Eine unbeugsame Frau - J. David Simons - E-Book

Eine unbeugsame Frau E-Book

J. David Simons

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Beschreibung

Als die Filmschauspielerin Laura Scott von ihrer Agentin geschasst wird, weil sie die fünfzig überschritten hat und als schwer vermittelbar gilt, scheint es mit ihrer Karriere vorbei zu sein. Doch noch am selben Tag tut sich unverhofft eine völlig neue Perspektive auf: Sie bekommt das Angebot, in einem Einpersonenstück zu spielen. Ein Theaterstück über Georgie Hepburn, eine Schauspielerin, Pilotin und Fotografin, die sie schon immer verehrt hat. Laura beginnt, über Georgie zu recherchieren, und taucht in das Leben der im Jahr 1900 Geborenen ein. Georgie war Schauspielerin in der Stummfilmzeit, deren Karriere plötzlich abbrach, ohne dass man weiß, warum. Sie war Pilotin, flog 1931 mit ihrem Geliebten nach Palästina und unterstützte im Zweiten Weltkrieg die britische Luftwaffe mit Botenflügen. Später wandte sie sich der Fotografie zu. Laura begegnet in Georgies Nachlass einer Frau, die in den 1920er-Jahren jung war und ihr Dasein in vollen Zügen genoss. Sie kommt aber auch Geheimnissen im Leben der Freiheitsliebenden auf die Spur, die immer wieder Rückschläge einstecken musste, sich aber nie brechen ließ. Ein großartiger Roman über Frauen, die auf der Suche nach einem glücklichen Leben geradlinig und integer bleiben.

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J. DAVID SIMONS

Eine unbeugsameFrau

ROMAN

Aus dem Englischen vonBettina Eschenhagen

DIGITALES LESEEXEMPLAR

ERSCHEINT IM AUGUST 2018 IM EUROPA VERLAG

gebunden mit Schutzumschlag, 408 Seiten

13,7 × 21,7 cm

ISBN 978-3-95890-152-0

Die englischsprachige Originalausgabe ist 2017 unter dem TitelA Woman of Integrity bei Freight Books, Glasgow, Schottland, erschienen.

© 2017 by J. David Simons© der deutschsprachigen Ausgabe 2018Europa Verlag GmbH & Co. KG, MünchenUmschlaggestaltung und Motiv:Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,unter Verwendung eines Fotos von © picture alliance/akg-imagesÜbersetzung: Bettina EschenhagenRedaktion: Claudia SchlottmannLayout und Satz: BuchHaus Robert Gigler, MünchenDruck und Bindung: Pustet, RegensburgISBN 978-3-95890-152-0eISBN 978-3-95890-244-2

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

»Integer sind wir, wenn wir uns – hoffentlich –auch unter Druck treu bleiben.«

GEORGINA HEPBURN

Inhalt

KAPITEL EINS ABSERVIERT!

KAPITEL ZWEI DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL DREI FLUCHT NACH PRIMROSE HILL

KAPITEL VIER DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL FÜNF EINE EHRLICHE BESTANDSAUFNAHME

KAPITEL SECHS DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL SIEBEN LADY CAROLINES DINNERPARTY

KAPITEL ACHT DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL NEUN UND DANN TAUCHTE SAL AUF

KAPITEL ZEHN DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL ELF SCHLAFLOS IN HIGHGATE

KAPITEL ZWÖLF DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL DREIZEHN AUF IN DEN SÜDEN

KAPITEL VIERZEHN DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL FÜNFZEHN KOMMEN SIE RAUS NACH CHIPPING-IRGENDWAS

KAPITEL SECHZEHN DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL SIEBZEHN QUENTIN

KAPITEL ACHTZEHN DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL NEUNZEHN DAS SCHAUSPIEL SEI DIE SCHLINGE

KAPITEL ZWANZIG DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL EINUNDZWANZIG SCHWARM DER NACHMITTAGSVORSTELLUNG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL DREIUNDZWANZIG KENWOOD LADIES’ POND

KAPITEL VIERUNDZWANZIG DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG DIRECTOR’S CUT

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG DIE PROBEAUFFÜHRUNG

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG EINLASS INS ALLERHEILIGSTE

KAPITEL DREISSIG DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL EINUNDDREISSIG LET’S SPEND THE NIGHT TOGETHER

KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL DREIUNDDREISSIG ABWESENDE VÄTER

KAPITEL VIERUNDDREISSIG DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG TÊTE-À-TÊTE AUF DER TERRASSE

KAPITEL SECHSUNDDREISSIG DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG EINE GROSSE KLEINE ROLLE

KAPITEL ACHTUNDDREISSIG DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL NEUNUNDDREISSIG WENN DER POSTMANN PLÖTZLICH KLINGELT

KAPITEL VIERZIG DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL EINUNDVIERZIG EIN VERBORGENER SCHATZ

KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL DREIUNDVIERZIG BANKANWEISUNG

KAPITEL VIERUNDVIERZIG DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL FÜNFUNDVIERZIG EIN SCHLAG INS GESICHT

KAPITEL SECHSUNDVIERZIG DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL SIEBENUNDVIERZIG DIE DREI BRIEFUMSCHLÄGE

KAPITEL ACHTUNDVIERZIG DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL NEUNUNDVIERZIG EINE VERABREDUNG MIT SAL

KAPITEL FÜNFZIG DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL EINUNDFÜNFZIG KURZER AUFSCHUB

KAPITEL ZWEIUNDFÜNFZIG DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL DREIUNDFÜNFZIG AUF STANDBY

KAPITEL VIERUNDFÜNFZIG DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL FÜNFUNDFÜNFZIG ALLER ANFANG IST SCHWER

KAPITEL SECHSUNDFÜNFZIG DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL SIEBENUNDFÜNFZIG EIN ABEND IM THEATER

KAPITEL ACHTUNDFÜNFZIG DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL NEUNUNDFÜNFZIG DER APFELBAUM

KAPITEL SECHZIG DER HEPBURN-NACHLASS

KAPITEL EINUNDSECHZIG GEORGIE BY GEORGIE

DANKSAGUNG

KAPITEL EINS

ABSERVIERT!

Laura spürte ein unangenehmes Ziehen im Magen, als sie die Neuigkeit erfuhr. »Du servierst mich ab?«, fragte sie. »Nach all den Jahren?«

»So harsch würde ich es nicht ausdrücken«, erwiderte Edy. Ihr unverkennbarer New Yorker Akzent überspannte die transatlantische Telefonverbindung wie eine gigantische Brooklyn Bridge.

Laura sah sie vor sich, zusammengesunken auf ihrem Bürostuhl, wie sie über den Hudson hinweg nach New Jersey schaute. Halbhohe schwarze Stiefel, enge schwarze Lederhose, passender Rollkragenpulli – und alles übersät mit Zigarettenasche. »Wie würdest du es denn sonst ausdrücken?«, blaffte sie. »Willst du, dass ich dir auch noch dankbar bin?«

»Was soll ich machen? Mir bleibt nichts anderes übrig, ich muss meine Liste ausdünnen. Order von ganz oben. Ich darf mir meine Klienten nicht mehr selbst aussuchen. Das kannst du mir nicht vorwerfen, Laura. Es ist alles dermaßen anonym und kommerziell heutzutage. Und global.«

Laura brauchte frische Luft. Sie trat barfuß durch die Terrassentür ihres Schlafzimmers in den Garten der Erdgeschosswohnung. Hohe Mauern und Bäume schirmten ihn weitgehend gegen die Sonne ab, aber es gab ausreichend Grün, und sie war vor neugierigen Blicken geschützt. Welch ein Luxus für eine Eigentumswohnung in London! Wie sollte sie sich das in Zukunft noch leisten können? Sie setzte sich auf einen der schmiedeeisernen Stühle, hörte Edy gierig an ihrer Zigarette ziehen. »Was hast du gesagt? Nicht nur in New York, auch in London?«

»L.A., Sydney, Hongkong. Die ganze verdammte Liste.«

»Mein Gott, Edy! Du streichst mich ja von der Weltkarte.« Ihre Stimme klang inzwischen weinerlich, aber sie konnte nichts dagegen tun. »Du warst von Anfang an meine Agentin. Warum gerade ich?«

»Du bist nicht die Einzige.«

»Wer denn noch?«

»Was glaubst du?«

»Diane? Doch wohl nicht Diane. Sag nicht, dass du auch sie geschasst hast.«

»Sie als Allererste.«

»Herrgott, sie hat doch sogar einen Oscar bekommen.«

»Nur als Nebendarstellerin.«

»Das ist noch gar nicht so lange her.«

»Im letzten Jahrhundert, Laura. Das war in einem anderen Jahrtausend.«

»Und Kate?«

»Kate musste eh weg. Hast du gesehen, in welchem Zustand sie ist?«

Laura hatte es gesehen. Eingelegt in Alkohol wie eine Mon-Chéri-Kirsche. Erst neulich Abend war sie im Fernsehen von ihrem Stuhl gerutscht, sodass der Moderator sie mehr oder weniger vom Boden hatte aufsammeln müssen. »In jeder anderen Branche wäre das verboten.«

