Wie man sich einen Lord angelt - Sophie Irwin - E-Book
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Wie man sich einen Lord angelt E-Book

Sophie Irwin

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Beschreibung

Eintauchen ins romantische London der Regency-Zeit: Der »Lady's Guide« ist ein bezaubernder historischer Liebesroman mit einer herrlich schlagfertigen Heldin. Kitty Talbot ist jung, hübsch und clever – leider aber auch arm wie eine Kirchenmaus. Als ihr Verlobter sie sitzen lässt, stehen Kitty und ihre vier Schwestern vor dem Ruin, denn die Spielschulden ihres verstorbenen Vaters können sie aus eigener Kraft niemals begleichen. Also wagt Kitty sich für ihre Schwestern auf das gefährlichste Schlachtfeld im England des Jahres 1818: die Bälle der Lords und Ladys in London. Obwohl die unkonventionelle Kitty sich mindestens so viele Feinde wie Freunde macht, erliegt bald ein märchenhaft reicher Junggeselle ihrem Charme. Doch dessen älterer Bruder, Lord Radcliffe, durchschaut Kittys Spiel und unternimmt alles, um eine Hochzeit zu verhindern. Eigentlich wäre Lord Radcliffe ein wunderbar ebenbürtiger Gegner für Kitty – hätte die Liebe nicht längst ihre eigenen Pläne … Hoch romantisch, voller historischem Charme und dabei erfrischend zeitgemäß: Sophie Irwins historischer Liebesroman ist die perfekte Mischung aus Jane-Austen-Nostalgie und der Netflix-Serie »Bridgerton«.

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Seitenzahl: 450

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Sophie Irwin

Wie man sich einen Lord angelt

Aus dem Englischen von Kristina Koblischke und Hannah Brosch

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Nichts wird Kitty Talbot davon abhalten, ihre Schwestern vor dem Armenhaus zu bewahren – denn das steht den jungen Frauen im England des Jahres 1818 bevor, nachdem ihr Vater ihnen lediglich einen Berg Spielschulden hinterlassen hat. Also wagt die clevere Kitty sich auf das gefährlichste Pflaster Londons, um einen gutsituierten Ehekandidaten zu finden: die Bälle der vornehmen Gesellschaft. Tatsächlich erliegt bald ein reicher Junggeselle Kittys Charme, doch dessen älterer Bruder durchschaut ihr Spiel und unternimmt alles, um eine Hochzeit zu verhindern. Lord Radcliffe wäre ein wunderbar ebenbürtiger Gegner für Kitty – hätte die Liebe nicht längst ihre eigenen Pläne …

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

Danksagung

Für Fran, die mir geholfen hat, anzufangen. Und meine Familie, die mir geholfen hat, weiterzumachen.

Ohne dass sie jemals viel von Männern oder der Institution der Ehe gehalten hätte, war die Heirat doch immer ihr Ziel gewesen; es war die einzig ehrbare Möglichkeit, sich zu versorgen, die ein Mädchen aus gutem, aber nicht eben reichem Hause besaß; und mochte auch das Glück, das sich daran knüpfte, höchst zweifelhafter Natur sein, so stellte es doch die annehmbarste Sicherung gegen künftige Not dar.

 

Jane Austen, Stolz & Vorurteil

1

Netley Cottage, Biddington Village, Dorsetshire, 1818.

Ihr werdet mich nicht heiraten?«, wiederholte Miss Talbot ungläubig.

»Ich befürchte, so ist es«, erwiderte Mr Charles Linfield. Sein Gesicht zeigte einen leicht distanzierten, entschuldigenden Ausdruck, der besser zu der Erklärung gepasst hätte, man könne bedauerlicherweise nicht an der Geburtstagsfeier eines Freundes teilnehmen, weniger jedoch zur Auflösung einer zweijährigen Verlobung.

Verständnislos starrte Kitty ihn an. Katherine Talbot – Kitty für ihre Familie und engsten Freunde – war es nicht gewohnt, etwas nicht zu verstehen. Tatsächlich war sie sowohl im Familienkreis als auch in ganz Biddington für ihren wachen Verstand und ihr unnachahmliches Talent für unkomplizierte Problemlösungen bekannt. Aber jetzt, in diesem Moment, verstand Kitty überhaupt nichts mehr. Charles und sie würden heiraten, das stand seit Jahren fest – und nun sollte all das hinfällig sein? Welche Worte waren einer solchen Situation angemessen? Welche Gefühle? Mit einem Mal war alles anders. Und doch sah Charles, wie er hier vor ihr stand, in denselben Kleidern, in denen sie ihn schon tausend Mal gesehen hatte, noch immer genauso aus wie sonst. In diesem leicht derangierten Aufzug, den man sich nur erlauben konnte, wenn man reich war: eine aufwendig verzierte, aber höchst dilettantisch zugeknöpfte Weste unter einem grellbunten Krawattenschal, dessen Knoten völlig aus der Form geraten war. Wenigstens, dachte Kitty, während sie die unmögliche Krawatte mit wachsender Empörung anstarrte, hätte er sich der Situation angemessen kleiden können.

Ein Teil ihrer Entrüstung musste sich wohl in ihrer Miene widergespiegelt haben, denn plötzlich verwandelte sich Charles’ unmöglicher Gesichtsausdruck entschuldigender Herablassung in den eines schmollenden Schuljungen.

»Kein Grund, mich so anzusehen«, sagte er eingeschnappt. »Schließlich ist es nicht so, als wären wir einander jemals offiziell versprochen gewesen.«

»Einander offiziell versprochen?« Mit einem Mal kam Kitty wieder zu sich, und die Frage des angemessenen Gefühls klärte sich schlagartig – sie war tatsächlich fuchsteufelswild. Dieser unerträgliche Flegel. »Seit zwei Jahren planen wir unsere Hochzeit. Wir haben sie nur aufgrund des Todes meiner Mutter und der Krankheit meines Vaters verschoben! Ihr habt mir versprochen … Ihr habt mir so viele Dinge versprochen.«

»Ach, das war doch alles nur Kindergeschwätz«, protestierte er schwach. »Zudem hätte ich das Ganze ja schlecht beenden können, solange Euer Vater im Sterben lag. Das hätte sich nicht geschickt«, fügte er trotzig hinzu.

»Ach, und nun, da er tot ist – und noch nicht einmal vier Wochen unter der Erde –, ist wohl der richtige Zeitpunkt gekommen, um mich sitzen zu lassen?«, rief sie wutentbrannt. »Jetzt ›schickt es sich‹?«

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, und sein Blick zuckte hoffnungsvoll Richtung Tür. »Wenn Ihr Euch so aufführt, ist es wohl sinnlos, die Angelegenheit zu besprechen.« Er versuchte sich am Tonfall des über alle Maßen beanspruchten Mannes, der sich mit den hysterischen Launen einer Frau herumschlagen musste. »Vielleicht sollte ich besser gehen.«

»Gehen? Ihr könnt doch unmöglich mit einer solchen Nachricht hier auftauchen, ohne Euch zu erklären. Letzte Woche haben wir noch davon gesprochen, im Mai zu heiraten – das wäre in nicht einmal mehr drei Monaten!«

»Vielleicht hätte ich besser einen Brief schreiben sollen«, murmelte er mit bedauerndem Unterton. Wieder blickte er sehnsüchtig zur Tür. »Mary sagte, es sei angemessen, die Nachricht persönlich zu überbringen, aber ich glaube, ein Brief wäre einfacher gewesen. Ich kann gar nicht richtig denken, wenn Ihr so herumkreischt.«

Kitty überging die vielen Irritationen, die diese Bemerkung in ihr hervorrief, und konzentrierte sich mit dem Instinkt einer wahren Jägerin einzig auf die wirklich wichtige Information. »Mary?«, fragte sie scharf. »Mary Spencer? Was genau hat denn Miss Spencer damit zu tun? Mir war nicht bewusst, dass sie zurück in Biddington ist.«

»Ach, ja, na ja, tatsächlich, das ist sie«, stammelte Mr Linfield schwach, während ihm plötzlich Schweißperlen auf die Stirn traten. »Meine Mutter hat sie eingeladen, bei uns zu wohnen, zumindest eine Zeit lang. Schließlich ist es für meine Schwestern so wichtig, weibliche Bekanntschaften zu pflegen.«

»Und Ihr habt mit Miss Spencer über die Auflösung unserer Verlobung gesprochen?«

»Nun ja, also, sie war so verständnisvoll, was die ganze Situation anging … was die beiden Seiten unserer Situation anging – und ich muss sagen, es hat gutgetan, in der Lage zu sein … mit jemandem darüber zu sprechen.«

Einen Moment lang herrschte Stille. Dann: »Mr Linfield, habt Ihr vor, Miss Spencer einen Heiratsantrag zu machen?«

»Nein! Also, das heißt … wir haben bereits … Also dachte ich, es sei wohl das Beste – hierherzukommen …«

»Ich verstehe«, sagte Miss Talbot, und das tat sie tatsächlich. »Nun, offenbar ist es angebracht, Euch zu Eurem Selbstvertrauen zu gratulieren, Mr Linfield. Es ist eine rechte Großtat, einer Dame einen Heiratsantrag zu machen, wenn man bereits mit einer anderen verlobt ist. Gratulation.«

»Es ist genau wie immer!« Irgendwoher nahm Charles den Mut, sich wahrhaftig zu beschweren. »Ihr verdreht die Dinge, bis man nicht mehr weiß, wo unten und oben ist. Habt Ihr vielleicht einmal darüber nachgedacht, dass ich Eure Gefühle schonen wollte? Dass ich Euch aus Mitgefühl nicht die Wahrheit sagen wollte – nämlich, dass es schlecht möglich ist, meinen Wunsch, es in der Politik zu etwas zu bringen, umzusetzen, wenn ich mit jemandem wie Euch verheiratet bin?«

Sein abfälliger Ton schockierte sie. »Was genau wollt Ihr damit sagen?«, verlangte sie zu wissen.

