Eine vornehme Frau (Historischer Roman) - Hermann Heiberg - E-Book

Eine vornehme Frau (Historischer Roman) E-Book

Hermann Heiberg

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Beschreibung

Hermann Heibergs historischer Roman 'Eine vornehme Frau' entführt den Leser in das Leben des 19. Jahrhunderts. Der Roman erzählt die Geschichte von Charlotte, einer resoluten jungen Frau aus adeligem Hause, die gegen die Konventionen ihrer Zeit rebelliert. Heibergs literarischer Stil zeichnet sich durch seine detaillierte Beschreibung der gesellschaftlichen Hierarchie und die psychologische Entwicklung seiner Figuren aus. Der Autor schafft es, die Leser in eine vergangene Ära eintauchen zu lassen, in der Standesdünkel und persönliche Freiheit aufeinanderprallen. 'Eine vornehme Frau' stellt eine eindrucksvolle Darstellung der Konflikte zwischen Tradition und Individualität dar und hebt Heiberg als Meister des historischen Romans hervor.

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Hermann Heiberg

Eine vornehme Frau

(Historischer Roman)
Ein Kampf um Glück und Liebe - Liebesroman aus dem 19. Jahrhundert
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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39

Seiner theuren Mutter, Asta, geb. Gräfin von Baudissin

Kapitel 1

Inhaltsverzeichnis

Wir sind in einer mittleren Stadt von kaum zwanzigtausend Einwohnern, immer noch winzig genug, daß alles, was nicht diente, hämmerte oder ackerte, eine große Familie bildete, in der man sich kannte und sich miteinander befaßte.

Und doch trennte sich die gebildete Gesellschaft in verschiedene Klassen: und wie stets und überall hielt die eine sich aus besserem Teig gebacken als die andere.

Als der Krieg von 1866 beendet war, empfing die nunmehr preußische Stadt eine Garnison; es wurden, neben Infanterie, einige Schwadronen Husaren nach C. verlegt. Aber die Offiziersfamilien sonderten sich, zumal da sie noch Fremdlinge waren, gänzlich ab, und nur zu den höheren Beamten und dem Adel nahmen sie diejenige Fühlung, welche ihnen gleichsam vorgeschrieben war. Im übrigen konnte die Bürgerschaft mit der stehenden Einquartierung wohl zufrieden sein, denn unter den Husaren befanden sich wohlhabende, sogar reiche Leute, welche das Geld nicht in die Schublade versteckten.

Die neuen Verhältnisse waren dem Städtchen günstig. Der Geschäftsgeist regte sich, und besonders die Bautätigkeit erwachte. Die Bürger verdienten Geld und fanden sich rascher in die neuen Dinge, als man erwartet hatte.

Und so verging die Zeit mit ihrem Wechsel, und so lebte die Einwohnerschaft mit ihrem Spott, ihrer Neugierde und ihrem Gerede über ihre Nebenmenschen wie allerorten in dieser unvollkommenen Welt.

Eines Tages ward die Stadt C. durch eine Annonce überrascht, welche sich in dem täglich erscheinenden Blättchen, scharf umrändert und groß gedruckt, auf der letzten Seite befand: »Gesucht sofort eine große Wohnung von zwölf bis fünfzehn Zimmern mit Stallung und Nebengelassen. Eventuell wird auf ein ganzes Haus reflektiert. Man beliebe sich –« u.s.w.

Die Neugierde, welche sich zunächst an den Stammtischen der Ressourcen kundgab, ward nicht sogleich befriedigt. Selbst der Redakteur der C.schen Zeitung wußte keine Auskunft zu geben. Endlich lösten sich die Zweifel. Einer der Husarenoffiziere war vor einiger Zeit versetzt worden, und in dem Wohnungssuchenden entdeckte man den neuen Rittmeister.

Zu gleicher Zeit verbreiteten sich allerlei Gerüchte über die Ankömmlinge, welche geeignet waren, die Gemüter zu beschäftigen. Von ihm wurde behauptet, daß er zwar ein vollendeter Kavalier und ein gerechter Vorgesetzter sei, aber von einer so finsteren Schwermut beherrscht werde, daß er den Umgang mit Menschen ängstlich meide, während man ihr neben großer frappanter Schönheit Verschwendungs- und Vergnügungssucht, ja sogar einen leichtfertigen Lebenswandel nachsagte. Erhebliche Erbschaften sollten schon durch ihre Finger geglitten sein, und es ward als ein Glück bezeichnet, daß sich der übrigens große Reichtum des Grafen auf unantastbare Fideikommißkapitalien stütze. Die Frau Gräfin gliche, hieß es, einer heißbrennenden Sonne, vor welcher der eisigste und umfangreichste Goldhügel zerschmelzen müsse.

