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Lassen Sie sich ins romantische London der Regency-Zeit entführen: »Eine Lady hat die Wahl« ist ein charmant erzählter, zauberhafter historischer Liebesroman um eine kluge junge Witwe, zahlreiche Verehrer und die Frage: Will sie für die Liebe ihre Unabhängigkeit aufgeben? Zum ersten Mal in ihrem Leben ist Eliza Balfour frei und unabhängig: Die junge Frau ist seit kurzem Witwe – und Haupterbin des Vermögens von Lord Somerset. Die Ehe mit dem deutlich älteren, distanzierten Mann war Eliza auf Druck ihrer Familie eingegangen. Jetzt zieht die attraktive Lady zahlreiche Verehrer an, die ihr auf den prunkvollen Bällen der Londoner High Society mit ausgesuchtem Charme den Hof machen. Eliza kann nicht leugnen, dass ihr Herz bei dem ein oder anderen Bewerber höher schlägt. Aber ist sie wirklich schon bereit, ihre neu gewonnene Freiheit wieder aufs Spiel zu setzen? »Eine Lady hat die Wahl« ist der 2. Band der Liebesroman-Reihe »Der Lady's Guide« der britischen Autorin Sophie Irwin, die eine perfekte Mischung aus Jane-Austen-Nostalgie und dem Flair der Netflix-Serie »Bridgerton« bietet. In Sophie Irwins erstem historischen Liebesroman, »Wie man sich einen Lord angelt«, wagt sich die schlagfertige Kitty in der Welt der Lords und Ladys, um ihre Schwestern vor dem Armenhaus zu bewahren. Nur die Liebe hat sie bei ihrem klugen Plan nicht berücksichtigt …
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Seitenzahl: 503
Veröffentlichungsjahr: 2023
Sophie Irwin
Roman
Aus dem Englischen von Hannah Brosch und Kristina Koblischke
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Zum ersten Mal in ihrem Leben ist Eliza Balfour frei und unabhängig: Die junge Frau ist seit kurzem Witwe – und Haupterbin des Vermögens von Lord Somerset. Die Ehe mit dem deutlich älteren, distanzierten Mann war Eliza auf Druck ihrer Familie eingegangen.
Jetzt zieht die attraktive Lady zahlreiche Verehrer an, die ihr auf den prunkvollen Bällen der Londoner High Society mit ausgesuchtem Charme den Hof machen. Eliza kann nicht leugnen, dass ihr Herz bei dem ein oder anderen Bewerber höher schlägt. Aber ist sie wirklich schon bereit, ihre neu gewonnene Freiheit wieder aufs Spiel zu setzen?
Widmung
Motto
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
Danksagung
Für Freya(und den Alkohol in unseren Cocktails)
Man hatte sie in ihrer Jugend gezwungen, der Klugheit ihre Neigung zu opfern; sie wurde romanhaft, als sie älter ward; eine natürliche Folge eines unnatürlichen Anfanges.
Überredung, Jane Austen
Also bitte, Eliza, wenigstens eine Träne wirst du doch wohl zustande bringen!«, flüsterte Mrs Balfour ihrer Tochter zu. »Das wird von einer Witwe erwartet!«
Eliza nickte, aber ihre Augen blieben so trocken wie eh und je. Ganz gleich, wie viele Jahre sie damit zugebracht hatte, die folgsame Tochter und pflichtschuldige Ehefrau zu spielen, das Weinen auf Kommando entzog sich ihr noch immer.
»Denk daran, dass uns möglicherweise ein Streit bevorsteht«, zischte Mrs Balfour mit einem bedeutungsvollen Blick durch die Bibliothek dorthin, wo die Verwandtschaft des verstorbenen Earl of Somerset saß. Neun Monate nach der Beisetzung waren sie für die Testamentseröffnung erneut in Harefield Hall zusammengekommen, und den eisigen Blicken nach zu urteilen, die man ihnen zuwarf, schien Mrs Balfour nicht die Einzige zu sein, die sich auf einen Streit vorbereitete.
»Elizas Witwenversorgung wurde im Ehevertrag festgelegt: fünfhundert Pfund pro Jahr«, versicherte Mr Balfour seiner Frau im Flüsterton. »Somerset hat keinen Grund, das anzufechten, es ist nur ein winziger Bruchteil des Nachlasses.«
Bitterkeit lag in seiner Stimme, denn weder er noch Mrs Balfour hatten bisher ihren Frieden mit Elizas grundlegend veränderter Lebenssituation gemacht. Vor zehn Jahren war die Heirat der schüchternen, siebzehnjährigen Miss Eliza Balfour und des strengen Earl of Somerset – der ihr fünfundzwanzig Lebensjahre voraus hatte – die Partie der Saison gewesen, und die Balfours hatten den Lohn der Verbindung vollumfänglich ausgekostet. Innerhalb eines Jahres nach der Hochzeit hatte ihr ältester Sohn eine Erbin geheiratet, ihr Zweitgeborener sich die Führung des Zehnten Infanterie-Regiments gesichert, und Balfour House war bis unter das Dach mit neuem Samtteppich ausgelegt worden.
Aber niemand hatte damit gerechnet, dass der Earl, der in so guter körperlicher Verfassung war, im vergangenen Frühling so rasch von einer Lungenentzündung dahingerafft werden würde. Und nun war Eliza mit siebenundzwanzig Jahren verwitwet, und ohne Kind, das den Titel erben würde, war ihre Stellung weit weniger begehrenswert. Fünfhundert Pfund pro Jahr … man konnte wohl mit deutlich weniger leben, aber was das anging, war Eliza mit ihrem Vater einer Meinung. Zehn Jahre mit einem Mann verheiratet zu sein, der seinen Pferden mehr Zuneigung hatte zuteilwerden lassen als seiner Frau, zehn Jahre der Einsamkeit im kalten, unfreundlichen Harefield Hall, zehn Jahre Sehnsucht nach dem Leben, das sie hätte leben können, wenn nur die Umstände ein bisschen anders gewesen wären … in Anbetracht dessen – in Anbetracht desjenigen – den Eliza hatte aufgeben müssen, erschienen fünfhundert Pfund wie ein Hungerlohn.
»Hätte sie ihm nur einen Sohn geschenkt …«, beklagte Mr Balfour wohl zum fünften Mal.
»Sie hat esversucht!«, fauchte Mrs Balfour.
Eliza biss sich auf die Zunge. Unter dem Tisch drückte ihre Cousine, Miss Margaret Balfour, ihre Hand, und die Uhr schlug halb eins. Seit einer halben Stunde warteten sie jetzt auf den neuen Earl, dessen Anwesenheit erforderlich war, um die Testamentseröffnung zu begehen. Elizas Magen zog sich in nervöser Erwartung zusammen. Sicherlich – sicherlich – würde er bald eintreffen.
»Skandalös«, murmelte Mrs Balfour, ihre Miene noch immer ein friedlich lächelndes Abbild innerer Ruhe. »Erst neun Monate zu spät und jetzt schon wieder. Ist es nicht ein Skandal, Eliza?«
»Ja, Mama«, antwortete Eliza automatisch. Es war immer am einfachsten, zuzustimmen, auch wenn die unerwartete Verspätung in Wahrheit dem alten und nicht dem neuen Earl zuzuschreiben war. Schließlich war er es gewesen, der vertraglich festgelegt hatte, sein Testament möge erst verlesen werden, wenn alle darin genannten Parteien anwesend wären. Da der neue Earl of Somerset – der Neffe von Elizas Ehemann, Captain Courtenay, auf den der Titel aufgrund ihrer Kinderlosigkeit zurückfiel – zum Zeitpunkt des Todes seines Onkels im vergangenen April in Westindien stationiert gewesen und der Seeweg im Jahre ’18 von einer bespiellosen Flaute heimgesucht worden war, war seine verspätete Ankunft verständlich. Quälend, aber verständlich.
Alle, die heute in der Bibliothek zusammengekommen waren, warteten also bereits viele Monate, und die erneute Verspätung forderte ihren Tribut: Die ehrenwerte Mrs Courtenay (Schwägerin des alten Earl und Mutter des neuen) starrte unaufhörlich zur Tür, ihre Tochter Lady Selwyn trommelte ungeduldig mit den Fingern, während Lord Selwyn seine Nerven dadurch zu beruhigen versuchte, dass er den Anwesenden endlose Erzählungen seiner eigenen Überlegenheit aufzwang.
»Und ich habe ihm gesagt: Byron, alter Junge, Ihr müsst das einfach aufschreiben!«
Neben ihm, in der Mitte des Raums, ordnete der Anwalt der Somersets, Mr Walcot, mit einem gezwungenen Lächeln zum hundertsten Mal seine Papiere. Alle waren ungeduldig, aber ganz sicher niemand mehr als Eliza, die spürte, wie ihr Puls mit jedem Ticken der Standuhr in neue, gefährliche Höhen getrieben wurde. Nach zehn Jahren – zehn langen Jahren – würde sie ihn heute wiedersehen. Es erschien ihr unwirklich.
Vielleicht kommt er gar nicht. Ein Leben voller Enttäuschungen hatte sie die Tugend gelehrt, stets das Schlimmste zu erwarten: Vielleicht hatte er sich im Datum geirrt, oder seine Kutsche hatte einen schrecklichen Unfall gehabt, oder er hatte beschlossen, lieber nach Westindien zurückzukehren, als ihr noch einmal ins Gesicht sehen zu müssen. Die Verspätung passte gar nicht zu ihm, er war immer so pünktlich gewesen. Zumindest war der Mann, den Eliza einst gekannt hatte, pünktlich gewesen. Vielleicht hatte er sich verändert.
Endlich, als die Uhr Viertel vor schlug, öffnete sich die Tür.
»Der Right Honourable Earl of Somerset«, verkündete Perkins, der Butler der Familie.
