Ein feines Gespür für Schönheit - J. David Simons - E-Book

Ein feines Gespür für Schönheit E-Book

J. David Simons

0,0

Beschreibung

Edward Strathairn, ein hoch angesehener britischer Autor, kehrt in das herrlich gelegene Hotel in den japanischen Bergen zurück, wo er einst ein paar wundervolle Monate verbrachte. Hier, in Japan, dessen feines Gespür für Schönheit ihn fasziniert, hat er sich in das Zimmermädchen Sumiko verliebt. Und hier hat er seinen ersten Roman geschrieben, in dem er Amerika bezichtigt, die entsetzlichen Folgen der Bombardierung Tokios und der nuklearen Vernichtung von Hiroshima und Nagasaki zu verdrängen. Während sein Vorleben Stück für Stück sichtbar wird – sein Japanologie-Studium in London, seine Beziehung mit einer später berühmten amerikanischen Künstlerin –, zeigt sich, dass auch er Schuld auf sich geladen hat und vor Ereignissen flieht, die ihn nun unaufhaltsam einholen. Mit seinem komplexen, kunstvoll aufgebauten Roman gelingt J. David Simons das seltene Kunststück, eine bewegende Liebesgeschichte in einem betörenden exotischen Setting mit historisch- politischen Geschehnissen und Fragen nach Kunst und Wahrheit zu verknüpfen. London 1953: Während seines Japanologie-Studiums verliebt sich der junge Edward Strathairn in die Künstlerin Macy Collingwood. Als sich Macy von ihm trennt und in ihre Heimatstadt New York zurückkehrt, bricht Edward sein Studium ab und nimmt eine Stelle in Tokio an. Dort ermöglicht ihm eine Erbschaft, zu kündigen und sich in einem prächtigen Hotel in den Bergen einzumieten. Inspiriert von der Schönheit Japans, beginnt er seinen ersten Roman zu schreiben. Das Thema seines Buches: die Schuld, die Amerika mit dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki auf sich geladen hat. Als sich Edward in das Zimmermädchen Sumiko verliebt, ist er so glücklich wie nie zuvor. Doch ihre Zweisamkeit währt nicht lange, denn das Publikationsangebot eines englischen Verlags bringt Edward dazu, Japan Hals über Kopf zu verlassen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 453

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Autor dankt der Society of Authors’ Foundation für die großzügige Unterstützung.

Die englischsprachige Originalausgabe ist 2013 unter dem Titel An Exquisite Sense of What Is Beautiful bei Saraband, Glasgow, Schottland, erschienen.

Publishing

Scotland

Foillseachadh Alba

The translation of this title has been made possible with the help of Publishing Scotland’s translation fund.

Die Übersetzerin dankt dem Europäischen Übersetzer-Kollegium Straelenfür die freundliche Unterstützung ihrer Arbeit.

1. eBook-Ausgabe 2017

© 2013 by J. David Simons

© der deutschsprachigen Ausgabe 2017

Europa Verlag GmbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung und Motiv:

Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,

unter Verwendung eines Fotos von © akg-images

Übersetzung: Bettina Eschenhagen

Redaktion: Claudia Schlottmann

Layout und Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

Konvertierung: Brockhaus/Commission

ePub-ISBN: 978-3-95890-181-0

ePDF-ISBN: 978-3-95890-182-7

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Für Sofia

»Das Wasserrad symbolisierte für mich den göttlichen Mechanismus allen Seins – wie es in seinem immerwährenden Kreisen den Lebenssaft aus dem Karpfenteich schöpfte, seine Last bis zum höchsten Punkt emportrug und dann in scheinbar rascherem Tempo sanft zu ihrem Ursprungsort zurückbeförderte. Die Opfer von Hiroshima und Nagasaki. Konnten ihre Seelen zu ihrem Ursprung zurückkehren, oder war ihr Wesenskern so gründlich ausgelöscht worden, in so subatomar winzige Teilchen zertrümmert, dass ihre Lebensenergie für immer aus dem Universum verschwunden war? Um nie in ein Gottesreich eingehen oder hier auf Erden wiedergeboren werden zu können?

Und was war mit ihren Mördern? Zu Beginn der Besatzungszeit saß ich eines Abends mit ihnen in einem Tokioter Theater, bei der ersten öffentlichen Aufführung von Der Mikado in Japan, und sah sie schauen und lachen und mitsingen. Auf der Bühne in den Hauptrollen weitere Amerikaner, neben Briten und Kanadiern – die Japaner nannten sie die ›ABCs‹ –, während die einheimischen Darsteller nur singen und tanzen durften. An jenem Abend klebte kein Blut an den Händen der Zuschauer, aber die verbrannte Haut und die zerbombten Seelen der Zehntausenden, die für sie geopfert worden waren. Was war mit ihnen, diesen Oberscharfrichtern?«

DAS WASSERRAD, VORWORT

»Und ich erinnerte mich an das berühmte Foto vom ersten Treffen zwischen MacArthur und dem Kaiser kurz nach der Kapitulation. Der General in schlichter Uniform – ohne Orden, Bandschnallen und sternenbesetzte Schulterklappen – steht locker und entspannt da wie jemand aus einem John-Wayne-Film, deutlich größer als der Kaiser. Hirohito mit Cutaway und Nadelstreifenhose in Habachtstellung daneben, für Nichteingeweihte leicht zu verwechseln mit einem fernöstlichen Butler des Oberbefehlshabers. Wer würde, wenn dieser Kaiser starb, zu seiner Beerdigung kommen? Die in der Mandschurei feststeckenden Soldaten? Die Kriegsgefangenen in den sibirischen Arbeitslagern? Die ausgebombten Obdachlosen in Tokio? Die Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki? Die Witwen und Waisen der Kamikaze-Piloten? Ich fragte mich, was sie beim Vorbeidefilieren am kaiserlichen Sarg wohl für diesen Mann empfinden würden, der – früher gottgleich und nun so menschlich – die Schande der Niederlage über ihr Land gebracht hatte und der die Verantwortung dafür trug, dass sie sich kollektiv in das Schwert der Kapitulation gestürzt hatten. Würden sie sich noch von den Insignien des Kaiserreichs, den Wachen, den Blumenkränzen, dem schweren Räucherstäbchenduft, den Gesängen der Schinto-Priester und dem Mausoleum blenden lassen? Würden sie über die kalte, verschrumpelte, in ein Tuch gehüllte Leiche im Sarg sinnieren und erkennen, dass er auch nur ein Mensch war? Nur ein Mensch.«

DAS WASSERRAD, VORWORT(fehlt in der japanischen Ausgabe)

KAPITEL EINS

HAKONE, JAPAN · 2003

»Am liebsten ist einem die Jahreszeit, in die man hineingeboren wurde«, hatte seine Mutter, ein düsteres Winterkind, oft zu ihm gesagt. Daran musste Edward, der im Oktober geboren war, denken, als sie im Taxi den Hang hinauffuhren und er den Herbstwald vorbeirauschen sah. Dieses gelb-braune Defilee von Lackbäumen, Pappeln und Ulmen, das seine Reise in die Vergangenheit begleitete, Stamm für Stamm in rascher Folge. Früher hatte er diese Jahreszeit geliebt. Doch jetzt führte ihm sein Geburtstag im Herbst nur noch den nahen Tod vor Augen. Das Welken, Verdorren, Abfallen, Verwesen.

»Wie lange noch?«, fragte Enid.

Er beugte sich vor und klopfte mit dem Stock an die halb offene Trennwand. »Nan-pun kakarimasu ka?«

»Go-fun gurai«, brummte der Fahrer und hielt die fünf Finger seiner weiß behandschuhten Hand hoch.

»Etwa fünf Minuten«, sagte Edward und ließ sich in die Lederpolster zurücksinken. Er fühlte sich immer noch etwas benommen, spürte den Jetlag und rang im Nebel der verzerrten Zeit um Klarheit, war halb hier, halb anderswo. Doch eigentlich konnte er sich nicht beklagen. Der Flug von London hatte nur vierzehn Stunden gedauert. Ein Wunder, verglichen mit seiner ersten Reise, einem frühen Flug auf der Polarroute, der sich fast zwei Tage hingezogen hatte. Um einen Blick auf den Nordpol zu erhaschen, waren alle Passagiere zur einen Seite gestürzt, und der Pilot hatte sie auffordern müssen, zurück auf ihre Plätze zu gehen, damit das Flugzeug nicht kippte.

»Es muss merkwürdig sein, wieder herzukommen«, sagte Enid.

»Ach, ich weiß nicht. Es ist jetzt ein ganz anderes Land.« Er sah sie an. Ihre ringlosen Finger spielten mit dem Verschluss ihrer Handtasche, sie blickte starr nach vorn, die Lippen zusammengepresst, der Teint blasser als sonst. »Danke, dass Sie mitgekommen sind«, sagte er mit einer Stimme, die von den vielen Stunden in der Luft noch ganz rau klang.

»Das ist mein Job.«

»Ja, aber Sie reisen doch nicht gern.« Am liebsten hätte er ihr die Hand getätschelt, damit sie sich entspannte. Als der Wagen schließlich langsamer wurde, spürte Edward, wie Panikwellen durch seinen Körper liefen. Er umklammerte den Griff seines Gehstocks.