In jedem Fall war man sehr gespannt auf die neue Bekanntschaft, und in Offizierskreisen ward eifrig überlegt, welche Stellung man zu einer Frau einnehmen solle, der ein solcher Ruf voranging.

Sehr angenehm ward von diesem Wechsel ein Bauunternehmer berührt, der eine von einem parkähnlichen Garten umschlossene große Villa gleich vor der Stadt besaß und nun um einen hohen Preis einem Mieter fand. Der Graf ließ sich Zeichnungen und genaue Beschreibungen einsenden und bewilligte eine ganz erhebliche Summe zur Verschönerung der inneren, ursprünglich für einfachere Ansprüche berechneten Räume.

So wurden beispielsweise sämtliche Gesellschaftszimmer in mattgrüner und blauer Seide tapeziert, und das ganze Haus erhielt einen genau im Muster übereinstimmenden, hellen Teppich in Flur und sämtlichen Gemächern. Aber auch sonst wurden Veränderungen getroffen, welche das Besitztum zu einem fast fürstlichen Aufenthalt umwandelten. Die Thüren mußten ebenholzdunkel gemalt und mit Arabesken in Gold versehen werden. Die Öfen wichen zum Teil Kaminen aus schwarzem oder rotem Marmor, und die Außenwände der Villa wurden durch eine zartgraue Ölfarbe verschönt, wodurch sich das »Schlößchen« reizend von den umgebenden grünen Bäumen abhob.

Geradezu Bewunderung erregten aber die Pferdeställe. Es erschien zum Zweck ihres Ausbaues ein Lieferant aus Berlin, der rasch alles ausmaß und in kürzester Zeit das Innere derartigen Veränderungen unterwarf, daß die Einwohner von C., und unter ihnen besonders alle Sportfreunde, neugierig herbeigeeilt kamen, um diesen Musterstall in Marmor, Mahagoni und Gußeisen in Augenschein zu nehmen. Es hieß, die ganze Einrichtung sei auf einer der letzten Weltausstellungen prämiiert worden. Und dann trafen endlich auch die Möbel und sonstigen Einrichtungsgegenstände ein.

Der Tapezierer berichtete Wunderdinge von den Gemälden, Bildern, ausgelegten Schränken, Bronzen und sonstigen kostbaren Kunstsachen. Die Portièren und Gardinen waren meistens aus geblümtem chinesischem Seidenstoff gefertigt, und kein Tisch, kein Stuhl befand sich in der Sendung, der nicht hätte als ein Musterstück gelten können. Aber – und das erfüllte den Handwerksmeister mit gerechtem Erstaunen – fast nichts war heil und ganz, mit Ausnahme der ohne Zweifel dem Gebrauch des Grafen dienenden Möbel. Eine solche Beschädigung konnte nicht durch den Umzug entstanden sein, sie war sicher das Ergebnis einer grenzenlosen Unordnung und Vernachlässigung.

Auf geschehene Meldung und Anfrage erfolgte keine Antwort, wohl aber erschien nach einigen Tagen der Haushofmeister, ein hagerer, ernst dreinblickender Mann, der erklärte, daß die gräfliche Familie ihm auf dem Fuße folge und jetzt keine Zeit mehr für Reparaturen vorhanden sei. Diese müßten später vorgenommen werden.

An einem Maitage des Jahres 1867 traf die Familie ein. In ihrem Gefolge befand sich eine große Dienerschaft und neben zahlreichen edlen Pferden, auch ein paar herrliche Hunde, die beim Abladen der schier unzähligen Koffer einen gewaltigen Lärm anstimmten und von der graziösen Frau, die mit sechs schlanken Kindern dem Wagen entstieg, wie nach langer Trennung gehätschelt und geliebkost wurden. Sie vergaß darüber das Haus und den Eintritt, bis sie die Augen aufschlug und bei dem Anblick der Villa und des Parkes ihrer frohen Überraschung in lebhafter Weise Ausdruck verlieh. Dabei redete sie auch ihre Dienerschaft an und ermunterte diese, in ihre Bewunderung einzustimmen.