Er breitete die Arme aus, als lade er sie dazu ein, sich einmal umzusehen. Kitty tat es nicht. Sie wusste, was sie sehen würde, schließlich stand sie schon ihr ganzes Leben Tag für Tag in diesem Raum: die abgewetzten Sessel, die um den Kamin versammelt standen, als frören sie. Den einstmals eleganten Kaminvorleger, der jetzt mottenzerfressen und schäbig dalag. Die leeren Regale, die einst voller Bücher gestanden hatten.

»Wir leben zwar im selben Dorf, aber uns trennen Welten.« Wieder wedelte er mit der Hand. »Ich bin der Sohn des Squires! Und meine Mutter und Miss Spencer haben mir eben geholfen zu erkennen, dass ich mir keine Mesalliance leisten kann, wenn ich es zu etwas bringen will.«

Noch nie war sich Kitty des Klopfens ihres eigenen Herzens so bewusst gewesen. Laut wie eine Trommel dröhnte es in ihren Ohren. Jetzt war sie schon eine Mesalliance?

»Mr Linfield«, sagte sie leise, aber mit Eis in der Stimme. »Räumen wir doch zwischen uns gleich alle Lügen aus dem Weg. Mit unserer Verlobung gab es kein Problem, bis Ihr die hübsche Miss Spencer wiedergesehen habt. Der Sohn des Squires, was Ihr nicht sagt! Ich hätte nicht gedacht, dass Eure Familie ein derart ehrloses Verhalten gutheißen könnte. Vielleicht sollte ich froh sein, dass Ihr Euer wahres Gesicht gezeigt habt, bevor es zu spät war.«

Sie setzte jeden Schlag so gezielt und präzise wie Gentleman Jackson, und Charles – jetzt und für immer wieder Mr Linfield – taumelte tatsächlich nach hinten.

»Wie könnt Ihr so etwas sagen?«, fragte er erschüttert. »Ich bin nicht ehrlos. Ihr habt das alles völlig verdreht, Ihr seid ja wirklich ganz hysterisch.« Mittlerweile standen ihm mehr als nur ein paar Schweißtropfen auf der Stirn, und er wand sich unwohl. »Selbstverständlich ist es mein Wunsch, unsere großartige Freundschaft zu erhalten, aber Ihr müsst einsehen, Kit–«

»Miss Talbot«, korrigierte sie ihn voll kalter Höflichkeit. Ein Schrei der Wut brannte sich durch ihren Körper, aber sie unterdrückte ihn und wies nur mit scharfer Geste auf die Tür. »Sicher vergebt Ihr mir, wenn ich Euch bitte, Euch selbst hinauszubegleiten.«

Nach einem knappen Kopfnicken ergriff er dankbar die Flucht, ohne sich noch einmal umzusehen.

Kitty stand einen Moment lang bewegungslos da und hielt den Atem an, als könne sie damit verhindern, dass diese Katastrophe ihren Lauf nahm. Dann ging sie hinüber zum Fenster, durch das die Morgensonne ins Zimmer strömte, lehnte die Stirn gegen das Glas und atmete langsam aus. Von diesem Fenster aus konnte man den gesamten Garten überblicken: die frisch umgegrabene Erde im Gemüsebeet, die frei laufenden Hühner, die sich auf der Suche nach etwas Essbarem pickend durch die Pflanzen bewegten, die Hecke, in der sich in der beginnenden Wärme des Tages die ersten Insekten tummelten. Das Leben dort draußen ging weiter, auch wenn auf der anderen Seite des Glases alles in Trümmern lag. Sie waren allein. Vollkommen und erbarmungslos allein. Nun gab es niemanden mehr, an den sie sich hätten wenden können. Mama und Papa waren fort, und ganz gleich, wie sehr sich Kitty in dieser Stunde der höchsten Not auch wünschte, sie um Rat fragen zu können, es war unmöglich. Es gab schlichtweg niemanden mehr, der ihr helfen konnte. Panik stieg in ihr auf. Was sollte sie jetzt nur tun?

Möglicherweise hätte sie über mehrere Stunden in dieser Position verharrt, hätte sie nicht ihre jüngste Schwester, die zehn Jahre alte Jane, unterbrochen, indem sie wenige Minuten später mit der selbstwichtigen Ausstrahlung einer königlichen Abgesandten in den Raum platzte.

»Kitty, wo ist Cecilys Buch?«, fragte sie vorwurfsvoll.

»Gestern lag es in der Küche«, antwortete Kitty, ohne den Blick vom Garten abzuwenden. Sie sollten heute Nachmittag das Artischockenbeet jäten; bald würde man die Pflanzen einsetzen müssen. Aus der Entfernung hörte sie, wie Jane die Nachricht an Cecily weitergab.

»Da haben wir schon nachgesehen«, kam die Antwort zurück.

»Dann seht noch einmal nach«, entgegnete Kitty mit einer ungeduldigen Geste.

Die Tür öffnete sich und schloss sich wieder mit einem lauten Knall. »Sie sagt, da sei es nicht, und ob du es verkauft habest, denn dann sei sie wirklich enttäuscht, schließlich war es doch ein Geschenk des Vikars.«

»Um Himmels willen«, fuhr Kitty sie an, »sag Cecily, dass ich jetzt nicht nach ihrem albernen Vikar-Buch suchen kann, weil ich gerade verlassen worden bin und einen Moment brauche, um mich wieder zu fassen. Falls das nicht zu viel verlangt ist!«

Jane hatte die unerwartete Nachricht kaum weitergegeben, als sich auch schon der gesamte Haushalt – bestehend aus Kittys vier Schwestern und Bramble, dem Hund – im Salon versammelt hatte und die Stille umgehend in Lärm verwandelte.

»Kitty, was ist das mit Mr Linfield? Er hat die Verlobung aufgelöst? Im Ernst?«

»Ich konnte ihn noch nie leiden, er hat mir immer den Kopf getätschelt, als sei ich ein Kleinkind.«

»Mein Buch liegt nicht in der Küche.«

Ohne ihre Haltung am Fenster zu verändern, berichtete Kitty ihnen, so knapp sie konnte, was geschehen war. Danach herrschte Stille, während sich ihre Schwestern unsicher ansahen. Nach ein paar Minuten ging Jane, der langweilig geworden war, hinüber zum verstimmten Hammerklavier und durchbrach das Schweigen mit einer munteren Melodie. Sie hatte noch nie Unterricht erhalten, ersetzte aber, was ihr an Talent fehlte, durch Hingabe und Lautstärke.

»Wie schrecklich«, sagte Beatrice, die Kitty, wenn auch nicht vom Alter, so doch vom Temperament her am nächsten stand, schließlich erschüttert. »O Kitty, meine Liebe, das tut mir leid. Das hat dir bestimmt das Herz gebrochen.«

Abrupt wandte sich Kitty um. »Das Herz gebrochen? Beatrice, das ist doch völlig unerheblich. Ohne meine Heirat mit Mr Linfield sind wir ruiniert. Papa hat uns vielleicht das Haus hinterlassen, aber dazu auch noch eine recht erstaunliche Summe Schulden. Ich habe auf das Vermögen der Linfields gezählt, um uns zu retten.«

»Du wolltest Mr Linfield seines Geldes wegen heiraten?«, fragte Cecily mit abfälligem Unterton in der Stimme. Als Intellektuelle der Familie, da waren sich die Schwestern einig, litt sie unter einer etwas überentwickelten Moralvorstellung.