»Wieso verboten?«

1»Keine Ahnung. Wegen Seniorenfeindlichkeit. Altersdiskriminierung. Irgendwas gäb’s da mit Sicherheit.«

»Komm schon, Laura. Du weißt doch, in was für einer kaputten Branche wir arbeiten. Aber es liegt nicht nur daran. Es gibt einfach keine Rollen mehr. Und die wenigen, die es gibt, schnappen sich Meryl und die anderen Nobeltussen.«

»Und warum nicht ich?«

»Weil du nicht in der allerersten Liga spielst. Meinetwegen in einer der oberen, aber nicht in der allerersten.«

Laura rieb sich die Stirn, die Haut am Haaransatz fühlte sich schuppig und trocken an. »Was soll ich denn jetzt machen, Edy? Was soll ich bloß machen?«

»Du bist doch nicht auf mich angewiesen.«

»Du weißt, dass das so nicht funktioniert. Genauso gut könnte ich mir ein Schild um den Hals hängen: Edy Weinbergs Räumungsverkauf. Haltbarkeitsdatum überschritten.« Im Hintergrund heulte eine New Yorker Polizeisirene. Dann hörte Laura Edy seufzen, ein krächzendes Geräusch, kaum zu glauben, dass sie überhaupt noch lebte. Und ohne Sauerstoffgerät auskam. Sechzig Zigaretten am Tag, seit sie alt genug war, ein Streichholz anzuzünden. Jeder Atemzug ihrer rasselnden Lungen konnte der letzte sein. Sie lachen zu sehen war eine Qual.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Laura in das womöglich tödliche Schweigen hinein.

»Klar doch, mir geht’s gut. Und das sollte auch für dich gelten.«

»Mir geht’s definitiv nicht gut.«

»Ich meinte, finanziell.«

»Du meinst, abgesehen von der Hypothek und den Steuern.«

»Was ist mit The Bentleys?«

Zumindest diese wiederkehrenden Einnahmen hatte Laura Edy zu verdanken. Das englische Kindermädchen zweier verwöhnter Sprösslinge einer reichen afroamerikanischen Familie. Eine Mischung aus Bill Cosby Show und Mary Poppins. Zwei Staffeln. In 52 Länder verkauft. Sie hatte einen Emmy dafür eingeheimst. In Vietnam war sie ein Star. Vielleicht sollte sie dahin ziehen.

»Das läuft langsam aus. Und was soll danach werden?«

»Es gibt doch noch diese Disney-Geschichte«, meinte Edy.

Jetzt war es an Laura zu seufzen. Die Disney-Geschichte. Die Synchronstimme eines Krebses. Herrgott, erst reckt sie eine Trophäe in die Höhe, dann leiht sie einem verliebten Krustentier ihren englischen Akzent. »Klar, die Disney-Geschichte.«

»Siehst du. Genau das ist dein Problem. Du solltest dir für solche Jobs nicht zu fein sein. Die meisten Leute arbeiten total gern bei diesen Trickfilmen mit. Für sie ist es wie bezahlter Urlaub.«

Laura musste zugeben, dass es Spaß gemacht hatte. Aber es war nicht unbedingt der Platz, an dem sie sich als Schauspielerin jenseits der fünfzig sah. »Wenn ich Urlaub machen will, fliege ich nach Hawaii …«

»… Ist doch echt gut angelaufen. Hat allein am ersten Wochenende über vierzig Millionen Dollar eingespielt. Kommt schon fast an Shrek ran.«

»Das war doch nur ein Honorarjob, den du da für mich ausgehandelt hast, Edy. Ohne Gewinnbeteiligung.«

»So wie der Film gestartet ist, gibt es vielleicht ein Folgeprojekt.«

Laura stand auf und ging zu dem kleinen Teich hinüber. Obwohl das Wasser mit grünlichem Schleim bedeckt war, glitten zwei orange Karpfen unter der Oberfläche umher. Wie sie da drin überleben konnten, war ihr schleierhaft. Weder fütterte sie sie, noch reinigte sie je das Wasser. Sie stellte ihren nackten Fuß auf die steinerne Umrandung und tauchte ihre Zehen hinein. Das Telefon zwischen Hals und Schulter geklemmt, hörte sie Edys Stimme noch immer krächzen.

»… eine Gelegenheit, all die Projekte umzusetzen, für die dir bisher die Zeit gefehlt hat. Ich weiß, das klingt wie ein Klischee, aber es könnte ein echter Neuanfang für dich sein.«

»Du hast recht, Edy. Mein Leben geht gerade den Bach runter, und du redest tatsächlich in beschissenen Klischees.« Laura hielt den Atem an. Edy ging mit dem Wort »beschissen« so wenig sparsam um wie mit Zigaretten, aber ihr selbst durfte man damit nicht kommen. Laura wartete. Wieder heulte im Hintergrund eine Sirene.

»Na gut, wenn du’s unbedingt wissen willst«, sagte Edy schließlich. »Kannst du haben.« Pause. Sie hatte schon immer einen Hang zu Dramatik gehabt, sicher von ihren Klienten abgeguckt. »Willst du’s wissen?«

»Bin ganz Ohr.«

»Es gibt einen Punkt, an dem das Publikum sich nicht mehr für dich interessiert. So einfach ist das. Scheißegal, ob du Laura Scott bist, die beschissene Julia Roberts, ’n Rockstar oder ’ne Nutte. Dann findest du dich entweder damit ab. Oder du sitzt zu Hause im Dunkeln rum, leerst ’ne Flasche Gin und guckst dir deine alten Sachen an. So wie unsere liebe Kate.«

Laura kniete sich hin, zog die Hand durch die schleimige Schicht auf dem Teich. »Ich muss jetzt Schluss machen«, sagte sie leise und ließ die weichen Algen zwischen ihren Fingern hindurchgleiten.

»Ja. Ich auch. Als Nächstes rufe ich Naomi an. Hab dich lieb.«

Laura hob den Kopf und ließ es geschehen, dass ihr das Handy von der Schulter rutschte, auf das Steinmäuerchen prallte und im Wasser landete.

KAPITEL ZWEI

DER HEPBURN-NACHLASS

AUSZUG AUS DENUNVERÖFFENTLICHTEN ERINNERUNGENVON GEORGINA HEPBURN

Ich wurde 1900 geboren, bin also genauso alt wie das Jahrhundert, und wuchs als Einzelkind in dem winzigen Dorf Five Elms Down in Sussex auf, wo nie irgendetwas Besonderes passierte. Anders als man es bei einem Einzelkind vielleicht erwartet, wurde ich weder verwöhnt, noch hatte ich imaginäre Freunde. Aber habe ich mich zu einem selbstsüchtigen, selbstverliebten Menschen entwickelt? Nun, das sollen andere beurteilen.

Ich habe mich oft gefragt, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn mein Englischlehrer Mr Bemrose mir anlässlich des Festival of Empire im Historienspiel unserer Schule nicht die Rolle der Indianerprinzessin Pocahontas zugeteilt hätte. Bis dahin hatte ich weder eine Neigung noch eine Begabung für das Amateurschauspiel an den Tag gelegt. Ich bezweifle auch, dass Mr Bemrose mich ausgesucht hat, weil er ein schlummerndes Schauspieltalent bei mir entdeckt hatte. Es lag wohl eher an meinem dunklen Haar und meinem leicht olivfarbenen Teint (im Stammbaum meiner Mutter gab es einen Angehörigen des niederen italienischen Adels), dass der Lehrer mir den Vorzug gab vor meinen hellhäutigeren Klassenkameradinnen vom Typ »English Rose«. Aber ich hatte sowieso kein Mitspracherecht, denn die Rollenbesetzung war das Vorrecht des ranghöheren Mannes, ein Privileg, dem ich auch später im Leben vielfach begegnen sollte, mit verheerenden Folgen.

Noch immer besitze ich den Zeitungsbericht über jenen herrlichen 12. Mai 1911, ausgeschnitten aus der Titelseite des Sussex Herald. Sogar jetzt, beim Schreiben dieser Zeilen, erinnere ich mich, wie meine nervösen Kinderfinger mit der Schere kämpften und mir ganz heiß wurde, als ich die Ränder des Artikels über mein Schauspieldebüt sorgfältig begradigte. Der Zeitung zufolge hatten mehrere Hundert Menschen einer Kolonne beflaggter Festwagen zugejubelt, die hübsch geschmückte Pferde von den West- Dene-Stallungen aus durch die Straßen unseres Dorfes zogen. Jeder Wagen zeigte eine berühmte Szene aus der Geschichte des Empire. Einer war Captain Cooks Landung in der Botany Bay gewidmet, ein anderer Livingstones Entdeckung der Victoriafälle.