Währenddessen war der Rittmeister in das Haus getreten und rief aus einem Fenster des Hochparterre ungeduldig und streng:

»Ange, komm nun doch und kümmere Dich um die Kinder!«

Etwas Eigenartigeres als diese konnte man nicht sehen. Eins war schöner als das andere. Alle waren blond, aber das Haar hatte jenen goldig schimmernden Anhauch und die Körperhaut jene unnachahmliche Farbe, welche wir an den Menschen des Nordens im Gegensatz zu den Bewohnern des Südens bewundern. Wie schon ein Sonnenstrahl seine Spuren auf dem Milchweiß der Blonden zurückläßt, so flammt auch sichtbarer, und durch den rosenfarbenen Schimmer reizvoller, das Blut durch die Wangen dieser von der Natur bevorzugten Geschöpfe.

Wenn Mutter und Kinder beisammen standen, konnte man sie für Geschwister halten. Frau von Clairefort glich einem menschgewordenen Engel; sie trug mit Recht ihren Namen. Und sie ging auch mit ihren Kindern um, als sei sie selbst noch ein unselbständiges Wesen. Sie blickte sie erstaunt und in ein plötzliches lächeln ausbrechend an, sie tummele sich mit ihnen und lag spielend auf dem Teppich, auf welchem auch die Hunde umhersprangen. Fehlte dies oder das, so riß sie wohl ein Tüchelchen von ihrem vornehm gebauten Hals, statt das fehlende Garderobestück herbeizuholen; und wenn die Kinder sie küßten und um Freiheit bettelten, statt nach der Anweisung der Gouvernante an die Schularbeiten zu gehen, lief sie gar mit ihnen fort und versteckte sich und jene vor den drohenden Stirnfalten der Erzieherin.

Morgens ruhte sie mit der ganzen herbeigeeilten Schar in einem spitzenbedeckten Bett und ließ sich umhalsen und hätscheln. Es war, als ob der eben erwachte Frühling seine Kinder um sich versammelt habe. Was so bezaubernd wirkte, war der naive, unbewußte Liebreiz aller dieser zartgearteten Menschen, und doch war die Gräfin Ange so stählern abgehärtet, ward so wenig beeinflußt von jedweder Anstrengung, daß sie den Schlaf fast wie eine überflüssige Gewohnheit an sich herantreten ließ.

Wo sie erschien, ward alles hell, denn ihr süßes Gesicht, ihre klugen Augen, ihre anmutigen Gebärden, ihr silberhelles Lachen und ihre durch keine Künstelei beeinflußte lebhafte Fröhlichkeit riß die Umgebung fort. Und doch war's niemals eine närrische Laune, von der sie sich leiten ließ, und ihr nicht erst durch Grübeln geweckter Verstand kleidete jeden Gedanken in eine graziöse Form. Ihr Ernst war so tiefsinnig und ihr Urteil über Menschen und Dinge oft so zutreffend, daß man es nicht für möglich hielt, dieselbe Frau habe eben mit kindlich-hilfloser Naivetät die tausend Unarten ihrer kleinen Schar ertragen, sich zuletzt machtlos in einen Winkel vergraben und bitterlich ausgeweint.

»Bitte, bitte, sei artig, Carlitos,« flehte sie, und trotzig warf Carlitos den stolzen Kopf in den Nacken und beging dieselbe Unart. Aber zornig gegen ihre Engelschar konnte sie überhaupt nicht werden, viel weniger hatte sich ihre Hand jemals zum Schlage gegen diese erhoben, obgleich Ange mit ihrem starken, gestählten Handgelenk das wildeste Pferd zu zähmen imstande war. Reiten und Fahren war Ange Claireforts Leidenschaft. Sie hatte den edelsten Renner im Stall, und nicht minder zärtlich klopfte sie den Hals von »Blitz«, ihrem Lieblingspferd, als die schlanken Glieder ihrer beiden Windhunde. –

Carlitos, der Älteste, war ein wilder, schlanker Bursche mit vielen impertinenten Sommersprossen auf der feingeschnittenen Nase und mit dunklem, gleichsam boshaft leuchtendem Haar in rotem Schimmer. Dann kamen Zwillinge, zwei Mädchen von einer solchen sanften Schönheit und so mädchenhaft in der Erscheinung, daß die Menschen auf der Gasse stillstanden, um ihnen nachzuschauen.

Diesen folgten wieder zwei Knaben. Sie hatten lange, in der Mitte gescheitelte goldblonde Haare, waren tannenschlank gewachsen, lebhaft, ausgelassen, aber doch voll Herzensgüte und schüchtern gegen Fremde. Wenn sie bisweilen mit ihren vornehmen Gesichtern so scheu dreinblickten, ward man unwillkürlich an die Söhne Eduards erinnert.