»Nun ja, sicherlich nicht seiner Integrität oder seines einem Gentleman gebührenden Ehrgefühls wegen«, antwortete Kitty bitter. »Ich wünschte nur, ich hätte Verstand genug gehabt, die Sache früher abzuschließen. Wir hätten die Heirat nach Mamas Tod nicht verschieben sollen, ich wusste, dass diese lange Verlobungszeit Schwierigkeiten geradezu heraufbeschwören würde. Wenn ich daran denke, dass Papa es für unschicklich gehalten hat!«

»Wie schlimm ist es, Kitty?«, fragte Beatrice.

Kitty sah sie einen Moment lang schweigend an. Wie sollte sie es ihnen sagen? Wie könnte sie all das erklären, was nun geschehen würde? »Es ist – ernst«, sagte Kitty vorsichtig. »Papa hat bei einigen, sagen wir, recht anrüchigen Leuten Geld auf unser Haus aufgenommen. Die Sachen, die ich verkauft habe – unsere Bücher, das Tafelsilber, etwas von Mamas Schmuck –, haben ausgereicht, um sie eine Weile von uns fernzuhalten, aber am ersten Juni werden sie wieder hier auftauchen. Das sind nicht einmal mehr vier Monate. Und wenn wir nicht genügend Geld haben, oder wenigstens einen Beweis dafür, dass wir in der Lage sind, unsere Schulden abzuzahlen, dann …«

»… müssen wir das Haus aufgeben? Aber das hier ist unser Zuhause.« Harriets Lippen bebten. Sie war zwar nur die Zweitjüngste, aber doch noch immer sensibler als Jane, die aber mittlerweile zumindest ihr Spiel unterbrochen hatte, still auf dem Klavierhocker saß und sie beobachtete.

Kitty brachte es nicht übers Herz, ihnen zu sagen, dass sie weit Schlimmeres erwartete als ein Umzug. Der Verkauf von Netley Cottage würde gerade so ausreichen, um ihre Schulden zu begleichen; es würde nichts mehr übrig bleiben, um ihr Leben zu bestreiten. Und ohne ein Dach über dem Kopf und die Aussicht auf ein geregeltes Einkommen sah die Zukunft für sie alle düster aus. Ihnen würde keine Wahl bleiben, als sich zu trennen. Beatrice und sie selbst könnten wahrscheinlich eine Anstellung in Salisbury oder einer der größeren Städte in der Nähe finden. Als Hausmagd vielleicht – oder als persönliches Dienstmädchen einer Lady, wenn sie wirklich Glück hatten. Cecily – nun ja, Kitty konnte sich nicht vorstellen, dass Cecily willens oder auch nur in der Lage wäre, irgendjemanden zu bedienen – aber mit ihrem Bildungsstand könnte sie vielleicht versuchen, an einer Schule unterzukommen. Harriet – sie war noch so jung! – würde es ihr gleichtun müssen. Irgendeine Einrichtung, die Kost und Logis bot. Und Jane … Mrs Palmer aus dem Dorf, wenn auch bekannt für ihre einzigartige Niedertracht, hatte seltsamerweise immer etwas für Jane übriggehabt. Vielleicht könnte man sie überreden, Jane aufzunehmen, bis sie alt genug war, sich auch eine Anstellung zu suchen.

Kitty stellte sie sich vor, ihre Schwestern, auseinandergerissen und in alle Winde verstreut. Würden sie sich jemals wieder so nahe sein wie heute? Und was, wenn es noch schlimmer kam als in diesem ohnehin schon düsteren Szenario? Schreckensbilder blitzten vor ihrem geistigen Auge auf: sie alle allein, hungrig, verzweifelt. Bislang hatte Kitty Mr Linfield keine Träne nachgeweint – er war ihre Tränen nicht wert –, aber jetzt verspürte sie ein schmerzhaftes Brennen in der Kehle. Sie hatten schon so viel verloren. Kitty war es gewesen, die ihnen hatte sagen müssen, dass Mama sich nicht mehr erholen würde. Und es war auch Kitty gewesen, die ihnen mitteilen musste, dass Papa gestorben war. Wie sollte sie ihnen jetzt nur sagen, dass ihnen das Schlimmste noch bevorstand? Sie wusste es nicht; die Worte entzogen sich ihr.

Kitty war nicht wie ihre Mutter, die in der Lage gewesen war, Zuversicht aus dem Nichts heraufzubeschwören wie Magie. Auch nicht wie ihr Vater, der es immer geschafft hatte, mit so viel Selbstsicherheit zu erklären, dass alles in Ordnung kommen würde, dass man ihm einfach glauben musste. Nein, Kitty war schon immer die Problemlöserin der Familie gewesen, aber das hier war ein Hindernis, das zu groß war, um es mit schierem Willen zu bewältigen. Verzweifelt wünschte sie sich, es gäbe jemanden, mit dem sie diese Bürde teilen könnte, aber sie war ganz allein. Die Gesichter ihrer Schwestern blickten schweigend zu ihr auf, selbst jetzt noch so voller Überzeugung, dass sie es schaffen würde, sie alle zu retten. So, wie sie es immer getan hatte.

Wie sie es immer tun würde.

Die Zeit der Verzweiflung war vorbei. Sie würde sich – durfte sich – nicht so einfach besiegen lassen. Entschlossen schluckte sie ihre Tränen herunter und straffte die Schultern.

»Bis zum ersten Juni sind es noch vier Monate«, sagte Kitty mit fester Stimme, während sie vom Fenster wegtrat. »Ich denke, das ist gerade genug Zeit für eine ambitionierte Unternehmung. Immerhin war ich schon in einem Dorf wie Biddington in der Lage, einen wohlhabenden Verlobten zu finden. Auch wenn er sich nun als Betrüger entpuppt hat, gibt es keinen Grund, nicht zu glauben, dieses Unterfangen könnte nicht einfach wiederholt werden.«

»Ich glaube nicht, dass hier noch irgendwelche anderen Männer leben, die reich genug sind«, wandte Beatrice mit betrübtem Blick ein.

»Ebendarum!«, erwiderte Kitty aufgekratzt und mit einem unnatürlichen Glitzern in den Augen. »Ebendarum muss ich fruchtbareren Boden aufsuchen. Beatrice, du bist ab jetzt hier verantwortlich – denn ich werde schon bald nach London aufbrechen.«

2

Menschen, die sich aus Gewohnheit unerreichbare Ziele setzen, trifft man recht häufig. Menschen dagegen, die es sich zur Gewohnheit gemacht haben, diese Ziele auch zu erreichen, sind selten. Doch genau zu dieser zweiten Gruppe gehörte Miss Talbot. Keine zwei Wochen nach dem düsteren Morgen im Salon von Netley Cottage saßen sie und ihre Schwester in einer klapprigen Postkutsche auf dem Weg nach London. Es war eine Reise von drei äußerst unbequemen Tagen, während derer sie in Begleitung einer zusammengewürfelten Gesellschaft aus Menschen und Geflügel auf ihren Sitzen durchgeschüttelt wurden und die Landschaft von Dorsetshire mit jeder Grafschaft, die sie durchquerten, hinter ihnen verschwand. Kitty starrte die meiste Zeit über aus dem Fenster, und als der erste Tag zu Ende ging, hatte sie ihre Heimat bereits so weit hinter sich gelassen wie nie zuvor.

Kitty hatte schon früh gewusst, dass sie würde reich heiraten müssen, aber sie hatte sich stets darauf verlassen, dieses Vorhaben zumindest in der Nähe von Biddington umsetzen und so bei ihrer Familie bleiben zu können. In diesem Sinne war die Verlobung mit Mr Linfield mithilfe ihrer Mutter äußerst geschickt eingefädelt worden. In den Wochen und Monaten nach dem Tod ihrer Mutter war Kitty umso dankbarer gewesen, dass ihre Zukunft mit Mr Linfield, der so nah bei ihnen wohnte, bereits gesichert war. In jenen dunkelsten aller Stunden war das Wissen, dass sie keinen Augenblick von der Seite ihrer Familie würde weichen müssen, wahrhaft ein Geschenk gewesen. Und doch musste sie jetzt fast alle ihre Schwestern zurücklassen. Mit jeder Meile, die ihre Reise sie von Biddington forttrug, zog sich der Knoten in ihrer Brust fester zusammen. Es war die richtige Entscheidung – die einzige Entscheidung –, die Kitty für ihre Familie treffen konnte, aber es erschien ihr dennoch schrecklich falsch, ohne sie zu sein.

Was für eine Närrin sie doch gewesen war, auf Mr Linfields Ehre zu vertrauen. Und trotzdem, sie konnte einfach nicht begreifen, wie seine Liebe zu ihr sich so schnell hatte in Luft auflösen können. Miss Spencer war hübsch, keine Frage, aber geistlos wie ein Fisch; es ergab keinen Sinn, dass alles so schnell geschehen war. Außerdem hatte sie geglaubt, der Rest der Linfields wäre Miss Spencer nicht besonders zugetan gewesen. Was hatte Kitty nur übersehen?

»Wie närrisch kann man sein«, sagte sie noch einmal, diesmal laut.