»Der Hotelmanager heißt Takahashi«, sagte Enid. »Er hat mir bei den Vorbereitungen sehr geholfen. Bitte versuchen Sie, sich den Namen einzuprägen. Man vergisst manchmal, wie gut es Menschen tut, wenn man sich an sie erinnert. Vor allem, wenn Sie es sind.«

Das Taxi bog von der Straße ab, fuhr langsam die Zufahrt hinauf und kam auf dem Vorplatz zum Stehen. Sofort wurde die Tür auf Edwards Seite aufgerissen, kalte Luft strömte in den Fond, und eine behandschuhte Hand erschien. Edward lehnte die Hilfe des livrierten Portiers ab und kletterte mühsam aus dem Auto. Während er sich, auf seinen Stock gestützt, allmählich aufrichtete, schienen sich seine schmerzenden Gelenke einzeln zurechtzurücken, bevor er seine Umgebung in sich aufzunehmen vermochte. Ihn überkamen Freude und Dankbarkeit. Das Hotel sah genauso aus, wie er es in Erinnerung hatte. Ein verwunschenes, mittelalterliches japanisches Schloss. Die Kaskaden abgestufter grauer Dächer am Hang. Die rostroten Balkone. Die Laternen.

»Sir Edward, Sir Edward!« Ein eleganter Herr in dunklem Jackett und Nadelstreifenhose kam näher und verbeugte sich tief. »Wie schön, Sie nach so langer Zeit wieder hier begrüßen zu dürfen.« Der Hotelmanager richtete sich eilig auf und reichte ihm die Hand.

»Ah, Takahashi-san«, erwiderte Edward. »Es ist schön, wieder hier zu sein.« Er ergriff die ausgestreckte Hand. »Das ist meine persönliche Assistentin, Ms Enid Blythe.«

Takahashi trat einen Schritt zurück, schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich erneut.

»Was für ein schönes Gebäude«, sagte Enid.

Takahashi strahlte. »Kommen Sie, ich begleite Sie hinein. Meine Angestellten kümmern sich um das Taxi und um Ihr Gepäck.« Mit einem Fingerschnippen rief er einen Portier herbei.

Edward ging auf die Drehtür zu, er seufzte vor Aufregung und Erschöpfung und spürte, dass sein Gehstock ihn erdete.

»Sie brauchen sich nicht anzumelden«, sagte Takahashi, als sie die Stufen zum Eingang erklommen hatten, und bedeutete dem Mitarbeiter am Empfang, dass seine Dienste nicht erforderlich waren. »Sie werden sehen, Sir Edward, hier hat sich kaum etwas verändert. Wir haben versucht, den ursprünglichen Stil so weit wie möglich beizubehalten.«

Edward sah sich um. Dem weitläufigen Salon mit seinem Parkettboden, der Teakholztäfelung und den Mattledersesseln haftete noch immer das vertraute Flair eines Herrenclubs an. Sogar das angrenzende Magische Zimmer schien unverändert und erinnerte ihn an Abende mit Gastauftritten von Trickkünstlern und chinesischen Zauberern.

»Und mein Zimmer?«, fragte er.

»Sie bekommen die Fuji-Suite, wie gewünscht. Sie hat sich ebenfalls kaum verändert. Ms Blythe hat die entsprechenden Räumlichkeiten im Stockwerk darüber.«

»Und gibt es auch ein Büro?«, fragte Enid.

»In unserem Business-Bereich haben Sie einen eigenen Schreibtisch und Telefon. Natürlich auch Highspeed-Internetzugang. Kopiergerät auf Anfrage.«

»Perfekt, Mr Takahashi.« Kaum dass dieser ihre Lieblingsaccessoires aufgezählt hatte, nahmen ihre Wangen wieder Farbe an. »Darf ich Sie jedoch noch einmal daran erinnern, dass dies in erster Linie ein privater Besuch ist?«

»Diskretion wird in unserem Hotel großgeschrieben, Ms Blythe«, erwiderte Takahashi leicht verschnupft.

»Hauptsache, Sir Edwards Aufenthalt wird nicht publik.«

»Das Personal weiß Bescheid. Darf ich Ihnen nun Ihre Zimmer zeigen? Zuerst Ihnen, Sir Edward.«

Während Enid an der Rezeption wartete, folgte Edward Takahashi durch einen Flur, der viel länger und vornehmer war, als er ihn in Erinnerung hatte. Die Tür zu seinem Zimmer stand offen. Sein Gepäck war bereits hineingebracht worden.

»Möchten Sie zu Mittag essen?«

»Ich denke, ich lege mich erst mal hin. Könnten Sie die Rezeption bitten, mich in zwei Stunden zu wecken?«

»Selbstverständlich. Dürfte ich Ihnen vielleicht einen Vorschlag unterbreiten, Sir Edward? Ich dachte, wir könnten uns zusammensetzen und über die alten Zeiten reden?«

»Ja, ja, natürlich. Die alten Zeiten. Aber nicht jetzt. Jetzt muss ich mich ausruhen.«

»Dann also später.« Takahashi verbeugte sich und ging.

Als er weg war, lehnte Edward sich von innen gegen die Tür. Ihm tat die Brust weh, und er schloss die Augen. In dem Moment sah er sie. Sumiko. Wie sie ihn strahlend auf den Blick ins Tal hinwies. Als er die Augen blinzelnd öffnete, erwartete er fast, dass sie in ihrem Kimono am Fenster stand und der goldene Stoff in der Sonne leuchtete. Er stieß sich von der Tür ab, lief im Zimmer umher. Er fühlte sich alt und hinfällig, wie ein General, der nach einem Pyrrhussieg über die Schlachtfelder schreitet, Leichen mit dem Fuß anstößt, die Verluste beklagt, den Preis für seinen Ehrgeiz ermisst. Er befühlte den kühlen Stoff der Tagesdecke, strich mit der Hand über die Mahagonioberfläche des Schreibtischs. War das vielleicht derselbe Tisch, an dem er vor so vielen Jahren Das Wasserrad geschrieben hatte? Der geräumige begehbare Kleiderschrank. Sumiko war so begeistert gewesen, wenn beim Öffnen und Schließen der Tür das Licht darin automatisch an- und ausging. »Zauberei«, hatte sie immer gesagt und dabei wieder sekundenlang die starre Pose der Assistentin des Zauberkünstlers eingenommen.

In Edwards Körper breitete sich eine tiefe Erschöpfung aus, die mit ihrem Versprechen unmittelbar bevorstehenden Schlafs fast tröstlich war. Er schaffte es noch, die Schuhe abzustreifen, und legte sich im Mantel auf das breite, angenehm weiche Bett. Als er in den Schlaf sank, der still und leise kam wie die verblassende Vergangenheit und schwindende Zukunft seiner bewussten Existenz, nahm er gerade noch das ferne Läuten von Tempelglocken wahr.

Er beschloss, auf das Mittagessen zu verzichten. Enid schlief anscheinend noch, und er hatte sowieso keinen Appetit auf eine Mahlzeit, die in seiner Zeitzone das Frühstück gewesen wäre. Stattdessen würde er im Garten spazieren gehen. Als er in der Empfangshalle darauf wartete, dass der Page ihm seinen Mantel brachte, fiel sein Blick auf eine große Glasvitrine, die es bei seinem ersten Besuch noch nicht gegeben hatte. Er ging hinüber, nahm seine Lesebrille aus dem Etui und musterte die Schwarz-Weiß-Fotos – sorgsam gehütete Zeugnisse aus der Glanzzeit des Hotels. Man sah Eisenhower und Nehru, Einstein und Helen Keller, Charlie Chaplin mit Tennisschläger. Es gab sogar eine Speisekarte mit dem Autogramm des Schauspielers William Holden. Überrascht entdeckte er ein Foto von sich selbst in jungen Jahren, unübersehbar in gestreiftem Blazer und weißer Hose inmitten einer steifen Gruppe Hotelangestellter auf dem Vorplatz. Neben ihm der damalige Manager, Name vergessen, aber in Erinnerung geblieben wegen seiner großen Brille. Edwards Augen wanderten über die letzte Reihe mit den Zimmermädchen, Pagen und Portiers, und da, in der hintersten Ecke, mit leicht geneigtem Kopf, stand Sumiko. Unter dem Bord mit dem Foto lag ein Exemplar seines Buches, auf der Titelseite aufgeschlagen. Daneben ein weißes Schildchen: »Das Wasserrad von Edward Strathairn. Geschrieben zwischen Juli 1957 und März 1958 in diesem Hotel [Exemplare in der Hotelbibliothek vorrätig].«

Die Geste überwältigte ihn irgendwie. Immerhin war man in dieser Gegend Japans an berühmte Schriftsteller gewöhnt, darunter Yasunari Kawabata, der in den Sechzigerjahren den Literaturnobelpreis erhalten hatte. Edward erinnerte sich an Sumikos große Bewunderung für dessen Roman Schneeland und sagte sich leise die ersten zwei Sätze vor – über all die Jahre unvergessen, während so viel anderes verblasst war.