Ich bekam von alldem nichts mit, so sehr fieberte ich meinem Auftritt in dem Historienspiel entgegen, dem Empfang von Pocahontas und ihrem Mann, dem Kolonisten John Rolfe, am Hof König Jakobs I. Eddie Shaw spielte den König derart undiszipliniert, dass es mein schauspielerisches Gespür schon damals beleidigte. Etwas ernster nahm Freddy Cranfield seine Rolle als mein Ehemann Rolfe; meine restlichen Klassenkameraden stellten verschiedene Mitglieder des Königshofes dar, manche mehr, manche weniger überzeugend. Als Mr Bemrose die Geschichte von Pocahontas’ Englandaufenthalt nacherzählte, versuchte ich mir mit geschlossenen Augen auszumalen, wie sich die junge Frau (die damals nicht älter als einundzwanzig gewesen sein kann) bei ihrer Vorstellung am Königshof wohl gefühlt haben mochte. Sogar mein kindlicher Verstand schien die Komplexität der Situation zu erfassen, die Anforderungen, die an meine aufkeimenden Darstellungskünste gestellt wurden. Als Tochter eines bedeutenden Häuptlings besaß Pocahontas sicherlich eine gewisse Würde und wusste um ihre eigene Stellung. Und doch wurde sie dem Führer der großen Nation wie eine edle Wilde regelrecht vorgeführt. Ich glaube, dass ich diesen widerstreitenden Gefühlen durch mein Auftreten und die Art, wie ich die Fragen des Königs nach meinen Eindrücken von der englischen Lebensart beantwortete, Ausdruck zu verleihen vermochte. Zumindest empfand das Publikum es wohl so, denn als ich mich verbeugte, gab es begeisterten Applaus. Meine Mutter gratulierte mir mit ihrem üblichen gebremsten Enthusiasmus. Ob mein Vater dabei war, weiß ich nicht mehr. Aber das nagelneue Sixpencestück, das ich anlässlich meiner Teilnahme an dem Ereignis erhielt, besitze ich noch heute.

Die uneingeschränkte Freude, die mir dieser kurze Ausflug in die Schauspielkunst bereitete, führte dazu, dass ich fortan überzeugt war, meine Berufung gefunden zu haben. Als glückliche Fügung erwies es sich, dass mein Traum mit einer der bedeutendsten Errungenschaften des Jahrhunderts zusammenfiel: den Anfängen des Kinos. Bis dahin wäre für eine Schauspielaspirantin nur die Bühne, insbesondere das Musiktheater, in Betracht gekommen. Ich aber konnte von der Stummfilm-Leinwand träumen.

Hätte Mr Bemrose mir beim Schreiben eines Schulaufsatzes über die Schulter geschaut und gesagt: »Das ist ein außergewöhnlich stimmiger und komplexer Satz«, hätte ich dann Schriftstellerin werden wollen? Hätte er mir zufällig im Kunstsaal beim Malen eines Stilllebens mit Früchten in einer Schale zugesehen und gemeint: »Du hast das Licht auf den Äpfeln sehr gut eingefangen«, wäre ich dann nach Paris gegangen, um Malerin zu werden? Bei manchen Menschen zeigt sich ihr Talent, kaum dass sie aus dem Mutterleib geschlüpft sind. Normalsterbliche wie mich aber, die auf ein Wort der Ermutigung lauern, kann ein solches Wort an ungeahnte neue Orte bringen. Und das nur, weil ihr Selbstwertgefühl gestärkt wurde.

In fortgeschrittenem Alter freundete ich mich mit einem amerikanischen Gentleman namens Kipling Jones an, einem bekannten Astrologen nicht nur der Sternchen von Hollywood, sondern auch der Sterne am Himmel. Die pauschalen Voraussagen der Tageszeitungen waren Kips Ding nicht. Er berücksichtigte präzise Geburtszeiten und -orte, Haupt- und Feinaspekte, dieses Haus gegenüber jenem, Sonnen- und Mondfinsternisse sowie retrograde Umlaufbahnen, Äquinoktialpunkte und Saturn-Rückkehr. Er legte kunstvolle, schöne Schaubilder an und verfasste sprachgewaltige Texte über die Persönlichkeit und die Neigungen des Betreffenden, all das gegen ein ansehnliches Honorar. Ich habe über Kips Beruf, wenn man ihn denn überhaupt als solchen bezeichnen kann, nie ernsthaft nachgedacht. Und doch hat eine Bemerkung von ihm mich nachhaltig beeindruckt. Nachdem ich ihm gestanden hatte, dass ich manchmal darüber grübelte, wie anders mein Leben vielleicht verlaufen wäre, wenn Mr Bemrose mich nicht die Pocahontas hätte spielen lassen, brach Kip in sein typisches herzhaftes Lachen aus, schlug sich auf die Schenkel und sagte mit einem Südstaatenakzent so weich und lieblich wie Sirup:

»Oh, Georgie, dein Leben wäre kein bisschen anders verlaufen. Du glaubst, solche Wendepunkte hätten es entscheidend beeinflusst, aber aufs Ganze gesehen sind sie völlig unerheblich. Das Schicksal lässt sich nicht ins Handwerk pfuschen. Es hätte dich auf jeden Fall genau da hingeführt, wo du gelandet bist. Ob Mister Bemrose dir die Rolle gegeben hätte oder nicht.«

KAPITEL DREI

FLUCHT NACH PRIMROSE HILL

Es war einer jener herrlichen Londoner Sommernachmittage. Nicht zu heiß, nicht zu schwül. Laura eilte in ihrem Sommerkleid an den Straßencafés vorbei, genoss das laue Lüftchen und die Sonne auf ihren nackten Beinen. Seit die russische Teestube geschlossen hatte, war Primrose Hill in ihren Augen nicht mehr dasselbe, aber Victoria bestand darauf, dass sie sich weiterhin dort trafen.

Laura war spät dran. Wegen des dichten Verkehrs hatte sie den Taxifahrer gebeten, sie am Anfang der Regent’s Park Road rauszulassen, und legte nun den restlichen Weg zu Fuß zurück. Eigentlich wäre sie gern schneller gelaufen, doch ihre hohen Absätze, ihre Erziehung und ihr guter Ruf hielten sie davon ab. Jedem anderen hätte sie abgesagt, wäre zu Hause geblieben und hätte in ihr Kissen geweint. Victoria war jedoch in Krisen unschlagbar – ein Engel auf ihrer Schulter, der überaus hilfreiche Ratschläge gab. Die sie allerdings nicht unbedingt beherzigte. Denn auf ihrer anderen Schulter hockte eine ganze Riege von Teufeln, die ihr einflüsterten, das genaue Gegenteil zu tun.

»Wo bleibst du denn?«, fragte Victoria und blickte von ihrem Handydisplay auf. Sie trug eine Bauernbluse in gebrochenem Weiß, einen geblümten Rock und sehr wenig Make-up. Victoria war ihrem Hippie-Stil von vor dreißig Jahren treu geblieben, nur roch sie erfreulicherweise nicht mehr ständig nach Patschuli.

»Es ist was passiert!«

»Ich hab dir eine SMS geschickt.«

Laura setzte sich. »Mein Handy funktioniert nicht mehr.«

»Dann muss ja wirklich was Schlimmes passiert sein«, erwiderte Victoria und verstaute ihr Telefon in der Handtasche. »Ich hab dir schon mal einen Cappuccino bestellt, als ich gesehen hab, wie du dich abgehetzt hast. Und jetzt nimm endlich diese blöde Sonnenbrille ab. Du siehst aus wie ein gigantischer Marienkäfer.«

»Ich behalte sie auf.«

»Bei mir musst du nicht die Diva spielen.«

Laura senkte den Kopf, sodass Victoria über den Brillenrand ihre Augen sehen konnte.

»Auweia, erzähl! Was ist passiert?«

Laura gab ihr Gespräch mit Edy wieder. Was ihr entgegen der landläufigen Meinung keine Erleichterung brachte. »Irgendwie hatte ich es kommen sehen. Weniger Drehbücher, kleinere Rollen. Der letzte Job war diese Disney-Krebs-Sache. Nur Stimme, kein Gesicht. Alle interessanten Rollen für Schauspielerinnen meiner Altersklasse werden für Jüngere umgeschrieben. Demnächst spielt ein Teenager Lady Macbeth. Oder eine Dreißigjährige Hamlets Mutter. Kurz gesagt, ich wurde abserviert.«

»Es gibt doch noch jede Menge andere Agenten.«

»Edy ist eine der besten. Wen sie fallen lässt, der ist fürs Leben gezeichnet.«

»Leute mit deinem Profil sind immer gefragt.«

»Nicht in meinem Alter.« Laura lehnte sich zurück, damit der Kellner den Kaffee vor ihr absetzen konnte. Der Milchschaum war mit einem Smiley dekoriert, den sie sofort mit ihrem Löffel verwischte. Sie reichte Victoria ein Blatt Papier.