»Meine aufrichtige Entschuldigung für die Verspätung«, sagte der neue Lord Somerset, während er den Raum betrat. »Der Regen hat die Straßen tückisch werden lassen …«
Elizas Reaktion erfolgte unmittelbar. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, sie bekam kaum noch Luft, ihr Magen zog sich zusammen, und sie stand auf, nicht weil es höflich war, sondern weil die Macht des Wiedererkennens, die sie durchströmte, sie dazu zwang. All die Monate, die sie damit zugebracht hatte, sich diesen Moment vorzustellen – und doch fühlte sie sich nicht im Geringsten darauf vorbereitet.
»Oliver, Liebling!« Mrs Courtenay eilte mit strahlenden Augen hinüber zu ihrem Sohn, dicht gefolgt von Lady Selwyn, und Somerset schloss seine Mutter und seine Schwester nacheinander in die Arme. Mrs Balfour schnalzte missfällig mit der Zunge ob dieses Bruchs mit der Etikette – eigentlich hätte es sich gehört, zuerst Eliza zu begrüßen –, aber Eliza schenkte dem keine Beachtung. Im Großen und Ganzen wirkte er unverändert. Er war noch immer sehr groß, sein Haar noch immer hellblond, die Augen hatten dasselbe kühle Grau wie das seiner Familienmitglieder, und er bewegte sich mit dieser Aura der ruhigen Selbstsicherheit, die ihm schon früher zu eigen gewesen war. Aber die zehn Jahre bei der Marine hatten seine Schultern breiter werden lassen, und seine helle Haut war in der Sonne dunkler geworden. Es stand ihm gut. Es stand ihm sehr gut.
Somerset ließ die Hände seiner Schwester los und wandte sich an Eliza. Plötzlich war sie sich der Tatsache bewusst, dass die Jahre an ihr nicht ebenso spurlos vorübergegangen waren. Sie war schon immer der Meinung gewesen, dass ihre zierliche Figur, das braune Haar und die ungewöhnlich großen und dunklen Augen ihr das Aussehen eines erschrockenen Nachttiers verliehen, aber während der letzten Monate der Unsicherheit hatte sie noch mehr an Gewicht verloren und befürchtete plötzlich, in dem schwarzen Ensemble ihrer Witwentracht tatsächlich etwas Rattenhaftes an sich zu haben.
»Lady Somerset«, sagte er und verbeugte sich vor ihr.
Auch seine Stimme war unverändert.
»Mylord«, erwiderte Eliza. Sie spürte, wie ihre Finger zitterten, und schloss sie krampfhaft um den Stoff ihrer Röcke, während sie unsicher in einen Knicks sank und sich wappnete, seinem Blick zu begegnen. Was würde sie in seinen Augen sehen – Zorn vielleicht? Schuldzuweisungen? Sie gestattete sich nicht, auf Wärme zu hoffen. Sie hatte sie nicht verdient. Gleichzeitig erhoben sie sich aus ihrer Verbeugung, und endlich, nach so langer Zeit, sahen sie einander an. Und als sie ihm in die Augen blickte, sah sie … nichts.
»Mein aufrichtiges Beileid für Euren Verlust«, sagte er. Seine Worte waren freundlich, sein Tonfall neutral. Seine Miene konnte allenfalls als höflich beschrieben werden.
»D-danke«, antwortete Eliza. »Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Reise?«
Die Höflichkeiten gingen ihr von der Zunge, ohne nachzudenken, was auch gut war, denn im Moment war sie nicht in der Lage, auch nur einen einzigen Gedanken zu fassen.
»Soweit es möglich war bei dem Wetter, das derzeit herrscht«, erwiderte er. Weder in seiner Stimme noch in seinem Gebaren lag auch nur die Andeutung, er könne Elizas inneren Aufruhr teilen. Tatsächlich wirkte er vollkommen ungerührt, sie zu sehen. Als hätten sie einander nie zuvor getroffen.
Als hätte er damals nicht um ihre Hand angehalten.
»Ja …«, hörte Eliza sich wie aus weiter Ferne sagen. »Der Regen … ist wirklich entsetzlich.«
»Allerdings«, stimmte er ihr mit einem Lächeln zu – aber es war ein Lächeln, das sie nicht erkannte. Höflich. Formell. Aufgesetzt.
»Schön, Euch zu sehen, alter Freund, wahrlich schön.« Selwyn war vorgetreten, und Somerset ergriff dessen ausgestreckte Hand mit einem Lächeln, das plötzlich wieder herzlich war. Er wandte sich von den Balfours ab und trat in den Raum hinein – blinzelnd sah Eliza ihm hinterher.
War es das gewesen? Nach all den Jahren, all der Zeit, in der sich Eliza den Kopf darüber zerbrochen hatte, wo er war und wie es ihm ging, all den Stunden, die sie damit verbracht hatte, jeden Moment ihrer gemeinsamen Zeit in Gedanken zu wiederholen und jedes der Ereignisse zu bedauern, die zusammengewirkt hatten, um sie auseinanderzubringen – war dies hier ihr Wiedersehen? Ein einzelner, kurzer Austausch nichtssagender Höflichkeiten?
Eliza zitterte. Die Januarkälte lag schon den ganzen Morgen über in der Luft – die Anordnung ihres verstorbenen Ehemannes, dass vor Anbruch der Dunkelheit kein Feuer in den Kaminen gemacht werden durfte, hatte ihn überlebt –, aber plötzlich erschien es Eliza wirklich eiskalt. Ein volles Jahrzehnt hatten ganze Ozeane zwischen ihnen gelegen, und doch hatte sie sich Oliver – Somerset – nie ferner gefühlt als in diesem Moment.
»Sollen wir anfangen?«, schlug Selwyn vor. Schon bevor Selwyn die Nichte des verstorbenen Earls geheiratet hatte, waren die beiden Männer enge Freunde gewesen, schließlich grenzten ihre Ländereien aneinander – aus demselben Grund war ihre Freundschaft allerdings mitunter recht temperamentvoll gewesen. Tatsächlich hatte ihre letzte Zusammenkunft vor dem Tod des alten Earls zu einem so lauten Streit geführt, dass der ganze Haushalt Zeuge geworden war – und trotzdem verriet der Eifer in Selwyns Gesicht, dass er heute eindeutig mit einer großen Hinterlassenschaft rechnete.
Mit einem Nicken breitete Mr Walcot seine Unterlagen vor sich aus, und die Balfours, Selwyns und Courtenays sahen jeweils von ihren Seiten des Raums mit wölfischen, gierigen Mienen zu. Die Szene hätte ein dramatisches Gemälde abgegeben. Ölfarben vielleicht, mit viel Rot. Elizas Finger sehnten sich nach einem Pinsel.
»Dies ist der Letzte Wille Julius Edward Courtenays, des zehnten Earl of Somerset …«
Elizas Aufmerksamkeit schwand, als Mr Walcot die zahllosen Hinterlassenschaften aufzulisten begann, die den neuen Earl sehr, sehr reich machen würden. Mrs Courtenay sah aus, als würde sie gleich vor Verzückung in Tränen ausbrechen, Lady Selwyn unterdrückte ein Lächeln, aber Somersets Miene war finster. Überraschte ihn das Ausmaß des Vermögens etwa, überforderte ihn gar? Das sollte es nicht. Trotz der Enthaltsamkeit des verstorbenen Earls war Harefield Hall doch das reinste Zeugnis des Reichtums der Familie: Von den Porzellantassen über die Stühle aus indischem Palisander, die Wände voller Geweihe, Pelze und Jagdtrophäen bis zu den Ölgemälden der Zuckerrohrplantagen, die ihnen einst gehört hatten, stellte Harefield seine Beute stolz zur Schau. Und mit ein paar wenigen kurzen Sätzen gehörte alles diesem neuen Somerset. Er war jetzt einer der reichsten Männer des Landes und einer der heiratswürdigsten darüber hinaus. Von diesem Moment an würde jede alleinstehende Lady in ganz England ihm zu Füßen liegen.
Eliza hingegen … nach dem heutigen Tag könnte sie bis zur Hochzeit des neuen Earls entweder als Hausherrin in Harefield Hall selbst bleiben, ins Dowager House am Rande des Anwesens umziehen oder in ihr Elternhaus zurückkehren. Keine der Aussichten war sonderlich erfreulich. Nach Balfour zurückzuziehen, um unter dem wachsamen Blick ihrer Eltern zu leben, wäre furchtbar, aber hierzubleiben, dem Mann so nahe, der eindeutig nichts für sie empfand, während sie sich ein ganzes Jahrzehnt lang nach ihm verzehrt hatte? Das wäre eine ganz eigene Art der Folter.
»Eliza Eunice Courtenay, Right Honourable Countess of Somerset …«
Nicht einmal die Erwähnung ihres Namens ließ Eliza aufhorchen – doch die Art, wie sich Mr Balfour auf seinem Stuhl zurücklehnte, wie sich sein Schnurrbart entspannte, verriet, dass alles, was Mr Walcot vorlas, mit dem Ehevertrag übereinstimmte. Ihre Zukunft – soweit man davon sprechen konnte – war gesichert. Vor ihrem geistigen Auge erstreckten sich die Jahre, die vor ihr lagen, in endlosem Grau.
»Darüber hinaus hinterlasse ich ihr in Anerkennung ihres Pflichtbewusstseins und ihrer Gehorsamkeit …«
Wie elend, beschrieben zu werden wie ein treuer Jagdhund, aber ihre Mutter merkte sichtlich auf, ein gieriges Leuchten in den Augen. Ganz eindeutig hoffte sie, der alte Lord hätte Eliza etwas Zusätzliches hinterlassen – eines der kostbaren Juwelen aus seiner Sammlung vielleicht.
»…und unter der Bedingung, dass sie dem Namen Somerset keine Schande bereitet …«
Wie typisch von ihm, der fraglos unbedeutenden Hinterlassenschaft, die er als angemessen für sie erachtet hatte, noch eine derartige Sittlichkeitsklausel hinzuzufügen – knauserig bis in den Tod.
»… all meine Anwesen in Chepstow, Chawley und Highbridge zu ihrer persönlichen und alleinigen Verfügung.«
Plötzlich war Eliza hellwach. Was hatte Mr Walcot da gerade gesagt?