Cecily warf ihr einen beleidigten Seitenblick zu.

»Nicht du, ich. Oder eigentlich Mr Linfield«, ergänzte sie.

Mit einem Schnauben wandte sich Cecily wieder ihrem Buch zu. Als der schwere Foliant, den der Vikar ihr geschenkt hatte, erst einmal wieder aufgefunden war, hatte sie darauf bestanden, ihn mit auf die Reise zu nehmen, auch wenn Kitty sie darauf hingewiesen hatte, dass ein so großes und schweres Buch vielleicht nicht die beste Wahl war, um einem auf einer Hundert-Meilen-Reise Gesellschaft zu leisten.

»Willst du mich tatsächlich in allen Belangen unglücklich machen, Kitty?«, hatte Cecily dramatisch gefragt. In diesem Moment – sie stand mit verschwitztem Gesicht über dem riesigen Koffer ihrer Schwester – lautete die ehrliche Antwort Ja, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass dies wohl nicht die richtige war. Also hatte Kitty kapituliert und sich in den Gedanken gefügt, das absurde Monstrum den ganzen Weg nach London mitzuschleppen. Heimlich verfluchte sie die kostspielige Idee ihres Vaters, Cecily zwei Jahre lang auf das Bath Seminary for Young Ladies zu schicken, einzig beflügelt durch den Wunsch, mit dem lokalen Landadel, insbesondere den Linfields, mitzuhalten. Alles, was Cecily offensichtlich in ihrer Zeit dort gelernt hatte, war eine übertriebene Wahrnehmung ihrer eigenen intellektuellen Überlegenheit. Und trotz ihrer leidenschaftlichen Verteidigung des Buches widmete Cecily ihm nicht besonders viel Aufmerksamkeit. Stattdessen löcherte sie Kitty immer wieder mit denselben Fragen, mit denen sie sich bereits die ganze Reise über beschäftigte.

»Bist du wirklich sicher, dass du Tante Dorothys Brief richtig verstanden hast?«, fragte sie im Flüsterton, damit Kitty sie nicht schon wieder zurechtweisen musste, ihre Privatangelegenheiten nicht mit der ganzen Reisegesellschaft zu teilen.

»Wie sonst hätte man ihn denn verstehen können?«, erwiderte Kitty deutlich ungehalten. Dann seufzte sie, verlieh ihrer Stimme einen sanften Klang und setzte mit einer annehmbaren Imitation von Geduld zu einer erneuten Erklärung an. »Tante Dorothy kannte Mama aus ihrer gemeinsamen Zeit am Lyceum Theatre. Sie standen sich sehr nah; früher hat uns Mama immer ihre Briefe vorgelesen, erinnerst du dich? Ich habe sie in meinem Schreiben um Hilfe gebeten, und Dorothy hat angeboten, uns in die Londoner Gesellschaft einzuführen.«

Cecily schnaubte.

»Und wie kannst du sicher sein, dass Tante Dorothy eine ehrbare Frau mit angemessenen christlichen Wertvorstellungen ist? Wir könnten ebenso gut in einem Sündenpfuhl landen!«

»Nun, ich muss sagen, die viele Zeit mit dem Vikar hat dir offensichtlich nicht gutgetan«, erwiderte Kitty erhitzt, obschon sie insgeheim dieselbe Besorgnis bezüglich Tante Dorothy hegte, auch wenn Mama ihre Ehrhaftigkeit stets betont hatte. Aber es würde ja nichts helfen, sich Cecily anzuvertrauen, solange Tante Dorothy ihre einzige Option war. »Tante Dorothy ist die einzige uns bekannte Person, die in London wohnt. Papas Familie lebt mittlerweile in Frankreich – wobei uns von ihnen sowieso niemand geholfen hätte –, und Tante Dorothy war sogar so nett, unsere Reisekosten zu übernehmen. Wir können es uns schlichtweg nicht leisten, ihre Hilfe auszuschlagen.«

Cecily sah noch immer nicht überzeugt aus, und Kitty lehnte sich mit einem Seufzer in ihrem Sitz zurück. Sie beide hätten es vorgezogen, dass Beatrice Kitty auf ihrer Reise begleitete, aber die Anweisung am Ende des Briefes ihrer Tante war unmissverständlich gewesen: Bring deine hübscheste Schwester mit. Und da Beatrice nach eigener Aussage derzeit halb Stirn, halb Mädchen war, und Cecilys hübsches Äußeres in erstaunlichem Kontrast zu ihrem mürrischen Gemüt stand, fiel die Wahl ganz offensichtlich auf sie. Dass sie obendrein eine furchtbare Langweilerin war, würde keine Rolle spielen, wie Kitty hoffte. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass das Haus und die jüngeren Mädchen in Beatrice’ Händen und unter den wachsamen Augen der Frau des Vikars gut aufgehoben waren. Wenn Cecily damit betraut worden wäre, hätte es wohl bei ihrer Rückkehr kein Haus mehr gegeben, das sie hätte retten können.

»Ich denke immer noch, wir sollten uns lieber bemühen, eine ehrliche, gut bezahlte Anstellung zu finden«, verkündete Cecily gerade. »Mit meiner Ausbildung würde ich eine hervorragende Gouvernante abgeben.«

Eine Pause entstand, während derer sich Kitty der entsetzlichen Vorstellung hingab, die Verantwortung über die Finanzen der Familie in Cecilys Hände zu legen.

»Das mag sein«, antwortete Kitty mit leiser, umsichtiger Stimme. »Aber der derzeitige Lohn einer Gouvernante liegt bei fünfunddreißig Pfund pro Jahr. Was nicht annähernd genug ist, sosehr ich es auch bedauere. Der schnellste Ausweg aus unserer Misere ist schlicht und einfach meine Heirat mit einem reichen Mann.«

Cecily öffnete den Mund – wahrscheinlich, um eine weitere wertende, aber vollkommen unnütze Bemerkung abzugeben –, doch bevor sie dazu kam, rief ein kleiner Junge laut von seinem Sitz: »Mama, wir sind da!«

Und tatsächlich: Plötzlich gab der Blick aus dem Fenster Londons beeindruckende Silhouette am Horizont frei, dichte Rauchwolken hingen darüber wie Signalfeuer. Kitty hatte so viele Geschichten über London gehört … eine Stadt, von der ihre Eltern stets wehmütig erzählten, wie von einem guten Freund, den sie verloren hatten. Sie hatten von der Größe geschwärmt, ihrer Schönheit und königlichen Würde, von ihrer Lebhaftigkeit und den unzähligen Möglichkeiten: Die Königin der Städte hatten sie sie genannt. Lange hatte sich Kitty gewünscht, diesen fremden Ort, der für ihre Eltern ganz offensichtlich so etwas wie die erste Liebe und ihre wahre Heimat gewesen war, einmal selbst zu sehen. Als sie nun endlich durch die Londoner Innenstadt rollten, war Kittys erster Eindruck der von … Dreck. Alles war schwarz vom Ruß, aus den hohen Schornsteinen stieg Rauch auf, Pferdeäpfel lagen auf der Straße. Dreck und – Chaos, mit all den Straßen, die sich wild kreuzten, bevor sie im Zickzack in irgendeine Richtung verschwanden. Gebäude schienen in bizarren Winkeln zu schwanken; Häuser, die nicht alle vier- oder rechteckig waren, sondern sonderbare Formen aufwiesen, wie von Kinderhand gemalt. Lebhaft war es zweifellos, ja, aber so laut – so unvorstellbar laut! Unablässig klapperten Räder und Hufe über das Pflaster, Straßenhändler riefen, und alle schienen es so eilig, eilig, eilig zu haben. Die Stadt war laut, chaotisch und schmutzig, verlangte bedingungslose Achtung und Aufmerksamkeit, und sie war einfach –

»Wunderschön«, hauchte sie. »Cecily, wir sind endlich da.«

Am Piccadilly tauschten sie die Postkutsche gegen eine Droschke, die sie zum Wohnhaus ihrer Tante Dorothy in der Wimpole Street brachte. Kitty war noch nicht in der Lage, den Unterschied zwischen den vornehmen und den weniger vornehmen Vierteln Londons zu erkennen, aber sie nahm erfreut zur Kenntnis, dass die Straße, in der Tante Dorothy wohnte – wenn auch weitaus weniger prächtig als einige der prunkvollen Villen, an denen sie vorbeigefahren waren –, respektabel genug schien, um sich ihrer nicht schämen zu müssen. Die Droschke hielt vor einem schmalen Haus, das aussah, als hätte es sich zwischen zwei andere gequetscht. Nachdem Kitty sich von einer ihrer wertvollen Münzen getrennt hatte, stiegen sie die steilen Treppenstufen hinauf und klopften. Die Tür wurde von einem Hausmädchen mit grellrotem Haar geöffnet. Wie aufregend zu sehen, dass Tante Dorothy tatsächlich Personal hatte! Das Mädchen brachte sie hinauf in einen kleinen Salon, in dem sie außer ihrer Nenntante niemand erwartete.