»Jenseits des langen Tunnels erschien das Schneeland. Der Nacht Tiefe wurde weiß.«

Er liebte dieses Bild. Aus der Dunkelheit ins Licht. Aus der urbanen Dürre Tokios in die Reinheit des Schneelandes. Ein Bild der Erneuerung. Der Hoffnung. In der Begründung für die Verleihung des Preises an Kawabata hatte es geheißen: »für seine Erzählkunst, die mit feinem Gefühl japanisches Wesen und dessen Eigenart ausdrückt«. Kawabata hatte sich mit zweiundsiebzig Jahren das Leben genommen, indem er sich einen Gasschlauch in den Mund steckte. Welch ein abstoßender, von Selbsthass zeugender Tod für einen so empfindsamen Mann! Was sollte das, Kawabata-sensei?, dachte Edward. Was hat Sie zu einer solchen Handlung bewogen, wo der Tod doch schon so nah war?

Der Page kam, half ihm in den Mantel und hielt die Tür zum Garten auf. Edward humpelte nach draußen in die Sonne. Die saubere Luft erfrischte und belebte ihn und beschwor zugleich die Düsternis des nahenden Winters herauf. Er ging vorsichtig einen mit Ahornblättern übersäten Pfad entlang und benutzte seinen Stock, um riesige seidige Spinnweben zwischen überhängenden Zweigen wegzufegen. Er kam an Gewächshäusern vorbei, vor denen Tische mit Bonsais standen, und machte an einem Felsen halt, um Atem zu holen. Ein junges japanisches Paar lief an ihm vorüber, mit vielen Verbeugungen, flüsternd. Stockschwenkend humpelte er weiter, bis er am Teich angelangt war.

Sein alter Lieblingsplatz wirkte unverändert. Üppige Farn- und Grasbüschel hockten zwischen bemoosten Felsbrocken am Ufer. Direkt unter der schleimig-grünen Wasseroberfläche sah er die orange gefleckten Karpfen ihre Bahnen ziehen.

»Karpfen können zweihundert Jahre alt werden«, hatte Aldous ihm zu einer Zeit erzählt, als schon sechzig oder hundert Jahre für sie beide in unvorstellbar weiter Ferne lagen. »Oh, so wie sie müsste man sein«, hatte er erwidert. »So alt und so zufrieden.«

Er ließ sich auf einer niedrigen Steinmauer nieder. Da, am gegenüberliegenden Ufer, an einer kleinen Holzhütte angebracht, war das Wasserrad. Mit seinen ruhigen Drehbewegungen hieß es ihn willkommen wie einen alten Bekannten, tauchte völlig mühelos ins Wasser ein, so als wollte es sich vor ihm verbeugen. Das frische Holz bewies, dass es sich um eine Reinkarnation handelte; die Form hatte ihre Essenz beibehalten, die Konstruktion hingegen war erneuert worden. Er blickte sich zu dem Pfad mit den roten Blättern um, auf dem Sumiko täglich zu seinem Arbeitsplatz gekommen war, um ihm grünen Tee und Kekse zu bringen. Er erinnerte sich noch an etwas anderes, das Aldous gesagt hatte, einen Satz, dessen kraftvolle Weisheit ihm in all den Jahren nicht aus dem Sinn gegangen war. »Große Kunst enthüllt unverfälscht unsere Unvollkommenheit bei der Suche nach der Wahrheit.« Ja, Aldous, so ist es. Aber so viel Unvollkommenheit. Und so wenig Wahrheit.

Er beugte sich vor und ließ eine Hand über dem Wasser baumeln. Sofort näherte sich seinen zappelnden Fingern eine Gruppe Karpfen, die auf der Suche nach unsichtbaren Happen die Köpfe aus dem Wasser streckten und ihre rosa Mäuler wie Seidenbörsen auf- und zuklappten. Eine Wolke verdeckte die schwächer werdende Sonne, kaltes Grau legte sich über den Garten. Edward schauderte und wünschte, er hätte Hut und Handschuhe nicht auf dem Toilettentisch liegen gelassen. Doch er blieb sitzen und betrachtete weiter das Wasserrad, richtete nun seine Aufmerksamkeit auf eine einzelne Zelle und verfolgte, wie sie Wasser aus dem Teich schöpfte, bis zum höchsten Punkt emportrug und es dann in scheinbar rascherem Tempo sanft zu seinem Ursprungsort zurückbeförderte. Der Himmel verdunkelte sich immer mehr. Ein vertrocknetes Ahornblatt schwebte herab und blieb auf dem dunklen Wollstoff seines Ärmels liegen. Der Winter nahte.

KAPITEL ZWEI

GLASGOW, SCHOTTLAND · 1936

Edward war neun Jahre alt, als er das Miniaturschwert in der Pfeifenkiste seines Vaters entdeckte. Auf der etwa zwanzig Zentimeter langen Elfenbeinscheide war die schlichte, aber feine Schnitzerei eines fernöstlichen Mädchens. Ihr bekleideter Körper nahm die eine Seite des Futterals ein, während ihr Kopf den Griff des Schwertes zierte, sodass man, wenn man es aus der Scheide zog, das gelassen wirkende Gesicht vom zugehörigen Körper trennte. Edward liebte es, mit den Fingern die Rillen der Schnitzerei nachzufahren, die Klinge aus der Scheide zu ziehen, die arme junge Frau wieder und wieder zu enthaupten. Solch ein Schatz im Haushalt der Familie Strathairn, in dem es an Ziergegenständen sonst nur noch ein versilbertes Zigarettenetui und einen gläsernen Aschenbecher mit Wirbelmuster gab! Er fragte seinen Vater, wo er das Schwert herhatte.

»Japan«, erwiderte der ungerührt. Als ob sie eine ganze Sammlung exotischer Kunstobjekte aus Fernost in ihrer Glasgower Wohnung hätten. »Pass auf, dass du dich nicht schneidest, Eddie.«

»Ein Geschenk von einem seiner fremdländischen Liebchen«, sagte seine Mutter und hielt beim Abstauben der Anrichte inne. »Wie nennt man die noch mal? Geishas. Genau, Geishas.«

»Halt den Mund, Frau. Erzähl dem Jungen nicht so ’n Blödsinn.«

»Er ist schlau genug, um zu wissen, was stimmt und was überhaupt nicht sein kann. Hab ich recht, Eddie?« Sie lachte und schüttelte ihren gelben Lappen in seine Richtung aus, sodass sich eine Wolke von im Sonnenlicht stiebenden Staubpartikeln daraus löste. Wärme durchströmte ihn, und er war glücklich, als er die Eltern in seiner Gegenwart so entspannt einander necken hörte. Er sah seine Mutter selten lachen. Normalerweise war sie so damit beschäftigt, sich zu ärgern und sich in ihrer Sorge um alles und jedes die Fingerknöchel wund zu beißen, dass er fast fürchtete, irgendwann würden unter den rohen roten Wunden die weißen Knochen zum Vorschein kommen.

»Hör nicht auf sie, Junge«, sagte sein Vater und faltete geräuschvoll die Zeitung zusammen. »Dein Onkel Rob hat es uns geschenkt. Ein Mitbringsel von seinen exotischen Reisen. Deine Mutter kann ein paar Geishas nicht von einem Paar Galoschen unterscheiden.«

»Und du kannst ein Paar Galoschen nicht von einem Paar Gummihandschuhe unterscheiden«, konterte seine Mutter mit noch immer heiterer Stimme. »Du Brocken von einem Mann sitzt hier rum wie Graf Koks, dabei gibt es so viel zu tun.«

»Ich hab meinen Teil der Plackerei für heute schon hinter mir«, sagte sein Vater und ließ sich tiefer in den Sessel sinken. »Dass ihr ein Dach überm Kopf habt, verdankt ihr mir. Stimmt’s, Eddie?«

Edward wusste nicht, ob sein Vater recht hatte oder nicht. Er war nur glücklich, dass in seiner kleinen Familie ausnahmsweise alles in Ordnung zu sein schien. Dass seine Mutter nicht angespannt und wütend und sein Vater nicht mürrisch und verschlossen war. Dass eine Leichtigkeit um sie drei herumtanzte wie der aufgewirbelte Staub im Sonnenlicht.

»Also, was ist, Junge?«, beharrte sein Vater. »Wer hat den Meccano-Baukasten bezahlt, den du zum Geburtstag gekriegt hast? Oder die Schuhe an deinen Füßen? Das war dein Vater mit seinem Fleiß und seinem Verantwortungsgefühl, niemand sonst. Fleiß und Verantwortung. Das hält den Laden am Laufen. Die Schufterei deines Vaters.«

Edward wusste, dass sein Vater damit vor allem seine Arbeit in einer Reederei in Clydeside meinte. Einmal hatten sie ihn dort besucht, er erinnerte sich an die vielen Büroangestellten auf hohen Hockern, wie ihre Finger an Zahlenkolonnen entlangfuhren, hie und da mit Tinte etwas dazuschrieben und wie sein Vater sie von seinem Schreibtisch am anderen Ende des lang gestreckten Raums aus beaufsichtigte. Wie ihm danach ein großer, braun gebrannter Mann mit Goldlitze am Ärmel und einem lässigen Lachen eines der riesigen Frachtschiffe gezeigt und dabei seiner Mutter geholfen hatte, die steilen Stufen hinaufzusteigen, indem er mit der Hand ihren Ellbogen stützte.

»Haben alle Frauen in Japan so was an wie die hier?«, fragte Edward.