»Was ist das?«

»Lies.«

»Eine Liste.«

»Von oben. Lies vor.«

»Geena Davis.«

»Weiter.«

»Holly Hunter, Elisabeth Shue, Mary McDonell. Debra Winger. Mit der habe ich mal zusammengearbeitet.« Victoria war Szenenbildnerin gewesen, bevor sie sich entschieden hatte, die Häuser wohlhabender Leute im Feng-Shui-Stil einzurichten. »Was willst du mir damit sagen?«

»Allesamt Oscar-Kandidatinnen aus den Neunzigerjahren.«

»Und?«

»Wo stecken sie jetzt?«

»Keine Ahnung.«

»Eben.« Laura riss ihr das Blatt wieder aus der Hand. »Na ja, manche arbeiten fürs Fernsehen. Sogar mit einigem Erfolg. Trotzdem sind all diese schönen Frauen über fünfzig keine Filmstars mehr.«

»Heute ist gegen das Fernsehen doch nichts mehr einzuwenden.«

»In meinen Augen bedeutet es immer noch einen Abstieg.«

»Und was ist mit dem Kindermädchen in The Bentleys? War doch ein Riesenerfolg.«

»Das war nur was für zwischendurch. Ein Nebengleis. Ausschließlich Fernsehen würde sich für mich anfühlen wie … die Menopause.«

»Zumindest wäre es keine Monetenpause.«

Laura nippte an ihrem Cappuccino und wartete, bis Victoria lange genug über ihren eigenen Witz gekichert hatte. Dann sagte sie: »Filmschauspielerin sein macht mich aus. Ohne das wäre mein Leben bedeutungslos.«

»Ach, sei doch nicht so melodramatisch.«

Bevor Laura etwas erwidern konnte, näherte sich eine junge Japanerin ihrem Tisch und verbeugte sich tief.

»Entschuldigung, es tut mir sehr leid, Sie zu unterbrechen. Darf ich Sie fragen … bitte?«

Sie legte ein Autogrammbuch und einen Stift vor Laura auf den Tisch. Keinen Briefumschlag, keine Serviette – ein richtiges Buch für Autogramme.

»Für wen soll ich hineinschreiben?« Die junge Frau hatte das Gesicht von Laura abgewandt, sodass nur ein dunkler Vorhang aus Haaren zu sehen war.

»Tomoko«, kam die Stimme aus dem Off.

Schwungvoll setzte Laura ihre Unterschrift ins Buch. Ihr Blick fiel auf den Namenszug auf der gegenüberliegenden Seite. Jude Law.

»Siehst du«, sagte Victoria, als Tomoko weg war. »Du bist nach wie vor gefragt. Sogar bei einem jungen, internationalen Publikum.«

»Rechthaberei passt nicht zu dir. Wo waren wir stehen geblieben?«

»Du hast mir von der Bedeutungslosigkeit deiner Existenz erzählt.«

»Ich meine es ernst. Sieh dich an. Du hast zwei bezaubernde Kinder. Wenn du auf dein Leben zurückblickst, kannst du zumindest sagen, dass du deine biologische Aufgabe erfüllt hast.«

»Ich denke doch, ich habe mehr als das geleistet.«

»Du weißt, was ich meine. Unsere ganze Existenz definiert sich über die Fortpflanzung. Du hast zum Fortbestand der menschlichen Rasse beigetragen. Auch wenn dir alles andere misslingen sollte: Tom und Pru verleihen deinem Leben Bedeutung.«

»Soll das ein Kompliment oder Kritik sein?«

»Ich spreche nur eine Tatsache aus.«

»Und was heißt das für dich?«

»Da ich, Laura Scott, keine Kinder wollte, muss ich meinem Leben auf andere Weise Bedeutung verleihen. Meine unproduktive Gebärmutter darf nicht für ein unerfülltes Leben stehen. Ich muss mir selbst und dem Rest der Welt beweisen, dass mein Opfer es wert war. Und jetzt ist mir die Möglichkeit dazu genommen worden. Für immer.«

»Ich finde, du übertreibst ein bisschen …«

»… und wenn Tom und Pru erwachsen sind und du alt bist, werden sie sich um dich kümmern. Während ich, einsam und verarmt, auf die Schauspieler-Unterstützungskasse angewiesen sein werde.«

Victoria beugte sich vor und schaute sie mit ihrem unverwechselbaren ernsten Blick an. Laura waren Victorias Augen schon immer irgendwie alt vorgekommen. Es waren greise, kluge Augen, scheinbar viele Hundert Jahre alt, die durch alle Zeiten weitergereicht worden waren bis zu dieser Innenarchitektin im Notting Hill von heute. Oder es waren einfach bekiffte Augen – Victoria rauchte noch immer ab und zu einen Joint, vorzugsweise an sonnigen Nachmittagen, wenn ihre Kinder unterwegs waren und Dinge taten, die Teenager heute so tun. »Ach herrje!«, sagte Victoria und streichelte ihr die Hand. »Lass uns eine Flasche Wein bestellen.«

KAPITEL VIER

DER HEPBURN-NACHLASS

AUSZUG AUS DEN UNVERÖFFENTLICHTENERINNERUNGEN

In den Monaten, dann Jahren nach meinem Auftritt als Pocahontas blieb mein Verlangen, Schauspielerin zu werden, weiter bestehen. Meine Eltern nahmen meine Ambitionen nicht sonderlich ernst, wobei mein Vater ihnen vielleicht etwas aufgeschlossener gegenüberstand als meine Mutter. Er war gelernter Maschinenbauingenieur, ein, wie ich finde, sträflich unterschätzter Beruf. Wer mit Worten, Farben oder seiner Stimme Schönes erschafft, genießt hohes gesellschaftliches Ansehen. Wer hingegen komplizierte Maschinen, die enormen Einfluss auf unser aller Leben haben, entwirft und baut, wird eher ignoriert. Elektrogeneratoren, Wärmetauscher, Gasturbinen, Kühlschränke und natürlich der Verbrennungsmotor. Mein Vater begeisterte sich später für die junge Fachrichtung Flugtechnik, lernte als einer der allerersten Menschen auf diesem Planeten fliegen und machte im März 1914 beim Royal Aero Club seinen Pilotenschein.

Als wenige Monate später der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde er sofort als Leutnant zur fünften Staffel der königlichen Heeres-Luftwaffe eingezogen.

Es fällt mir schwer, mir Papa als Kampfflieger vorzustellen, als grausamen Angreifer aus der Luft, denn ich habe ihn als sanften Mann in Erinnerung, der seine Nase ständig in Bücher steckte. Meist waren es Handbücher für Ingenieure, aber er interessierte sich auch für Literatur und Philosophie. Seine Tätigkeit als Pilot wirkte fast wie eine Geheimidentität, in die er schlüpfte, wenn meine Mutter und ich nicht hinsahen.

Ich verdanke meinem Vater Neugierde, den Mut, Neues auszuprobieren, und Offenheit für andere Sichtweisen auf die Welt. Bei ihm führte die Neugierde dazu, dass er sich mit fernöstlicher Religion und Philosophie beschäftigte, ein Umstand, über den meine Mutter, ein frommes Mitglied der anglikanischen Kirche, sich ärgerte. Machte er sonntags lieber einen Spaziergang in den South Downs, als in die Kirche zu gehen, nannte sie ihn einen Heiden.

»Ich bin kein Heide«, entgegnete mein Vater dann. »Ich bin nur Agnostiker.«

»Was ist ein Agnostiker?«, fragte ich.

Mein Vater beugte sich zu mir herunter, und ich nahm seinen Geruch nach Pfeifentabak und Rasierseife mit Zitronenduft wahr. »Das bedeutet, ich glaube nur an das, was wir wissen.«

»Heißt das, du glaubst nicht an Gott?«

»Gute Frage«, erwiderte er lächelnd und sah rasch zu meiner Mutter hinüber. »Die Antwort lautet: Wenn Er sich mir zeigt, dann werde ich an Ihn glauben.«

»Und woran glaubst du jetzt, Papa?«

»Ich glaube an universelle Wahrheiten. Universelle Wahrheiten, die man sehen und erfahren kann.«

»Was ist eine universelle Wahrheit?«

»Irgendwann nehme ich dich in einem Flugzeug mit und zeige sie dir.«

Ich habe mich oft gefragt, was meine Mutter an meinem Vater angezogen hatte, denn sie verfügte über so gut wie keine Neugierde. Sie kam kaum je aus unserem Dorf heraus und gab sich mit einem Leben zufrieden, das sich um ihre kleine Familie, ihre Kirche und ihren Garten drehte. Für mich hegte sie wenig mehr Ambitionen als für sich selbst. Sie brachte mir Benimmregeln, Backen, Marmeladekochen und Nähen bei. Wenn ich eine Nähnadel zur Hand nehme, sehe ich bis zum heutigen Tag meine Mutter vor mir, wie sie den Faden um einen Knopf windet, das Fadenende abbeißt und »Geschafft!« sagt, als läge ihr ganzes Lebensglück in der Erledigung dieser Aufgabe. Während Papa Einsätze über Frankreich flog, bestand ihr Beitrag zu den Kriegsanstrengungen darin, auf einer nahen Milchfarm beim Melken zu helfen.