Die kleine Ange war das Ebenbild der Mutter, nur erschien sie fast noch graziöser. Eine Elfengestalt, dabei träumerisch, für sich, und mit jenem vorwurfsvoll-ernsten Ausblick, der zögern läßt, sich solchen Kindern zu nähern.

Nach vier Wochen redete man in C. von nichts anderem als von dem Grafen Clairefort und seiner schönen Gemahlin. Die bösen Reden waren verstummt, nachdem man sie ein einiges Mal gesehen hatte. Der Graf entsprach dem Bilde, das man sich von ihm gemacht hatte. Er war nur noch zurückhaltender, als er geschildert ward. Man fand einen äußerst aristokratischen, wortkargen, aber im Verkehr mit den feinsten Manieren ausstatteten Mann, der es mit seinen militärischen Obliegenheiten so streng nahm, daß diese Strenge an Härte streifte. Natürlich zerbrach sich auch alle Welt den Kopf, wie wohl zwei so verschieden geartete Menschen miteinander lebten. Stärkere Gegensätze waren nicht denkbar. Er ein ernster, pedantischer, kränklicher Mann, dem sich zu nähern, Überwindung kostete, und der in seinen Gedanken, Anschauungen und Lebensgewohnheiten völlig von dem Durchschnitt der Menschen abwich. Sie dagegen ein frisches, gesundes, liebenswürdiges, ein naiv-kluges Geschöpf, mit einem hinreißenden Temperament und einer nicht minder hinreißenden, ja gefährlichen Schönheit; dazu sorglos, ganz von dem Eindruck des Augenblicks beherrscht und oft spottend allen Regeln der eingebürgerten Sitte.

Wenn sie etwas besonders anregte oder beschäftigte, wenn sie zum Beispiel ausreiten wollte, vergaß sie alles. Da gab's keine Innehaltung einer Zusage oder Verabredung. Da schwiegen alle gewöhnlichen häuslichen Pflichten, da verfingen nicht die strengen Mienen des Grafen. Sie flog ihm an den Hals und herzte ihn. – »Laß, laß, Schatz! – Sei gut, gieb mir meinen Willen. – Du weißt ja doch, daß Du mir nichts abschlägst. – Weshalb mich quälen? – Nein? – Du versagst mir die kleine Freude? – Dann küsse ich Dich niemals mehr auf Deine treuen Hände, auf Deinen verschwiegenen Mund!« – Und ehe er sich's versah, ehe er es hindern konnte, schlang sie sich zu ihm empor und liebkoste seine Wange.

Oft mußten die Kinder helfen, diese wilden, zarten, sanftmütigen Geschöpfe in ihrem seltsamen Gemisch. Und sie thaten alles, was sie wünschte; immer nahmen sie für ihre Mama Partei und umringten den bleichen ernsten Mann, bis sich zuletzt ein Lächeln um den geschlossenen Mund stahl. Und dieses Lächeln war Zustimmung.

»Wenn Du wüßtest, wie schön Du bist, wenn Du lächelst,« sagte Ange oft: »warum bist Du doch immer so ernst, so bärbeißig, Lieber! Bin ich nicht um Dich, Ange Clairefort, geborene Butin, Herrin auf Schwarzensee und Dürenfort?« Dazu lachte sie und stolzierte, ihm Kußhände zuwerfend und hinter sich schauend, als ob sie ihre Schleppe betrachte, von dannen. Er neigte dann schwermütig das Haupt und zog sich in seine Gemächer zurück. Oft war's, als ob der strenge Soldat sich vor dem Kinderlärm und der ausgelassenen Unart seiner Umgebung flüchte, als ob jeder Nerv in ihm zucke, ihm Ruhe und Einsamkeit allein wohlthue.

In der That hatten Claireforts schon viel Herzeleid erfahren. Sie verloren beide früh ihre Eltern und standen ohne Verwandte in der Welt. Des Rittmeisters Stammvorfahr, ein Franzose, war nach Deutschland übergesiedelt, um seiner Gemahlin, einer Rheinländerin, zu folgen, und die Butins, wenn auch seit Menschengedenken in deutschen Gauen ansässig, stammten ebenfalls aus französischem Blut. Gerade als Clairefort um die alleinstehende, blutjunge Baronin von Butin anhielt, starb ihr bisheriger Vormund, und dies veranlaßte die später Mündigwerdende, die Gutsbesitzungen zu veräußern; den Erlös brachte sie ihrem Manne als Mitgift in die Ehe.

