Eine krasse Bescherung - Elisabeth Doms - E-Book

Eine krasse Bescherung E-Book

Elisabeth Doms

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Beschreibung

»Intergalaktischer Heißluftpupskäfer!«, schimpft Opa Willi, wenn er sich wieder einmal in seinen Erwartungen getäuscht hat. »Schon wieder kommt alles anders, als ich es erwartet habe, und noch weniger, als es mir lieb ist!« Merkwürdig nur, dass Opas Aussage auf mich aktuell voll und ganz zutrifft. Genauer gesagt erlebe ich, Greta-Lotta, stolze zehn Jahre alt und Schülerin der vierten Klasse, ohne jegliche Vorwarnung einige holprige Situationen mit. Diese erstens hautnah, zweitens tagtäglich. Ein Beispiel hierfür ist meine beste Freundin Lilly mitsamt … ähm … meinem besten Feind Theo. Lilly hat sich seit Kurzem in Theo verguckt. Jede Menge Ärger ist vorprogrammiert, und ich habe kein besonderes Verständnis für ihren Irrtum. Als wäre das nicht schon genug, rennt Lillys Kater Ginger unüberlegt über die Straße … Ginger ist wirklich ein echter Glückspilz. Mehr verrate ich aber nicht … Nichtsdestotrotz gebe ich sofort und freiwillig zu … schließlich bin ich keine Spaß-Wegnehmerin … dass in meinem kunterbunten Alltag auch positive Geschehnisse vorkommen. Wobei allerdings, wie gesagt, nicht alles so läuft wie am Schnürchen …

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Für meine Tochter Alisia, die mir wertvolle Anregungen für dieses Buch beschert hat.

Elisabeth Doms

EINE KRASSE BESCHERUNG

Engelsdorfer Verlag Leipzig 2021

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag Leipzig Alle Rechte beim Autor

Covergestaltung Tino Hemmann Umschlagbilder © cirodelia [Adobe Stock]

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU) www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Doppelschnarch und das Topgeheimnis

Kakaomilch für das Gemüt

Glück im Unglück

Danke für alles!

Schnee, Palmen und eine Stachelbeere

Eine harte Entscheidung und ein weiches Herz

Zwei durchgeknallte Wetten

Wenn schon falsch, dann wenigstens richtig

Unvorhergesehene Ereignisse

Eine Pechsträhne kann gleich eine Glückssträhne sein

Versteck mit Schreck

Eine bombastische Idee und eine knifflige Angelegenheit

Geteilte Freude ist doppelte Freude

Ein unperfekter Chilltag

Helden dürfen weinen!

Como estais?

Schwesternzeiten

Mitternächtliche Heimlichkeiten

Immer cool bleiben

Ein Rätsel im Wald

Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen

Ein plötzlicher Blackout

Ein rätselhaftes Geschenk

In heller Aufregung

Und es kommt noch doller …

Auf Überraschungen gefasst sein

Heute satteln wir die Hühner

DOPPELSCHNARCHUND DAS TOPGEHEIMNIS

Unser großer Flieger schwebt mühelos hoch oben am grenzenlosen blauen Himmel, und unter uns ist außer einem unendlichen Wolkenmeer nichts anderes sichtbar … nicht mal ein kleines UFO oder so etwas Ähnliches. Wir fliegen schon seit fünf Stunden, aber ich habe das Gefühl, dass wir uns gar nicht bewegen, denn alles um uns sieht dauernd gleich aus. Nur die Monitore, die an der Decke befestigt sind, zeigen hin und wieder an, wo wir uns gerade befinden … mit neunhundert Kilometern pro Stunde düsen wir auf zwölftausend Meter über den riesigen Atlantischen Ozean. Wir sind unterwegs in ein fernes Land und haben noch den gleich langen Weg vor uns, also wie gehabt noch ungefähr weitere fünf Stunden Flug. Und wir sitzen, sitzen und sitzen weiterhin geduldig, bis irgendwann einmal der Hintern platt wird.

In der Kabine ist es still, abgesehen von den üblichen Geräuschen, die im Flugzeug allgemein hörbar sind. Alle schlafen. Nur die Piloten, die Flugbegleiterinnen und natürlich auch ich sind wach. Ich fühle mich momentan fit und frisch wie ein Turnschuh, und vor lauter Freude könnte ich Purzelbäume schlagen. Doch diese restliche Flugzeit brauche ich gerade, um mein Versprechen zu erfüllen, welches ich meiner besten Freundin Lilly gegeben habe.

Vor zwei Tagen war Weihnachten. Lilly hatte mir ihr Geschenk überreicht, mit dem Wunsch, dass ich all unsere bunt gemischten Geschichten aufs Papier bringen soll … so wie es war, ganz ohne Schmeichelei und Schöntuerei. Das ist allerdings leichter gesagt als getan! Die letzten Wochen verliefen ziemlich chaotisch. Am besten jedoch, so scheint es mir, erzähle ich mal ganz von Anfang an.

Das Telefon meldet sich – schrill tönend, grell und quälend. Ich versuche bewusst diesen schrillen Klang zu überhören, ziehe mir die Decke über den Kopf und warte … und warte immer noch …

„Hör endlich aaauuufff, du Bimmel-Bammel-Blödel! Meine Ohren explodieren gleich und mein Gehirn übrigens auch mit! Nö, ich stehe nicht auf!“, brülle ich das Gerät an, als würde es mich verstehen. „Mamaaaa! Telefooon!“ Ich fühle mich noch sehr müde, drehe mich auf den Bauch und stecke den Kopf unter mein federleichtes Kissen. Nach kurzer Zeit herrscht wieder himmlische Stille. „Na bitte, warum nicht gleich so?“ Wieder friedlich gesinnt, schließe ich die Augen, entspanne meinen noch müden Körper (wovon ich so entkräftet bin, weiß ich allerdings auch nicht) und rufe die Erinnerung an meinem Traum mit seinen schönen, magischen Bildern retour …