Auf einmal wurde es in dem Zimmer, in dem bislang Ruhe und Schweigen geherrscht hatten, sehr laut.
»Würdet Ihr bitte den letzten Punkt noch einmal wiederholen, Walcot? Ich muss mich verhört haben!«, donnerte Selwyn und trat einen Schritt vor.
»Ja, Mr Walcot, ich bin mir sicher, das kann nicht stimmen!«, erklang Mrs Courtenays Stimme schrill und stechend, während sie sich von ihrem Stuhl erhob. Auch Mr Balfour stand auf und streckte die Hand aus, als wollte er einfordern, das Dokument selbst zu lesen.
»Eliza Eunice Courtenay«, wiederholte Mr Walcot gehorsam, »hinterlasse ich in Anerkennung ihres Pflichtbewusstseins und ihrer Gehorsamkeit und unter der Bedingung, dass sie dem Namen Somerset keine Schande bereitet, all meine Anwesen in Chepstow, Chawley und Highbridge zu ihrer persönlichen und alleinigen Verfügung.«
»Lächerlich!« Selwyn wollte nichts davon hören. »Julius wollte diese Ländereien unserem jüngeren Sohn Tarquin hinterlassen.«
»Das hat er mir auch gesagt!«, bestätigte Lady Selwyn. »Er hat es mir versprochen.«
»Lady Somersets Erbteil wurde im Ehevertrag festgelegt, oder nicht?«, fügte Mrs Courtenay hinzu. »Darin war von nichts dergleichen die Rede!«
»Sind nicht alle Ländereien der Somersets an den Titel gebunden?«, fragte Margaret verwirrt, woraufhin Mrs Balfour sie aufgeregt zum Schweigen brachte.
»Wenn dies das Vermächtnis des verstorbenen Earls ist, wenn es in seinem Testament steht, kann doch niemand etwas dagegen einzuwenden haben!«, verkündete Mr Balfour in den Raum hinein.
Elizas Anwesenheit hatten offenbar alle vergessen.
»Die Ländereien in Chepstow, Chawley und Highbridge wurden dem Earl über die mütterliche Linie vererbt, daher konnte er über sie ganz nach seinen Wünschen verfügen.«
»Lächerlich!«, wiederholte Selwyn. »Das kann nicht das korrekte Dokument sein!«
»Ich versichere Euch, das ist es«, erwiderte Mr Walcot.
»Und ich sage Euch, es ist das falsche!«, rief Selwyn erhitzt. Alle vorgetäuschte Herzlichkeit war verschwunden. »Ich habe das Testament gelesen – und darin stand Tarquins Name, ich habe es selbst gesehen!«
»So war es«, bestätigte Mr Walcot. »Aber der verstorbene Earl wies mich noch vierzehn Tage vor seinem Ableben an, genau diesen Eintrag zu ändern.«
Selwyns puterrotes Gesicht wurde blass.
»Euer Streit«, flüsterte Lady Selwyn.
»Wir haben über ein Darlehen diskutiert – es war rein geschäftlich«, keuchte Selwyn. »Er kann doch nicht, er hätte niemals –«
Ach, das also war der Grund des Streits gewesen: Selwyn hatte um ein Darlehen gebeten. Vor einer solchen Narretei hätte Eliza ihn warnen können – tatsächlich musste Selwyn verzweifelt gewesen sein, denn sicherlich hatte er gewusst, dass der unheilbar sparsame und außerordentlich stolze Earl Anfragen an seine Geldbörse für den Gipfel der Dreistigkeit hielt.
»Ich kann Euch versichern, der Earl war, was diese – und alle anderen Angelegenheiten – betraf, sehr deutlich«, sagte Mr Walcot ruhig. »Die Ländereien gehen an Lady Somerset.«
Selwyn trat an Eliza heran.
»Welche Lügen habt Ihr ihm eingeflüstert?«, fauchte er.
»Wie könnt Ihr es wagen –« Mrs Balfour schwoll an vor Entrüstung.
»Selwyn!«, erklang Somersets Stimme, kalt und gebieterisch, und Selwyn trat einen Schritt zurück.
»Ich bitte um Entschuldigung – ich wollte nicht … ein – eine bedauerliche Entgleisung meiner Manieren …«
Lady Selwyn dagegen ließ sich nicht einschüchtern. »Was ist mit der Sittlichkeitsklausel? Hat mein Onkel irgendwelche Angaben gemacht – irgendeine Andeutung, welche Art von Verhalten gemeint ist?«
»Ich sehe nicht, warum das relevant sein könnte«, erwiderte Mrs Balfour, »schließlich ist der Ruf meiner Tochter vollkommen tadellos.«
»Die Tatsache, dass mein Onkel es für angebracht hielt, den Punkt in sein Testament aufzunehmen, macht es äußerst relevant, Mrs Balfour«, entgegnete Lady Selwyn scharf.
»Natürlich wollen wir ihren Ruf nicht infrage stellen«, unterbrach Mrs Courtenay. »Lady Somerset weiß, wie sehr wir sie ins Herz geschlossen haben.«
Das wusste Lady Somerset ganz und gar nicht.
»Der verstorbene Earl hat einzig festgelegt, dass die Interpretation dieser Klausel dem Ermessen des elften Earl of Somerset unterliegt – und niemandem sonst«, sagte Mr Walcot.
Selwyn, Lady Selwyn und Mrs Courtenay öffneten alle die Münder, um zu widersprechen, aber Somerset unterbrach sie.
»Wenn dieses Erbe dem Wunsch meines Onkels entspricht, so habe ich gewiss nichts dagegen einzuwenden«, sagte er mit fester Stimme.
»Natürlich, natürlich.« Selwyn rang sich mit Mühe wieder etwas Freundlichkeit ab. »Aber, mein lieber Junge, ich denke, es würde sich gebühren, zu besprechen, welche Art von Verhalten als –«
»Da bin ich anderer Meinung«, erwiderte Somerset ruhig und souverän. Die finsteren Blicke seiner Familie schienen ihn nicht im Geringsten zu bewegen. »Und wenn Lady Somerset sich nicht über alle Maßen verändert hat, seit ich das letzte Mal Fuß auf britischen Boden setzte, ist sie gar nicht fähig, auch nur für eine einzige hochgezogene Augenbraue zu sorgen.«
Eliza blickte zu Boden, Schamesröte stieg ihr in die Wangen. Während sie in der Vergangenheit voller Bewunderung für Somersets Hingabe gewesen war, hatte er sich über das Gegenteil beklagt.
»So ist es«, stimmte Mrs Balfour zufrieden zu.
»Aber in Anbetracht der ungewöhnlichen Natur einer solchen Klausel«, fuhr Somerset fort, »denke ich, ihr Bestehen sollte unter uns bleiben. Schließlich möchte ja niemand von uns Anlass zu Gerüchten geben.«
Die Anwesenden nickten – die Balfours begeistert, die Selwyns zögerlich, und Mrs Courtenay sah wieder aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.
Es trat eine lange, lange Pause ein.
»Welchen Ertrag generieren die Ländereien jährlich?«, fragte Selwyn.
Mr Walcot konsultierte kurz seine Unterlagen.
»Durchschnittlich«, antwortete er, »generieren sie einen Ertrag von etwas über neuntausend Pfund. Zusammen mit ihrer Witwenversorgung liegt das Einkommen also bei etwa zehntausend Pfund pro Jahr.«
Zehntausend Pfund pro Jahr.
Zehntausend Pfund. Jedes Jahr.
Sie war reich.
Sie war sehr reich.
Reicher als Lady Oxford oder Lady Pelham, jene gefeierten Erbinnen, Juwelen der Saison; reicher als viele der Lords in Whitehall. Konnte das wirklich wahr sein? Ihr Ehemann hatte sie nie auch nur andeutungsweise spüren lassen, dass sie mehr war als eine beständige Enttäuschung. Seiner ersten Frau in jeder Weise unterlegen und doch genauso unfähig, ihm einen Sohn zu schenken. Und nun hatte ausgerechnet seine Boshaftigkeit – sein Zorn über Selwyns Verhalten – ihn dazu veranlasst, Eliza gegenüber eine Großzügigkeit an den Tag zu legen, die ihr zu seinen Lebzeiten nie zuteilgeworden war. Zehntausend Pfund pro Jahr. Er hatte Eliza zu einer sehr reichen Frau gemacht.
Eliza fühlte sich, als sei der Faden, der sie mit der Realität verband, gerade durchtrennt worden, und sie trieb immer weiter ab. Sie hätte kein einziges Wort des weiteren Verlaufs der Testamentsverlesung wiederholen können und bemerkte erst, dass sie vorbei war, als alle begannen, sich zu erheben. Mechanisch tat sie es ihnen gleich. »Zehntausend Pfund pro Jahr«, hallte es noch immer in ihrem Geist wider, ein Echo so laut, dass es ihr unmöglich war, einen anderen Gedanken zu fassen.
»Zehntausend Pfund!«, flüsterte Margaret ihr aufgeregt ins Ohr, während sie den Raum der Reihe nach verließen. »Begreifst du, was das heißt?«
Eliza zuckte mit dem Kopf, ob es ein Nicken oder ein Schütteln war, wusste sie nicht.
»Das verändert alles, Eliza!«
Am darauffolgenden Nachmittag stand Eliza auf den Eingangsstufen von Harefield Hall, um ihre Gäste zu verabschieden. Nur Margaret, die Eliza seit dem Tod des Earls als Gesellschafterin zur Seite stand und dies noch weitere vierzehn Tage tun würde, sollte bleiben, und Eliza konnte es kaum erwarten, Harefield wieder für sich zu haben. Eliza hörte ihre Eltern, bevor sie sie sah. Mr Balfour bellte den Dienern Befehle zu, Mrs Balfour schimpfte mit den Zimmermädchen, und als die beiden durch die große Eichentür traten, holte sie tief Luft, um sich Mut zu machen.