Claireforts hatten ihre Besuche gemacht und empfingen solche. Es nahm sehr für sie ein, daß sie ihre Visiten nicht auf den vornehmeren und engeren Kreis beschränkten, in welchem die übrigen Familien verkehrten; sie gaben auch ihre Karten bei den angesehenen Einwohnern der Stadt ab und entzückten durch ihre Liebenswürdigkeit alle Welt, mit der sie in Berührung traten. Besonders lebhaft aber entwickelte sich der Verkehr zwischen den unverheirateten Offizieren der Garnison und den Neuangekommenen. Nach wenigen Wochen waren diese fast tägliche Gäste der Villa, in der stets ein Frühstückstisch bereit stand und in der man – auch unangemeldet – immer eine vortreffliche Tafel mit auserlesenen Weinen fand. Es vollzog sich dort alles wie durch Zauberhand geschaffen, und doch war Ange die denkbar schlechteste Hausfrau.

Aber Ernst Tibet, der Kammerdiener, sorgte für alles. Dieser Haushofmeister war ein Mustermensch. So unruhig und wenig umsichtig, so ungleich und lebendig die Gräfin, ebenso ernst, besonnen und zuverlässig war Tibet, ein Mann mit angeborener Würde und höflicher Zuvorkommenheit zugleich.

»Tibet, bester, goldener Tibet, was beginnen wir? Eben haben sich zehn Personen angesagt! Die Uhr ist zwei! Um fünf wollen wir speisen!«

»Es wird alles nach Ihren Wünschen sein, Frau Gräfin,« erwidert Tibet, verbeugt sich und geht seiner Arbeit nach.

Und wenn Tibet das sagt, dann kann wohl eine kleine Welt einstürzen, aber wenn sie nicht einstürzt, ist alles auf die Minute, wie er versprochen.

Seltsamerweise bekümmerte sich auch der Graf nicht um das Haus, wenig auch um die Kinder, ebensowenig um seine schöne Ange. Man fragte sich oft, was eigentlich ihn beschäftige, wofür er sich interessiere, welche Gedanken hinter seiner hohen Stirn auf- und abwandern möchten. Niemand vermochte darauf eine zutreffende Antwort zu geben. Es blieb ihm außer seiner dienstlichen Beschäftigung noch viel Zeit, aber man fand ihn weder häufig lesend noch schreibend. Er saß meistens zurückgelehnt in einem alten Erbstuhl des fünfzehnten Jahrhunderts, der vor seinem Schreibtisch stand, stäubte die Bücher und die vielen kleinen Nippesgegenstände ab, rauchte, erhob sich wohl einmal, griff sich, wie um einen Schmerz zu bannen, an den Kopf, schaute in den blühenden Garten und grübelte weiter über etwas, was keiner zu ergründen vermochte.

Tibet war jeden Tag eine Stunde, oft länger bei ihm. Er legte Rechnungen vor, holte sich Anweisungen, empfing Geld, brachte solches, mußte auch wohl Briefe schreiben, Telegramme besorgen und Gänge machen, über die er nie Auskunft gab. Tibet war alles in allem, auch bei dem Grafen, und niemandem begegnete dieser so höflich wie seinem Kammerdiener, wenn er auch ihm gegenüber die Formen beiseite ließ.

Unter den Offizieren, die im Clairefortschen Hause verkehrten, befand sich ein Rittmeister mit Namen von Teut. Alle Welt war erstaunt, daß dieser allem Familienverkehr abholde, nur seinem Dienst, dem Pferdesport, der Jagd und starken Gelagen geneigte, keineswegs mehr junge Mann das Haus des Grafen aufgesucht hatte. Ange war die Veranlagung gewesen. Bei einem Diner, welches der Oberst gab, zwang sie ihn, sich mit ihr zu beschäftigen, wies ihm scherzend nach, daß sie vom Urgroßvater her ein wenig verwandt seien, und fesselte ihn in solchem Maße, daß er beim Nachhausegehen gegen seine Umgebung in die Worte ausbrach: »Schön wie eine Rose, klug wie ein Pferd, naiv wie ein Kind, zudem eine Dame – ein vollendetes Geschöpf!«

Von Teut war ein seltsamer, unberechenbarer Mensch im Verkehr, aber nach übereinstimmendem Urteil ein Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle. Sein Reichtum erlaubte ihm die Ausübung der kostspieligsten Liebhabereien. Zu diesen gehörten vor allem Jagd und Pferde. Und dieser Umstand genügte allein schon, sich Ange Clairefort zu nähern.