»Redest du immer noch von dem kleinen Schwert? Ich glaub schon. So ziehen sie sich da drüben an. In Japan.«

Japan. Wenn Edward an seine Kindheit dachte, war dies das einzige von seinem Vater gesprochene Wort, an das er sich in aller Klarheit erinnerte. Es hatte natürlich viele Gespräche zwischen ihnen gegeben, meist angenehme, denn bis der Zweite Weltkrieg sie verdunkelt hatte, war seine Kindheit glücklich gewesen. Aber von diesen Gesprächen waren nur vage Geräusche zurückgeblieben, er hörte mehr den Klang der väterlichen Stimme als irgendein konkretes Wort. Das Wort »Japan« jedoch hatte sich als intakte Einheit erhalten, wie ein Stimminsekt, das in einen Geräuschbernstein eingeschlossen war. Er wusste noch genau, in welchem Ton und mit welcher Klangfarbe sein Vater es ausgesprochen hatte. Japan. Ein rollender schottischer Bariton, durch Tabak und Whisky im Ansatz rau geworden. Japan. Diese Ahnung. Dieser Fingerzeig. Als wäre sein Vater zu keinem anderen Zweck auf der Welt gewesen, als ihm mit diesem einen Wort den Weg nach Osten zu weisen.

Japan. Der Name jenes Landes hatte Edward damals nichts gesagt. Eine Inselgruppe irgendwo rechts auf der Landkarte in seinem Klassenzimmer. Anders als das restliche Empire war es nicht rosa eingefärbt, sondern unschattiert, namenlos, wie die große Fläche, die China darstellte. Tatsächlich hatte Edward Japan für einen Teil von China gehalten, bis ihn eine Schulaufführung von Der Mikado in die Welt von Oberscharfrichtern, himmlischen Hoheiten, Frauen mit Stricknadeln im Haar und Schulmädchen mit Namen wie Yum-Yum, Pitti-Sing und Peep-Bo einführte.

Seine kleine Rolle in der Operette war nur einer der Vorteile gewesen, die ihm sein Gymnasium bot. Im Alter von elf Jahren war er mit einem »Hervorragend« in Englisch und der Aussicht, nach erfolgreichem Schulabschluss in fünf Jahren ein Studium aufnehmen zu können, der Erziehung mit Gürtel und Bibel entronnen. Es war eine Zeit des Lernens, der Zeitungslektüre, des Radiohörens, während die Deutschen Europa besetzten. Und plötzlich war da auch Japan. Und dieses Japan hatte ein Gesicht, aber es war nicht das Gesicht von widerspenstigen Mädchen, die Stricknadeln im Haar trugen. Es war ein brutales Gesicht. Angeheizt durch Comic-Hefte und Zeitungspropaganda. Er bekam Angst, als die fernöstlichen Krieger von ihren Flugzeugen aus die Kriegsschiffe Seiner Majestät versenkten, als sie Hongkong, Malaya, Singapur, Sumatra, Borneo, Ceylon und Birma überrannten. Die Farben auf der Karte veränderten sich. Die rosafarbenen Länder Australien und Indien waren bedroht. Auch er war bedroht. Während die Japaner und die Deutschen vorrückten, näherte er sich mehr und mehr der Altersgrenze für die Einberufung. Die fortschreitende Zeit schloss sich um ihn wie der Tod, wie die Nächte des dunklen Winters 1944. Doch auf einmal wurde es hell. Die Deutschen befanden sich auf dem Rückzug, die Briten eroberten Mandalay und Rangun zurück, die amerikanischen Streitkräfte landeten in Okinawa. Und dann war da dieses seltsame grelle Licht. Gefolgt von einer tödlichen Hitze, die ihre Opfer mit ihrem radioaktiven Schatten brandmarkte. Erst Hiroshima. Dann Nagasaki.

In den Nachrichten ging es damals ständig um Zahlen, Zahlen, Zahlen. Jeden Abend purzelten sie aus dem Radio, kundgetan von einer körperlosen Stimme. Erst waren es die Zahlen aus Europa. Viele Millionen. Und jetzt die aus Japan. Ab wann war eine Zahl nur mehr eine Zahl, wann bezeichnete sie keinen Menschen mehr? Nach zehn, zwanzig, hundert Toten?

»Warum bringen wir so viele Menschen um?«, fragte Edward seinen Vater. Seine Mutter hatte sich wegen der rasenden Kopfschmerzen, die sich immer zu Beginn der Abendnachrichten einstellten, hingelegt.

»Wir haben niemanden umgebracht, Junge. Das waren Truman und die Ami-Bomber.« Sein Vater klopfte mit der Pfeife heftig auf die hölzerne Armlehne, als wollte er einen Keil zwischen die Verbündeten treiben.

»Aber sie reden von über hunderttausend Toten. Innerhalb von fünf Tagen. Fast alles Zivilisten.«

»Das wird den Krieg schnell beenden, du wirst schon sehen. Einem Haufen amerikanischer Soldaten das Leben retten. Und Japsen auch.«

»Ja, wenn gekämpft worden wäre«, protestierte Edward. »Aber das war doch … ich weiß nicht … ein … ein … Massaker. Ein Massaker an unschuldigen Menschen.«

»Du reagierst überempfindlich bei so was, Eddie«, sagte sein Vater sanft. »Genau wie deine Mutter.«

»Aber …«

Sein Vater hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Diese Bomben hätten auch dir das Leben retten können, Junge. Irgendwo weit weg in Asien. In ein paar Monaten bist du alt genug, um eingezogen zu werden. Deine Mutter und ich sind froh, wenn wir uns deswegen keine Sorgen mehr machen müssen.«

Sein Vater hatte recht behalten. Sechs Tage später war der Krieg im Pazifik vorbei.

Edward schrieb sich an der Universität von Glasgow in einem Masterstudiengang ein und hatte weder die Fantasie noch den Ehrgeiz, etwas anderes als Englischlehrer werden zu wollen. Es gefiel ihm, eine Laufbahn anzustreben, die den Erwartungen seiner Eltern entsprach, und er war sich keinerlei anderer Wünsche bewusst, bis er und sein Vater zur Testamentseröffnung seines verstorbenen Onkels Rob geladen wurden.

»Ich versteh immer noch nicht, was das alles soll«, grummelte sein Vater. »Rob hat doch ’ne eigene ordentliche Familie, die sind doch seine gesetzlichen Erben.«

»Vielleicht hat er dir irgendwas hinterlassen, Vater. Als Erinnerung an eure gemeinsame Kindheit.«

»Ehrlich gesagt hat dein Onkel Rob dich lieber gehabt als mich, seinen jüngeren Bruder. Vielleicht weil er selbst nur Mädels hatte.«

Edward hatte seinen Onkel wirklich gemocht – ein baumlanger Kerl mit rosigen Wangen und einer flachen Kappe rotblonder Haare. Ein Rugby-Fan, der immer eine Süßigkeit für seinen kleinen Neffen und einen Rat auf Lager hatte, wie man seine Bildung vervollkommnen konnte. In jungen Jahren war sein Onkel viel gereist. Zu einer Zeit, als Edinburgh der östlichste Punkt war, zu dem die meisten Bewohner Glasgows je gelangten, brach er in den Fernen Osten auf. Zurückgekehrt war er mit zahlreichen Kontakten nach Asien, die er sich später in seiner erfolgreichen Handelsfirma zunutze machte. Außerdem brachte er eine bunte Sammlung von Kunstobjekten mit nach Hause. Besagtes Elfenbeinschwert ebenso wie mehrere knebelartige Miniaturschnitzereien, Cloisonnévasen, Lackschalen und eine Reihe japanischer Holzschnitte. Einige dieser Drucke hatte er in seinem Arbeitszimmer aufgehängt – Schauspieler auf einer Kabuki-Bühne, schöne Kurtisanen beim Haarekämmen, auf Kirschblütenzweigen sitzende Vögel. Andere verwahrte er in einer Schublade.

»Aha, du musst dich also inzwischen rasieren«, hatte sein Onkel bei einer der seltenen Gelegenheiten bemerkt, bei denen er Edward in sein Arbeitszimmer einlud. »Das heißt, du bist jetzt alt genug.«

»Alt genug wofür, Onkel?«

»Dafür.« Und er schloss die Schublade auf, entnahm ihr eine in Seide eingeschlagene Mappe und breitete die Drucke auf dem Schreibtisch aus. »Erzähl bloß deiner Tante Cathy nichts davon.«

Edward hatte nur dagestanden und geglotzt. Seine Wangen brannten, doch seine Verlegenheit war nicht so groß, dass er die Augen von dem abgewandt hätte, was da vor ihm lag. Nackte Frauen beim Baden, nackte Frauen, die einander mit Wasser übergossen, nackte Frauen, die sich zwischen den Beinen wuschen. Frauen mit kokett aus ihrer Kleidung hervorlugenden Brüsten, eine voll bekleidete Kurtisane, die gerade den Penis eines nackten Mannes in sich aufnahm. Edward musste seine Leiste gegen den Schreibtisch pressen, um seine eigene Erektion zu verbergen.