»Du schaffst das«, flüsterte Margaret ihr ins Ohr. In den Stunden nach der Testamentseröffnung war schnell klar geworden, dass Mr Balfour fest davon ausging, Elizas neues Vermögen höchstselbst zu verwalten. Dies hier war vorerst Elizas letzte Chance, ihre Eltern von diesem Irrtum zu befreien.
»Wir sehen uns ja in ein paar Wochen schon wieder«, sagte Mrs Balfour.
»Beeilung bitte, die Straßen werden nur schlechter«, wies Mr Balfour seine Frau an.
»Ich habe überlegt, ob –«, begann Eliza zögerlich.
»Bis dahin werden deine dringlichsten finanziellen Angelegenheiten bereits geregelt sein«, sagte Mrs Balfour. »Nicht wahr, mein Gatte?«
»Ja, ich habe bereits mit Mr Walcot gesprochen.«
Da dies der wärmste Abschied war, den Mr Balfour sich abringen konnte, nickte er Eliza knapp zu, verschwand die Stufen hinunter und ließ Eliza mit ihrer Mutter, der furchteinflößenderen Gegnerin, zurück.
»Ich dachte, ich könnte vielleicht …«, setzte Eliza an.
»Wir halten es für das Beste, Hectors Jungen als deinen Erben einzusetzen«, sagte Mrs Balfour eilig.
Hector war Elizas jüngster Bruder.
»Ich weiß nicht, ob –«
»Ich denke einfach, Rupert hätte am meisten davon«, sprach Mrs Balfour einfach weiter.
Von all den eingebildeten Wieseln, die ihr Bruder großzog, war Rupert das Schlimmste.
»Ich glaube, ich würde es vorziehen, wenn –«
»Mr Balfour kann den Papierkram erledigen, sobald du wieder zu Hause bist.« Mrs Balfour tätschelte ihr zum Abschied die Wange.
Es gehört Euch nicht, hätte Eliza ihrer Mutter entgegnet, wenn sie mutiger gewesen wäre. Es ist nicht Euer Vermögen, das Ihr ausgeben, verplanen oder mir sonst irgendwie wegnehmen könnt.
»Ja, Mama«, seufzte Eliza geschlagen.
»Dann ist ja alles besprochen. Auf Wiedersehen – wir erwarten dich in Bälde. Und denk daran, du bist noch immer die Countess, Liebling, du darfst nicht zulassen, dass diese Selwyns dich mit Füßen treten.«
Die Ironie, dass ausgerechnet Mrs Balfour Eliza einen solchen Rat erteilte, blieb Eliza nicht verborgen – auch Margaret nicht, die nur mit Mühe ein Lachen unterdrücken konnte –, und mit dieser letzten Anweisung an ihre Tochter wandte sich Mrs Balfour ab und ging.
»Ich weiß, sie ist deine Mutter und meine Tante«, sagte Margaret, während sie zusahen, wie Mrs Balfour in die Kutsche stieg. »Aber wenn ich sehen würde, dass sie schwankend am Rande eines Abgrunds steht und ins Meer zu stürzen droht, würde ich zögern. Ich würde sie nicht stoßen, aber ich würde ganz sicher zögern.«
Anders als Eliza sagte Margaret stets genau das, was sie dachte, sobald es ihr in den Sinn kam. Ein Charakterzug, den ihre Familie als den Grund dafür betrachtete, dass sie nie geheiratet hatte. Eliza verspürte einen kurzen Moment der Erleichterung darüber, dass Mrs Balfour zumindest nicht mehr in Hörweite war, als ein leises Hüsteln sie beide herumfahren ließ. Somerset war im Türrahmen aufgetaucht, und seiner amüsierten Miene nach zu urteilen hatte er Margarets überaus unhöfliche Bemerkung mit angehört. Stellvertretend für Margaret färbten sich Elizas Wangen grellrot.
»Oh«, sagte Margaret ohne besondere Besorgnis.
»Ich werde so tun, als hätte ich das nicht gehört«, erwiderte Somerset belustigt. In ihrer Jugend waren Margaret und er befreundet gewesen, und es schien, als hätte er sich seine Toleranz gegenüber ihren Respektlosigkeiten erhalten.
»Ach bitte, das wäre sehr freundlich«, sagte Margaret.
Somerset grinste, sein Lächeln durchbrach seine Reserviertheit wie ein Sonnenstrahl die Wolken, und Eliza schnappte nach Luft – aber dann wandte er sich ihr zu, und die Wärme in seinem Blick verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war.
»Euer Vater hat mir mitgeteilt, dass Ihr wünscht, nach Balfour zurückzukehren, Mylady«, sagte er, und obwohl er ihr direkt in die Augen sah, fühlte sich Eliza, als blicke er durch sie hindurch.
Sieh mich an!, wollte sie schreien. Ich bin hier, sieh mich an!
»Ja«, sagte sie stattdessen, ihre Stimme kaum hörbar.
Eine Lady schrie nicht, ganz egal, aus welchem Grund.
Somerset nickte, seine Miene verriet nichts. War er erleichtert? Wahrscheinlich.
»Wenn das Euer Wunsch ist«, sagte er.
Das war es nicht. Das war es ganz und gar nicht. Aber welche Wahl hatte sie?
»Ihr könnt selbstverständlich eine der Kutschen für die Reise nehmen«, fuhr er fort. »Und solltet Ihr einen Teil der Dienerschaft mitnehmen wollen …«
»Das ist sehr nett«, sagte Eliza.
»Es ist nichts weiter«, erwiderte er und klang dabei, als meine er es auch so. Konnte es irgendetwas geben, das schmerzhafter wäre als seine Gleichgültigkeit?
»Nichtsdestoweniger, habt Dank«, sagte Eliza trotzdem.
Eine kurze Pause trat ein.
»Ihr müsst mir nicht danken«, sagte Somerset ruhig. »Ich erfülle lediglich meine Pflicht als Familienoberhaupt.«
Diese Bemerkung übertraf seine Gleichgültigkeit tatsächlich. Pflicht. Familie. Die Worte brannten wie Feuer.
»Auf Wiedersehen, meine liebe Lady Somerset!«, flötete Lady Selwyn mit falscher Freundlichkeit, während sie durch die Tür rauschte. »Wir können Euch nicht genug für die Gastfreundschaft danken.«
»Auf Wiedersehen, Mylady.« Mrs Courtenay, keine so begabte Schauspielerin wie ihre Tochter, lächelte nicht.
»Und benehmt Euch!«, sagte Selwyn und wedelte mit dem Finger vor Elizas Gesicht herum. »Wir wollen ja nicht, dass Ihr Euer Vermögen verliert, nicht wahr?«
»Selwyn!«, sagte Somerset scharf.
»Lady Somerset weiß, dass ich nur scherze!«
»Natürlich tut sie das«, bekräftigte Lady Selwyn. Sie sah von Somerset zu Eliza, und ihr Blick verfinsterte sich. »Somerset – dürfte ich Euch um Euren Arm bitten, um die Kutsche zu besteigen?«
»Reicht der Arm Eures Ehemannes nicht aus, Augusta?«, erwiderte Somerset freundlich. »Ich muss noch ein paar Angelegenheiten mit Lady Somerset besprechen.«
Lady Selwyn warf Eliza einen stechenden Blick zu, als sei das ihre Schuld, zog aber widerwillig mit ihrem Mann und ihrer Mutter von dannen.
»Ich werde die nächsten zwei Wochen in der Stadt verbringen«, sagte Somerset zu Eliza. »Sollte es irgendetwas geben, bei dem ich Euch behilflich sein kann, bitte zögert nicht, mir zu schreiben. Guten Tag, Lady Somerset«, sagte er und beugte den Kopf über ihre Hand.
»Lord Somerset«, erwiderte sie. Es lag eine schmerzliche Ironie in der Tatsache, dass sie jetzt denselben Namen trugen. Des Schicksals grausamer Spott über das, was sie einst hätten teilen können, wäre Elizas Mutter nicht so erpicht darauf gewesen, ihrer Tochter einen Titel zu sichern – und Elizas Wille nicht so furchtbar leicht zu brechen.
Als Somerset den Kopf wieder hob, trafen sich ihre Blicke. Und vielleicht lag es daran, dass seine Wachsamkeit nachgelassen hatte, nun, da sie bald abreisen würde. Vielleicht war er auch einfach überrascht davon, dass sich ihre Gesichter auf einmal so nah waren, aber als sie einander in die Augen sahen, geriet seine ausdruckslose Maske ins Rutschen. Sein höflicher Gesichtsausdruck wurde plötzlich befangen, betroffen sogar, und seine behandschuhten Finger schlossen sich unwillkürlich kurz fest um die ihren. Und Eliza fühlte sich, endlich, wirklich gesehen.
Nicht, als blicke er durch sie hindurch wie durch irgendeine Fremde, oder von oben auf sie herab, als sei sie eine etwas lästige Pflicht, sondern gesehen: sie als Eliza und er als Oliver, zwei Menschen, die einander einst so gut gekannt hatten, wie man einen Menschen nur kennen kann. Und obwohl der Moment nicht länger gedauert haben konnte als zwei Sekunden – drei schnelle Herzschläge –, war es, als hätte jemand eine Hand um Elizas Herz gelegt und zugedrückt.
»Somerset! Jetzt kommt schon, alter Mann!«
Der Moment zerbarst. Sommerset ließ ihre Hand fallen, als hätte er sich daran verbrannt.
»Auf Wiedersehen, Mrs Balfour«, sagte er hastig. »Auch wenn ich mir glücklichere Umstände dafür gewünscht hätte, war es schön, Euch beide wiederzusehen.«
Und dann rannte er die Treppenstufen hinunter und sprang in die Kutsche.
»Euch auch«, flüsterte Eliza in die Leere hinein, die er hinterlassen hatte – wie immer ein wenig zu spät.
»Sollen wir hineingehen?«, fragte Margaret leise. Ihr Blick ruhte aufmerksam auf Elizas Gesicht.
Eliza nickte.