Mehr Verständnis für meine beruflichen Pläne zeigte Tante Ginny. Die Schwestern hätten nicht unterschiedlicher sein können. Zum einen war Tante Ginny neun Jahre jünger als meine Mutter, lag vom Alter her also genau zwischen meiner Mutter und mir. Zum anderen war Tante Ginny durch ihre Heirat mit Onkel Richard, der ein großes Gutshaus und viele Hundert Morgen Land in East Sussex sein Eigen nannte, wohlhabender als meine Mutter. Während diese den Rücken durchdrückte, sich distanziert gab und ihre Locken hochsteckte, legte Tante Ginny eine große Offenheit an den Tag, lächelte breit und trug ihr Haar zum Bob geschnitten, dem ersten, den ich je sah. Im Gegensatz zu meiner Mutter trank sie gern Gin und rauchte sogar dann und wann eine Zigarette.

Als ich alt genug war, selbst einen Kriegsbeitrag zu leisten, schlug Tante Ginny mir vor, mich einer kleinen Theatertruppe in London anzuschließen, die vor Verwundeten von den nordeuropäischen Schlachtfeldern auftrat. Mein Vater war nie zu Hause, konnte sich also nicht um mich kümmern, und meine Mutter war zu zermürbt vom Krieg, um Einspruch zu erheben. So besorgte mir Tante Ginny ein Zimmer bei einer Mrs Ridley südlich der Tower Bridge, und ich klapperte mit der Theatertruppe die Londoner Militärhospitäler ab.

Der tägliche Anblick der verzweifelten und sterbenden Soldaten war erbarmungswürdig, und es fiel mir schwer, einigermaßen bei Laune zu bleiben, um diesen armen Menschen ein kleines bisschen Vergnügen zu bereiten. Wir zeigten überwiegend kurze Stücke mit einem Lied oder einer komischen Wendung. Die Truppe bestand hauptsächlich aus Frauen sowie zwei jungen Männern, die wegen ihrer Kriegsverletzungen nicht an die Front zurückkehren konnten. Einem der beiden, Billy Morrison, hatte im Schützengraben eine Kugel die Kniescheibe zerschmettert, sodass er stark humpelte, was seiner Darstellung zusätzliche Dramatik verlieh.

Damals hatte man bei den jungen Männern keine große Auswahl. Billy sah nicht besonders gut aus. Er glänzte auch nicht durch Intelligenz, Schauspieltalent oder Witz, sondern tat mir wohl einfach leid. An einem späten Nachmittag zwischen zwei Aufführungen – ich weiß noch, dass es regnete – schmuggelte ich ihn in mein Zimmer, das ich mit zwei der anderen Mädchen teilte; Billy hatte zwei Flaschen Starkbier dabei. Wir küssten uns, und eigentlich hatte ich nicht so weit gehen wollen, aber das Bier war mir wohl sofort in den Kopf gestiegen. Ich weiß noch, dass ich es einfach nur schnell hinter mich bringen wollte, den Schmerz erdulden, erfahren, was es bedeutet, eine Frau zu sein. Die anderen Mädchen aus der Truppe hatten mich nur lückenhaft aufgeklärt, von meiner Mutter hatte ich gar nichts erfahren – wirklich erstaunlich, wie wenig wir damals über Sex wussten. Von Verhütung hatte ich jedenfalls keine Ahnung, und ich bin heute dankbar, dass Billy so geistesgegenwärtig war, im richtigen Moment einen Rückzieher zu machen. Danach rauchte er eine Zigarette, und ich spürte den Schmerz zwischen den Beinen und schämte mich schrecklich für das ganze Blut und die Samenflüssigkeit auf Mrs Ridleys Laken. Wegen all dieser Anzeichen von Sex, Tabak und Alkohol im Zimmer erschrak ich fast zu Tode, als laut an die Tür geklopft wurde und Mrs Ridley meinen Namen rief. Billy kroch mit den Bierflaschen unter das Bett, ich schob in Windeseile die Fenster hoch, ordnete hektisch das Bettzeug und öffnete die Tür halb, wobei ich vorgab, Fieber zu haben und gerade aufgewacht zu sein. Mrs Ridley sagte kein Wort und reichte mir einen blassgelben Briefumschlag. Es war ein Telegramm:

Vater gefallen. Bitte heimkommen. Mama

KAPITEL FÜNF

EINE EHRLICHE BESTANDSAUFNAHME

Das Telefon klingelte. Lauras richtiges Telefon. Ihr Festnetzanschluss, der sie mittels realer Drähte und Kabel mit Millionen anderer Menschen auf dem ganzen Planeten verband. Diesen Apparat durchschaute sie. Besser als ihr Mobiltelefon und diese unsichtbaren elektromagnetischen Wellen, die überall in der Luft waren und Gegenstände durchdringen konnten. Nur nicht das Wasser in ihrem Gartenteich. Sie schaute auf den Wecker. 17:53. Sie hatte fast eine Stunde tief und fest geschlafen. Kein Wunder nach den zwei großen Gläsern Wein, die sie in Primrose Hill getrunken hatte. Sie war vollständig bekleidet, hatte noch nicht mal ihre Schuhe ausgezogen. Sie streckte die Hand aus und tastete zwischen Tablettenröhrchen, Schlüsselbund und Sonnenbrille nach dem Hörer.

»Ja?«

Victorias Stimme. »Ich wollte nur mal horchen.«

»Horchen? Ob ich noch lebe?«

»Ob du zu Caroline gehst. Vielmehr inzwischen wohl zu Lady Caroline.«

»Ach ja, das Dinner.«

»Alles in Ordnung bei dir?«

»Ich bin eingeschlafen, das ist alles. Wein am helllichten Tag bekommt mir nicht.«

»Wein oder Weinen?«

»Sehr witzig.«

»Also?«

»Also was?«

»Gehst du hin?«

»Bin noch am Überlegen.«

»Es ist wichtig, dass du dich jetzt nicht einigelst.«

»Das hast du auch gesagt, als Jack und ich getrennte Wege gegangen sind. Seitdem hat sich nichts getan.«

»Ich sage dir: Geh zu dem Dinner. Trink was. Vergiss deine Agentin.«

»Meine Ex-Agentin.«

»Man weiß nie, wen man bei so was kennenlernt.«

»Erst mal gehe ich in die Badewanne.«

»Ich ruf dich in einer Stunde wieder an.« Victoria beendete das Gespräch.

Als Laura auflegte, sah sie, dass der Anrufbeantworter blinkte, und drückte auf die Taste.

»Hey, Laura. Wie geht’s?« Schon wieder Edy, diesmal betont fröhlich. »Ich hab’s auf deiner Mobilnummer versucht, aber da tat sich nichts. Hoffentlich lässt du mich nicht absichtlich abblitzen. Ich war vorhin vielleicht ein bisschen schroff. Ich wollte nur sagen, dass ich trotz unserer offiziellen … wie soll ich sagen … Trennung weiterhin die Augen offen halte für dich. Wenn die perfekte Rolle für Laura Scott auf meinem Schreibtisch landet, scheiß ich auf Meryl und die ganzen anderen Nobeltussen und ruf dich an. Und wenn du das nächste Mal in New York bist, essen wir zusammen zu Mittag. Genau, das machen wir. Im Ernst … ich sag das nicht nur so dahin. Hab dich lieb.«

Das Bad tat gut. Sie badete auf japanische Art. Zuerst duschte sie, dann legte sie sich sauber, noch nass und warm, in die Wanne und ließ so lange Wasser einlaufen, bis ihr Körper vollständig bedeckt war. Im eigenen Schmutz zu liegen war nicht Sinn der Sache. Wozu sollte das gut sein?

Sie streckte ihr eines Bein aus, die Zehen spielten mit dem Wasserstrahl. Sie hatte Japan sehr gemocht. Und Japan hatte sie gemocht. Sie sah das Ganze natürlich durch die rosarote Brille der Verliebten. Denn dort hatte sie Jack kennengelernt. Ein herrlicher gemeinsamer Monat, in dem sie die Tokio-Szenen drehten. Und zufällig war ausgerechnet April, die Kirschbäume standen in voller Blüte und tauchten ihre Liaison in ein wundervolles rosa Weichzeichnerlicht. Sie nippten nachts in Shinjuku in winzigen Jazzbars Sake, gingen im Morgengrauen auf den Fischmarkt, aßen zum Frühstück Sushi und fuhren mit dem klapprigen Bähnchen nach Kamakura, um den Großen Buddha zu sehen. Sich in seinen Filmpartner zu verlieben war so abgedroschen, so trivial, ein solches Hollywood-Klischee. Und doch war es ihnen irgendwie logisch erschienen. Auf der Leinwand ein Liebespaar, warum also nicht auch im richtigen Leben? Jack hatte ihre Beziehung lachend als Method Acting bezeichnet. Der Film wurde ein Riesenerfolg. Vielleicht hatte Jack recht gehabt. Vielleicht hatte er die ganze Zeit nur gespielt.