»Nur eine kleine Kostprobe von dem, was dir winkt«, hatte Onkel Rob geseufzt. »Ach, wie ich die jungen Leute beneide!«

Nun war der Onkel mit fünfundfünfzig Jahren an einem Herzinfarkt gestorben und hinterließ Tante Cathy und zwei verheiratete Töchter. Edward fragte sich, was seine Tante wohl denken würde, wenn sie die Drucke fand.

»Es liegt hier eine beträchtliche Erbschaft vor, die zum Zwecke seiner Ausbildung an Ihren Sohn gehen soll«, verkündete Mr Wilson Guthrie, Partner der Kanzlei Guthrie, Henderson & Co.

»Er ist mit seiner Ausbildung fertig«, sagte sein Vater.

»Stimmt das, Edward?«, fragte Guthrie und fuhr in seinem Drehstuhl zu ihm herum, um ihn über den großen Schreibtisch hinweg zu fixieren. »Stimmt das?«, wiederholte der Mann, als ob dem Wort seines Vaters nicht zu trauen wäre. »Stimmt das?«

»Ja, Sir. Ich habe mein Studium an der Universität Glasgow mit Auszeichnung abgeschlossen. Und war danach ein Jahr am Lehrerbildungsinstitut. Ich habe Aussicht auf eine Lehrerstelle.«

»Aha«, blaffte Guthrie. »Nun denn, die Anweisungen sind sehr konkret. Und als Testamentsvollstrecker Ihres verstorbenen Onkels muss ich dafür Sorge tragen, dass Geldmittel nur bereitgestellt werden, wenn Belege für Ausgaben vorliegen, die Ihren Ausbildungsgang betreffen.«

»Mein Bruder hat seinen Letzten Willen aber vor vielen Jahren verfasst. Als Edward noch zur Schule ging. Bestimmt wollte er ihm das Geld auf jeden Fall vermachen. Auch wenn er gewusst hätte, dass der Junge seine Ausbildung schon abgeschlossen hat.«

»Das mag stimmen, Mr Strathairn. Allerdings besitzen Absichten im Fall von letztwilligen Verfügungen und Testamenten keinerlei Relevanz. Sondern einzig und allein das geschriebene oder gedruckte Wort, das vom Erblasser in Anwesenheit zweier Zeugen beglaubigt wurde.«

»Wie in einem Roman von Dickens«, grummelte sein Vater. »Und was passiert dann mit dem Erbe?«

»Es wird in den Nachlass zurückgeführt und unter den Mitgliedern der Familie Ihres verstorbenen Bruders aufgeteilt.«

»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte Edward. »Darf ich einen Vorschlag machen?«

Sein Vater und der Anwalt wandten sich ihm zu.

»Nur zu«, brummte Guthrie.

»Was, wenn ich meine Ausbildung fortsetzen würde?«

»In dem Fall wäre ich gehalten, Ihnen die Mittel zu überlassen«, räumte der Anwalt ein und starrte ihn über den Rand seiner Brille hinweg an. »Vorausgesetzt natürlich, dass ich die erforderlichen Belege erhalte.«

Und in seinem eigenen verzerrten Spiegelbild, das ein schräger Lichtstrahl auf eines der Brillengläser des Anwalts warf, erkannte Edward diesen Augenblick als das, was er war: ein Augenblick großer Klarheit. Es war wie bei einem Farbenblindheitstest, wenn man zuerst nichts als eine Ansammlung merkwürdiger Kleckse wahrnimmt und schließlich in panischer Anspannung eine Zahl ausmacht. Die Wahrheit. Von jeher da gewesen. Wie hatte er sie nicht sehen können? Die nur darauf gewartet hatte, dass jemand mit der richtigen Vision sie entdeckte. Er brauchte hier, im Büro des Rechtsanwalts, gar keine große Entscheidung zu treffen, sondern musste sich nur etwas eingestehen, was offensichtlich war. Was schon immer da gewesen war.

»In dem Fall gehe ich zurück an die Universität.«

»Um dort was zu tun?«, fragte Guthrie.

»Japanologie zu studieren.«

»Japanologie?«

»Ja, Sir«, erwiderte Edward, immer überzeugter von der Richtigkeit seiner Entscheidung. Auch wenn er keine Ahnung hatte, wo er ein solches Fach würde studieren können.

Guthrie beugte sich über seinen Schreibtisch. »Ich glaube nicht, dass so ein Studienfach für einen jungen Briten angebracht ist.«

»Wie meinen Sie das?«

»Die Japsen. Sie waren unsere Feinde. Ich kenne Leute, die da drüben gekämpft haben. Vielleicht wäre Romanistik angemessener?«

»Ich dachte, ich müsste nur die notwendigen Belege beibringen.«

»Was ist mit Sinologie? Oder Afrikanistik? Oder Südamerikanistik? Was meinen Sie, Mr Strathairn?«

»Ich finde, der Junge sollte genau das machen, was er will.«

KAPITEL DREI

HAKONE, JAPAN · 2003

Ein sanfter Stupser weckte ihn.

»Ah, Takahashi-san. Ich muss eingenickt sein.«

Der Hotelmanager trat einen Schritt zurück und stolperte fast über eine der unebenen Platten, die den Teich säumten. Dann machte er mit beneidenswerter Gelenkigkeit eine tiefe Verbeugung. Über dem Arm trug er eine karierte Wolldecke.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung, Sir Edward. Aber Ms Blythe bat mich, Sie zu suchen. Sie meinte, ich solle einen Pagen schicken, aber ich bin lieber selbst gegangen. Ich dachte, es könnte Ihnen ein wenig kalt sein hier draußen.«

»Sehr aufmerksam von Ihnen.«

»Aber wie ich sehe, haben Sie Ihren Mantel an.«

»Ja, ja. Haben Sie denn eine Nachricht für mich?«

»Professor Fisk hat angerufen. Ms Blythe meinte, es sei dringend.«

»Ach ja, natürlich. Fisk.«

Edward erhob sich mühsam von seinem steinernen Sitz, tastete nach seinem Gehstock und folgte dem Manager zurück zum Hauptgebäude. Unterwegs blieb Takahashi immer wieder stehen, um ihn auf etwas hinzuweisen.

»Sehen Sie die Azaleen, Sir Edward? Sehr schöne Frühlingsblüher. Wenn es so weit ist, haben wir im Garten ganze Teppiche in Rosa-, Rot-, Gelb- und Weißtönen. Japan ist berühmt für seine Azaleen.«

Und als Edward ihn wieder einmal atemlos eingeholt hatte, hieß es: »Da drüben, unsere wunderbare Kirschbaumplantage! Es muntert einen so auf, wenn man im Frühjahr unter dem rosa Blütendach sitzt.«

Unter derlei botanischen Betrachtungen erreichten sie nach vielen Unterbrechungen schließlich die Rezeption.

»Sie können dort drüben telefonieren«, sagte Takahashi und zeigte auf eine hölzerne Zelle im Foyer. »Dann müssen Sie nicht extra auf Ihr Zimmer gehen. Und vielleicht können wir uns ja später zu unserem Gespräch treffen?«

»Unserem Gespräch?«

»Über die alten Tage.«

Edward nahm den Zettel mit Fisks Nummer entgegen. »Ach so. Das kleine Gespräch. Nach dem Abendessen vielleicht.«

»Ein Drink in der Bar? Wir haben einige der besten schottischen Whiskys da. Und eine hervorragende hoteleigene Sorte.«

»Das klingt gut. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden.«

Takahashi lächelte und verbeugte sich. »Ich freue mich sehr darauf. Es gibt so viel zu erzählen.«

Edward erinnerte sich von seinem ersten Aufenthalt her an die Zelle, damals die einzige Möglichkeit zum Telefonieren im ganzen Gebäude. Sie bestand vollständig aus Teakholz, wie alles in der Empfangshalle – Täfelung, Bodenbelag, Tische, Treppe –, und hatte eine dieser Ziehharmonikatüren. Wie beim Kleiderschrank in seinem Zimmer ging auch hier das Licht an, sobald man die Tür aufschob. Drinnen roch es nach frischer Politur. Edward lehnte sich gegen die stabile Ablage mit den Telefonbüchern, stellte seinen Stock beiseite und setzte die Brille auf. In einem Mitteilungskasten hingen Geschäftskarten örtlicher Restaurants und Taxifirmen sowie ein kleines englischsprachiges Plakat des Open-Air-Museums von Hakone:

In unvergleichlicher Natur, von der Sonne und großartiger Schönheit verwöhnt, erwartet die Museumsbesucher ein fesselndes Erlebnis: in spektakuläre Landschaft eingebettete plastische Kunst. Seit seiner Gründung im Jahr 1969 beherbergt das Museum 26 Werke des englischen Bildhauers Henry Moore ebenso wie den Picasso-Pavillon mit lebensprühenden Gemälden, Keramiken, Skulpturen und Wandteppichen eines der größten Künstler des 20. Jahrhunderts.

»Ah ja, lebensprühende Gemälde«, murmelte Edward vor sich hin. »Wie schön, wieder hier zu sein.« Dann wählte er die Nummer auf dem Zettel. Die Verbindung kam zustande, eine männliche Stimme meldete sich.