Sie zogen sich in den Salon im ersten Stock zurück. Es war das am wenigsten herrschaftliche aller Zimmer, die Vorhänge voller Mottenlöcher und die Teppiche zerschlissen, aber es war Elizas Lieblingsraum, denn an der Wand hing das Bild einer Meereslandschaft, das ihr Großvater gemalt hatte. Er war ein recht bekannter Künstler von überragendem Talent gewesen, und die frühere Countess hatte das Gemälde – ein winziges Segelboot auf einem kalten, unermesslichen Ozean – in Harefield aufhängen lassen. Nun war es Eliza ein täglicher Trost. Eine beständige Erinnerung an die goldenen Nachmittage, die sie mit ihrem Großvater verbracht hatte. Er hatte sie das Zeichnen gelehrt, in den leichten Tagen der Kindheit, bevor ihre Rocksäume herabgelassen und ihr Haar aufgesteckt worden war. Damals, als Eliza noch voller Naivität geglaubt hatte, sie könne in seine künstlerischen Fußstapfen treten.
»Hättet Ihr vielleicht gern eine Tasse Tee, Mylady?«, fragte Perkins leise.
»Oh, ich glaube, wir brauchen etwas deutlich Stärkeres als Tee«, erklärte Margaret, während sie sich die Spitzenhaube vom roten Haar und die Seidenschuhe von den Füßen riss. »Einen Schluck Brandy, bitte!«
Nicht einmal das Zucken einer Augenbraue verriet Perkins’ Überraschung ob einer so undamenhaften Bitte, und er kehrte prompt mit dem besten Cognac des verstorbenen Earls auf einem Tablett zurück.
»Vielen Dank«, sagte Eliza, während sie ihnen beiden einen damenhaften Schluck eingoss. Sie würde Perkins vermissen, wenn sie nach Balfour zurückkehrte.
»Wunderbar!«, stimmte Margaret zu, auch wenn sie, sobald Perkins den Raum verlassen hatte, nach der Kristallkaraffe griff und beide Gläser großzügig auffüllte.
Es war Margaret, die Eliza am meisten vermissen würde. Die letzten neun Monate, in denen sie während der strengsten Phase ihrer Trauerzeit in Harefield gefangen gewesen war, hätten endlos sein können, hätte man ihr nicht Margaret geschickt, um ihr Gesellschaft zu leisten. Ihre Cousine – und engste Freundin – nach so vielen Jahren der Trennung wieder um sich zu haben, war eine unerwartete Freude gewesen, aber jetzt …
»Sollen wir auf die anstehende Rückkehr an den liebenden Busen unserer Familien anstoßen?«, fragte Eliza und nahm eines der Gläser entgegen.
»Ganz sicher nicht«, entgegnete Margaret. »Ich halte das für eine entsetzliche Idee.«
»Ich weiß«, sagte Eliza, denn Margaret hatte ihre Meinung dazu deutlich kundgetan. »Aber ich kann nicht hierbleiben, Margaret. Er war zwar höflich – aber ich glaube, ich hätte offene Feindseligkeit diesem Nichts vorgezogen.«
Eliza musste nicht klarstellen, wer »er« war.
»Es ist Jahre her«, sagte Margaret. »Du kannst doch nicht wirklich immer noch …«
Eliza nippte an ihrem Glas. Der Cognac brannte sich durch ihre Kehle bis nach unten.
»Ich weiß, es ist albern«, antwortete sie. »Aber als ich ihn wiedergesehen habe …«
Sie erinnerte sich an den Schock, der ihr in die Glieder – und in die Seele – gefahren war, als er den Raum betreten hatte.
»Es war, als hätte mich der Blitz getroffen«, sagte sie und errötete, als sie sich ein so hochtrabendes Gefühl laut aussprechen hörte.
»Wie unangenehm«, merkte Margaret an. »Da bin ich ja doch eher froh, dass ich noch nie verliebt war. Sah er noch so aus wie in deiner Erinnerung?«
»Besser«, sagte Eliza seufzend. »Tatsächlich sah er geradezu übertrieben gut aus. Hätte er nicht wenigstens ein klein bisschen hässlich zurückkommen können?«
»Bist du sicher, dass er gut aussieht und nicht einfach nur sehr groß ist?«, fragte Margaret. »Ich habe schon oft bemerkt, dass das verwechselt wird.«
»Ich bin mir sicher«, antwortete Eliza und nahm noch einen Schluck Cognac.
»Das Dowager House ist ein ganzes Stück von Harefield entfernt«, sagte Margaret. »Da könntest du ihm leicht aus dem Weg gehen. Könntest du das wirklich nicht ertragen?«
Eliza schüttelte den Kopf.
»Seinem Leben vom Rande aus zuzusehen«, erwiderte sie, »mir die ganze Zeit über zu wünschen, ich könnte es mit ihm teilen, während er hier aufblüht, heiratet und Kinder mit einer anderen bekommt? Nein, das kann ich nicht.«
Und doch, als sie an die Alternative dachte – ein Leben mit ihrer Mutter in Balfour House –, durchlief sie ein Schauder.
»Aber wieder nach Hause zu ziehen, um mich von meinen Eltern demütigen und herumschubsen zu lassen …«, sagte sie. »Ich – ich glaube, ich würde mich einfach in Luft auflösen. Es ist nicht mehr genug von mir da, um das auszuhalten.«
»Ging es dir die letzten Jahre über wirklich so schlecht?«, fragte Margaret leise.
Eliza antwortete nicht. Sie hatte es in ihren wöchentlichen Briefen und bei den seltenen Besuchen vermieden, ihr Einzelheiten aus ihrer Ehe zu erzählen, weil sie nicht wollte, dass man sie für dramatisch oder verwöhnt hielt. Und tatsächlich waren die Jahre nicht völlig ohne Glück und Freude verlaufen, auch wenn der Earl weder der Ehemann gewesen, den sie sich ausgesucht hätte, noch das Leben als Countess of Somerset eines war, das ihr gefiel. Doch sie hatte sich in diesem Dasein, das aus dem Versuch bestand, einen Mann zufriedenzustellen, dessen Natur jeglicher Zufriedenheit widersprach, kleine Vergnügen suchen müssen, stille Freuden. Bis zu dem Punkt, an dem sie begonnen hatte, sich Sorgen zu machen, ob sie selbst schon so klein und still geworden war, dass man sie irgendwann einfach mit dem Geschirr in einen Schrank räumen und dort vergessen würde, bis man sie das nächste Mal als Tischdekoration brauchte.
»Es hat keinen Zweck, sich den Kopf darüber zu zerbrechen«, sagte Eliza nach einer kurzen Pause. »Ich werde nach Balfour zurückkehren. Mir bleibt keine andere Wahl.«
Sie fühlte sich armselig und verlassen und hoffte, Margaret würde etwas Tröstendes sagen, ihr dabei vielleicht sogar über das Haar streichen.
»Ich muss schon sagen, du machst einen ziemlichen Affen aus dir«, sagte Margaret beißend.
Das war definitiv nicht das, was sich Eliza vorgestellt hatte.
»Wie bitte?«
»Hast du vergessen, dass du jetzt eine der reichsten Frauen Englands bist?« Margaret setzte sich auf und fuchtelte anklagend mit der Hand. Eliza sah alarmiert zu – die Geste endete gefährlich nahe an einer sehr teuren Ming-Vase.
»Das habe ich nicht vergessen«, sagte Eliza, »aber ich bin mir nicht sicher, ob es einen Unterschied macht, Margaret. Ich sitze genauso in der Falle wie zuvor.«
»Wenn du weiter so furchtbar negativ bist, hast du das Vermögen wirklich nicht verdient«, sagte Margaret kopfschüttelnd.
»Wo sonst soll ich denn deiner Meinung nach hingehen?«, fragte Eliza. Sie hatte gedacht, Margaret würde sie verstehen.
»Irgendwohin!«, rief Margaret. »Du könntest es dir jetzt sogar leisten, einfach allein irgendwo zu wohnen. Hast du je darüber nachgedacht?«
Tatsächlich hatte Eliza das nicht. Mrs Balfour hatte immer gesagt, die einzigen unverheirateten Frauen, die sich selbst um ihr Leben kümmerten, seien entweder sehr exzentrisch, sehr alt oder beides. Eliza war keines von beidem.
»Margaret, bleib ernsthaft.«
»Ich bin vollkommen ernst«, sagte Margaret.
»Was sollte ich denn überhaupt tun?«, fragte Eliza.
»Ach, nur alles, was du willst, Eliza!«, erwiderte Margaret. »Bist du wirklich so geknechtet worden, dass du nicht mal mehr irgendetwas willst?«
Eliza starrte Margaret an, erschrocken über die Schärfe in ihrer Stimme.
»Ich will nichts?«, wiederholte sie. »Ich will nichts? Margaret, ich will … alles.«
»Ach ja?«, fragte Margaret so zweifelnd, dass Eliza langsam wütend wurde.
»Ja!«, beharrte sie. »Ich will Sachen anziehen, die mir gefallen – ich habe es satt, so furchtbar schlecht gekleidet zu sein –, und ich will den ganzen Tag malen, wenn ich Lust dazu habe. Und ich will mein Geld für so viel Tand ausgeben, wie ich will!«
Eliza konnte gar nicht mehr aufhören, die Worte kamen von ganz allein.
»Ich will tagsüber Feuer im Kamin und hingehen, wo immer ich hingehen möchte, und vor allem – vor allem, Margaret – will ich den Mann geheiratet haben, in den ich verliebt war, nicht den, den die Pflicht mir aufgezwungen hat. Aber das habe ich nicht. Und nichts kann das ändern, also vergib mir, dass ich nach einem ganzen Leben, in dem mir jeder meiner Wünsche verwehrt wurde, jetzt ein wenig negativ wirke!«
Wütend fuhr sich Eliza über die Augen. Endlich erfüllte sich Mrs Balfours Wunsch nach Tränen, aber jetzt war es zu spät, als dass sie irgendwas bewirken könnten.
