. Ich schreibe dir morgen, wenn ich im Zug sitze und dann telefonieren wir unterwegs ja? Und du holst mich ab, ich werde dich nicht mehr loslassen, bis ich wieder abreise.“

„Ich werde da sein. Du wirst mich nicht verfehlen.“ Shirley betrachtete ihr weißes Kleid, welches sie zuvor noch über eine Stuhllehne geworfen hatte.

„Wirst du es tragen? Nur für mich?“ Vincents Stimme klang erneut fordernd und verführerisch zu gleich.

„Das werde ich mein Schatz, das werde ich. Soll ich noch etwas-“

Das Gespräch wurde beendet. Shirley blickte verwirrt auf ihr Telefon. Hatte Vincent einfach aufgelegt? Nein, vermutlich war der Empfang weg. Sie saß noch ein wenig auf ihrer Bettkante, eingewickelt in ihrer Tagesdecke und starte auf das kleine Mobilfunktelefon. Jedoch rührte es sich nicht mehr. Egal. Sie würde ihn morgen sehen.

Sie war zu früh, viel zu früh. Aber was, wenn sie in einen Stau geraten wäre. Es war ein wenig kalt. Der Saum ihres weißen Kleides schlängelte sich immer wieder durch den Wind um ihre Beine. Erneut überprüfte sie ihren Lippenstift. Noch einmal nachziehen? Ach lieber erst in zehn Minuten. Aufgeregt blickte sie auf ihr Handy. In zwanzig Minuten sollte der Zug einfahren. Wie sollte sie nur reagieren? Sollte sie ihm in die Arme fallen? Würde er sie überhaupt mit offenen Armen begrüßen? Nervös fuhr Shirley sich durch ihr Haar. Wieder ein Blick auf das Display. Nur noch drei Minuten? Hatte sie nicht eben erst auf die Zeit geschaut? Das musste die Aufregung sein. Vincent hatte sie nicht angerufen. Er schrieb ihr nur, dass er seinen Platz hätte, der Empfang aber viel zu schlecht wäre. Mit ihren zitternden Händen strich Shirley den weißen Stoff an ihrem Bauch glatt. Ein Windhauch erfasste sie, ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Shirley zückte ihren Taschenspiegel. Dieses altmodische Ding. Der rote Lippenstift saß perfekt und trotzdem kramte sie ihn aus ihrer kleinen Klatsch heraus und zog eine weitere Linie nach. Da erblickte sie die Mädchen. Zwei Mädchen, die die Köpfe zusammensteckten und tuschelten. Immer wieder sahen sie sich um und hielten sich bei der Hand. Hätte der Zug nicht bereits eintreffen müssen? Shirley steckte den Spiegel weg und sah wieder auf ihr Telefon. Nein, nein, das konnte nicht sein. Es war aus. Aufgelöst und ein wenig hysterisch drückte Shirley auf den Tasten herum. Der Akku war doch heute Morgen voll gewesen. Wo war hier eine Uhr? Sie musste unbedingt wissen wie spät es gerade war. Die Mädchen hatten doch bestimmt eine oder ebenfalls ein Handy. Langsam schritt sie auf die beiden zu und bemerkte wieder diese, bis ins Mark kriechende Kälte.

„Sie soll auf den Bahnsteig neun gestorben sein. Einfach gesprungen.“

„Jetzt hör doch mal auf damit!“

„Maggie ich schwöre! Sie wird oft gesehen. Eine traurig drein blickende Frau, in einem weißen Kleid, wartend am Steig neun und irgendwann macht sie einfach einen Schritt nach vorn, Richtung Gleise, und ist dann weg.“

„Ich glaube dir kein Wort! Du willst mir nur Angst machen!“

„Wenn ich es dir doch sage. Sie hat sich das Leben genommen. Angeblich hat sie auf ihren Liebsten gewartet. Den ganzen Tag, aber er kam nicht. Da stürzte sie sich aus Verzweiflung auf die Gleise und dann kam ein Zug. Der Typ war wohl ein Betrüger und hatte sie vorher noch um ihr Erspartes gebracht.“

„Carla! Bahnsteig neun ist direkt hinter uns. Ich habe keine weiße Frau gesehen und wenn du nicht gleich aufhörst, dann rede ich nie wieder ein Wort mit dir!“

Shirley blieb stehen. Was für eine traurige Geschichte, dachte sie. Diese arme Frau. Doch sie musste wissen wie spät es war. Behutsam legte sie ihre Hand auf die Schulter des einen Mädchens. „Verzeihung, aber könntet ihr mir sagen wie spät es gerade ist?“

Das Mädchen erschrak bei dem Klang ihrer Stimme und schrie laut auf.

„Maggie was hast du denn?“

„Ich hasse dich Carla, wie kannst du nur so gemein sein!“, schrie die junge Frau und rannte weinend los.

„Warte doch, ich habe gar nichts gemacht“, schrie Maggie und rannte ihrer verängstigten Freundin hinterher.