Manchmal kann ich mich selbst nicht verstehen!?! Jana, meine ältere Schwester, kann mich ebenso wenig begreifen. Sie sagt, ich sei hochkompliziert!? Aber Lilly weiß ganz genau, wie es mir geht, weil sie sich auch mit solchen lästigen Empfindungen herumschlagen muss. Ich gebe hier nur ein Beispiel von vielen: Mein komischer Schlaf-Wach-Rhythmus ist eine Sache für sich. Dieser verursacht nur Ärger! Vielleicht geht es euch auch so wie mir … Am Abend meine Schlafenszeit einzuhalten, ist für mich und besonders für meine Eltern mit ewigen Diskussionen verbunden. Denn ich bin selten abends müde. Meine blühende Fantasie sprudelt über von unmöglichsten Ideen, mit denen ich ständig versuche, Mama und Papa auszutricksen, nur damit ich nicht schlafen gehen muss. Leider scheitern all meine Bemühungen gleich, nachdem ich sie vorgeführt habe. Meine Eltern sagen, dass die Kinder in meinem Alter mindestens zehn Stunden Schlaf brauchen und auch, dass die Kinder im Schlaf wachsen. Ich bin jetzt zehn Jahre alt. Bedeutet das etwa, wenn ich elf werde, brauche ich auch elf Stunden Schlaf und so weiter? Ungefähr wie Jana-Sofia, meine große Schwester. Sie ist inzwischen fünfundzwanzig Jahre alt und kann rund um die Uhr schlafen, groß ist sie trotzdem nicht geworden.

Es könnte auch so gewesen sein, dass Mama und Papa früher, als sie selbst Kinder waren, genug Zeit fürs Schlafen fanden, allein deshalb, weil sie vielleicht Langeweile hatten!?! Nur hatten sie das? Ich frage sie bei Gelegenheit. Jedenfalls gibt es heutzutage so viele schöne und coole Sachen, dass man gar keine Lust bekommt, nur Däumchen zu drehen und endlos Schäfchen zu zählen. Und wie kann ich, bitte schön, mehr Zeit zum Spielen gewinnen? Im Grunde ganz einfach! Indem ich weniger schlafe! Deswegen lasse ich nicht locker und bohre immer wieder hartnäckig nach. Wenn ich dann mit meinen Ausreden nicht durchkomme, muss ich widerwillig ins Bett gehen. Das einzig Schöne am Zubettgehen besteht darin, dass meine Decke so kuschelweich ist und mein Lieblingsstofftier Eule Ella jeden Abend treu auf mich wartet. Liege ich dann gezwungenermaßen im Bett, fallen mir plötzlich die Augen von allein zu, trotz meines heftigen Widerstands. Und genau das verstehe ich eben nicht … und das ärgert mich gewaltig! Ich frage mich ernsthaft, ob die anderen Kinder in meinem Alter auch das Gleiche durchmachen müssen.

Aber das Verflixte an der ganzen Sache ist, dass ich dann jeden Morgen auch meine nicht in Fahrt kommenden Startschwierigkeiten habe. Mich vom Bett zu trennen, ist immer mit enormer Müh und Not verbunden. Und wiederum fallen mir die etlichen Ausreden ein, um länger mit meinem Kissen und Eule Ella zu kuscheln. Später, nachdem ich sicher dreimal vergeblich Anlauf genommen habe, schaffe ich es endlich aufzustehen und trödele dann weiterhin ewig herum. Total crazy! Aber jetzt wieder zurück zum besagten Störenfried Telefon.

Nachdem das schrill tönende Gebimmel endlich verstummt ist, genieße ich jetzt die wiedererlangte Ruhe und tauche wieder in meine Fantasiewelt ein: „Es ist Sommer – oder genauer gesagt – Sommerferien. Also keine Hausaufgaben! Keine nervigen Mitschüler! Ich jage fröhlich mit meinem knuddeligen Kätzchen den Schmetterlingen in unserem Garten hinterher. Als wir beide – das Kätzchen und ich – vom vielen Springen und Spielen aus der Puste kommen, legen wir uns auf den frisch gemähten Rasen. Ich streichle das weiche, geschmeidige Katzenfell. Die Luft duftet herrlich nach Blumen und Kuchen. Mein Blick ist nach oben gerichtet. Ich beobachte völlig vertieft eine große weiße Wolke am Himmel. Durch ihre Bewegung nimmt die Wolke die Gestalt eines fliegenden Delfins an. Wie schön ist das denn? Ich liiiebe Delfine! Kurz darauf verwandelt sich die Wolke in eine Spinne. Bäh, die mag ich gar nicht! Trotzdem bin ich fasziniert von diesem Wolkentanz. Das Kätzchen liegt wohlig schnurrend neben meinem Kopf und berührt mit den Pfötchen sanft mein Gesicht. Ich spüre, wie meine Augen immer schwerer werden. Die Farben vermischen sich, die Düfte werden zunehmend schwächer, und die Wolke verblasst …

Und dann plötzlich … es klingelt erneut. Mit voller Lautstärke. Fortissimo! Aaahh! In diesem Moment weiß ich, es gibt nichts Fieseres, als von einem lärmenden Telefon geweckt zu werden. Ich erschrecke heftig und schimpfe laut: „Was soll das jetzt? Schon wieder! So ein Stress mitten in der Nacht!“ Ich halte mir die Ohren mit den Händen fest zu und überlege angestrengt, was ich als Nächstes mache: entweder aufstehen oder doch lieber im Bett liegen bleiben. Ich entscheide mich für die bequemere Möglichkeit… liegen zu bleiben.