»Nun«, sagte Margaret nach einer kurzen Pause, »alles kannst du vielleicht nicht erreichen, aber wenn du dich selbst irgendwo niederlässt, könntest du auf jeden Fall versuchen –«
»Das würden sie nie zulassen«, unterbrach Eliza sie. »Ich bin eine Witwe im ersten Trauerjahr. Die Regeln …«
»E-li-za«, sagte Margaret und betonte protestierend jede Silbe. »Du bist nicht mehr die kleine graue Miss Balfour. Du bist eine Countess. Du besitzt zehntausend Hektar Land. Du bist reicher als deine ganze Familie zusammen. Ist jetzt nicht der Zeitpunkt, die Regeln neu zu schreiben?«
Wieder konnte Eliza Margaret nur anstarren. Nichts an dem, was sie sagte, war falsch, aber wie sie die Tatsachen darstellte, so als hätte Eliza tatsächlich die Wahl … es kam ihr einfach nicht wahr vor.
»Das ist deine Chance, endlich das Leben zu leben, das du dir wünschst«, sagte Margaret. »Ich kann es nicht ertragen, dass du sie verschwendest – oh, was würde ich für eine solche Möglichkeit geben!«
Margaret hatte sich vorgebeugt, die Hände fest vor sich verschränkt, und Eliza wünschte sich plötzlich, ihre Cousine hätte das Vermögen geerbt, nicht sie. Denn Margaret, mutiger, schlauer und ganz sicher freimütiger als Eliza, würde zweifellos alles aus einer solchen Chance herausholen. Und sie hätte es auch verdient. Verdiente mehr vom Leben, als in der Familie herumgeschoben zu werden, um sich um zahllose Kinder irgendwelcher Schwestern zu kümmern, übersehen und unwichtig – schlussendlich gefangen in ihrer Rolle als letzte unverheiratete Tochter. Zwar sprach es niemand laut aus, aber Eliza wusste, ihre Familie hielt Margaret für hoffnungslos, für eine unrettbare alte Jungfer. Es war nicht gerecht.
Der Gedanke an die Ungerechtigkeit des Ganzen brannte noch heißer in Elizas Brust als der Cognac. »Pflichtbewusst und gehorsam«, hatte ihr Ehemann sie in seinem Testament genannt. »Unfähig, auch nur für eine hochgezogene Augenbraue zu sorgen«, hatte Somerset dem ganzen Raum verkündet. Und so hatten sie alle schon immer gesehen. Es war der Hauptgrund gewesen, aus dem der alte Earl sie überhaupt hatte heiraten wollen. Er hatte Elizas Schüchternheit als Beweis ihrer Formbarkeit betrachtet – und in all den Jahren ihrer Ehe hatte Eliza ihm kein einziges Mal Anlass gegeben, daran zu zweifeln. Aber vielleicht hatte Margaret recht. Vielleicht war das hier ihre Chance. Vielleicht sogar ihre gemeinsame Chance.
»Allein könnte ich das nicht«, sagte Eliza langsam. »Allein zu leben wäre höchst unschicklich.«
»Ach, die Gesellschaft ist zum Glück voll von alten Jungfern und Witwen, die du dir als Gesellschafterinnen einladen könntest«, wischte Margaret ihren Einwand beiseite. »Jede respektable Frau würde zum Ansehen deiner Stellung beitragen – ich wäre selbst dabei, aber Lavinia ist schon wieder schwanger.«
»Lavinia ist ein Drachen«, merkte Eliza an.
»Aber ein sehr fruchtbarer Drachen«, erwiderte Margaret. »Sobald das Kind da ist, wird sie mich brauchen, und meine Mutter wird darauf bestehen, dass ich ihr helfe – und das wäre das Ende der Geschichte. Du musst die Sache ohne mich angehen.«
Ohne Margaret wäre Elizas Entschlossenheit schon nach der ersten Woche aufgebraucht.
»Wann kommt das Kind?«, fragte Eliza.
»Mitte April, wenn alles gut geht«, antwortete Margaret. Sie blickte Eliza nachdenklich an. »Aber … bis dahin wird sie mich nicht brauchen.«
»Wenn ich deiner Mutter schreiben«, sagte Eliza, »und sie für drei weitere Monate um deine Gesellschaft bitten würde …«
»Nur bis das Baby kommt«, sagte Margaret, und ihre Lippen formten sich zu einem Lächeln. »Drei Monate sind keine allzu große Bitte.«
Einen Moment lang sahen sie einander schweigend an.
»Wir würden sehr, sehr vorsichtig sein müssen«, sagte Eliza.
Jetzt breitete sich ein waschechtes Grinsen auf Margarets Gesicht aus.
»Ich meine das ernst, Margaret«, sagte Eliza. »Wenn die Selwyns auch nur den Hauch einer Unschicklichkeit wittern, werden sie anfangen, wegen der Sittlichkeitsklausel zu jammern. Wir müssen uns einen Grund ausdenken, warum wir nicht nach Balfour fahren – einen, den alle akzeptieren.«
»Wo sollen wir stattdessen hin?«, fragte Margaret. »London?«
»London …«, wiederholte Eliza sehnsüchtig. Eliza hatte die Metropole seit ihrer ersten (und letzten) Ballsaison kaum besucht. Sie stellte sich vor, wie es wäre, mit Margaret dort zu leben, frei und unabhängig, in der Lage, so viele Museen und Kunstausstellungen zu besuchen, wie sie wollten. Im Mai würde die Sommerausstellung der Royal Academy eröffnen, die Eliza nicht mehr hatte ansehen dürfen, seit sie siebzehn geworden war … aber nein.
»Ich kann nicht nach London, solange ich noch in voller Trauer bin«, sagte Eliza. »Wir würden sofort in Ungnade fallen.«
»Dann eine andere Stadt«, schlug Margaret vor. »Eine Stadt mit genügend Möglichkeiten, um uns zu unterhalten, auch wenn du noch keine öffentlichen Empfänge besuchen kannst. Was ist mit Bath?«
Bath. Eliza dachte darüber nach.
»Ja«, sagte sie schließlich. »Ich glaube, dort gibt es genügend Gelegenheiten zum Zeitvertreib, die nicht allzu öffentlichkeitswirksam sind, und ich könnte sagen, die Ärzte hätten mir eine Heilwasserkur verschrieben. Niemand könnte wissen, dass es gelogen ist.«
»Ich werde die Bibliotheken unsicher machen und Konzerte besuchen und interessante neue Leute kennenlernen«, sagte Margaret verträumt.
»Ja, genau«, erwiderte Eliza. »Und ich werde … ich werde …«
Eliza verstummte, Zweifel breitete sich in ihr aus. Vor ihrem geistigen Auge erschien plötzlich Mrs Balfours missbilligende Miene, und Eliza schrumpfte unter dem Blick zusammen. Sie wäre so enttäuscht. Ihr Vater genauso. Eliza biss sich auf die Lippe und sah hinauf zum Gemälde ihres Großvaters, das an der Wand hing – jenes kleine, tapfere Boot, das sich mit unglaublicher Mühe über Wasser hielt. Margaret machte ein sanftes, ermutigendes Geräusch, als wollte sie ein schreckhaftes Pferd beruhigen, und Eliza holte tief, tief Luft.
»Und ich werde … mir endlich eine angemessene Garderobe zulegen?«, schlug Eliza vor.
»Ja«, rief Margaret sofort.
»Und ich werde malen«, sprach Eliza mit festerer Stimme weiter.
»Den ganzen Tag, wenn du möchtest.«
»Und – ich werde nie wieder aus Pflichtgefühl heiraten!«, sagte Eliza, plötzlich mit trockener Kehle. »Das – das liegt jetzt hinter mir.«
Ihr gegenüber hob Margaret überschwänglich ihr Glas in die Höhe.
»Nun, das ist mal ein Trinkspruch, der mir gefällt«, sagte sie. »Auf Bath!«
In ihren siebenundzwanzig Jahren hatte Eliza nur sehr wenige Dinge getan, die der gehobenen Gesellschaft missfallen, sie überrascht oder an denen sie gar Anstoß genommen hätte. Aus diesem Grunde hatte ihre Flucht aus Harefield Hall etwas über alle Maßen Aufregendes an sich; und auch wenn sie zwei Wochen für die Planung brauchten, jedes Mitglied der Familie Balfour vorab mittels eines Briefs über ihre Entscheidung in Kenntnis gesetzt worden war und sie in einer der gediegenen Somerset-Kutschen reisen würden, wirkte es auf Eliza ungefähr so verboten, als flöhen sie nach Gretna Green, um dort heimlich zu heiraten.
»Hat deine Mutter heute noch mal geschrieben?«, fragte Margaret, während sie die Kutsche bestiegen, gefolgt von Pardle, Elizas Zofe. Da die Reise nicht weit war – nicht einmal zwanzig Meilen – und der Februarmorgen so strahlend, hatte Eliza beschlossen, im offenen Landauer nach Bath zu fahren, damit sie die Sonnenwärme auf dem Gesicht genießen konnten. Ihr Gepäck war bereits vorgeschickt worden, zusammen mit Perkins und zwei Dienstmädchen, die einzigen Mitglieder des Haushalts, die Eliza hatte mitnehmen wollen. Da sie Harefield schon seines Butlers beraubt hatte – und das auch nur, weil Perkins persönlich darum gebeten hatte –, war ihr Schuldgefühl zu groß gewesen, um noch mehr Angestellte für sich zu beanspruchen.
»Es wird ganz sicher ein Brief auf uns warten, wenn wir ankommen«, sagte Eliza.
Wie vorhergesehen war kein Mitglied des Balfour-Clans erfreut über ihre Entscheidung, aber ermutigt von Margarets Parolen und der erdachten Ausrede der ärztlichen Empfehlung, war Eliza standhaft geblieben. Und als sich keiner von Mrs Balfours Briefen – egal, ob schimpfend oder flehend – als wirksam erwiesen hatte, war, wenn auch zögerlich, Margaret gestattet worden, sie zu begleiten, bis Lavinias Kind zur Welt kommen und Margarets Dienste gebraucht würden.
»Und hast du schon etwas von Somerset gehört?«, fragte Margaret.