Obwohl Kitty Cecilys Zweifel auf der Fahrt so gedankenlos abgetan hatte, war sie doch von einer heimlichen Angst geplagt gewesen, sie könnten von einer stark geschminkten Frau mit ausladender Perücke, einem derben Lachen und unschicklichen Unterröcken begrüßt werden, und das wäre ganz und gar nicht für das geeignet gewesen, was Kitty vorhatte. Umso erleichterter war sie, jetzt einer beeindruckenden Frau gegenüberzustehen, die ganz offensichtlich etwas von Mode verstand und ihre üppige Figur stilvoll in ein taubengraues Tageskleid gehüllt hatte. Ihre braunen Locken waren unbedeckt, aber der informelle Stil stand ihr – in ihren Augen lag ein gewisses Glitzern, das sich nicht gut mit der Ernsthaftigkeit einer Haube oder Witwenkappe vertragen hätte. Dorothy erhob sich von ihrem Stuhl. Still stand sie da und musterte die beiden einen Moment lang mit ihren strahlenden Augen unter den dramatisch dunklen Brauen. Kitty und Cecily hielten den Atem an, beide ungewöhnlich nervös. Doch dann legte sich ein Lächeln auf Tante Dorothys Gesicht, und sie streckte die juwelenbesetzten Hände aus.

»Meine Lieblinge, ihr seht eurer Mutter so ähnlich«, sagte sie und schloss die beiden Schwestern fest in die Arme.

 

Mit ihren einundfünfzig Jahren hatte Tante Dorothy schon viele Rollen gespielt und Leben gelebt. Als Schauspielerin hatte sie eine vielseitige und schillernde Laufbahn auf der Bühne gefeiert, während sie außerhalb des Theaters ihre Zeit damit verbracht hatte, eine ausgewählte Elite Londoner Gentlemen zu unterhalten. Da sie auf diese Weise zu einem nicht unbeträchtlichen Vermögen gekommen war, hatte sie sich an ihrem einundvierzigsten Geburtstag das feuerrote Haar dunkelbraun gefärbt und sich nicht nur dem Namen, sondern auch der Umgangsform nach als die wohlhabende Witwe Mrs Kendall wiedererfunden. Als diese nahm sie ein angenehmes Leben im Dunstkreis der gehobenen Gesellschaft auf und verbrachte ihre Tage fortan in Häusern, die sie als junge Dame oft nur am Abend gesehen hatte. Obschon Kitty sich gesorgt hatte, dass die berühmte Vergangenheit ihrer Tante ihr eher ein Hindernis als eine Hilfe sein könnte – schließlich galten Schauspielerinnen nicht gerade als tugendhaft –, machte ihr Auftreten schnell klar, dass ihre Verwandlung in eine ehrbare Dame unfehlbar war. Schon ihr erster Eindruck verlieh Kitty mehr Sicherheit, dass Tante Dorothy sie tatsächlich während ihrer ersten Schritte in London an die Hand nehmen und ihr auf der Suche nach einem Vermögen mit Rat und Tat zur Seite stehen könnte. Aber obschon Kitty tausend Fragen auf der Seele brannten, verbrachten sie doch die ersten gemeinsamen Stunden einzig und allein damit, über ihre Mutter zu sprechen.

»Ich wäre so gern zu ihrer Beerdigung erschienen«, beteuerte Mrs Kendall. »Ihr müsst wissen, dass ich gekommen wäre, aber euer Vater hielt es für … unklug.«

Kitty verstand diese vage Erklärung vollkommen. In einer besseren Welt hätte es ihr alles bedeutet, Tante Dorothy damals bei ihnen gehabt zu haben, um Geschichten aus Mamas früherem Leben zu hören und ihr so noch näherzukommen, auch wenn sie nun von ihnen gegangen war. Aber Kitty wusste, dass Mr Talbot im besten Interesse der Familie gehandelt hatte, als er Tante Dorothy bat, den Feierlichkeiten fernzubleiben. Ihre Anwesenheit hätte Fragen aufwerfen können … und manche Dinge beließ man besser in der Vergangenheit.

»Es war ein wunderschöner Tag«, sagte Kitty stattdessen und räusperte sich. »Kühl und klar. Sie hätte ihn geliebt.«

»Bei gutem Wetter konnte man sie nie im Haus festhalten«, sagte Dorothy mit einem schmerzlichen, aber aufrichtigen Lächeln. »Ganz gleich, welcher Tag es war.«

»Ich habe ein Gedicht vorgetragen«, ergriff Cecily das Wort. »Aus The Book of the Dutchess, ihrem Lieblingsbuch.« Natürlich hatte niemand auch nur ein Wort verstanden, dachte Kitty, aber Cecily hatte klar und gut gelesen.

Noch viele Stunden saßen sie beieinander und tauschten Erinnerungen aus, rückten ihre Stühle enger zusammen, ergriffen einander immer wieder an den Händen und kamen sich auf diese unausweichliche Art näher, wie es Menschen immer tun, die einen solchen Verlust miteinander teilen. Als sich das Gespräch schließlich Kittys aufgelöster Verlobung zuwandte, war der Himmel vor dem Fenster bereits dunkel.

»Ihr habt recht daran getan, hierherzukommen«, versicherte Dorothy Kitty, während sie ihnen drei großzügige Gläser Ratafia einschenkte. »London ist genau der richtige Ort – nicht auszudenken, ihr hättet es zu dieser Zeit in Bath oder Lyme Regis versucht. Betrachtet mich als eure gute Fee, meine Lieben. Ich bin mir sicher, wir können euch beiden innerhalb kürzester Zeit genau den richtigen Ehemann sichern.«

Sofort wurde Cecily, die in Gedanken ein wenig abgeschweift war, wieder aufmerksam. Mit großen, vorwurfsvollen Augen blickte sie Kitty an.

»Tante Dorothy, nur ich bin auf der Suche nach einem passenden Heiratskandidaten«, sagte Kitty entschlossen. »Cecily ist noch zu jung.«

Tante Dorothy sah überrascht aus. »Seid ihr wirklich sicher?«, wandte sie ein. »Wäre es nicht klug, euch beide unter die Haube zu bringen?«

»Ganz gewiss«, bestätigte Kitty.

Cecily atmete erleichtert auf.

Dorothy sah nicht ganz überzeugt aus, fasste sich aber sofort wieder. »Nun, ich denke, wir können sie immer noch dazu einsetzen, die Beute anzulocken!«, erklärte sie. »Aber erst einmal gibt es jetzt viel zu tun. Wir müssen uns um eure Kleider kümmern, euer Haar, euer …« Mit einer ausladenden Geste schien sie ihr gesamtes Auftreten einzuschließen. »Und wir haben keinen Tag zu verlieren – die Ballsaison steht vor der Tür.«

3

Am nächsten Morgen erwachten sie früher als ihre Gastgeberin – die Uhr lief in der Stadt anders, nahm Kitty an –, aber jeder Gedanke an Faulheit wurde sogleich von der forschen Art Lügen gestraft, mit der Dorothy das Tagesprogramm in die Hand nahm.

»Es gibt so viel zu tun!«, rief sie und scheuchte sie in ihre Mäntel, aus dem Haus und hinein in eine Droschke. Auf Kittys Bitte hin war der erste Halt ein unauffälliges Gebäude in der Bond Street, wo sie den Rest des Schmucks ihrer Mutter gegen eine Gesamtsumme von zehn Pfund eintauschte, um ihre Londoner Ausgaben zu decken. Es war ihr letztes Vermögen, und der Gedanke, dass zehn Pfund, die allzu schnell ausgegeben sein würden, alles war, was noch zwischen ihr und dem Schuldgefängnis lag, ließ sie vor Angst erzittern. Entschlossen schob sie den Gedanken beiseite. Es mochte närrisch erscheinen, ihr letztes Geld für Flitterkram auszugeben, aber der ausschweifende Tag, der vor ihnen lag, war genauso notwendig wie die Reparatur des undichten Daches von Netley Cottage im letzten Jahr.