Oft schlug er eine Kleinigkeit ab, war unduldsam gegen seine Umgebung, und dann, wenn ihn Laune oder Herzensdrang trieben, verschenkte er große Summen. So hatte er einmal einem Kellner im Kasino, der sich selbständig machen und heiraten wollte, ein nicht unbedeutendes Kapital darlehensweise überlassen, und als der erste kleine Weltbürger erschien und jener ihn als Pate einlud, sandte er ihm den quittierten Schuldschein und schrieb darunter:

»Axel von Teut sendet Axel Dorn diese Patengabe und hofft, daß er einst ein braver Bürger und – kommt Zeit und Anlaß – auch ein treuer Königssoldat sein wird.«

Als dies bekannt wurde, sah sich Teut mit Bittschriften überschüttet. Da las man eines Tages in der Zeitung:

»Fortan lasse ich alle Bitt- und Bettelbriefe uneröffnet zurückgehen. Man spare sich die Mühe! Wer meint, ich säh's ihnen nicht an, irrt sich. Eine solche Übung, wie ich sie habe, macht erfahren.

Baron von Teut-Eder, Rittmeister und Eskadronschef.«

Kapitel 2

Inhaltsverzeichnis

Beim Oberst war eine große Fête angesagt. Ange begann auch heute mit ihrer Toilette zu einer Zeit, in der andere Frauen bereits die Handschuhe knöpfen und das Kopftuch um das Haar schlingen. Das kannte Clairefort, seit ihm das schöne Fräulein von Butin das Jawort gegeben, und das ertrug er mit jener Resignation, die entweder einer starken Selbstbeherrschung entspringt oder die sich zuletzt in das Unvermeidliche machtlos fügen muß.

»Ange, bist Du bereit? Schon seit einer viertel Stunde wartet der Wagen!« rief der Rittmeister und klopfte ungeduldig an die Thür.

»Gleich, gleich, bester Carlos!« schmeichelte Ange zurück, huschte freilich erst in diesem Augenblick aus ihrem Hauskleid und steckte, da sie das unruhige Auf und Ab ihres erzürnten Tyrannen hörte, auf einen Augenblick das Köpfchen durch die Öffnung, um ihn mit einem ihrer bezaubernden Blicke zu beruhigen.

Das Gemach, in welchem Ange ihre Toilette machte, glich bezüglich des hastigen und bunten Durcheinander dem Ankleidegemach einer Bühnenkünstlerin. Hier waren Schubladen geöffnet, in denen die Gegenstände wild durcheinander geworfen waren, dort lagen auf Diwan und Stühlen Ballkleider und Spitzenröcke. Wenige Minuten hatten hingereicht, um hier und in die Garderobenschränke eine heillose Verwirrung zu bringen. Aber immer war diese lebhafte, unruhige und der Zeiteinteilungen spottende Frau in ihrer Erscheinung gleich reizend. Wo war der Künstler, um diesen feingeschnittenen Kopf mit dem tief auf die Schultern herabgefallenen Seidenhaar zu malen, diese zarte, in den Formen vollendete Fülle, dieses entzückende Weiß des Nackens, der Arme, der Hände, vornehmlich aber diesen wahrhaft bezaubernden Körperwuchs mit seinen vornehmen Linien?

Bei der Hast, mit der Ange selbst Hand an die Toilette legte oder ihre Umgebung anwies, röteten sich ihre Wangen, die feinen Nasenflügel vibrierten und ihre Kinderhände zupften, zerrten und knöpften an den durchsichtigen, spitzenbesetzten Gewändern umher, als ob tausend unruhige Funken aus ihren Fingern sprühten.

Während ihr Haar geflochten ward, saß sie vor dem Trumeau, öffnete den Mund, betrachtete mit kindlicher Neugier die untadelhaften Reihen ihrer unter dem Rosarot hervorschimmernden Zähne und lachte in den Spiegel hinein oder neigte mit leisem Aufschrei das Köpfchen vor dem ungeschickten Strich des Kammes in dem widerspenstigen Haar. Und dabei erschienen auch Füßchen, die einem Kinde anzugehören schienen und die nun von der Jungfer mit seidenen Schuhen bekleidet wurden.

Als Ange endlich auch in das kostbare pfirsichfarbene Kleid eingespannt war, als sie durch das Zimmer schritt und die einer Königin würdige Schleppe hinter ihr herrauschte, als endlich alle die Perlen und Diamanten in ihrem Haar und an ihrer Brust, die blitzenden Agraffen an dem Stoffe befestigt waren, sahen selbst die Dienerinnen mit einem Blick der Bewunderung auf das Kunstwerk, das unter ihren Händen entstanden war.