Eliza antwortete nicht und tat so, als müsse sie ihre Röcke richten. Mit den heißen Ziegelsteinen im Fußraum und den dicken Decken über den Beinen würden sie nicht frieren, bis sie anhielten, um sich zu erfrischen, aber Eliza hatte trotzdem ihr wärmstes – und unelegantestes – Kleid für die Reise angezogen: natürlich schwarz, mit langen Ärmeln und hochgeschlossenem Kragen, einem groben Wollcape und einem sperrigen Reisehut, der es ziemlich schwierig machte, den Kopf zu drehen.
»Du hast ihm immer noch nicht geschrieben?«, riet Margaret. »Eliza!«
»Ich mache es noch!«, versprach Eliza abwehrend. Somersets Zustimmung zu ihrem Plan war natürlich genauso wichtig wie die Mrs Balfours, denn er allein hatte die Macht, sie ihres Vermögens wieder zu berauben; und trotzdem, obwohl Eliza sich ein Dutzend Mal hingesetzt hatte, um den Brief zu Papier zu bringen, hatte sie es nie geschafft, auch nur ein einziges Wort zu schreiben. Wie sollte man eine förmliche Nachricht an einen Mann verfassen, mit dem man einst Liebesbriefe ausgetauscht hatte?
»Ich schreibe ihm, sobald wir da sind«, versprach Eliza.
Sie warf einen letzten Blick auf das allein schon durch seine Größe beeindruckende Anwesen. Sie konnte sich noch lebhaft daran erinnern, wie bedrohlich es gewirkt hatte, als sie hier angekommen war – siebzehn Jahre alt und zitternd vor Nervosität. Sie hatte sich Sorgen gemacht, dass man sie innerhalb der Mauern vielleicht umbringen könnte. Aber sie hatte überlebt, und heute fuhr sie weder als die verängstigte Miss Balfour noch als bescheidene Ehefrau durch die Tore, sondern als die unabhängige Lady Somerset.
»Lasst uns fahren, Tomley«, sagte sie, so gebieterisch sie konnte, und die Kutsche nahm hastig und leicht schlingernd Fahrt auf. Elizas üblicher Fahrer war krank, und der jüngere Tomley pflegte einen etwas lässigeren Umgang mit den Fahrleinen – Eliza zuckte zusammen, als sie durch ein Loch in der Straße rumpelten; gut, dass weder sie noch Margaret zu Reiseübelkeit neigten.
»Wonach steht dir als Erstes der Sinn?«, fragte Eliza Margaret, als sie bereits eine Weile unterwegs waren und sie ihre Zeichenmappe aufschlug. Man erwartete von einer Dame der gehobenen Gesellschaft, dass sie ihre gestalterischen Fähigkeiten schulte, aber unter dem Einfluss ihres Großvaters, einem respektierten Mitglied der Royal Academy, hatte Eliza eine ungewöhnlich umfangreiche künstlerische Ausbildung erfahren – auch wenn es sie nicht darauf vorbereitet hatte, auf dem Rücksitz eines Landauers zu zeichnen, der jedes kleinste Schlagloch ausnutzte.
»Natürlich sind wir durch deine Trauer stark eingeschränkt – nicht dass ich dir die Schuld daran geben möchte …«
»Vielen Dank für dein Verständnis«, antwortete Eliza abwesend. Sollte sie Tomley anweisen, langsamer zu fahren? Das hier war die erste wirkliche Reise, die sie unternahm, ohne dass sich ihr Vater oder ihr Ehemann um alles kümmerten, und sie war sich nicht sicher, wie stark sie sich einbringen sollte. Aber die Straße war wirklich sehr schmal geworden – eine solche Geschwindigkeit war doch sicherlich nicht angebracht?
»… aber das lässt uns noch immer eine Menge Möglichkeiten. Die Sydney Gardens natürlich, und das Kurhaus – oje, Tomley, passt auf!«
Auf der Straße vor ihnen tat sich ein großes Schlagloch auf, direkt vor einer scharfen Kurve. Tomley lenkte die Pferde gerade in dem Moment hastig nach rechts, um auszuweichen, als ein Zweispänner um die Kurve gerast kam. Der Zusammenstoß war gleichzeitig langsam und blitzschnell: Tomley riss die Pferde herum, während der andere Fahrer verzweifelt versuchte, sein Gespann zum Stehen zu bringen, aber es war zu spät; die Kollision war unvermeidlich. Als die Räder der Kutschen aufeinandertrafen, ertönte ein entsetzliches Kreischen, Holzsplitter flogen durch die Luft, und Eliza und Margaret klammerten sich aneinander fest, während ihr Gefährt in die entgegengesetzte Richtung geschleudert wurde und Sitzkissen, Decken und Handtaschen über die Seitenwand flogen.
Der Landauer schwankte einmal, zweimal, schien beinahe umzukippen … bevor er mit einem lauten Krachen wieder auf alle vier Rädern stand. Endlich kamen beide Kutschen zum Stehen, und es wurde still – bis auf das fast schon komisch anmutende, friedvolle Zwitschern der Vögel in den Bäumen.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, keuchte Eliza.
»Ich – ich glaube schon«, antwortete Margaret und hob den Arm, um ihre verrutschte Haube zurechtzurücken.
»Pardle? Tomley?«
»Ja, Mylady«, hauchte Pardle, die sich noch immer so fest an die Kutschenwand klammerte, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
»Bitte entschuldigt, Mylady, bitte entschuldigt«, rief Tomley panisch, während er vom Kutschbock sprang, um nach den Pferden zu sehen, die erschrocken mit Schaum vor dem Mund und weit aufgerissenen Augen dastanden. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite tat der andere Kutscher es ihm gleich.
Eliza fuhr sich mit den Händen über die Arme, als müsse sie sich unsinnigerweise versichern, dass all ihre Gliedmaßen noch intakt waren. Wie durch ein Wunder waren sowohl sie als auch Margaret unverletzt, wenn auch Margaret unter ihren Sommersprossen bleich geworden war, und Eliza spürte, wie sie selbst heftig zu zittern begann.
Die Stille wurde vom Quietschen einer sich öffnenden Tür unterbrochen. Aus der anderen Kutsche trat ein Mann auf die Straße. Er war groß, mit schwarzem, gelocktem Haar und dunkler Hautfarbe, und entgegen Elizas und Margarets zerzaustem Zustand schien der einzige Hinweis auf den Zusammenstoß der Winkel seines Hutes zu sein, der sich von verwegen zu gewagt verschoben hatte. Mit einem Ausdruck milden Erstaunens ließ er den Blick über das Geschehen schweifen, erst zu seinem Fahrer, dann ihrem Landauer und schließlich zu Margaret und Eliza.
»Habt Ihr vor, mich auszurauben?«, fragte er eher neugierig als alarmiert. »Ist das hier ein Stehen-bleiben-und-Geld-her-Moment?«
Eliza starrte ihn an. Hatte sie sich in dem ganzen Durcheinander den Kopf gestoßen?
»N-Nein, natürlich nicht!«, stammelte sie.
»Habt Ihr vor, mich umzubringen?«, fragte er.
»Keinesfalls!«, rief Eliza. Was um Himmels willen …?
»Was zum Teufel hat diese Sache dann zu bedeuten?«, wollte der Gentleman mit zusammengezogenen Brauen wissen. »Ich war gerade dabei, ein äußerst friedvolles Schläfchen zu halten, wisst Ihr?«
Sprachlos starrte Eliza ihn an. Wer um alles in der Welt war dieser Mann? Sein Teint ließ an eine indische Herkunft denken – ungewöhnlich in einer so ländlichen Gegend –, und die private Kutsche verriet Wohlstand. Vielleicht ein reicher Händler auf dem Weg in eine nahe gelegene Stadt? Aber ein Händler würde nicht so mit ihr sprechen.
»Es war keine Absicht!«, sagte Margaret ungehalten.
»Er war mit halsbrecherischer Geschwindigkeit unterwegs, Mylord!« Der Kutscher des Mannes hatte seine Pferde beruhigt und zeigte anklagend auf Tomley.
»Ihr genauso!«, gab Tomley zurück.
»Könnten wir uns darauf einigen, dass beide Parteien gleichermaßen schuldig sind?«, schlug Eliza eilig vor, bevor sich die Gemüter noch weiter erhitzten.
»Dieses Urteil erscheint mir doch etwas vorschnell«, warf der Gentleman ein, und seine Mundwinkel kräuselten sich, als fände er den ganzen Vorfall insgeheim amüsant. »Sollte die Jury nicht alle Beweise anhören, bevor wir über die Schuldfrage verhandeln?«
»Ich freue mich, dass Ihr die Angelegenheit so unterhaltsam findet, Sir!«, sagte Margaret bissig.
»Ich mich auch«, stimmte der Mann ihr zu. »Humor ist wahrlich der größte Schatz eines Mannes.«
Eliza griff verwirrt nach oben, um ihren Hut zu richten. Das hier entsprach nicht der ruhigen Reise, die sie sich vorgestellt hatte, und wenn sie der Meinung gewesen wäre, ein paar Tränen könnten der Sache zuträglich sein, hätte sie anfangen können zu weinen. Mittlerweile hätten sie schon fast bei Peasedown sein und sich auf eine geruhsame Mahlzeit freuen sollen – nicht mitten im Nirgendwo herumstehen und Unterhaltungen mit einem fremden Gentleman führen, der so seltsam war, dass es an Wahnsinn grenzte.
»Tomley?«, fragte sie. »Sind wir in der Lage, weiterzufahren?«
Der Kutscher schüttelte den Kopf.
»Die Speichen am linken Rad sind gebrochen«, sagte er und untersuchte sie mit kritischem Blick. »Aber macht Euch keine Sorgen, Mylady, Peasedown ist nur drei Meilen entfernt. Ich nehme eines der Pferde und kehre umgehend mit einem Radmacher zurück!«
»Und uns lasst Ihr hier zurück?«, fragte Margaret. Selbst wenn Eliza keine Trauer trüge, wäre es nicht anzuraten, allein und ohne Schutz am Straßenrand zurückzubleiben – so erschien es ausgesprochen unschicklich. Aber welche Wahl hatten sie? Eliza hob den Blick in Richtung Himmel.