»Morgenkleider, Abendkleider, Hüte, Handschuhe, Schuhe, Unterröcke – wir brauchen alles«, erklärte Dorothy, während sie über das Kopfsteinpflaster ratterten. »Der Adel kauft seine Kleider bei Mrs Triaud, die Stiefel bei Hoby’s und Hüte bei Lock’s. Aber für uns reicht Cheapside, dort finden wir alles.«

Dem Namen zum Trotz erschien Cheapside Kitty überaus prachtvoll. Ein Meer aus Tuchmachern, Maßschneidern, Silberschmieden, Buchhändlern, Strumpfwarenhändlern, Hut- und Schuhmachern erstreckte sich meilenweit über unzählige Straßen, ein Laden neben dem anderen. Wie der Fels in der Brandung führte Dorothy sie zielsicher durch alle hindurch: Man nahm Maß für Hauskleider, Promenadenkleider, Abend- und Ballkleider; sie probierten Hüte an, strichen mit den Händen über den Stoff unfassbar seidiger Strümpfe und trennten sich im Namen des Investments Schilling um Schilling von ihrem Geld. Als sie völlig erschöpft in die Wimpole Street zurückkehrten, war es bereits später Nachmittag. Aber Tante Dorothy war noch nicht annähernd fertig mit ihnen.

»Kleider sind einfach«, verkündete sie entschlossen. »Sich zu benehmen wie eine junge Dame von Stand, ist eine weitaus schwierigere Angelegenheit. Habt ihr viel Erfahrung in gehobener Gesellschaft sammeln können?«

»Wir waren häufig zum Dinner auf Linfield Manor«, antwortete Kitty, unsicher, ob das zählte. Mr Talbot und Squire Linfield waren schon vor der Verlobung ihrer Kinder gute Freunde gewesen, denn sie hatten das Interesse an teurem Brandy und Glücksspiel geteilt. Also waren die Talbots oft Gäste bei den Dinnerpartys im prächtigen Heim der Linfields gewesen.

»Gut«, nickte Tante Dorothy. »Für den Anfang möchte ich, dass ihr euch jedes Mal, wenn ihr das Haus verlasst, vorstellt, ihr befändet euch bei einer Dinnerparty auf Linfield Manor. Steht aufrecht und ruhig, geht langsam – nicht dieses Rumgehetze; jede Bewegung muss bedacht und voller Anmut sein. Ihr müsst stets leise und wohlartikuliert sprechen. Auf gar keinen Fall dürft ihr umgangssprachliche oder ordinäre Ausdrücke verwenden, und falls ihr euch unsicher seid, sagt einfach nichts.«

Drei Tage lang exerzierte Dorothy mit ihnen, wie man ging, sich das Haar nach der neuesten Mode frisierte, wie man einen Fächer, eine Gabel, eine Handtasche hielt. Sich in eine echte Dame zu verwandeln, ging Kitty alsbald auf, bedeutete, sich so sehr zusammenzunehmen, dass man kaum atmen konnte – der ganze Körper musste zu einem Korsett werden, in dem alles Unschickliche, alles Unelegante und Charaktervolle stets streng verschnürt blieb. Kitty saugte jedes Körnchen Information begierig auf und zwang Cecily, es ihr gleichzutun. Schließlich schweiften die Gedanken ihrer Schwester für gewöhnlich schnell ab, sobald sie erkannte, dass eine Unterhaltung nicht von Interesse für sie war. Als ihre ersten Kleider ankamen, war ihnen von all dem neuen Wissen schon ganz schwindlig.

»Dem Himmel sei Dank«, verkündete Dorothy, während die Pakete hereingebracht wurden, »nun könnt ihr wenigstens das Haus verlassen, ohne rot zu werden.«

Kitty und Cecily trugen die Kartons nach oben und packten sie dort mit großem Staunen aus. Mode, so stellten sie schnell fest, war in London deutlich schnelllebiger als in Biddington, und so ähnelte der wunderschöne Inhalt der Schachteln kaum noch der Garderobe, die sie gewohnt waren. Es gab schlichtere Kleider für den Tag in hübschen Blau- und Gelbtönen, Roben aus Musselin, dicke Mäntel, kurze Spenzer aus Satin und – am alleratemberaubendsten – zwei Abendkleider, die eleganter waren als alles, was Kitty jemals gesehen hatte. In diese halfen sich die beiden Schwestern vorsichtig hinein. Dann frisierten sie sich das Haar so, wie Tante Dorothy es ihnen gezeigt hatte, sorgfältig verziert mit frischen Blüten, und als alles fertig war, sahen sie vollkommen verwandelt aus.

Das Bild, das ihnen aus dem bodentiefen Spiegel in Dorothys Schlafzimmer entgegenblickte, machte Kitty sprachlos. Sie war daran gewöhnt, dass Cecily immer ein wenig so aussah, als sei sie gerade aus tiefem Schlaf erwacht, aber jetzt wirkte sie fast wie ein Engel, dachte Kitty. Die fließenden Röcke in strahlendem Weiß ließen sie aussehen, als würde sie sich jeden Augenblick in Luft auflösen, und ihr blondes, in Locken gelegtes Haar umrahmte ihr Gesicht und verlieh ihrem Anblick noch mehr Zartheit. Auch Kitty trug Weiß, wie es sich für eine junge Dame in ihrer ersten Saison gehörte. Der helle Farbton des Stoffs stand in auffälligem Kontrast zu ihren dunklen Augen und dem dunklen Haar – das, von Natur aus glatt, zu hübschen Locken gleich derer ihrer Schwester aufgedreht war – und betonte den dramatischen Schwung ihrer Brauen über den strahlenden Augen. Die Mädchen im Spiegel sahen beeindruckend aus, dachte Kitty. Sie sahen aus, als gehörten sie hierher, nach London.

»Was für ein Anblick!« Tante Dorothy klatschte entzückt in die Hände. »Ich denke, ihr seid bereit. Heute Abend geht es los.«

 

Als die Abenddämmerung sich senkte, erreichten sie das Theatre Royale in Covent Garden. Hell erleuchtet vom Kerzenschein, war das Theater mit seinen hohen, gewölbten Decken und dem kunstvoll verzierten Innenraum wirklich wunderschön. Auch wenn noch nicht so viel los war wie zur Hauptsaison, war die Aufregung, die im Raum lag, fast greifbar.

»Seht euch all die Leute an«, flüsterte Dorothy zufrieden. »Spürt ihr all die Möglichkeiten, die in der Luft liegen, meine Lieben?«

»›Marks of weakness, marks of woe‹«, murmelte Cecily düster in einem Ton, den Kitty mittlerweile als ihre Zitierstimme erkannte. Bestimmt wieder dieser William Blake. Tante Dorothy musterte sie argwöhnisch. Als sie die große Empfangshalle betraten, zischte sie Kitty so leise ins Ohr, dass Cecily sie nicht hören konnte: »Ist sie von schwachem Verstand?«

»Nur von großem Intellekt«, erwiderte Kitty leise.

Tante Dorothy seufzte. »Das hatte ich befürchtet.«

Langsam schritten sie zu ihren Plätzen. Tante Dorothy sah sich aufmerksam um und winkte bekannten Gesichtern in der Menge zu.

»Wir haben großes Glück«, verkündete sie halblaut, während sie die obere Galerie betraten. »Ich hätte nicht damit gerechnet, bereits zu Beginn der Saison so viele unverheiratete Männer hier zu sehen.«

Kitty nickte, während sie Platz nahm, aber sie war abgelenkt. Ihr Blick war auf die königlichste Familie gefallen, die sie je gesehen hatte und die ihre Aufmerksamkeit sofort und vollkommen in Bann schlug. Weit über ihnen, in ihrer eigenen Loge, saßen drei Fremde, die, selbst für Kittys ungeübtes Auge, aus der Menge herauszustechen schienen. So schön und in so wunderbare Kleider gehüllt, wie sie es waren, mussten der junge Mann, die junge Dame und die atemberaubend schöne Frau zusammengehören. Eine Familie, die, so dachte Kitty, während sie zusah, wie die drei sich unterhielten und miteinander lachten, keine Sorge auf der Welt umtrieb als ihr eigenes Amüsement. Dorothy folgte Kittys Blick und schnalzte missbilligend mit der Zunge.

»Es hat keinen Sinn, den Blick so weit nach oben zu richten, meine Liebe. Selbstverständlich bewundere ich deine Ambitionen, aber wir wollen doch nicht vergessen, wo wir herkommen.«

»Ikarus«, warf Cecily unbestimmt ein, ob als Zustimmung oder einfach, um der Unterhaltung etwas intellektuelles Niveau zu verleihen, war unklar.

»Wer sind sie?«, fragte Kitty, die noch immer zur Loge hinaufsah. Die Verheißung von Klatsch und Tratsch ließ Dorothys Missbilligung rasch dahinschmelzen.