»Moshi, moshi.«

Schwer zu sagen, ob es sich um einen amerikanischen oder einen japanischen Akzent handelte. »Ist da Professor Fisk?«

»Ja, hier ist Professor Fisk. Mein Gott, Eddie. Bist du’s?«

»Ja. Ich kann es kaum fassen, dass ich dich gefunden habe.« »Na ja, deine Sekretärin hat sich schwer ins Zeug gelegt, um mich aufzuspüren.«

»Sherlock Holmes ist nichts gegen Enid, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Und du lebst also nach wie vor hier.«

»Weißt du noch, was du immer gesagt hast, Eddie? Wenn du anfängst, dich beim Telefonieren zu verbeugen, ist es Zeit, zu gehen. Nun, noch ist es bei mir nicht so weit.«

»Hast du eine Japanerin geheiratet? Ist das der Grund?« »Irgendwann einmal.«

»Verstehe. Und hast du einen Lehrstuhl bekommen? Was war noch das Thema deiner Doktorarbeit? Sprache versus Kultur? Irgendwas über Verben am Satzende?«

»Gutes Gedächtnis. Das ist lange her. Meine idealistische Phase. Jetzt bin ich größtenteils im Ruhestand. Aber ich mische immer noch ein bisschen mit. Ab und an ein Literaturseminar. Kleines Büro auf dem Campus. Hält mich von der Straße fern, von den Animierlokalen.« Ein tiefes Glucksen. »Und du bist wieder in dem Hotel von damals abgestiegen?«

»Es hat sich kaum verändert.«

»Aber du. Hab gehört, man hat dich zum Ritter geschlagen. Muss ich vor dir niederknien, wenn ich dich treffe?«

»So ähnlich.«

Fisk gluckste abermals. »Also, es ist alles vorbereitet, Eddie.«

»Vorbereitet?«

»Der Festakt.«

»Welcher Festakt?«

»Willst du mich auf den Arm nehmen? Ich habe das doch mit deiner Sekretärin abgesprochen.«

Edward lehnte sich gegen die Tür, und schlagartig ging das Licht aus. »Verdammte Technik.«

»Was ist los bei dir?«

»Nichts, nichts.« Er öffnete die Tür einen Spaltbreit, sodass das Licht wieder anging. »Ich weiß nichts von einem Festakt. Enid hat für uns beide für morgen Mittag ein Essen in Tokio arrangiert. Das ist alles.«

»Eddie! Meine Universität verleiht dir die Doktorwürde.«

»Um Himmels willen, Jerome! Du verdirbst alles.«

»Verderben? Was verderbe ich, Eddie?«

»Das hier sollte ein rein privater Aufenthalt werden.«

»Mann, ich hab mich totgearbeitet, um den Festakt so kurzfristig zu organisieren. Sie muss es dir doch gesagt haben.«

Leichte Panik erfasste Edward und flaute wieder ab; zurück blieb ein Anflug von Übelkeit. Er konnte fast spüren, wie sein Blut sich mühsam einen Weg durch seine verengten Venen bahnte. Er öffnete die Tür noch etwas weiter. »Ich weiß nicht. Vielleicht.«

»Hör zu, Eddie. Mach dir keine Sorgen. Das Ganze wird eher informell. Zwanzig Fakultätsmitglieder, höchstens. Einige meiner Studenten aus den höheren Semestern. Der Dekan wird ein paar Worte über deinen Beitrag zur japanischen Kultur sagen und dir eine Urkunde überreichen. Wahrscheinlich auch eine Cloisonnévase. Die kriegen bedeutende Gäste meistens geschenkt. Dann nehmen wir uns etwas Sashimi vom Buffet, und ab geht’s. Auftrag erledigt! Sag, dass du dabei bist, Eddie! Es ist alles organisiert. Wär ein großer Gesichtsverlust, wenn du nicht kommst.«

»Gut, gut. Aber werden wir Zeit zum Reden haben?«

»Na klar. Also, ich hab ein Taxi bestellt, das dich morgen früh um zehn im Hotel abholt und ratzfatz zum Bahnhof von Odawara bringt. Ich hab auch einen Platz im Shink für dich reserviert und die Tickets an dein Hotel geschickt. Ich hole dich in Tokio ab.«

»Im Shink?«

»Shinkansen. Der Hochgeschwindigkeitszug. Nach deiner Zeit. Halt deinen Hut fest, Eddie, oder was auch immer ihr Ritter auf dem Kopf tragt. Nur vierzig Minuten bis Tokio. Wir sehen uns dort.«

Edward legte auf. Typisch Jerome Fisk. Ein einziges kurzes Telefonat genügte, um eine Mischung aus Ärger und Zuneigung in ihm auszulösen, genau wie früher. Er öffnete die Tür der Telefonzelle und stützte sich auf seinen Stock.

»Wo ist Ms Blythe?«, fragte er Takahashi an der Rezeption. »Wo steckt sie nur?«

»Sie erwartet Sie im Speiseraum.«

Edward blieb in der Tür stehen und suchte sie mit den Augen. Der Raum war voll, der Geräuschpegel jedoch vornehm gedämpft, wozu auch die dicken Leinentischdecken und die Wandteppiche beitrugen. Bei seinem ersten Aufenthalt waren fast nur Ausländer zum Essen hierhergekommen, vor allem Amerikaner in vorschriftsmäßiger Abendkleidung. Abgesehen vielleicht von dem von Frank Lloyd Wright entworfenen Imperial in Tokio war es damals das einzige Hotel in Japan gewesen, auf dessen Speisekarte Borschtsch, Bouillabaisse, Putencurry und Ochsenzunge standen. Jetzt führten teuer gekleidete Japaner die Gästeriege an. Heutzutage konnten sich nur noch wenige betuchte Touristen aus Übersee eine Reise nach Japan leisten.

Ein Kellner entdeckte ihn und führte ihn zu Enid. Ein Tisch am Fenster, abgeschirmt gegen die übrigen Gäste.

»Ah, Sir Edward«, sagte sie und schenkte ihm ein Glas Wasser ein. »Dann hat Takahashi Sie also gefunden.«

»Ich habe gerade mit Fisk telefoniert. Er sagt, er hat an der Uni einen Festakt zur Verleihung der Doktorwürde an mich organisiert. Warum haben Sie mir nichts davon erzählt?«

»Wir haben vereinbart, dass Sie ihn morgen zum Lunch treffen. Das ist alles.«

»Er meinte, es sei mit Ihnen abgesprochen.«

»Ist es aber nicht.«

»Sind Sie sicher?«

»Natürlich bin ich sicher. Warum glauben Sie …?«

»Entschuldigung. Hinterhältiger Mistkerl.«

»Sie haben nicht eingewilligt, oder?«

»Was blieb mir anderes übrig? Er sagte, es sei schon alles arrangiert.«

»Ich rufe ihn an und sage ab.«

»Nein, lassen Sie das. Ich möchte ihn wirklich gern sehen. Vielleicht wird es ja nicht so schlimm. Er sagte, es würde eher informell. Ein paar Leute von der Fakultät und ein paar Studenten. Was kann das schon schaden?«

»Die Presse könnte Wind davon bekommen. Wir müssen vorsichtig sein.«

»Möglicherweise ein Fotograf von der Uni. So was wird immer dokumentiert. Aber japanische Medien? Wohl kaum. Die halten mich wahrscheinlich längst für tot.«

»Oh, bestimmt nicht.«

»Hoffentlich doch.« Er schaute aus dem Fenster. Meine Güte, das hier ist mein Tisch. Hier habe ich immer gesessen. Wie können sie das nur wissen?

Dieser Teil des Gartens unterschied sich deutlich von dem weniger gepflegten Bereich mit dem Wasserrad. Hier waren die Bäume und Büsche beschnitten und bildeten eine beschauliche Kulisse für das große Wasserbecken in der Mitte. Winzige Laternen spannten sich an einer Schnur über den Teich. Auch die Steinstufen und der Pfad, der vom Hauptgebäude am Ufer entlang hangaufwärts zu den Nebengebäuden führte, waren beleuchtet. Dort hatte er Sumiko damals immer mit Bettzeug beladen zwischen Waschküche und Hotelzimmern hin- und herlaufen sehen. Nie hatte sie sich umgedreht und ihn angeschaut, obwohl sie bestimmt wusste, dass er da war. Jetzt fragte er sich, ob sie diese Gänge absichtlich dann erledigt hatte, wenn er aß.

»Sir Edward«, sagte Enid sanft. »Der Kellner ist da. Möchten Sie etwas bestellen?«

Er beschloss, seinem Verlangen nach rohem Fisch und Essiggurken noch nicht nachzugeben, und entschied sich stattdessen für etwas leichter Verdauliches, ein Omelett und ein Glas Weißwein. Nach der Hälfte der Mahlzeit überkam ihn jedoch dieses typische körperlose Jetlag-Gefühl; es war, als wäre seine Seele noch irgendwo da oben in der Stratosphäre und versuchte verzweifelt, seinen Körper einzuholen. Er legte das Besteck zur Seite, wischte sich den Mund mit der Serviette ab und stand auf.