Pech gehabt! Das unerträgliche Gebimmel hört diesmal nicht mehr auf. Nicht gerade in bester Laune schleudere ich die Bettdecke heftig von mir weg, wobei die gute, alte zerrupfte Eule Ella irritiert mitfliegt … geradewegs über den Nachttisch … und anschließend direkt auf meiner Schultasche landet. Plumps! Weit und breit keine Spur mehr von dem süßen, kuscheligen Kätzchen im Traum … selbst der leckere Kuchenduft ist plötzlich wie fortgeblasen! Mit einer schwungvollen Bewegung drehe ich mich zur Nachttischlampe, schalte das Licht an … und das kann auch nur mir passieren! Dabei rolle ich aus dem warmen Bett und plumpse auf den kalten Boden. Autsch! Das war echt keine weiche Landung! Schnell massiere ich mir meine schmerzenden Stellen am Knie und an der Schulter, schleppe mich durch die noch dunkle Wohnung, denn ich finde in meiner aktuellen Verfassung den Lichtschalter der vollerhellenden Wohnzimmerleuchte nicht! Auf dem lärmerlösenden Weg zum Telefon stolpere ich im Wohnzimmer über einen Gegenstand. „Ups, dies könnte mein Zauberstab gewesen sein, mit dem ich gestern gespielt habe“, bemerke ich völlig entnervt. „Noch mal aua! Tausendmal blöd! Und jetzt friere ich auch noch! Ich bin nun also vollends bedient!“, hadere ich innerlich weiter.

Logischerweise ist es ungemütlich kalt, denn jetzt ist es Winter, genau gesagt Mitte Dezember. Humpelnd erreiche ich endlich die Basisstation des Telefons. Mit einer hastigen Bewegung greife ich nach dem Hörer.

„Hallo, hier ist der Anrufbeantworter von Familie Kunterbunter, Sie rufen außerhalb unserer Gesprächszeiten an. Versuchen Sie es morgen nochmals“, murmle ich verärgert ins Telefon.

„Guten Morgen, Frau Doppelschnarch …“, zwitschert eine Stimme frohgelaunt von der anderen Seite: „… denke bloß nicht daran, wieder ins Bett zu gehen. Falls du noch schlafwandelnd durch die Wohnung wackelst … als aufklärende Info, es ist schon halb sieben, somit Zeit zum Aufstehen! Ich muss dir etwas ganz Besonderes sagen, und es ist sehr wichtig!“, plappert es im Eiltempo am anderen Ende der Telefonleitung. Die Stimme gehört Lilly. Und Lilly ist meine beste Freundin. Sie ist sechs Monate und fünfzehn Tage jünger als ich, einen Kopf kleiner und ansonsten ziemlich das Gegenteil von mir.

„So früh am Morgen und so viele Informationen aufs Mal … das bedeutet nichts Gutes …“, brumme ich verdrossen in den Hörer. Kann ich nicht endlich auch mal meine wohlverdiente Ruhe genießen? „Halb sieben, von wegen! Die Glocken von der Kapelle haben noch gar nicht geläutet!“, fahre ich nun inzwischen mit ein wenig forscherer Stimme fort und gebe ein gereizt genervtes, aber doch reichlich ausgedehntes Gähnen von mir. Gääähn!

„Können wir bitte später reden. Ich bin schwer verletzt und will außerdem meinen supertollen, traumhaften Traum zu Ende träumen. Kannst du so lange mit deinem neuen Universumsgeheimnis warten?“, versuche ich Lilly abzuwimmeln.

Lilly hat öfters irgendwelche Top-secret-Nachrichten. Sie kann solche Wichtigkeiten nicht länger als fünf Minuten für sich behalten und erzählt sie immer sofort überall weiter, sodass letztendlich alle Bescheid wissen, als wäre sie eine Nachrichtenmoderatorin.

Meine bissigen Bemerkungen prallen an Lilly ab. Ihre Stimme ist inzwischen leiser geworden, und sie flüstert fast am Telefon: „Ich bin zu einer Erkenntnis gekommen und kann es kaum noch aushalten, sie dir mitzuteilen. Du bist schließlich meine beste Freundin for ever, und natürlich erfährst du das Geheimnis als Erste.“

„Wie gütig, dass ich das als Erstes wissen darf“, wiederhole ich daraufhin nicht sonderlich erfreut.

„Vorher versprichst du mir aber hoch und heilig, niemandem davon zu erzählen“, ergreift Lilly sofort wieder das Wort.

„Ja doch, ich schweige in allen Sprachen, die es gibt“, antworte ich mit gedämpfter Stimme. „Wie du weißt, von mir erfährt niemand etwas, das überlasse ich getrost dir … bestimmt bis heute Abend weiß es sowieso die ganze Welt, worum es geht. Denn du kannst ja eh nie deinen Mund dichthalten!“

„Schweigen ist in allen Sprachen gleich, Grey. Oder gibt es ein spezielles Schweigen auf Englisch oder auf Italienisch oder sonst in irgendeiner anderen Sprache?“, kontert Lilly motzend retour und fährt mit fester Stimme fort. „Ich brauche die Kraft unseres Best-Friends-Power-Spruchs.“ Meinen ironischen Bemerkungen schenkt sie keine Beachtung mehr. Ich spüre sofort, Lilly meint es diesmal wirklich ernst, denn der Best-Friends-Spruch hat für uns beide eine enorme Bedeutung. Wir sprechen ihn nur dann aus, wenn ein Ausnahmezustand herrscht. Die Müdigkeit in meinem Körper löst sich sofort in Luft auf, und ich lege brav los.

„Wir gehen im gleichen Schritt, Seite an Seite, Schulter an Schulter, füreinander, miteinander, for ever!“, reagiere ich wie aus der Pistole geschossen. „Also, mach es nicht so spannend, sag nun schon, was ist los?“

Nach einem kurzen Schweigen flötet Lilly nun mit süßer Honigstimme: „Na gut! Ich weiß nicht, was mit mir los ist … Ich denke oft an einen Jungen aus unserer Klasse. Wenn ich in seiner Nähe bin, holpert mein Herz im Galopp, meine Beine sind weich wie Wackelpudding, und mein Kopf ist leer. Wenn ich mich mit ihm unterhalte, kommt nichts Gescheites aus meinem Mund raus. Was soll ich bloß machen?“

Für ein paar Sekunden herrscht Stille zwischen uns. Denn ich weiß nicht, ob sie jetzt sofort unbedingt von mir eine Antwort braucht oder ob es ihr reicht, wenn ich ihr erstmals nur zuhöre. Aber auch ihre Story überfordert mich gerade … vor allem aus folgenden Gründen:

1. Es ist zu früh am Morgen.

2. Ich verstehe überhaupt nicht, warum sie wegen eines Jungen so viele Nebenwirkungen bekommt.

Und 3. Hey, es ist doch absolut abgespaced, wir reden hier von einem Jungen!