Sie ließ sich tiefer ins Wasser sinken, hielt sich die Nase zu und tauchte noch weiter hinab, bis auch ihr Kopf unter Wasser war. So musste es sich in einer Gebärmutter anfühlen. Atemlos, warm, flüssig, still. Welch ein Geschenk es wäre, noch einmal ganz von vorn anfangen zu können. Sie kam wieder hoch, schnappte nach Luft. Sie dachte an das Gespräch mit Victoria zurück. Ihr war bewusst, dass sie der Freundin gegenüber nicht ganz ehrlich gewesen war. Die Schauspielerei verlieh ihrem Leben nicht nur Bedeutung. Sie versorgte sie mit einer weiteren berauschenden Substanz: Ruhm. Der Ruhm päppelte ihr Ego auf. Es war so wohltuend, freundlich und respektvoll behandelt zu werden. Wahrgenommen zu werden. Sie wollte nicht, dass das aufhörte. Dass sie sich wieder hinten anstellen musste, immer seltener eingeladen wurde, übersehen wurde, nichts Besonderes mehr war. Victoria würde das nie verstehen. Denn Victoria brauchte keinen Ruhm. Sie sehnte sich nicht nach der Freundlichkeit, der Bewunderung und Achtung anderer. Victoria mit ihrer glücklichen Kindheit würde die Bedeutung von Ruhm nie so recht ermessen können. Wie er einen für mangelnde Elternliebe entschädigen konnte.

Laura stieg aus der Wanne, trocknete sich ab, wickelte sich in ihr japanisches Gewand (ein Geschenk von Jack) und setzte sich an ihren Schminktisch. Sie richtete die drei Spiegel aus. Sie war so daran gewöhnt, eine Rolle zu spielen, dass sie manchmal fast vergaß, wer sie wirklich war. Sie schloss die Augen, dachte »Ich mache jetzt eine ehrliche Bestandsaufnahme«, öffnete die Augen wieder und blickte prüfend in den mittleren Spiegel, dann in die beiden anderen, um sich im Profil zu sehen. Sie hatte immer noch volles, in ihrem Naturton gefärbtes dunkles Haar. Braune Augen, etwas zu groß und mit müden Schatten darunter, in den Winkeln Linien, die von Alter und Erfahrung zeugten. Alles ganz normal. Sie hätte vor allem gern ausgeprägtere Wangenknochen gehabt; ihre untere Wangenpartie war etwas zu rundlich und weich und ihr Mund nicht so breit, wie sie ihn sich gewünscht hätte. Mehr Judi Dench als Helen Mirren. Aber sie beherrschte noch immer diesen gewissen Blick, so wie jetzt, die Augen niederschlagen und leicht mokant lächeln, das kam beim Publikum gut an, bei Männern wie Frauen. Dieser Blick war mal als »sexuell wissend« beschrieben worden, und sie hatte ihn perfektioniert. Ihre kokette Art hatte in Verbindung mit ihren eher weichen Zügen dazu geführt, dass sie keine starken Frauen spielen konnte, aber sie besaß eine bestechende Unverfälschtheit. Sie hätte als Französin oder ein paar Jahrzehnte früher auf die Welt kommen sollen. Sie wäre die Idealbesetzung für Außer Atem, Blow Up, Geliebter Spinner oder eine von Alfies Freundinnen gewesen. Vielleicht sogar ein Bond-Girl.

Das Telefon fing wieder an zu klingeln. Genau zum angekündigten Zeitpunkt. Sie würde auf gar keinen Fall drangehen. »Schon gut, Victoria!«, rief sie, als der Anrufbeantworter sich einschaltete. »Ich gehe ja zu Carolines blödem Dinner.«

KAPITEL SECHS

DER HEPBURN-NACHLASS

AUSZUG AUS DEN UNVERÖFFENTLICHTENERINNERUNGEN

Mein Vater Captain Frank Hepburn kam am 1. Juli 1918 ums Leben, als seine Maschine in der Nähe der französischen Stadt Lens abgeschossen wurde. Ein Jahr vorher hatte man ihn für besondere Verdienste während eines Einsatzes im feindlichen Feuer über Arras ausgezeichnet. Er war einer der ältesten Kampfpiloten der königlichen Luftwaffe und hatte fünfzehn siegreiche Angriffe geflogen. Wäre mein Vater nur vier weitere Monate verschont geblieben, wäre der Krieg zu Ende gewesen, und er hätte heimkommen können. So aber wurde seine Leiche nie geborgen, und nur sein Namenszug in einer Gedenkwand auf dem Friedhof Faubourg d’Amiens im nordfranzösischen Arras erinnert an ihn. In meinen mittleren Jahren habe ich den Ort einmal besucht und mit dem Finger über seinen Namen gestrichen, einen von fast fünfunddreißigtausend. Dabei meinte ich überdeutlich die Geister all jener verschwendeten Leben wahrzunehmen.

Meine Mutter wurde mit sechsunddreißig Jahren Witwe. Ich glaube nicht, dass sie den Tod meines Vaters je verwunden hat. Sie suchte von da an vermehrt Trost in dem, was sie schon immer aufgemuntert hatte – Kirche, Garten, Dorfgemeinschaft –, aber leider nicht bei mir. Der Tod meines Vaters brachte uns eher weiter auseinander als näher zusammen. So verlor ich nicht nur meinen Vater, sondern auch meine Mutter. Mit achtzehn Jahren stand ich als Waise da.

Wenn ich auf jene Zeit zurückblicke, schäme ich mich, wie wenig Gedanken ich mir nach dem Tod meines Vaters über Mama machte. Ich vermutete, dass sie eine Art Kriegerwitwenrente bezog, aber im Grunde hatte ich keine Ahnung von ihren Einkünften und Ausgaben, ihren Sorgen, wie sie das Cottage halten, Essen auf den Tisch bringen und die Rechnungen begleichen sollte. All das hatte sie immer Papa überlassen, und nun war er nicht mehr da. Wie wurde sie mit dem Tod ihres Mannes fertig? Warum zog sie sich von mir zurück? Was scherte es mich. Ich kapselte mich in meinem egoistischen Ehrgeiz ein. Vielleicht war das meine Art, mit der Trauer umzugehen. Mir ging es einzig und allein darum, Five Elms Down so schnell wie möglich den Rücken zu kehren. Und meine Mutter war nicht in der Verfassung, mich daran zu hindern.

Damals war Polly McKenzie meine beste Freundin. Dasselbe Dorf, dasselbe Alter, dieselbe Schulklasse. Die hübsche Polly. So wurde sie von allen genannt. Blonde Haare, Sommersprossen, blaue Augen, Stupsnäschen, hübsch geschwungene Lippen. Mit ihrem Mündchen bezirzte sie viele und verdrehte manch einem auch ernsthaft den Kopf. Während Polly als hübsch galt, wurde ich für attraktiv gehalten. Die Unterscheidung empfand ich als wenig schmeichelhaft. Ich weiß noch, wie ich mich einmal bei Tante Ginny darüber beklagte.

»Hübschsein vergeht«, erwiderte sie. »Attraktivität bleibt.« Was Polly McKenzies Vergänglichkeit betraf, lag meine Tante leider richtig. Mit siebenundzwanzig kam Polly bei einem Autounfall ums Leben.

Polly wollte genau wie ich Schauspielerin werden. Zumindest wünschte sie sich den Ruhm und die Aufmerksamkeit, die damit verbunden sind. Wir hatten Glück, denn viele der frühen britischen Stummfilme wurden in Shoreham-by-Sea gedreht, das nur eine Fahrradstunde von unserem Dorf entfernt lag. Die dortigen Filmstudios waren komplett ausgestattet, und die Bühne befand sich in einem speziell zu diesem Zweck errichteten großen Glashaus, in dem man das Licht der langen, klaren Sommertage an der Südküste bestmöglich ausnutzen konnte. Die Filmstudios verfügten über mehrere handbetriebene Aufnahmekameras, eine Dunkelkammer, einen Raum für Probeaufführungen sowie Bungalows, in denen die Schauspieler und das restliche Team während der Dreharbeiten unterkamen. Ein regelrechtes Hollywood am Meer. Polly und ich radelten hin, sooft es ging, und machten uns unbezahlt am Set nützlich, immer in der Hoffnung auf eine Statistenrolle. Eines Tages – wir sahen gerade zu, wie der legendäre Sidney Walcott eine Szene für On the Pleasure Pier drehte, eine Liebesgeschichte zwischen einem Dienstmädchen und einem reichen Geschäftsmann – kam ein Mitglied des Filmteams auf uns zu geschlendert. Kaum älter als wir und nicht besonders gut aussehend, aber mit stolzgeschwellter Brust, weil er zwei erwartungsvollen jungen Frauen ein äußerst attraktives Angebot zu unterbreiten hatte.