»Sieht's gut aus? Sitzt die Taille?« fragte Ange naiv, und ein glückliches Lächeln flog über ihr Gesicht, als jene lebhaft bestätigten, was sie zu hören wünschte.

»Ange, Ange!« klopfte es nun abermals. »Die Uhr ist halb neun, und Du bist noch nicht –«

»Ich bin fertig, lange fertig, Carlos! Ich warte ja auf Dich!« rief sie, blinzelte den Frauen bei ihrer unschuldigen Lüge lächelnd zu und öffnete die Thür.

Aber nun kamen noch die Kinder, die doch eigentlich im Bett liegen sollten. Jorinde weinte und Ben stand mürrisch da. Allerlei Wünsche wurden laut.

»Gewiß, gewiß, sei ruhig, mein Liebling! Ja, ja, Carlitos! – Ah, mein Riechfläschchen und der Fächer, Maria! – Wie, was? Ja, gleich!«

Sie eilte fort und suchte in irgend einer Schublade nach den Bonbons und Leckereien, mit denen sie ihre ungeduldige Schar zu beruhigen pflegte.

»Nehmen Sie die Schleppe, Rosa! – Ich komme ja, ich komme, Carlos, geh nur voraus!«

Nun mußten die Kinder noch einmal umarmt und geküßt werden. Ein Handschuhknopf war abgesprungen, auch eine Naht beim hastigen Anziehen gerissen. »Schnell ein anderes Paar! Im Schubfach links! Fleischfarbene, Maria, fleischfarbene! Hörst Du?«

Ange eilte hinab. »Endlich!« sagte Carlos. »Vorwärts!«

Der Diener, die Hand am Hute, schlug den Wagen zu und schwang sich auf den Bock.

»Halt! halt – noch einen Augenblick!« rief Ange und klopfte ungestüm an die Scheiben. Die Jungfer kam atemlos mit den Handschuhen. »Zu Befehl, Frau Gräfin!«

So, nun raste endlich der Wagen mit dem Grafen und Ange davon, und die Dienerschaft wandte sich ins Haus zurück. Auf dem Flur, auf der Treppe wehte noch der Duft ihrer Gewänder. In allen Zimmern brannten die Kandelaber – überall die Spuren ihrer lebhaften Unruhe. Die Kinder schmollten, daß sie nun, weniger rücksichtsvoll angehalten als vorher, ins Bett getrieben wurden: und ins heiße, schwüle, von Parfüm erfüllte Ankleidezimmer der Gebieterin, in dem ein halb Dutzend goldene und silberne Leuchter entzündet waren, in welchem die geöffneten Schmuckkästchen mit all ihren zurückgebliebenen Herrlichkeiten achtlos umherstanden und in dem die Luft, die eine schöne, vornehme Frau ausatmet, wie ein unsichtbarer Hauch die Gegenstände zu umhüllen schien, traten die Frauen, um alles an seinen Platz zu bringen. –

Unwillkürlich verstummte das laute Gespräch in den Sälen, unwillkürlich traten die Reihen der Gäste zurück und unwillkürlich mußten auch die eifersüchtigsten Frauen emporblicken, als die Gräfin Ange von Clairefort an der Seite ihres Mannes die Räume in dem Hause des Obersten betrat. Es giebt Frauen, deren Erscheinung in der Gesellschaft wirkt, als ob plötzlich ein Schwan mit lautem Flügelschlag vorüberrauscht.

Ange war nach wenigen Minuten umgeben und umschwirrt von der halben Gesellschaft. Nein, von der ganzen Gesellschaft! Denn diejenigen, die sich ihr nicht näherten, fanden nur nicht den Mut, der schönen, strahlenden Frau auszudrücken was sie bei ihrem Anblick empfanden. Immer birgt die Gesellschaft Zaghafte; sie werden nie aussterben; sie bleiben und gleichen Kindern, welche nur nach wiederholter Ermunterung ein Händchen reichen.

Ange hörte, daß man allein auf sie gewartet habe. Sie rief ein bedauerndes »O! o!« huschte zu der Frau des Obersten und stellte ihr durch die bezaubernde Art ihrer Abbitte rasch die gesunkene Gesellschaftslaune wieder her. Und da sie in der Zerstreuung den ersten Tanz nicht vergeben hatte und dies zu ihrer freudigen Überraschung bemerkte, schlüpfte sie durch die sich drängenden und sich arrangierenden Paare bis zum Gastgeber und legte sanft den Arm in den seinigen.