Ich kratze mich am Kopf und brumme nicht besonders fröhlich: „Dein Kopf ist nicht nur leer, sondern seeehr, meeega, giiiga leer. Kein Normalo erzählt am frühen Morgen solche Gruselgeschichten. Übrigens; von meiner großen Schwester Jana-Sophia weiß ich, dass die Verliebten solch merkwürdige Symptome zeigen.“

„Ganz schön doof“, meint Lilly traurig. „Ich habe es mir romantischer vorgestellt. Zum Beispiel, die Gefühle sind so herrlich, dass ich vor lauter Freude und Glück fliegen könnte.“

„Von wegen! Meine Schwester ist auch im siebten Himmel geflogen, und vor ein paar Monaten hat sie eine richtig krachende Bruchlandung erlebt. Sie ist aber damals zwanzig gewesen, und du bist erst zehn Jahre alt. Für mich hört sich das nach der gleichen gefährlichen Krankheit an … Verliebitus Verblödibus. Wer ist denn der Junge überhaupt?“, will ich nun doch gespannt wissen.

„Grey, ich weiß, du magst ihn nicht besonders, eigentlich kannst du ihn überhaupt nicht ausstehen. Nimm es mir nicht übel, aber ich finde es richtig, dass du es von mir erfährst. An Theo denke ich seit gestern Abend.“

„Du denkst an Theo? Seit gestern?“, wiederhole ich wie in Zeitlupe. Ich glaube echt, meine Ohren hören nicht richtig. „Das ist die schlechteste Erkenntnis, die du je gemacht hast. Ja, die ich je von dir gehört habe!“, kreische ich entsetzt.

Lilly ist etwas unsicher und meint zaghaft: „Wenn ich deiner Schwester und manchen Büchern vertrauen kann, dann bin ich nicht krank, sondern eben verliebt.“

„Es ist gehupft wie gesprungen! Bist du von allen guten Geistern verlassen? Ausgerechnet in Theo, diesen Möchte-gern-cool-sein-Volltrottel?“ Ich stottere fast vor Aufregung. „Gestern war bei dir noch alles in Ordnung? Und jetzt!? Und jetzt ist plötzlich bei dir deine Vernunft am bitteren Ende?“

Lilly antwortet brummig: „Ich wusste, dass du dich ärgern würdest. Dennoch könntest du schon etwas netter sein. Du nimmst mich gar nicht ernst.“

„Doch, das tue ich. Nein, das tue ich nicht!“, erwidere ich leicht verwirrt, denn in mir bildet sich plötzlich eine Tsunamiwelle von verschiedenen Gefühlen, die sich durch meinen ganzen Körper ausbreitet. Diese Gefühlswelle überflutet blitzartig meinen Magen, mein Herz, steigt nach oben auf bis zum Hals und zum Kopf. Aber so richtig zuordnen kann ich diese Emotionen allerdings nicht.

„Wie uncool und geschmacklos ist das denn? Ausgerechnet meine beste Freundin hat sich in diesen albernen Theo verguckt“, denke ich völlig verzweifelt und entsetzt … und vor allem habe ich soeben unüberhörbar laut gedacht, darum beschwert sich Lilly sofort:

„Du muss nicht gleich so schreien!“

„Ich schreie nicht, ich denke nur laut! Warum gerade Theo!? Das kannst du doch nicht machen! Er hat nur Flausen im Kopf!“ Meine Stimme fühlt sich fremd an, denn ich krähe wie eine „Hähnin“ und halte dabei den Hörer so nah an meinen Mund, dass die Gefahr besteht, ihn gänzlich zu verschlucken.

„Übertreibe nicht. Ich finde ihn im Vergleich zu den anderen Jungs nett und süß. Ich will ihn doch nicht heiraten. Also rege dich nicht so auf!“, versucht Lilly mich zu beruhigen. Alle Bemühungen ihrerseits sind jedoch vergeblich. Ihr ist klar, wenn ich emotional hochfahre, lasse ich meinen Gefühlen und Gedanken erst mal unüberlegt freien Lauf. Aber jetzt ganz ehrlich! Kein Mensch würde bei so einer selten dämlichen Situation ruhig bleiben. Genau! Ich auch nicht! Meine beste Freundin ist verknallt in meinem besten Feind!?

„Dieser Denkmuffel passt schon mal gar nicht zu dir! Ich habe eine bessere Idee: Du kannst zum Beispiel für deine Katze Ginger mehr Zuneigung entwickeln, das würde ihr bestimmt guttun. Oder du kannst die Mathe neu entdecken, das würde dir auf jeden Fall von Nutzen sein. Wähle weiß nicht was? … Meinetwegen eine Sportart oder ein Hobby, damit du in deiner Freizeit etwas Sinnvolles machst. Du kannst dich von mir aus in einen Außerirdischen verlieben, aber bloß nicht in einen Jungen aus unserer Klasse … und vor allem nicht in Theo!“, entgegne ich völlig aufgebracht.