»Sie müssen mich entschuldigen, Enid.«

»Alles in Ordnung?«

»Ja, ja. Bitte setzen Sie sich wieder, und essen Sie weiter.«

Im Flur war es weniger stickig, und seine Übelkeit ließ nach. Er beschloss, in sein Zimmer zu gehen. Unterwegs fiel ihm auf, dass die Korridorwände mit weiteren Fotos illustrer Gäste geschmückt waren. Hier sah man John Lennon im weißen Anzug und mit diesen kleinen, runden, getönten Brillengläsern neben Yoko in der Eingangshalle. Dort Margaret Thatcher. Beim Aussteigen aus ihrer Limousine, die obligate Handtasche umklammernd und mit der Nase vorneweg segelnd, als wollte sie erschnüffeln, ob die gebuchte Unterkunft auch wirklich angemessen war.

Er erreichte das Ende des Flurs und öffnete die Zimmertür. Das Licht brannte bereits. Überrascht fiel sein Blick auf eine junge Japanerin, die in rotem BH und Slip neben dem Bett stand und gerade unbeholfen in einen Unterrock stieg. Ihr langes Haar hing dabei wie ein dunkler Vorhang vor ihrem Gesicht. Seltsam, dachte er. Er hatte Sumiko nie in roter Unterwäsche gesehen. Er wollte gerade etwas sagen, als die Frau ihn bemerkte, den Mund verzog und einen Laut von sich gab. Ein seltsames Keuchen. Ein halb bekleideter älterer Japaner kam aus dem Bad, seine mageren Beine schauten nackt unter seinem Hemd hervor. Der Mann fing an, ihn anzuschreien. Erst auf Japanisch, dann auf Englisch.

»Was machen Sie hier? Was wollen Sie?«

»Das könnte ich Sie auch fragen.« Edward stieß empört mit dem Stock auf. »Das ist mein Zimmer. Die Fuji-Suite.«

»Da täuschen Sie sich. Das hier ist der Blumenpalast.«

»Der Blumenpalast? Ich bleibe dabei: Es ist die Fuji-Suite.«

»Dann sehen Sie gefälligst auf der Tür nach.«

Edward zog sie halb zu und schaute auf das Keramikschild, konnte sich aber nicht erinnern, wie das Kanji-Wort für »Fuji« lautete. »Ach so. Eine Verwechslung meinerseits. Ich bitte aufrichtig um Entschuldigung.« Er warf noch einen Blick auf die junge Frau. Sie hatte sich hingehockt und die Beine gekreuzt. Wie ein Rehkitz, dachte er. Den Unterrock hielt sie sich vor die Brust. Zitternd. Sie war ziemlich schön.

Im Flur wandte er sich erst zur einen Seite, dann zur anderen. In seiner linken Schläfe pochte das Blut, und auf seiner Stirn begann sich ein Schweißfilm zu bilden. Lächerlich. Er probierte eine andere Tür. Ein Wäscheschrank. Noch eine. Ein Notausgang. Er machte auf dem Absatz kehrt, humpelte mit seinem Stock den Flur entlang, bis ein anderer Korridor den seinen kreuzte. Ein Hinweisschild. Er setzte sich die Brille auf. »Rezeption«. Dorthin wollte er in seinem erregten Zustand nicht zurück. Ein weiteres Hinweisschild. »Speiseraum«. Er war wieder am Ausgangspunkt. So ging das nicht. Ein Sessel. Er setzte sich, ließ sich in die bequemen Polster sinken, schloss die Augen und wartete darauf, dass sein Atem sich beruhigte. Eine ätzende Flüssigkeit stieg in seiner Kehle hoch. Der Geschmack von Galle. Er schluckte.

»Ano … Daijōbu desu-ka? Alles in Ordnung mit Ihnen?«

Er öffnete die Augen. Ein Portier.

»Ja, ja. Mein Zimmer. Die Fuji-Suite. Wo ist sie? Fuji? Doko desuka?«

Der Portier zeigte auf die Tür direkt neben ihm.

»Wie dumm von mir. Natürlich. Arigatō, dōmo.«

Er erhob sich und öffnete die Tür. Jemand hatte die Vorhänge zugezogen, die Überdecke zurückgeschlagen und vorsorglich eine Lampe für ihn angelassen. Der Schrankspiegel warf sein Abbild zurück. Die dünn gewordenen, fusseligen Haarsträhnen auf seinem Schädel. Sein Gesicht ganz blass. Schweißflecken am Hemdkragen. So ein schicker Maßanzug, nun zerknittert an seiner schrumpfenden Gestalt. Er sah das verführerische Bild der jungen Japanerin in den roten Dessous vor sich. Was ist bloß aus mir geworden?, fragte er sich. Was?

KAPITEL VIER

LONDON, ENGLAND · 1952

Edward verdankte Onkel Robs Erbschaft eine möblierte Wohnung in Bloomsbury unweit des Russell Square und seines neuen College, des Instituts für Orientalistik und Afrikanistik. Vom ersten Stock aus blickte er auf eine verkehrsreiche Kreuzung und einen Laden für Jagdstöcke, Gehstöcke und Regenschirme, der überwiegend von älteren Herren frequentiert wurde. Er konnte beobachten, wie sie der immer gleichen Routine frönten, wenn sie das Geschäft mit ihren Neuerwerbungen verließen. Ein rasches Klopfen mit der Stockspitze auf das Pflaster, um die Stabilität zu prüfen, eine Kopfwendung in Erwartung potenzieller Zuschauer, dann ein eleganter Aufbruch, ein entschlossenes, zielstrebiges Ausschreiten zum Takt von Hartgummi auf Asphalt. Anscheinend eiferte die Oberschicht der Nation sämtlich dem stockschwingenden Churchill nach, auf dessen Fähigkeiten als Premierminister sie sich erneut verließ.

Denn der König lag im Sterben. In Glasgow war der Monarch für Edward eine ferne Gestalt gewesen, aber hier in London, nur eine Meile vom Buckingham-Palast entfernt, war die königliche Präsenz greifbar. Sie zeigte sich in den treu ergebenen Untertanen, die durch die Hauptstadt schlichen wie besorgte Verwandte; wie Angehörige, die unruhig in einem Parterrezimmer hin- und hergehen und im Flüsterton miteinander sprechen. Sie zeigte sich in der ausgeprägten Achtung, mit der Kunden wie Ladenbesitzer die Münzen und Briefmarken mit dem Konterfei ihres Souveräns behandelten. Im Kino erhob Edward sich zum Abschluss jeder Abendvorstellung gemeinsam mit allen anderen, um die Nationalhymne zu singen und Gebete für eine wundersame Genesung zu murmeln. Und in den Tageszeitungen las er die dramatischen Meldungen über den von Krebs befallenen verbliebenen Lungenflügel.

Inmitten dieser Londoner Trübsal bildete sich für ihn eine Alltagsroutine heraus, entstand sein persönliches Karree in der Hauptstadt, mit seiner Wohnung, seinem College, dem Lesesaal des British Museum und seiner Stammkneipe, dem White Lion, als Eckpunkten. Routine war das Erbteil des Einzelkindes – sie füllte die Lücke, die ansonsten ein Bruder oder eine Schwester gefüllt hätte.

Am College besuchte er Veranstaltungen in den Bereichen Sprachlehrübung, Struktur der gesprochenen Sprache, Sprechkunde und Transskription. Es gab auch einen Kurs zur Geschichte der japanischen Literatur, einen Diskussionskurs in japanischer Sprache, eine Einführung in den Schintoismus und den Konfuzianismus. Der Lesesaal war seine Zuflucht vor diesem Ansturm der fernöstlichen Sprache und Gedankenwelt. Und ob seiner eigenen Einsamkeit oder der in der Hauptstadt herrschenden Trübsal wegen – zum ersten Mal im Leben ertappte er sich dabei, Gedichte zu schreiben. Massenweise. Als stünde er unter dem Zwang, zwischen all den chinesischen und japanischen Schriftzeichen, die in seinem Kopf um Aufmerksamkeit buhlten, seine eigene Sprache zu finden. Vom Lesesaal ging es ins White Lion auf ein warmes Pint vorm Kamin, neben ihm auf dem Tisch der Evening Standard. Er fristete eine einsame Existenz. Mit einigen Kommilitonen hatte er Bekanntschaft geschlossen, keinen konnte er als Freund bezeichnen. Aber er war es gewohnt, allein zurechtzukommen.

Der Tod des Königs unterbrach die Eintönigkeit seines täglichen Lebens auf fast befreiende Weise. Anders als erwartet, hatte nicht der Krebs den Monarchen dahingerafft, sondern ein Herzinfarkt, den er nach der Jagd im Schlaf erlitten hatte. Edward staunte über die spontanen Reaktionen der Leute. Autofahrer hielten an und stellten sich stumm neben ihre Fahrzeuge. Menschen brachen in aller Öffentlichkeit in Tränen aus. Flaggen wurden auf halbmast gesetzt, Hotels und Restaurants geschlossen. Ladenbesitzer entfernten bunte Auslagen aus ihren Schaufenstern. Fast schien es, als würde selbst die Themse träger fließen. In den Wochenschauen sah er die traurige, aber pflichtbewusste Tochter in Uganda als Prinzessin ins Flugzeug steigen, bereit, als Königin in London zu landen. Die Bilder – in Schwarz-Weiß – besaßen eine Helligkeit, wie er sie nie zuvor gesehen hatte. Die gleißende afrikanische Sonne, gefolgt von der Düsterkeit des trauernden London. Nie würde er vergessen, wie die Prinzessin sich an jenem Tag von einer Tochter des Volkes in die Mutter der Nation verwandelt hatte. Sie war schließlich nur ein Jahr älter als er.