Sie würde nicht weinen. Sie würde nicht weinen. Aber warum musste ausgerechnet heute eine solche Katastrophe eintreten, wenn sie gerade den Mut gefunden hatte, neu anzufangen?
»Es liegt mir fern, mich einzumischen«, unterbrach die Stimme des Mannes ihre Gedanken. Zu ihrem Ärger klang er noch immer leicht amüsiert. »Aber da meine Kutsche vollkommen intakt zu sein scheint – tatsächlich erschreckend intakt –, dürfte ich vielleicht anbieten, die Damen nach, äh, Peasebury oder Peaseton zu bringen, wo Ihr Euch im Warmen etwas erholen könntet?«
Die Versuchung war groß, und noch während Eliza darüber nachdachte, lief ein Zittern durch ihren Körper – als stimme er dem Vorschlag vorbehaltlos zu –, aber sie schüttelte den Kopf.
»Das ist ein sehr freundliches Angebot, werter Herr, aber ich kann es nicht annehmen«, sagte sie.
»Das ist es in der Tat«, stimmte der Gentleman ihr zu. »Und ich befürchte – und hoffe, Ihr werdet mich nicht für grob halten –, ich muss darauf bestehen. Ich kann Euch nicht hier am Straßenrand zurücklassen.«
»Aber Ihr müsst es tun«, entgegnete Eliza.
»Ich kann es nicht«, sagte er. »Es widerspricht dem Ehrenkodex eines Gentlemans, den wir in Eton alle auswendig lernen mussten. ›Lasst niemals eine Dame am Straßenrand zurück, sonst wird sie von Bären gefressen‹.«
Eliza fragte sich, ob sie vielleicht eine Gehirnerschütterung hatte.
»Es gibt keine wilden Bären in England«, merkte Margaret an.
»Das müsst Ihr mit Eton diskutieren«, entgegnete der Mann ernst.
»Aber Ihr seid ein Fremder«, wandte Eliza ein. »Das wäre unschicklich.«
»Ach, dieser Umstand lässt sich mit einer Vorstellung leicht beheben«, sagte der Mann und verbeugte sich theatralisch. »Ich bin Melville.«
Margaret zuckte zusammen. Tomley gab ein Geräusch von sich, als würde er ersticken.
Oh. Natürlich.
Die Familie Melville war eines der ältesten Adelsgeschlechter Englands, und jede neue Generation schien die vorangegangene an Schändlichkeit noch zu übertreffen: Der siebte Earl, »Mad Jack«, war berühmt dafür, ein Vermögen beim Kartenspiel verloren zu haben, der achte Earl dafür, dass er an seinem achtzehnten Geburtstag durchgebrannt und zehn Jahre später mit einer indischen Adligen als Frau wieder zurückgekehrt war. Um nicht mit der Familientradition zu brechen, tauchten die romantischen Verwicklungen des derzeitigen Lord Melvilles beinahe wöchentlich in den Klatschblättern auf. Trotzdem waren er und seine Schwester beinahe genauso berühmt für ihre literarischen Heldentaten: Lady Caroline für eine einigermaßen fiktionale politische Novelle und Melville für seine romantischen Verse, mit denen er die Frauen der gehobenen Gesellschaft allesamt verzaubert hatte.
Eliza musterte Melville und kam zu dem Schluss, dass seine Statur und sein Aussehen zweifellos dem positiven Bild entsprachen, das man landläufig von ihm malte, auch wenn er – anders, als sie es sich immer vorgestellt hatte – kein Entermesser am Gürtel trug. Jetzt konnte sie auch erkennen, dass er zwar eher leger als elegant gekleidet war, der vorzügliche Schnitt seines Reitmantels, der Glanz seiner Stiefel und die hohe Krone seines Kastorhuts aber doch alle auf die beau monde hindeuteten. Ihr Blick wanderte zurück zu seinem Gesicht, in dem sie an seinen hochgezogenen Augenbrauen erkannte, dass sie in ihrem Schock offenbar nicht einmal versucht hatte, ihre offensichtliche Inaugenscheinnahme seiner Person zu verbergen.
»Nun?«, fragte Melville und breitete die Arme aus, wie um ihr die Inspektion zu erleichtern.
Eliza wurde rot.
»Nehmt Ihr mein großzügiges Angebot an?«
»Mylady, wenn ich mir das erlauben darf – ich halte es nicht für schicklich«, sagte Tomley mit einem bedeutungsvollen Zischen. Pardle signalisierte eifrig ihre Zustimmung.
Eliza zögerte, sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte. Einerseits war die Verbindung mit einem so berüchtigten Lebemann – vielleicht könnte man sogar Schwerenöter sagen – ganz sicher nicht erstrebenswert. Andererseits konnten sie auch nicht gut hier mitten auf der Straße verweilen, noch dazu in dieser Kälte. Es könnte bis in die Nacht dauern, bis Tomley zurückkehrte. Sie warf einen Blick zu Margaret, die aber nur ein winziges, hilfloses Schulterzucken für sie hatte. Also oblag die Entscheidung Eliza.
»Der alte Lord, Gott hab ihn selig, würde nicht wollen –«, drängte Tomley, was die Sache entschied.
»Der alte Lord, Gott hab ihn selig, ist aber nicht hier«, erwiderte Eliza. »Es ist meine Entscheidung, und … und ich möchte nicht länger hier verweilen. Tomley, wenn Ihr uns helfen würdet, von der Kutsche herabzusteigen, könnt Ihr uns mit den Pferden folgen und in der Stadt einen Radmacher anheuern.«
»Wenn ich bitten darf …« Der Earl bot Eliza seine Hand, und im Nu waren die beiden Damen und Pardle in die andere Kutsche befördert worden, die herrlich bequem war. Einen Augenblick später folgte auch Melville und überreichte Eliza ihren mit Schlamm bespritzten Skizzenblock, bevor er sich auf der gegenüberliegenden Bank niederließ.
Die Kutsche setzte sich in Bewegung. Schweigen breitete sich aus, während Eliza und Margaret Melville anstarrten. Eliza zermarterte sich das Hirn nach etwas Interessantem, das sie sagen könnte, aber ihr fiel nichts ein.
Glücklicherweise schien Melville mehr als fähig, die Unterhaltung allein zu führen.
»Wohin sind die Damen denn heute unterwegs?«, fragte er höflich.
»Nach Bath«, erwiderte Margaret. »Wir lassen uns dort für den Rest der Trauerzeit meiner Cousine nieder.«
»Oh, natürlich – mein herzliches Beileid«, sagte Melville.
Eliza war sich immer noch nicht sicher, wie sie auf solche Beileidsbekundungen reagieren sollte. Ihre Trauer zur Schau zu stellen, obwohl ihr Gefühl so deutlich von den gesellschaftlichen Erwartungen abwich, erschien ihr falsch – aber gar nicht zu reagieren, würde auch als unschicklich gelten.
»Ich danke Euch«, sagte Eliza nach einer kurzen Pause. »Und wohin reist Ihr, Mylord?«
»Ach, mal hierhin, mal dorthin«, antwortete er. »Heute natürlich mehr dorthin als eigentlich geplant. Ihr seid also eine Künstlerin, Mylady?«
Eliza verstand den Themenwechsel nicht sofort, aber dann folgte sie seinem Blick zu ihrem Skizzenblock.
»In solch hehren Worten würde ich mich nicht beschreiben«, sagte sie.
»Aber warum denn nicht?«, fragte er. »Ganz eindeutig habt Ihr Talent.«
»Wie kommt Ihr denn darauf?«, fragte Eliza überrascht.
»Der Block war aufgeschlagen«, antwortete Melville. »Ich konnte nicht anders, als hineinzusehen. Wirklich gut getroffen, Eure …«
Seine Stimme ging fragend nach oben, dann hielt er inne, und Eliza bemerkte mit Entsetzen, dass sie sich nicht vorgestellt hatten.
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung!«, sagte sie, und ihre Wangen färbten sich rot. »Ich bin Lady Somerset, und das hier ist meine Cousine, Miss Balfour.«
Melville neigte den Kopf.
»Ihr habt Miss Balfour wirklich gut getroffen«, sagte er.
Eliza wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, also entschied sie sich, stattdessen das Thema zu wechseln.
»Wir bewundern Eure Dichtkunst wirklich sehr, Mylord«, sagte sie.
Wahrscheinlich hörte er diesen Satz bereits zum tausendsten Mal, aber Eliza war nicht belesen genug, um sich ein kenntnisreicheres Kompliment einfallen lassen zu können.
»Wie schön, das zu hören«, erwiderte Melville höflich.
»Wir können es kaum erwarten, mehr von Euch zu lesen«, fügte Margaret hinzu, einen schmeichelnden Unterton in der Stimme. »Wisst Ihr denn schon, wann …?«
Melville hatte Persephone im Jahre ’17 veröffentlicht, Psyche ein Jahr darauf – beides romantische Nacherzählungen alter Überlieferungen –, und alle warteten äußerst gespannt auf sein nächstes Werk.
»Es scheint, als wären Eure Schmeicheleien nur ein Trick gewesen, um mich zu einer Enthüllung zu verleiten«, sagte Melville. »Ich befürchte, meine Antwort wird Euch nicht gefallen: Ich habe bislang nichts Neues geschrieben.«
»Warum nicht?«, fragte Eliza, bevor sie sich bremsen konnte – eine Impertinenz, die sie sofort bereute, als sie Melvilles hochgezogene Augenbraue bemerkte.
»Mir fehlt einfach die Inspiration«, antwortete er knapp.
»Vielleicht könntet Ihr Euch vom heutigen Abenteuer inspirieren lassen«, schlug Margaret schlau vor. »Und wir werden später feststellen, dass Euer nächstes Buch mit dem Zusammenstoß zweier Kutschen beginnt – oder wohl eher zweier Streitwagen.«