Wenn ich meinen jetzigen Gefühlszustand mit einer Wetterlage vergleichen könnte, tobt gerade in meinem Inneren ein hochgradiges Sommergewitter, obwohl es tiefster Winter ist! Ich bin mir sicher, ich weiß, wovon ich rede, und das reibe ich Lilly bei Gelegenheit unter die Nase, wenn ich sie später sehe, weil … Lillys Katze Ginger ist in Wahrheit ein niedlicher, verspielter Schmusekater. Sein Fell hat eine leuchtend orangene Farbe. Der Bauch und die Pfoten sind schneeweiß und sooo weich. Wenn Lilly zu Hause ist, richtet Ginger seine Aufmerksamkeit nur auf sie und lässt alle anderen außer Acht. Sogar, wenn sie mal auf dem stillen Örtchen muss, wartet der Kater so lange vor der Tür, bis Lilly fertig ist. Er ist ihr treu wie ein Hund. Ich spiele unheimlich gerne mit ihm, währenddessen zupft Lilly an seinen Ohren und an seinen langen weißen Schnurrhaaren … und zwar so lange, bis der Kater, irritiert von der negativen Aufmerksamkeit, eilig das Weite sucht. Ich sage ihr immer, dass sie besser mit Ginger umgehen soll! Dann ist sie sofort eingeschnappt und antwortet patzig, dass Ginger ihr Haustier sei! Meine Eltern sollen doch auch eine Katze nehmen, wenn ich so gerne Tiere mag. Mama und Papa würden mir natürlich nie freiwillig eine eigene Katze kaufen, und von daher bleibt es wohl ohnehin nur ein Wunschtraum. Aber abgesehen davon, wem Ginger gehört, finde ich es trotzdem nicht in Ordnung, wenn der Kater von Lilly geplagt wird.

Für Mathematik zeigt Lilly sehr wenig Interesse. Einerseits kann ich sie verstehen, denn dieses Fach finde ich auch überflüssig und unnötig. Dennoch müssen wir Mathe lernen! Ich versuche mich wenigstens zu konzentrieren und aufzupassen, was die Klassenlehrerin Frau Petersmann unterrichtet. Lilly hingegen lässt sich immer etwas einfallen, wie man die langweiligen Mathestunden auflockern kann. Einmal hat sie mit ihrem Plüsch-Zebra „Zombina“ gespielt, ein andermal hat sie Bilder gemalt. Meistens träumt sie einfach vor sich hin. Es kam sogar so weit, dass Frau Petersmann schon mit Lillys Mutter Doris darüber gesprochen hat. Das Ergebnis von diesem Gespräch: Lilly geht seit Kurzem zusammen mit mir in die Lernstunde, die am Dienstagnachmittag stattfindet, wo wir zusätzlich Mathe üben können.

Mit dem Sport hat Lilly ebenso nicht viel am Hut. Gemeinsam mit Tamara, unserer zweitbesten Freundin, habe ich ihr angeboten, dass sie einmal pro Woche mit uns zum Mädchenturnen kommt. Sie hat es abgelehnt mit der Begründung, sie sei schlank und rank, und mehr abnehmen sei bei ihr sowieso nicht erlaubt! Man kann es einfach nicht glauben, meine liebste, beste Freundin Lilly hat kein einziges Hobby!?! So etwas mag sie nicht! Dies mag sie nicht, jenes mag sie nicht … sie ist eben ein hoffnungsloser, schwieriger Fall! Deswegen haben wir – Tamara und ich – uns vor ein paar Tagen etwas Spezielles ausgedacht. Aber das wollen wir unserer Freundin Lilly noch nicht verraten … Nun, jetzt mache ich schon mal Schluss mit meinem Frust-Lästern.

„Du redest nur Quatsch mit Soße und Mumpitz mit Schimmelkäse!“, unterbricht Lilly meinen überaus regen Gedankenfluss. Und ja, jetzt ist Lilly auch missgelaunt.

„Äh, was sind denn das für Leckerbissen!? Hast du nachts das Fremdwörterbuch deiner Schwester Bianka unter dein Kopfkissen gelegt?“

„Nö, gerade eingefallen … sagen wir mal: frisch vom Herzen … Wir treffen uns wie immer bei der Kapelle. Ich lege jetzt auf … meine Mama kommt.“ Lilly nutzt clever die kurze Pause zwischen meinen zwei tiefen Atemzügen, in denen ich neue Kräfte tanken wollte, um sie erneut verbal zu überschwemmen. Daraufhin verabschiedet sie sich eilig von mir. Stöhnend lege ich den Hörer auf. Nun fühle ich mich nicht richtig wohl in meiner Haut.

„Lilly hat den Verstand verloren!“, murmle ich entnervt vor mich hin. „Wir wollten doch in den Weihnachtsferien miteinander abmachen, zusammen etwas unternehmen und Spaß haben. Jetzt muss ich mir sicher die meiste Zeit anhören: Theo hier, Theo da, Theo dort, Theo überall … Theo, Theo, Theo und nochmals Theo! Oje, das kann ja heiter werden! Hoffentlich vergisst sie ihn während der Ferien. Denn zwei Wochen sind eine enorm lange Zeit! Ich helfe ihr gerne dabei, sich diesen Angeber aus dem Kopf zu schlagen … schließlich sind Freundinnen dafür da. Ich kann doch nicht tatenlos zusehen, wie sie ihr ganzes Leben wegen Theo ruiniert!“

Mein Kopf ist voll und verwirrt. In meinem Gehirn blinken lauter rote Alarmlichter … das bedeutet: „SOS! Lebensgefahr!“ In gedrückter Stimmung schleppe ich mich wie ein hundert Jahre alter Oldtimer in Richtung Bad, um mich endlich meiner Morgenroutine zu widmen. Die Auseinandersetzung mit meiner Freundin sitzt tief und brennt mir heftig auf der Seele.

KAKAOMILCHFÜR DAS GEMÜT

Im Normalfall verbringe ich morgens viel Zeit im Bad. Die erste Hälfte der Zeit brauche ich, um richtig munter zu werden, und im zweiten Teil bewundere ich mich selbst. Denn ich mag es sehr, vor dem Spiegel zu posieren, zu tanzen und Selbstgespräche zu führen. Dabei singe ich meine Lieblingslieder … lach, lach … währenddessen putze ich natürlich auch meine Zähne! Was dabei herauskommt, ist für meine Eltern ein ohrenbetäubendes Geräuschdurcheinander. Später, nachdem ich meine Klamotten zweimal gewechselt habe, um dann schlussendlich doch wieder meine Lieblingsjeans und das Lieblings-T-Shirt anzuziehen, kämme ich meine schulterlangen blonden Haare und betrachte meine großen braun-grünen Augen ausgiebig. Mama sagt, ich habe sehr schöne Augen, darum prüfe ich jeden Tag, ob das stimmt. Wenn dann die Frisur auch zufriedenstellend sitzt, streife ich mit der Zunge durch die Zähne, so teste ich, ob ein Wackelzahn im Anmarsch ist. Zu guter Letzt schenke ich meinem Spiegelbild noch ein breites Lächeln. Das mit dem Lächeln habe ich von Mama gelernt. Anfangs fand ich es zwar doof, mich anzugrinsen. Mit der Zeit jedoch habe ich mich daran gewöhnt, und jetzt lächle ich mich jeden Morgen im Spiegel an, weil mir das Spaß macht. Danach gehe ich zufrieden mit mir selbst in den Essbereich und trinke das Glas warme Kakaomilch, welches meine Mama bereits vorbereitet hat. Ich liiiebe meine Morgenroutine! Hin und wieder denke ich darüber nach, welche morgendlichen Rituale die anderen Kinder so haben.