»Wir suchen noch jemanden für die Dreharbeiten morgen auf der Seebrücke von Brighton«, sagte er, musterte uns von oben bis unten und wartete, bis klar war, dass wir angebissen hatten. »Eine Kassiererin, die Eintrittskarten verkauft. Hat zwei Sätze zu sprechen. Nicht weiter schwierig. Am frühen Morgen. Interesse?«

Ach, ich werde noch heute rot, wenn ich daran denke, wie diese wenigen Worte urplötzlich einen Keil zwischen Polly und mich trieben! Sie schubste mich beiseite, damit unser Wohltäter sie in ihrer ganzen Schönheit in Augenschein nehmen konnte, wobei sie leicht ins Hohlkreuz ging, um ihren kecken kleinen Busen vorteilhaft zur Geltung zu bringen. Ich entschied mich für eine sinnlichere Variante, schlug die Augen nieder und neigte den Kopf leicht nach links, um ihm meine, wie ich fand, Schokoladenseite zu zeigen.

»Du kannst die Rolle haben«, sagte er und wies auf mich.

Polly war derart verblüfft, dass sie den Mann am Arm packte, als er sich von uns abwandte. »Wie meinen Sie das: Sie kann die Rolle haben? Ich bin doch hübscher als sie. Das finden alle.«

»Es geht nicht um Schönheit, Miss. Der Held verliebt sich in das Dienstmädchen. Nicht in die Kassiererin.« Er schüttelte sie ab. »Außerdem sind Ihre Augen zu blau«, fügte er hinzu und zwinkerte mir zu.

»Zu blau? Das verstehe ich nicht.«

»Das Filmmaterial. Hellblau kommt als Weiß rüber. Sie hätten auf der Leinwand keine Iris. Ihre Freundin mit den hübschen braunen Augen ist besser geeignet.«

Nun, das war das Ende meiner »Auf-ewig-beste-Freundinnen«-Beziehung zu Polly McKenzie, aber der Beginn meiner Filmkarriere.

Als On the Pleasure Pier im Brightoner Kino The Dukes lief, ging ich hin, um meinen Auftritt zu sehen. Meine Mutter sagte, sie fühle sich nicht wohl, und so begleitete mich Tante Ginny, was mir irgendwie sogar lieber war. Als ich mich in der Rolle der Kassiererin, die zugleich ich und nicht ich war, auf der Leinwand sah, stieg mir vor lauter Aufregung die Röte in die Wangen, und mein Herz schlug höher. Tante Ginny ergriff meine Hand und drückte sie die ganze Zeit – etwa eine Minute –, in der ich zu sehen war. Nach der Vorstellung machten wir uns zum Strand auf. Zwischen den Stützpfeilern des Piers zog Tante Ginny Schuhe und Strümpfe aus und forderte mich auf, es ihr gleichzutun, obwohl das Gehen auf dem Kiesstrand beschwerlich war. Sie kaufte uns Eiswaffeln und lief ausgelassen am Meeressaum entlang, mal in die Wellen hinein, mal wieder hinaus. Ich glaube, sie war wegen meines Erscheinens auf der Kinoleinwand noch aufgeregter als ich.

»Bald bist du ein Star«, sagte sie und breitete die Arme weit aus, in der einen Hand die Schuhe, in der anderen das Eis. »Da bin ich mir ganz sicher, Georgie. Du hast so ein Leuchten an dir.«

»Es war doch nur eine kurze Szene.«

»Das spielt keine Rolle. Man merkt schon jetzt, dass du Talent hast. Dieses Leuchten. Ja, das ist das richtige Wort. Du leuchtest. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis dich ein Regisseur entdeckt, oder wer auch immer die Darstellerinnen für diese herrlichen neuen Filme aussucht. Du wirst schon sehen. Dein Vater wäre stolz auf dich. Wie schade, dass Margaret … dass deine Mutter … dich nicht gesehen hat.«

»Sie hat immer diese Kopfschmerzen.«

Tante Ginny seufzte und schob sich den Rest ihrer Eiswaffel auf einmal in den Mund. »Sie sollte sich einen Ruck geben. Dein Vater war ein außergewöhnlicher Mann, aber sie kann doch nicht ihr ganzes restliches Leben damit zubringen, um ihn zu trauern.« Sie ergriff meine Hand, und gemeinsam tippelten wir auf Zehenspitzen über den Tang und die Kiesel. »Und was ist mit dir?«, fragte sie.

»Was meinst du?«

»Wie kommst du zurecht?«

»Mir geht’s gut.«

»Bestimmt? Du hast deinen Vater doch sehr geliebt.«

»Ich versuche, nicht zu oft an ihn zu denken.«

»Hm. Ihr zwei, aus demselben Stall und doch völlig verschieden. Wenn du mal Hilfe brauchst …«

An dem Punkt zog ich es vor, das Thema zu wechseln, und erkundigte mich nach Onkel Richard und meinen beiden Cousins.

»Ich kriege ihn im Moment kaum zu Gesicht«, erwiderte Tante Ginny. »Er ist ständig auf dem Gut unterwegs und nur zum Abendessen im Haus. Oliver kommt demnächst zur Schule, und Percy ist letzte Woche fünf geworden. Zu viele Männer für meinen Geschmack. Es wäre schön, zum Ausgleich eine Tochter wie dich zu haben.« Dabei kramte sie in ihrem Portemonnaie. »Hast du eigentlich eine Gage gekriegt?«, fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf.

»Hier ist sie«, sagte sie und reichte mir zwei Halfcrowns.

»Das ist doch nicht …«

»Ich bin deine Tante, Georgie. Ich darf das.«

KAPITEL SIEBEN

LADY CAROLINES DINNERPARTY

Lady Caroline Hoffman. Oder Caroline Fletcher, wie sie zu Zeiten ihrer Schauspielausbildung schlicht geheißen hatte. Caroline hatte gut für sich gesorgt. Die wenigen Jahre im Rampenlicht als sexy Darstellerin (blond, schlank, kesser Busen in engen Pullis) in einer überaus erfolgreichen Sitcom hatte sie genutzt, um sich einen schwerreichen Geschäftsmann zu angeln. Lew Hoffman, seit Kurzem Sir Lewis, zweifellos wegen der Spenden, mit denen er eine der großen Parteien unterstützte. Laura wusste nicht, welche; es hätte jede sein können, denn Lew setzte gern auf mehrere Pferde. Ein untersetzter, verkrampft wirkender Mann, um einiges kleiner als Caroline, der sein Vermögen mit Erdöl, Bergbau, Landwirtschaft und Immobilien gemacht hatte. Wie Sir Lew immer wieder gern zum Besten gab, investierte er in Dinge, die er anfassen, in die er seine Finger graben konnte – wie seine Frau. Caroline quittierte diese abgedroschene Bemerkung jedes Mal mit einem komplizenhaften Kichern, obwohl Lew, wie Laura wusste, schon seit mehreren Jahren weder mit seinen Fingern noch mit irgendeinem anderen Körperteil auch nur in die Nähe der ehemals so begehrenswerten Caroline gekommen war.

Die Hoffmans besaßen ein Stadthaus in einer prachtvollen Regency-Straße in Knightsbridge, einem beliebten Drehort für historische Filmszenen. Da Sir Lew ziemlich oft verreist war, lud Caroline an solchen Abenden ihrem vorübergehenden Single-Status entsprechend einzelne Gäste ohne Partner (so überhaupt vorhanden) ein. Ob gerade solo oder nicht, Laura freute sich in der Regel auf die Gelegenheit, allein auszugehen und ganz sie selbst zu sein.

Dieses Mal waren sie zu sechzehnt. Acht Männer und acht Frauen. Wie üblich in etwa die gleiche Anzahl Geschäftsleute und Kreative. Als Caroline sich für einen Moment von ihren Gastgeberpflichten freimachen konnte, nahm sie Laura beiseite und erläuterte ihr die Sitzordnung.

»Ich habe mir für heute Abend etwas ganz Besonderes für dich ausgedacht«, sagte sie atemlos und griff sich an das Tuch, das ihren Hals und ihre nackten Schultern bedeckte. Ihr tief ausgeschnittenes Kleid verhüllte kaum die berüchtigten Brüste, die in den 1980ern erwachsene Männer (wie Sir Lew) vor den Fernsehbildschirmen so fasziniert hatten. »Rechts von dir habe ich Sal Yerksaw platziert. Schon mal von ihm gehört?«

»Sollte ich?«

»Dokumentarfilmer und Theaterproduzent. Amerikaner. Aus Kalifornien. Ist wegen verschiedener Projekte hier. Braun gebrannt und gut aussehend.«

Caroline zeigte ihn Laura. Ein recht attraktiver, weltläufig wirkender Mann mit zurückgekämmtem, vollem weißem Haar, das ihn ein wenig wie einen Senator aussehen ließ. Er war lässig gekleidet, in schwarzem Rollkragenpullover und grauem Sakko, während die anderen Männer dunkle Anzüge und, zur Unterstreichung ihres Typs, unterschiedlich gemusterte Krawatten trugen.