Georg VI. lag drei Tage lang feierlich in Westminster Hall aufgebahrt – eine Volte des Protokolls, die dazu führte, dass der gewöhnliche Untertan seinem König im Tod näherkommen konnte als je zu dessen Lebzeiten. Dies, und nicht echte Gefühle für den verblichenen Monarchen, bewog Edward dazu, ihm die letzte Ehre zu erweisen. Aber er hatte sich keine Vorstellung von den Dimensionen des Ereignisses gemacht. Die Schlangen waren endlos. Zeitungsbilder zeigten eine trauernde, ehrerbietige Menge, Zehntausende, die sich bei unablässigem Nieselregen unter einem Schutzpanzer aus Schirmen geduldig über die Brücken und Straßen der Hauptstadt schoben. Tatsächlich herrschte jedoch eine recht fröhliche Stimmung. Manche brüsteten sich damit, dass sie schon den Vater des Königs aufgebahrt gesehen hatten. Andere waren 1910 am Sarg von König Edward VII. vorbeidefiliert. Eine alte Schachtel erging sich in Erinnerungen an den Tod Königin Viktorias. Man stellte Mutmaßungen darüber an, ob der Herzog von Windsor nun aus Amerika zurückkehren würde. Eine lärmende Busreisegruppe aus Leeds, Rentner mit schwarzen Armbinden, versammelte sich hinter Edward, man reichte Streichwurst-Sandwiches und Thermoskannen mit heißem Tee herum und bot ihm davon an.

Nach sechs Stunden bog die Prozession um die letzte Ecke, und er konnte den Eingang der Great Hall sehen. Plötzlich senkten sich um ihn herum die Köpfe, Hände wurden gefaltet, das Schwatzen verebbte. Uniformierte Saaldiener teilten die Trauernden in Zweiergruppen ein.

»Sind Sie allein hier?«

Edward blickte auf. Eine junge Frau etwa in seinem Alter. Sie trug einen warmen, hübschen, dunkelgrünen Mantel und eine dazu passende Baskenmütze, außerdem Lederhandschuhe. Er hatte sie schon vorher bemerkt, als sie ein paar Reihen vor ihm lässig mit ihren Nachbarn geredet, dabei mehrmals den Kopf zurückgeworfen und mit weit offenem Mund gelacht hatte. Jetzt nahm er ihren Akzent wahr. Natürlich. Amerikanerin.

Er nickte.

»Gut. Aber wir müssen paarweise reingehen. Wie in die Arche Noah.« Ein kurzes Lächeln, dann trat sie neben ihn, sechs, sieben Zentimeter kleiner als er. Ihre behandschuhte Hand kam seiner so nah, dass er sie hätte ergreifen können, wenn er gewollt hätte. Schon die Vorstellung einer solchen Berührung – das Versprechen von Trost und Wärme – zeigte ihm, wie kalt und einsam sein Alltag war. Sie senkte wie er den Kopf, und die aus ihren Mündern aufsteigenden Atemwolken vermischten sich miteinander. Die Schlange schob sich vorwärts, und die junge Frau wurde dichter an ihn gedrängt, so dicht, dass er ihr blumiges Parfüm roch, dessen Duft sich mit der Feuchtigkeit ihres Mantels vermengte. Er dachte, sie könnten ein frischgebackenes Ehepaar sein, sie seit Kurzem schwanger, entschlossen, das Kind George zu nennen, wenn es ein Junge würde, und Elizabeth im Fall eines Mädchens, beide froh darüber, so ihren Beitrag zum Gedenken an das historische Ereignis zu leisten. Er ging weiter, die Great Hall lag vor ihm. Er hörte seine Begleiterin nach Luft schnappen.

Sie standen am Eingang eines riesigen mittelalterlichen Saals mit einem einzigen kostbaren Gegenstand darin – ein bewachter Sarg auf einem mit rotem Samt umhüllten Katafalk, der auf einem zentralen Podest stand. Leuchter hingen an langen Ketten von der Eichenbalkendecke herab und tauchten die Halle in ein geisterhaftes Licht. Vier lange Wachskerzen erhellten schwach das Podest. Der Samt, die Uniformen der Wachen, die Unionsflagge auf dem Sarg brachten Farbe ins Bild, ansonsten war alles steingrau. Die Szenerie entstammte einem Zeitalter, als Monarchen in stählerner Rüstung von zugigen Burgen aus regierten, und bezeugte das kriegerische Erbe, das auch das erkaltete Blut dieses Königs durchströmt hatte. Langsam stiegen sie die Steinstufen hinab, schlossen an die vor ihnen Gehenden auf, Kniefälle hallten in der Kälte wider, die kälter war als die Luft draußen, ja kälter als der Tod. Sie defilierten an den Hallenwänden entlang, gelangten zur Mitte, wandten ihre Gesichter dem Sarg zu, Edward hatte nur wenige Sekunden Zeit, um das Bild in sich aufzunehmen. Am einen Sargende ein großes, edelsteinbesetztes Kreuz, auf dem mit der Flagge bedeckten Sargdeckel Krone, Reichsapfel und Szepter des Königs. An den vier Ecken des Sargs stand je ein Leibgardist, sichtlich müde von der langen Nachtwache. Schließlich, zwei Stufen tiefer, vier Yeomen mit ihren Spießen. Edward verbeugte sich. Die junge Frau neben ihm machte einen kleinen Knicks.

Big Ben schlug sechs Uhr. Der Nieselregen hatte aufgehört, und die Trauernden liefen auf den nassen Gehwegen eilends auseinander. Zurück in ihr Londoner Leben, das dem toten Herzen in seiner Mitte zum Trotz weiterging. Edward blieb mit der jungen Frau, die das Schicksal dazu bestimmt hatte, den historischen Augenblick mit ihm zu teilen, verlegen am Ausgang der Great Hall stehen. Sie war hübsch. Bildhübsch.

»Wow«, sagte sie. »Man konnte da drin das kraftvolle königliche Erbe Ihres Landes spüren. Die jahrhundertealte Monarchiegeschichte, die sich hinter diesem Körper auftürmt.«

»Ja, es war beeindruckend«, brachte er heraus und räusperte sich. Die ersten Worte, die er seit Stunden geäußert hatte. Vielleicht seit Tagen. »Ich hätte nicht gedacht, dass man so was heutzutage noch zu sehen bekommt.«

Sie sagte nichts. Stattdessen nahm sie ihre Baskenmütze ab und schüttelte ihr dunkles, schulterlanges gewelltes Haar, fuhr mit den Fingern hindurch. Ihn fröstelte, er stampfte mit den Füßen auf, versuchte, seine Stimme in den Griff zu bekommen und sich ein Herz zu fassen.

»Sagen Sie«, begann er. »Das war ein langer Tag. Ich weiß nicht … wollen Sie vielleicht irgendwo eine Tasse Tee trinken?«

Seine Frage schien sie unbeeindruckt zu lassen, sie musterte ihn von oben bis unten, überlegte mit fest geschlossenen Lippen. Er wollte sich gerade für seine Dreistigkeit entschuldigen, da erwiderte sie: »Ich könnte was Stärkeres vertragen.«

Er ging mit ihr in den White Lion. Hüpfte fast neben ihr her. Sie nannte ihm ihren Namen. Macy.

»Meine Eltern haben sich in dem Kaufhaus in New York kennengelernt«, erklärte sie.

»Gut, dass es nicht Marks and Spencer war. Oder Fortnum’s.«

Sie lachte. Das gleiche unerschrockene, selbstsichere Lachen, das ihm schon in der Warteschlange aufgefallen war. Er war überaus zufrieden mit sich.

Er fand einen freien Tisch ganz hinten, nah beim Kamin. Als Sean, der Barmann, ihre Getränke einschenkte, sah er über Edwards Schulter zu Macy hinüber, und sein kleiner Schnurrbart zuckte neugierig.

»Du bist mir ja ein Geheimniskrämer«, sagte er.

»Wir haben uns gerade erst kennengelernt.«

»Egal. Hatte dich für ’nen Einzelgänger gehalten.«

»Daran wird dieser Abend vermutlich auch nichts ändern.«

»Das ist die falsche Einstellung.« Sean tippte sich mit einem seiner nikotingelben Finger an die Stirn. »Du solltest optimistisch an die Sache herangehen. Das ist das Geheimnis. Ruf dir das Bild der erfolgreich eingefangenen Beute vor Augen, und behalt es im Kopf. Stell dir vor, du hast gewonnen, bevor das Spiel überhaupt losgegangen ist. Das hab ich bei der Armee gelernt.«

»Ich bin doch nicht im Krieg.«

»Das glaubst du.«

Macy hatte sich den Mantel ausgezogen und ihren Stuhl halb herumgedreht, sodass sie sich die Hände am Feuer wärmen konnte. Sie trug eine cremefarbene Seidenbluse und einen knielangen schwarzen Rock. Dazu eine schlichte Perlenkette. Elegant. Zu elegant für ihn, fürchtete er. Als er die Gläser auf dem Tisch absetzte, verschüttete er etwas Bier. Zurück zu Sean, um sich einen Lappen und ein paar sarkastische Kommentare abzuholen, dann setzte er sich endlich.