»Die de Lacys«, sagte sie und beugte sich näher zu Kitty. »Die verwitwete Dowager Countess Lady Radcliffe und ihre zwei jüngsten Kinder, Mr Archibald de Lacy und Lady Amelia de Lacy. Die ganze Familie ist reich wie das Königshaus. Natürlich ist es der älteste Sohn, der Earl of Radcliffe, der den Löwenanteil hält, aber auch die beiden Jüngeren werden ein Vermögen erben – meiner Schätzung nach wenigstens achttausend pro Jahr. Ganz zweifellos werden sie alle drei ganz hervorragende Ehen schließen.«

Als das Stück begann, lehnte sie sich wieder in ihrem Sitz zurück, aber selbst noch, als das erste Keuchen und Lachen aus dem Publikum aufstieg, konnte Kitty den Blick nicht von den de Lacys abwenden. Wie war es wohl, fragte sie sich neidvoll, von Geburt an zu wissen, dass die eigene Zukunft sicher und glücklich sein würde? In dieser exklusiven Loge über dem Rest der Gesellschaft zu schweben? Kitty musste zugeben, dass sie tatsächlich aussahen, als gehörten sie dorthin: ganz nach oben. Sie fragte sich, ob es jemals eine Welt hätte geben können, in der auch ihr Platz dort oben gewesen wäre – schließlich war ihr Vater als Mann von Stand geboren und hätte vor seiner Heirat durchaus mit Lords und Ladys ihrer Klasse Umgang pflegen können. Wenn sich die Ereignisse nur ein klein wenig anders zugetragen hätten … Kitty spürte einen unsinnigen Stich der Eifersucht auf diese andere Version ihres Selbst, die sich im gleichen Kreis hätte bewegen können wie die strahlenden de Lacys. Erst als Tante Dorothy sie mit dem Ellbogen anstieß, schaffte sie es, den Blick von der Loge loszureißen.

In der Pause hielt Dorothy Kitty und Cecily auf Trab, indem sie die beiden unzähligen Männern und Frauen vorstellte, wohlhabenden Händlern und ihren Söhnen, Töchtern und Ehefrauen, Rechtsanwälten, Militärs in schneidigen Uniformen und den hübsch gekleideten Damen an ihrer Seite. Allein an diesem Abend waren es mehr Menschen, als Kitty je in ihrem Leben kennengelernt hatte, und sie kam nicht umhin, sich ein wenig eingeschüchtert zu fühlen, so als wäre sie wieder das fünfzehnjährige Mädchen, das zum ersten Mal die Auffahrt zu Linfield Manor hinaufgeht, erfüllt von der schrecklichen Angst, etwas falsch zu machen. Sie erinnerte sich daran, wie ihre Mutter ihr an diesem Abend beruhigend ins Ohr geflüstert hatte, an den sanften Duft ihres Rosenwasserparfüms. Augen und Ohren, mein Schatz, hatte sie gesagt. Sieh zu und lausche und tue einfach, was die anderen tun. Es ist ganz leicht.

Kitty holte so tief Luft, dass sie fast meinte, den Rosenduft noch immer riechen zu können, nahm all ihren Mut zusammen und machte sich daran, Eindruck zu hinterlassen. Genauso, wie man je nach der Mode einen anderen Hut aufsetzt, passte sie sich ihrem jeweiligen Gesprächspartner an: die Männer, die sich für besonders geistreich hielten, beschenkte sie mit bereitwilligem Lachen, die Eitlen bewunderte sie, und bei den Schüchternen hatte sie stets ein Lächeln auf den Lippen und redete mehr. Als sie sich auf den Heimweg machten, war Dorothy wie berauscht.

»Also Mr Melbury hat ein Jahreseinkommen von etwa eintausend Pfund«, erklärte sie in der Droschke, »Mr White war vollkommen eingenommen von Cecily und –«

»Wir hatten uns geeinigt, dass Cecily nicht hier ist, um einen Ehemann zu finden«, warf Kitty ein.

Cecilys Schultern neben ihr entspannten sich wieder.

»Ach ja, ach ja.« Dorothy machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mr Pears war etwas schwerer zu lesen, aber nach dem Ableben seines Vaters erwartet ihn ein hübsches Jahreseinkommen von etwa zweitausend Pfund aus der Reederei. Und Mr Cleaver –«

»Gibt es Männer in Eurer Bekanntschaft, deren Einkommen zweitausend pro Jahr übersteigt?«, unterbrach Kitty sie erneut.

»Mehr als zweitausend pro Jahr?«, fragte ihre Tante mit erhobenen Augenbrauen. »Was in aller Welt hast du erwartet, Kind?«

»Mr Linfields Jahreseinkommen lag bei viertausend«, erwiderte Kitty. Eine Sorgenfalte stand ihr auf der Stirn.

»Vier?«, wiederholte Dorothy ungläubig. »Himmel, der Squire hat offenbar gut für sich gesorgt. Aber du kannst nicht erwarten, dass sich ein solches Wunder wiederholen lässt, meine Liebe. Ohne Grundbesitz lässt sich ein derartiges Vermögen nur schwerlich finden, Schätzchen, und in meinen Kreisen besitzen nur sehr wenige Gentlemen Land.«

Kitty versuchte, diese unerfreulichen Neuigkeiten zu verdauen. Sie hatte gewusst, dass Mr Linfield wohlhabend war, wohlhabend genug, damit die Rückzahlung ihrer Schulden kein Problem dargestellt hätte – aber sie hatte doch angenommen, dass sie in London mehrere Vertreter seines Kalibers finden würde.

»Also kann ich nicht davon ausgehen, Männer eines ähnlichen Einkommens kennenzulernen?«, stellte Kitty fest, und ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen.

»Nicht in meinem Bekanntenkreis«, lachte Tante Dorothy.

Kitty wurde heiß. Sie fühlte sich wie eine Närrin und sehnte sich danach, wieder in der Wimpole Street zu sein, um mit Feder und Papier die Zahlen noch einmal in Ruhe durchzugehen. Wären zweitausend pro Jahr genug, um ihre Schwestern zu unterstützen? Würde es reichen?

»Auf welche Summe belaufen sich denn eure Schulden?«, fragte ihre Tante scharfsinnig.

Kitty sagte es ihr.

Dorothy erlaubte sich ein undamenhaftes Pfeifen. »Ach herrje«, sagte sie mit weit aufgerissenen Augen. »Dann wird es wohl Mr Pears sein müssen.«

»Ja«, stimmte Kitty ihr zu, wenn auch ein wenig zweifelnd. Zweitausend pro Jahr war sicherlich besser als nichts, aber schließlich stand mehr auf dem Spiel als nur ihre Schulden. Würden zweitausend Pfund reichen, um diese nicht unbeträchtliche Summe abzubezahlen, Netley zu behalten und darüber hinaus noch die Zukunft ihrer Schwestern zu sichern? Was, wenn eine ihrer Schwestern einer Mitgift bedurfte, um den Gentleman ihrer Wahl zu ehelichen? Was, wenn alle drei eine Mitgift brauchten? Oder im Gegenteil … was, wenn eine von ihnen Geld brauchte, um einen armen Mann zu heiraten? Oder Cecily, die sicherlich ohne Ehemann, aber dafür mit einer großen Anzahl teurer Bücher am glücklichsten sein würde? Von Mr Linfield hätte sie all das erwarten können, aber selbst der ihr am wohlsten gesinnte Mann der ganzen Welt könnte ihr dies mit einem Einkommen von zweitausend Pfund pro Jahr nicht versprechen.

»Wäre vielleicht … Almack’s ein Ort, den Männer mit höherem Einkommen besuchen?«, fragte sie nachdenklich.

»Almack’s Assembly Rooms? Kitty, da greifst du nach den Sternen«, sagte Dorothy mit einem Anflug von Verzweiflung. »Es besteht ein bedeutender Unterschied zwischen der feinen Gesellschaft und dem Adelsstand. Zu dieser Schicht – zur Welt der Lords und Ladys, Land und Reichtum – kann ich dir keinen Zugang verschaffen. In diese Kreise wird man hineingeboren, und es gibt keinen anderen Weg, an eine Einladung zu gelangen. Vergiss diese gefährlichen Vorstellungen und konzentriere deine Aufmerksamkeit auf Männer wie Mr Pears. Du könntest dich wirklich glücklich schätzen, einen solchen Ehemann zu gewinnen.«

Endlich erreichten sie die Wimpole Street. Kitty zog sich ohne ein weiteres Wort in ihr Schlafzimmer zurück. In recht melancholischer Stimmung grübelte sie während ihrer gesamten Abendtoilette über Dorothys Worte nach und war noch immer nicht fertig damit, als Cecily ihre Kerze ausblies und sich neben sie ins Bett legte. Ihre Schwester fiel sofort in tiefen Schlaf, während Kitty im Dunklen ihrem Atem lauschte und ihr die Leichtigkeit neidete, mit der sie die Sorgen des Tages einfach hinter sich lassen konnte.