»Und zu meiner Linken?«

»Fredrik Nilssen. Schwede. Geschäftsfreund von Lew. Nach allem, was ich von meinem lieben Mann gehört habe, ein Genie auf seinem Gebiet. Öl oder Klee, was weiß ich. Offiziell noch verheiratet, wahrscheinlich aber getrennt. Alles in Ordnung mit dir? Bist du irgendwie … nervös?«

»Wird schon. Ich hatte keinen guten Tag.«

»Nun, dann muntert dich ein bisschen männliche Zuwendung hoffentlich auf.«

Die war von Sal Yerksaw allerdings definitiv nicht zu erwarten. Er schien sich mehr für die hübsche junge Autorin zu seiner Rechten zu interessieren, der man vor Kurzem einen angesehenen Literaturpreis verliehen hatte. Zu Zeiten ungetrübteren Selbstbewusstseins hätte Laura angenommen, dass Sal sie absichtlich ignorierte, um zu signalisieren, dass ihn die Anwesenheit einer bekannten Schauspielerin nicht sonderlich beeindruckte. In ihrer aktuellen Verfassung war sie sich dessen nicht mehr so sicher.

Sals Verhalten warf sie ganz auf die Gesellschaft des steifen Fredrik Nilssen mit seiner randlosen Brille und diesem kühlen, schwer zu deutenden skandinavischen Blick zurück. Alles an ihm war adrett. Sein Haar, seine Hände, sein grauer Anzug, seine graue Krawatte, die Bewegungen, mit denen er seine Tischkarte zurechtrückte und sich die Serviette auf den Schoß legte. Hätte es eine Chance gegeben, sich ihm zu entziehen, sie hätte sie vermutlich ergriffen. Da er aber nun mal für die nächsten rund sechzig Minuten ihr Tischnachbar war, beschloss sie, ihn so freundlich wie möglich zu behandeln.

Fredrik wandte ihr den Kopf – nicht aber den Körper – zu und fragte: »Möchten Sie wissen, wann Sie sterben werden?«

Sie musterte ihn. Das Kerzenlicht, das sich in seinen Brillengläsern spiegelte, sein rotfleckiges Gesicht, das offenbar nie Sonne abbekam, seine Lippen, die sich zu einem Lächeln verzogen. »Wie bitte?«, erwiderte sie.

»Ihr Sterbealter. Würden Sie es gern erfahren?«

»Das ist eine ziemlich ungewöhnliche Frage …«, sie warf einen Blick auf seine Tischkarte, »… Fredrik.«

»Gewöhnliche Fragen stellt man Ihnen bestimmt oft genug, Laura. Ich wollte mich davon abheben.«

»Ich gebe zu, Sie haben meine Neugierde geweckt.«

»Wenn ich behaupten würde, ich könnte relativ präzise vorhersagen, in welchem Jahr und welchem Monat Sie sterben werden, würden Sie es wissen wollen?«

»Ich glaube nicht.«

»Warum nicht?«

Ihr war nicht danach zumute, über die Unausweichlichkeit ihres Todes zu grübeln. Ganz besonders heute, da sie schon das Hinscheiden ihrer Karriere zu verkraften hatte. »Besser nicht so genau wissen, was kommt«, sagte sie mit einem nervösen Lachen. »Das macht das Leben spannend, oder?«

»Eigentlich nicht.«

Als die Kellner mit der Suppe kamen, geriet ihre Unterhaltung ins Stocken. Hummercreme mit Trüffelöl, wie die neben jedem Gedeck aufgestellte Menükarte verriet.

»Ich liebe Hummer«, sagte sie zu niemand Bestimmtem, jedenfalls nicht zu Sal Yerksaw, der ihr immer noch ziemlich unhöflich den Rücken zukehrte.

Die Hände auf dem Tisch gefaltet, den Blick auf seine Suppe gerichtet, sagte Fredrik: »Wäre es nicht besser, wenn wir unser Leben ganz und gar planen könnten? Unser Berufsleben, unsere Finanzen, unsere Träume einem begrenzten Zeitplan entsprechend ordnen? Statt alles ständig dem Zufall zu überlassen?«

»Und welchen Unterschied würde das machen?«

»Nun, wenn ich wüsste, dass ich nächste Woche sterbe, würde ich mich in diesem Gespräch mit einer überaus attraktiven Frau vielleicht ein bisschen forscher verhalten. Stattdessen benehme ich mich so zurückhaltend, risikoscheu und langweilig wie immer.«

Laura quittierte das Kompliment mit einem Lächeln und einem freundlichen Nicken. Es gab ihrem Ego an diesem schrecklichen Tag ein wenig Auftrieb und freute sie mehr, als Fredrik ahnen konnte. »Also gut. Wenn Sie davon ausgehen würden, dass ich mit sechzig sterbe, würde ich es vermutlich nicht erfahren wollen. Wenn Sie mir aber vorhersagen könnten, dass ich fünfundneunzig werde, würde ich es gern wissen.«

»Dann betrifft Ihre Angst also eher den Zeitpunkt Ihres Todes als seine Unausweichlichkeit?«

»Ich denke, ja. Und wie ist es bei Ihnen?«

»Ich werde mit zweiundachtzig sterben, mit einer Standardabweichung von circa drei Monaten.«

»Und woher wollen Sie das wissen?«

»Ich bin Versicherungsstatistiker.«

»Was heißt das?«

»Ich befasse mich mit der Bewertung der Wahrscheinlichkeit des Eintretens bestimmter unerwünschter Ergebnisse und deren ökonomischen Auswirkungen auf Firmenbilanzen. Kurz: mit Risikomanagement. Für Versicherungen, Banken, Investoren, auch Filmproduktionsgesellschaften.«

»Und was machen Sie konkret, wenn Sie in Ihrem Büro sitzen?«

»Nun, wenn Sie tatsächlich den Zeitpunkt Ihres Todes erfahren wollten, würde ich meine analytischen Fähigkeiten mit komplexen mathematischen Theorien und Algorithmen zusammenbringen und eine Menge statistischer Daten auswerten. Soll ich das weiter ausführen, oder langweile ich Sie bereits?«

»Fahren Sie fort.«

»Zu solchen Daten würden beispielsweise die Sterblichkeitsrate Ihrer Altersgruppe sowie der Einwohner Londons gehören, die Risiken Ihrer Berufsgruppe, Ihr Familienstand, Ihre Familiengeschichte, Ernährung, Lebensstil, ob Sie Kinder haben, Ihre Gesundheitsprobleme. Ginge es um Sie ganz speziell und nicht nur um verallgemeinerbare Aussagen, würde ich Sie außerdem fragen, ob Sie häufiger mit dem Auto oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, wie weit Ihr Wohnort von Ihrem Arbeitsplatz entfernt liegt, wie oft Sie ins Ausland reisen, ob Sie ein Haustier besitzen. Leben Ihre Eltern noch?«

»Ja, beide.« Ihr Vater lebte allerdings, fast ohne jegliches Erinnerungsvermögen, in einem Pflegeheim. Ihre Mutter, mit Ende siebzig noch immer mobil und attraktiv, betrachtete die Tatsache, dass ihr Mann sie nicht mehr erkannte, als Freibrief dafür, nahezu pausenlos mit Kreuzfahrtschiffen durch die Welt zu reisen. Laura hatte keine Ahnung, wo sie gerade steckte.

Fredrik nickte zustimmend. »Gene für ein langes Leben. Das ist schon mal sehr vielversprechend.«

»Und was ist mit zufälligen Unfällen?«

»Die würde ich in die Berechnung einbeziehen. Die Zahl der Verkehrsunfälle in Ihrer Wohngegend, die Kriminalitätsstatistik, die Quote der Notfallpatienten und so weiter.«

»Und Beziehungen?« Da sie zurzeit Single war, sollte sie vielleicht in Erfahrung bringen, ob sich das positiv oder negativ auf ihre Gesundheit auswirkte.

»Früher profitierte man davon, verheiratet zu sein. Besonders die Männer. Waren sie in einer festen Beziehung, lebten sie tendenziell gesünder. Gingen weniger Risiken ein, schließlich wartete zu Hause jemand auf sie. In den letzten Jahren verringert sich der Abstand zwischen Verheirateten und Ledigen aber immer mehr.«

»Woran liegt das?«

»Dafür sind verschiedene Faktoren verantwortlich. Der wichtigste ist wahrscheinlich, dass Verheiratete heutzutage eher übergewichtig sind als ihre ledigen Altersgenossen. Paare neigen dazu, mehr zu essen, sich gehen zu lassen. Alleinstehende versuchen eher, schlank zu bleiben, um einen Partner zu finden.«

»Sind Sie verheiratet, Fredrik?«

»Ja.«

»Sie scheinen mir aber ziemlich schlank zu sein.«

Fredrik lachte. »Sie sollten außerdem wissen, Laura, dass eine Ehe glücklich sein muss, um sich positiv auswirken zu können.«

KAPITEL ACHT

DER HEPBURN-NACHLASS

AUSZUG AUS DEN UNVERÖFFENTLICHTENERINNERUNGEN

Nach meinem kurzen Auftritt in On the Pleasure Pier