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Zwei zeitgenössische Beiträge aus der 'Gartenlaube' zeigen die Kluft zwischen Arm und Reich Mitte des 19. Jahrhunderts in Berlin. Während die Spekulanten an der Börse mit Devisen und Getreide handeln, müssen andernorts Wäsche und Kleidung verpfändet werden.
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Seitenzahl: 23
Veröffentlichungsjahr: 2022
und auf dem Leihamt
Herausgegeben von Ronald Hoppeedition.epilog.de
Für diese Ausgabe wurden die Originaltexte in die aktuelle Rechtschreibung umgesetzt und behutsam redigiert. Längenangaben und andere Maße wurden gegebenenfalls in das metrische System umgerechnet.
Der Fremde, der zum ersten Male Berlin durchwandert und etwa zehn Minuten vor zwölf Uhr auf der Kolonnade des herrlichen Neuen Museums tretend über die neue Friedrichsbrücke schaut, erblickt am jenseitigen Ufer einen prächtigen Palast im Renaissancestil, mit doppelter Fronte, korinthischen Säulen, mit symbolischen weiblichen Statuen-Gruppen, mit einem schönen Säulengange. Dort stehen ernst blickende Männer in lebhaftem Gespräch, ihrer Rede durch beweglichste Gebärde Nachdruck verleihend; zu ihnen gesellen sich Neuankommende; Equipagen und Droschken fahren vor, aus denen elegant gekleidete, meistens jüngere Männer steigen und sofort mit den Wartenden in eifriges Gespräch treten, und wohl mag der mit den Örtlichkeiten wenig Vertraute denken, dieser Palast sei ein Tempel der Wissenschaft, eine neue Akademie oder ein Lyceum, wo der Berliner Plato oder Aristoteles lehrt, und die wartenden oder rasch herbeieilenden Männer seien wissbegierige Schüler, die dem Kurs eifrig folgen und ja keine Minute des Unterrichts, kein Wort des Lehrers versäumen wollen.
Die Berliner Börse mit der Friedrichsbrücke um 1900.
Weit gefehlt! Nicht um einen Kurs, sondern um die neuesten Kurse zu hören, stehen die Männer da, nicht Wissen, sondern Haben ist ihr Zweck; die kleinen Händler und Pfuschmäkler und die kleinen Getreidespekulanten und -Makler, die noch vor Beginn der Börse die ›Stimmung‹ zu erforschen versuchen, keine Philosophie ist diesen Allen bekannt, als unbewusst die pythagoräische, nach welcher die Welt aus Zahlen besteht (obwohl auch manche unter ihnen entschieden nur durch Nicht-Zahlen bestehen). Sie unterhalten sich über die letzten Ereignisse, ob der Kaiser von Österreich wirklich konstitutionell regieren wird und welches Papier dabei am meisten in die Höhe gehen dürfte; ob durch das polnische Attentat ›Russen flau oder fest‹ sein werden; ob man nicht süddeutsche Aktien ›fixen‹ (d. i. zu einer gewissen Zeit liefern) sollte, da die Einigung mit Norddeutschland doch größere Militärlast und notwendigerweise auch neue Anleihen nach sich ziehen müsste. Wahrlich, sie verstehen es, die Weltgeschichte zu taxieren!
Es schlägt zwölf. Die Pforte öffnet sich, der Schwarm dringt in das Innere und verteilt sich. Es ist noch still. Die alten und die neuen Bankiers – ich werde diesen Ausdruck später genau erklären – sind noch nicht angelangt, das Geschäft ist unentwickelt. Sehen wir uns ein wenig um. Der herrliche Saal ist durch eine Reihe von 128 Granitsäulen, die längs der Wände gehen und ihn dann in der Mitte durchschneiden, in zwei Räume geteilt; in dem vorderen wird die Fondsbörse, in dem andern die Fruchtbörse abgehalten.