Zweitausend würden ihren Sorgen und Mühen zwar kein Ende bereiten, aber es würde helfen. Ihre Mutter hatte sich schließlich mit weit weniger zufriedengegeben – tatsächlich lag diese Summe deutlich über dem, was Mr und Mrs Talbot dafür zugesprochen worden war, dass sie London vor so vielen Jahren verlassen hatten. Und natürlich war es auch nicht genug für sie gewesen, vor allem, da Papa es nie recht geschafft hatte, seine Lebensgewohnheiten von denen eines wohlhabenden alleinstehenden Gentlemans denen eines fünffachen Familienvaters mit einem schnell schwindenden Einkommen von fünfhundert Pfund pro Jahr anzupassen. Kitty fand zwar keinen Gefallen am Glücksspiel oder an hundert Jahre altem Portwein, aber dafür hatte sie vier Schwestern, die auf ihre Unterstützung angewiesen waren – und hätte, anders als ihre eigenen Eltern, dabei nicht den Luxus einer Liebesehe, die ihr Trost spenden konnte, wenn das Geld knapp wurde.

Zum hundertsten oder tausendsten oder millionsten Mal wünschte Kitty, sie könnte mit ihrer Mutter sprechen. So dankbar sie auch war, Tante Dorothy mit all ihrer Erfahrung in London an ihrer Seite zu wissen, so war es doch nicht dasselbe. Sie sehnte sich verzweifelt danach, mit jemandem reden zu können, der sie kannte, wirklich kannte, und der ihre Schwestern genauso liebte wie sie selbst – und dem die Vorstellung von Jane, Beatrice, Harriet und Cecily, allein und verloren in den dunklen und unwirtlichen Ecken des Landes, genauso zusetzte wie ihr. Jemand, der verstehen würde, dass für ihr Glück keine Mühen zu groß wären, so wie Mama es verstehen würde. Sie wüsste, was Kitty als Nächstes tun sollte, da war Kitty sich sicher. Und sie würde sich nicht von derart albernen Selbstbeschränkungen wie sozialen Grenzen oder Hierarchien abschrecken lassen. Schließlich war sie es gewesen und nicht Tante Dorothy, die den Mut gehabt hatte, sich in einen Gentleman zu verlieben, der weit über ihr stand.

Kitty rollte sich auf die Seite und versuchte, ihre aufmüpfigen Gedanken wieder unter Kontrolle zu bringen. Es war sinnlos, über Dinge nachzugrübeln, die sie nicht ändern konnte. Ihre Mutter war fort, und dies hier war nun allein ihre Aufgabe. Tante Dorothy war die Einzige, auf deren Rat sie zurückgreifen konnte, und Dorothy hatte gelacht, als Kitty nach einem Mann gefragt hatte, dessen Einkommen jenes von Mr Pears übertraf. Es war kein böswilliges Lachen gewesen, sie hatte die Vorstellung schlichtweg für absurd gehalten, und vielleicht sollte Kitty diese Einschätzung ernst nehmen.

In dieser Nacht fiel es ihr schwer einzuschlafen. Immer wieder schreckte sie hoch, während die Erschöpfung mit ihren aufgewühlten Gedanken um die Vorherrschaft kämpfte. Und sogar, als sie schließlich doch vom Schlaf übermannt wurde, fragte sich Kitty immer noch dasselbe: Wenn sie sich schon für ihre Familie verkaufen musste, war es dann so falsch, sich wenigstens jemanden zu wünschen, der ein höheres Gebot abgeben konnte als Mr Pears?

4

Am nächsten Morgen erwachte Kitty mit der Sehnsucht nach einer Pause vom Lärm der Straßen Londons. Nach dem Frühstück überredete sie Cecily, sie in den Hyde Park zu begleiten. Nach einer halben Stunde Fußmarsch fanden sie ihr Ziel ohne Probleme. Auf Tante Dorothys Drängen hatten sie ihr Dienstmädchen Sally mitgenommen, die nun stets zwei Schritt hinter ihnen herging. Allen Mahnungen zum Trotz folgten sie den Serpentinen des Weges in raschem Tempo, das nicht ganz zum verträumten Schreiten der anderen Damen passte, und Kitty sog erleichtert die saubere Luft und den Anblick all des frischen Grüns ein. Auch wenn der künstlich angelegte Park ganz anders aussah als die Landschaft in Biddington, erinnerte die Aussicht Kitty dennoch mehr an zu Hause als jeder andere Ort in London, den sie bislang gesehen hatten.

Sie fragte sich, ob ihre Eltern hier je gemeinsam entlangspaziert waren. Ganz sicher nicht an einem so schönen Tag, das stand wohl fest. Ihre Liebe hatte nicht den traditionellen Standards entsprochen: Da die Familie ihres Vaters die Verbindung so entschlossen abgelehnt hatte, musste sie notwendigerweise fernab von den Blicken der Öffentlichkeit stattfinden, in abgelegenen Ecken und stets am Rande der Gesellschaft. An einem sonnigen Tag, wenn die gehobene Gesellschaft sich in den Grünanlagen Londons vergnügte, hätten sie sich wohl drinnen getroffen, weit weg von den Menschenmengen. Durch den Hyde Park wären sie eher an einem verregneten oder stürmischen Tag flaniert, wenn sie unter sich hätten bleiben können. Ihrer Mutter hätte das nichts ausgemacht, das wusste Kitty. Obschon sie in der Stadt geboren und aufgewachsen war, hatte sie nichts mehr geliebt, als draußen zu sein, ganz gleich, bei welcher Witterung, wohingegen Mr Talbots Leidenschaften sich eher auf Aktivitäten innerhalb des Hauses beschränkt hatten.

Einige von Kittys glücklichsten Erinnerungen an ihren Vater waren die an das gemeinsame Kartenspiel im Salon, jeden Sonntagnachmittag, solange sie denken konnte, bis zum Tage vor seinem Tod. Er hatte ihr beigebracht, wie man Whist, Faro und alle möglichen anderen Kartenspiele spielte, und sie hatten stets um echtes Geld gespielt – wenn auch nur um Pennys, darauf hatte Kitty bestanden –, da Mr Talbot die unerschütterliche Meinung vertrat, mit Geld auf dem Tisch spiele man anders. Kitty konnte sich noch gut an ihre erste gemeinsame Partie Piquet erinnern. Nachdem er ihr die Regeln erklärt hatte, entschied sie sich, bei jedem Stich nur einen halben Penny zu setzen.

»Warum nur so wenig, Liebes?«, hatte ihr Vater gefragt und missbilligend mit der Zunge geschnalzt. »Du hast ein gutes Blatt.«

»Falls ich verliere«, hatte sie geantwortet, als sei das offensichtlich. Er stieß eine Wolke Pfeifenrauch aus und hob belehrend den Finger.

»Beginne nie ein Spiel mit einem Zugeständnis«, belehrte er sie. »Du spielst, um zu gewinnen, Liebes, immer.«

»Oh.« Cecilys Stimme ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken. »Ich glaube, die kenne ich.«

Kitty blickte auf. Und da waren sie, die de Lacys aus dem Theater, bei einem Spaziergang durch den Park. Die dunkelhaarige Lady Amelia, mit fellbesetztem Mantel und finsterer Miene, und der blonde Mr de Lacy, der außerordentlich gelangweilt aussah.

»Was meinst du mit, ›die kenne ich‹?«, fragte Kitty scharf.

»Wir sind zusammen zur Schule gegangen«, erwiderte Cecily vage. Ganz offensichtlich hatte sie das Thema bereits als uninteressant abgetan. »Sie war etwas jünger als ich, aber wir haben uns beide für Literatur begeistert. Lady Amelia de … irgendwas.«

»Und du bist nicht darauf gekommen, das vielleicht früher zu erwähnen?«, zischte Kitty und packte sie fest am Arm.

»Aua«, beschwerte sich Cecily. »Wie hätte ich das denn früher erwähnen sollen, ich habe sie doch gerade erst gesehen!«

In wenigen Augenblicken würden sich ihre Wege kreuzen. Kitty hätte hoffen können, dass Lady Amelia aufblicken und Cecily ebenfalls erkennen würde, aber ihr Blick war fest auf den Boden gerichtet, und sie würden mit mehreren Metern Abstand aneinander vorübergehen – ein halber Ozean.

Es würde nicht reichen.

Nur noch zehn Schritte trennten sie voneinander. Kitty spannte die Zehen an. Und dann, als die Entfernung auf fünf Schritte zusammengeschrumpft war, ließ sie den Fuß vorschnellen und inszenierte ein Stolpern. Ihr Schuh segelte durch die Luft, und sie klammerte sich mit einem damenhaften Aufschrei an ihrer Schwester fest. »O nein!«

Cecily erschrak, hielt aber ihr Gewicht ohne Schwierigkeiten. »Kitty? Musst du dich setzen?«

»Miss Talbot?« Sally wollte ihr zur Hilfe eilen, aber Kitty hielt sie mit einer Handbewegung auf.

»Ich habe mir den Knöchel verstaucht«, keuchte sie. »Aber – oh, wo ist mein Schuh? Ich habe ihn verloren.«

Einundzwanzig, zweiundzwanzig, drei–

»Entschuldigt bitte vielmals, Miss, aber gehört dieser hier Euch?«

Ja!