Aber heute fällt dies leider aus, denn Traurigkeit und Unbehagen plagen mich! Seufz! Am liebsten würde ich jetzt mit Mama darüber sprechen und mit ihr kuscheln. „Mamaaa!?!“

Komisch! Zu Hause ist es so ungewöhnlich still. Erst jetzt merke ich, dass ich allein bin. Papa geht immer früh aus dem Haus. Aber wo ist denn meine Mama? Sie ist doch sonst immer um diese Zeit daheim und erledigt kleine Haushaltsarbeiten, bevor sie zur Arbeit geht. Ich fühle mich wie ein Häufchen Elend, verlassen von der Welt und mutterseelenallein. Tränen kullern langsam über meine Wangen. Als ich mich genug bemitleidet habe, greife ich zum Telefon und wähle die Handynummer meiner Mama. Es klingelt ewig, aber sie meldet sich nicht. In meinem Kopf rattert es schon: Ist meiner Mutter etwas zugestoßen? Ich spüre eine lähmende Angst in meinen Gliedern und im Brustkorb, die mit Lichtgeschwindigkeit alle anderen Gefühle löscht. In diesem Moment höre ich vor der Wohnungstür Schritte, darauf ein Poltern und Handygeklingel. Die Tür geht auf, und meine Mama tritt in die Wohnung. Entwarnuuuung! Mir fällt in diesem Moment eine Zentnerlast vom Herzen und ich atme erleichtert auf. Kaum hat sich diese Sorge erübrigt, kehrt blitzschnell meine miese Laune wegen Lillys überdimensionalen, katastrophalen, lebensgefährlichen Irrtums namens Theo zurück.

„Brr, sehr kalt ist es draußen.“

Ich stehe wie Piksieben, noch im Pyjama, mitten in der Wohnung und schweige. Mama blickt mich prüfend an:

„Guten Morgen, mein Schatz! Bist du gerade aufgestanden? Ich war schnell beim Bäcker. Magst du ein Käsebrötchen für die Schule mitnehmen?“ Sie stellt den Einkauf ab, zieht ihre olivgrüne Jacke aus und umarmt mich ganz fest.

„Ich habe mir fürchterliche Sorgen gemacht, Mami. Ich wusste nicht, wo du bist. Außerdem habe ich keinen Hunger.“ Meine Stimme klingt weinerlich, mir ist auch jetzt noch nach Weinen zumute. Mama runzelt die Stirn und stellt sich besorgt vor mich. Sehe ich etwa wie ein Spatzenschreck aus? Wahrscheinlich ja, denke ich niedergeschlagen.

„Schatz, lass dich mal anschauen! Dein Gesicht wirkt müde, die Augen leuchten nicht, deine Stimme tönt freudlos … Und habe ich richtig gehört? Du hast keinen Hunger? Mein Kind hat doch sonst immer einen prächtigen Appetit!? Was ist denn vorgefallen?“, versucht sie die Situation aufzuklären.

„Alles bestens!“, antworte ich kurz und trocken, obwohl ich das starke Bedürfnis verspüre, ihr mein Herz auszuschütten. Mama glaubt mir kein Wort. Sie ist so etwas wie Sherlock Holmes, bloß in weiblicher Gestalt. Wenn sie etwas erfahren will, dann erfährt sie es auch.

„Gretchen, ich gehe davon aus, du hast meine Nachricht, die ich dir geschrieben habe, nicht gelesen.“ Mama hebt vom Boden einen gelben Notizzettel auf, der neben dem Esstisch liegt und den ich in meinem Halbschlafhindernislauf durch das dunkle Wohnzimmer völlig übersehen habe. Sie liest laut vor und schaut mich wieder mit ihren braun-grünen Augen an. In all meiner innerlichen Unzufriedenheit stelle ich fest, dass Mama die gleichen Augen hat wie ich. Mit dem Unterschied, dass ihre Augen strahlen und meine nicht! Zudem sind, um Mamas Augen viele kleine Fältchen zu sehen. Vielleicht hat sie viel gelacht im Leben, analysiere ich schnell in Gedanken den möglichen Faktor des Augenfaltenhintergrundes meiner Mutter.

„Was ist los, Grey? Hast du Albträume gehabt?“ Mama umarmt mich wieder und streichelt mir sanft über die Haare.

Oh, das tut sooo unendlich gut!

„Kann man so sagen!“, seufze ich mit zusammengezogenen Augenbrauen.

„Wenn du magst, kannst du mir erzählen, was dich bedrückt.“

„Ach, Mami, du verstehst diese Sachen sowieso nicht. Du bist eine erwachsene Frau, und ich bin ein Kind …“, jammere ich. Wieder habe ich das große Verlangen, Mama alles zu beichten. Dennoch glaube ich im Stillen, dass sie mich nicht ernst nimmt. Ich löse mich aus der Umarmung und setze mich an den Esstisch.

„Also, Liebes, ich mache uns jetzt einen leckeren Seelentröster.“

Kurz darauf kommt Mama mit einem Teller Zwieback, fein getränkt mit heißem Kakao und mit Zucker bestreut. Mmmh … es duftet herrlich nach Geborgenheit und Sicherheit. Diese kleine Speise wirkt bei Traurigkeit und Kummer mindestens genauso gut wie die Hühnersuppe bei Erkältung. Jetzt nimmt Mama neben mir Platz, mustert mich von der Seite und hakt nach: „Ich war auch mal zehn Jahre alt, und diese Zeit habe ich nicht vergessen. Also, um mein Kind verstehen zu können, brauche ich keine besondere Ausbildung. Nun, wo liegt das Problem?“

„Lilly ist schwer krank“, bröckle ich leise hervor.

„Aber gestern war sie doch noch kerngesund!“, entgegnet Mama echt überrascht.

„Seit heute Morgen aber nicht mehr. Ihre Augen sehen schwach, ihr Kopf ist betrübt, und sie redet wirres Zeug!“

„Lilly hat bestimmt die Grippe bekommen, die zurzeit wütet, mit hohem Fieber und Kopfschmerzen“, versucht Mama eine Erklärung zu finden.

„Nein, das ist ja nicht! Noch schlimmer als die allerschlimmste Grippe!“, schnaube ich jetzt wieder völlig aufgebracht Mama an. „Lilly ist verknallt in Theo aus unserer Klasse! Verstehst du!? Ausgerechnet Theeeo! Mein Banknachbar! Mein bester Feind!“ Mama hört mir aufmerksam zu. Das gibt mir Mut. Ich erzähle ihr alles, was mich bedrückt und belastet, in jedem grausamen Detail.

„Mein Schatz, ich kann deine Verzweiflung wohl verstehen“, sagt sie mitfühlend, nachdem ich fertig bin mit meinem empörten, grenzenlosen Entsetzen.

„Theo und du … Ihr seid wie Hund und Katze. Aber weil er nicht nett zu dir ist … was denkst du, dass er darum grundsätzlich zu allen grob ist? Und meinst du, dass deshalb die Freundschaft zwischen deiner besten Freundin und Theo keine Zukunft hat? Ja, stimmt, sie könnte scheitern, und dann würde Lilly sehr traurig sein. Liebes, genau das möchtest du wohl verhindern?“ Ich nicke und stecke mir ein Stück Kakaomilchzwieback in den Mund. Es schmeckt köstlich und ich vertilge restlos alle vier Stück.

Mama denkt kurz nach: „Noch etwas. Hast du womöglich Angst, dass Lilly nicht mehr Zeit für dich haben würde oder, dass sie sogar eure Freundschaft aufgibt? Bist du etwa eifersüchtig?“ Schluck … Erst mal muss ich verlegen heftig husten, bevor ich irgendetwas sagen kann. „Ich!? Wegen Theo!? Wegen dieser Nervensäge … nie im Leben!“, widerspreche ich empört. „Mama, stell dir das mal vor: Er ist vor zwei Tagen wie von Bienen gestochen durch das Klassenzimmer gerannt, hat sich auf den Boden geschmissen, strampelte auf dem Rücken liegend mit Händen und Füßen wie ein Maikäfer und hat in alle Richtungen geschrien: Tatütata, lalülala, ich bin eine Feuerwehrsirene! Das Schlimme dabei war, dass Lilly ihn sogar witzig gefunden hat.“ Zum besseren Verständnis mache ich sofort Lilly nach: „Hahaha, ich werfe mich jetzt dann neben ihn vor lauter Lachen!“, dann sinke ich seufzend in mich zusammen. „Ich fand es aber wirklich mega doof, Mama, das war überhaupt nicht lustig!“

Mama guckt mich an, als wäre ich selbst eine Feuerwehrsirene, allerdings eine von den lahmsten. Im nächsten Moment fängt sie lauthals an zu lachen.

„Hä!? Was soll das!?“ Ich starre sie irritiert an. Mamas Lachen ist so ansteckend, dass ich überhaupt keine Lust mehr habe, mich mit meinem Lilly-Problem rumzuärgern und pruste ebenfalls los.

Hat der Kakaomilchzwieback unbemerkt Lachstaub aufgefangen oder Zauberkräfte entwickelt? Vielleicht. Fakt ist jedenfalls, dass ich mich nun nicht mehr so schlecht fühle. Meine innerliche Welt ist wieder friedlich und lichtvoll. Zum Glück!

„Ach, Mami, Lilly und ich sind so unterschiedlich und gleichzeitig so ähnlich. Ich habe sie sehr gern und will nie auf unsere Freundschaft verzichten.“

Mama schaut mich lieb an und meint: „Weißt du, Liebes, dass Lilly Interesse an Theo hat, bedeutet ja nicht, dass eure Freundschaft gefährdet ist … Ich habe das Gefühl, du zweifelst an ihr!?!“

„Ehrlich gesagt, Mama … ich verstehe Lilly manchmal nicht! Wie zum Beispiel diese absolut doofe rosarote Theo-Geschichte. Sie weiß doch, dass ich ihn wegen seines Benehmens nicht ausstehen kann. Seine Einstellung ist grundsätzlich furzig und machomäßig“, rechtfertige ich mich.

„Sie hat bestimmt ihre guten Gründe, weswegen sie Theo mag. Versuche mal Verständnis für ihre Gefühle zu zeigen und diese einfach zu respektieren. Freunde dürfen auch verschiedene Meinungen und Ansichten haben. Aber auch sie dürfen Fehler machen. Wenn du der Meinung bist, dass Lilly eine falsche Richtung genommen hat, solltest du sie dennoch ihre eigenen Erfahrungen sammeln lassen“, versucht mich Mama zu besänftigen.

„Na toll! Nur ein erleuchteter Mensch kann verstehen, was Lilly an Theo so Besonderes findet. Jetzt muss ich mich aber turbo bereit machen für die Schule. Lilly wartet in zehn Minuten bei der Kapelle auf mich.“

In fliegender Eile putze ich meine Zähne, kämme mir die Haare und ziehe mir was Passendes für die Schule an. Mama steht schon mit meiner Winterjacke vor der Wohnungstür bereit, währenddessen ich in meine Stiefel schlüpfe. Zum Schluss legt sie mir rasch den Schal um den Hals. Ich verabschiede mich, dabei gebe ich Mama ein Küsschen.

„Fahre vorsichtig mit dem Fahrrad! Draußen ist Glatteis!“, ruft sie mir noch hinterher.

„Ja, Mami … hab einen schönen Tag. Ich habe dich lieb!“

„Ich dich auch, mein Schatz!“

Schnell blicke ich noch einmal auf die Wanduhr. Ups, noch dreißig Minuten bis zum Beginn des Unterrichts! Jetzt aber rabito!

GLÜCKIM UNGLÜCK

Ich schiebe das Fahrrad auf dem vereisten Weg nach oben bis zur Hauptstraße. Lilly ist nicht da. Draußen ist es noch dunkel. Nur ab und zu rauschen Autos an mir vorbei. Die meisten Häuser in unserer kleinen Ortschaft sind noch in tiefem Schlaf versunken. Hier und dort brennt ein kleines Licht in der Morgendämmerung. Ich gehe über die Straße und begebe mich in eine bequeme Warteposition. Warten ist immer mit enormer Geduld verbunden und das ist überhaupt nicht mein Ding! Warten ist langweilig und tausendmal blöd.

Mein Blick schweift über unser Mehrfamilienhaus in der Ferne, durch unsere kleine Sackgasse, die über die Bahnlinie zum See führt. Mama, Papa und ich wohnen in einer Gartenwohnung mit herrlicher Aussicht – der türkisfarbene See liegt nicht weit entfernt von unserem Wohngebiet. Im Hintergrund erstrecken sich die hohen Berge, auf denen sogar im Hochsommer noch Schnee liegt.

Vor meinen Füßen liegt eine kleine gefrorene Pfütze. Mit der Schuhspitze versuche ich die vereiste Stelle wegzukratzen und versinke in Erinnerungen an früher …

Ich war damals fünf Jahre alt, als wir hierher, nach Steinwil, in die Schweiz zogen. Davor lebten wir in Mannheim, wo ich geboren bin, zusammen mit Jana-Sophia, meiner großen Schwester. Oma Gita und Opa Willi, die besten Großeltern in unserem Universum, wohnten nicht weit entfernt von uns, und Onkel Georg, Papas Bruder, hatte auch in der Nähe seine Wohnung. Manchmal vermisse ich diese Zeit, als die ganze Familie beisammen war. Doch dann musste sich Jana unbedingt dem Liebeswahnsinn hingeben … ein paar Monate später zog sie von Zuhause aus, um mit ihrem Freund zusammenzuleben. Im gleichen Jahr gingen Oma und Opa in Pension und verließen Mannheim. Sie ließen sich in einem kleinen Dorf nieder, weg von der großen Stadt, zurück zur Natur, zur Ruhe. Onkel Georg, der mehrere Jahre lang zwischen Mannheim und Sidney, der Hauptstadt Australiens, beruflich und privat pendeln musste, orientierte sich endgültig mit seiner australischen Freundin Kathrin in Neuseeland. Ja, und nun leben sie dort. So ging unsere Familie Schlag auf Schlag auseinander. Mama sagt: „Nichts ist von Dauer, außer der Liebe! Sie kennt keine Grenzen und für sie existiert keine Entfernung.“ Mag wohl gut möglich sein, aber ich brauche keine grenzüberschreitende Liebe, sondern eine solche, die ich direkt spüren kann. Habe ich recht oder habe ich Nonplusultra recht? Jedenfalls entschieden sich meine Eltern, nach diesen vielen und für mich sehr traurigen Ereignissen, auch ein neues Leben zu beginnen. Und zwar hier in Steinwil, dem kleinen, abgelegenen Ortsteil des Städtchen Lindenhausen …

„Oooh, so traumhaft schön ist unsere neue Heimat!“, wiederholen dies meine Eltern öfters sichtlich erfreut. Sogar Jana-Sophia hat bei ihrem letzten Besuch zum ersten Mal von der herrlichen Landschaft geschwärmt. Bis dahin hat sie nie eine große Vorliebe für die Natur gezeigt!? Ich sehe das allerdings anders als meine Eltern und Jana. Die Berge hier sind wie alle anderen Berge auch – steil und langweilig. Was soll daran so traumhaft sein!? Okay, der See hier ist wirklich spitzenmäßig. Im Sommer geht dort echt die Post ab. Schade nur, dass der See kein warmes Thermalwasser zu bieten hat, damit wir auch jetzt, in den kalten Wintertagen, planschen können. Für mich wäre nämlich dies mehr als ideal, weil das Schwimmen meine dritte Lieblingsbeschäftigung ist, knapp gefolgt vom Spielen und dem Essen.

Bei den Tätigkeiten, die ich gar nicht mag, steht das Warten an erster Stelle. Papa sagt, dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens ungefähr fünf Jahre allein mit Warten verbringe. Drakonisch! Bei mir würde es aber doppelt so viel sein, weil ich dauernd sooo lange auf meine Freundin warten muss! Wie jetzt gerade. Wo bleibt sie denn bloß? Alle Kinder sind längst zur Schule losgefahren. Ich wette, sie steht immer noch vor dem Spiegel und macht sich für Theo hübsch. Ich lehne das Fahrrad gegen den Weidezaun eines Bauerhofes und reibe mir die Hände. Ganz schön kalt ist es heute Morgen. Vom naheliegenden Viehstall sind die Stimmen der Landwirte und das häufige, kräftige Muhen der Kühe zu hören. Wahrscheinlich sind es Beschwerdeschreie der hungrigen Tiere für die verspätete Fütterung.

Ich setze mich auf die kleine Mauer, welche die Kapelle umringt. Das kleine Kirchlein am Straßenrand ist der Treffpunkt aller Kinder von Steinwil. Da wir hier im Ort keine Schule haben, fahren wir gut drei Kilometer bis nach Lindenhausen, wo sich die Schule befindet. Die beste Verkehrsverbindung ist das Fahrrad. Ein Bus oder gar eine Straßenbahn gibt es in Steinwil nicht. Nur ein Zug fährt jede halbe Stunde an uns vorbei.