»Gnädige Frau?!«

»Den ersten Tanz habe ich wohl ein dutzendmal abgeschlagen, Herr Oberst, da ich ihn für Sie bestimmt hatte. O, ich bitte, kein Refus! Es ist ja eine Polonaise.« schmeichelte sie und zog den nur leise Widerstrebenden mit sich fort.

Selten mischte sich Ange in die Reihen der Tanzenden, ohne daß die pausierenden Paare ihr zuschauten. Man mußte sie ansehen, denn eine Grazie schien sich unter die Menschen gemischt zu haben.

Nichts Anmutigeres konnte es geben, als sie einen Walzer tanzen zu sehen, wenn das ihr eigene, halb verlegene, halb glückliche Lächeln über die sanften Züge flog und sie das Köpfchen zur Seite neigte. Es lag in dieser Zurückhaltung gleichsam eine Andeutung, daß sie sich zwar jeder Laune ihres Tänzers füge, doch nur dem Zwange folgend, ihm erlaube, den schlanken Leib zu umfassen. Sobald sie sich aber aus dem Arm ihres Kavaliers gelöst hatte, verschwand diese fast mädchenhafte Schüchternheit, und ihr lebhaftes Temperament riß sie wieder fort. Sie schwatzte, lachte und zeigte ein schelmisches Gesicht, sie nickte und hörte mit neugieriger Aufmerksamkeit zu.

Beim Souper richteten sich abermals aller Augen auf Ange. Eine feine Blässe war auf ihr Gesicht getreten. Der wunderbare Abstand der dunklen Augen und Augenbrauen gegen das Goldblond ihres Seidenhaares wirkte neben dem mattseidenen, an dem Ausschnitt mit echten weißen Spitzen besetzten Kleide so überraschend schön, daß man den Blick nicht von ihr zu wenden vermochte. Und dabei funkelten und blitzten die Steine an Hals und Ohren, und oft zitterte ein wahrer Sprühregen aus den Diamanten, mit denen ihr Haupt geschmückt war.

Die Menschen fühlten sich geehrt und beglückt, wenn Ange sie mit ihren treublickenden Augen ansah, und ihre Bescheidenheit machte es unmöglich, daß häßliche Regungen der Mißgunst neben ihr emporstiegen.

Nach Aufhebung der Tafel, nachdem der Champagner Ange ganz in ein fröhliches, nur von der Lust beherrschtes Kind verwandelt hatte, als die ersten Takte eines stürmischen Galopps vom Saale herüberklangen, hielt es sie nicht mehr neben dem Gastgeber, und mit einem seine Verzeihung einholenden Blick entschlüpfte sie, um einem jüngeren Kavalier zu folgen.

Einmal riß eine Perlenschnur, und die kostbaren Schätze rollten unter die Tanzenden. Ein kleines Vermögen stand auf dem Spiel, Ange jedoch lachte und nahm mit entschuldigendem Dank entgegen, was eifrig Suchende gefunden hatten und ihr überreichten.

Wiederholt drängte der Rittmeister zum Aufbruch. Aber die Offiziere umstürmten die reizende Frau, und sie bat wie ein junges Mädchen, das zum erstenmal den Ball besucht, um Aufschub. Während sie davoneilte, guckte sie ihn über ihre Schulter an und holte sich durch bittende Blicke sein nachträgliches Jawort ein.

Und als sie endlich zurückkehrte und er, die zerrissenen Spitzen der Schleppe betrachtend, kopfschüttelnd dreinschaute, streifte sie rasch zu seiner Beruhigung die Handschuhe ab, lehnte sich mit einem: »Nicht schelten! Gut sein! Carlitos, bitte!« an ihn und bettelte so lange, bis er ihr noch die kleine Abkühlungspause zugestand.

Von der Bewegung beim Tanzen war ihr Haar ein wenig gelockert und ein feines Strähnchen auf die Stirn gefallen, auch einige prachtvolle Rosen, die an ihrer Brust saßen und einen blitzenden Diamant umschlossen, hatten sich entblättert. Ihr Atem glühte, ihre Brust hob und senkte sich unter der zarten Seide, und während der Fächer in heftiger Bewegung war, neigte sie den Körper mit jener elastischen Biegsamkeit, die Frauen so verführerisch macht.

»Nein, komm, komm, Ange.« drängte Carlos, von ihrer Schönheit hingerissen und nur von dem einzigen Gedanken beherrscht, sie den zudringlichen Blicken ihrer Bewunderer zu entreißen. Sein Auge ruhte mit einem eifersüchtig verlangenden Ausdruck auf ihr, und sie erwiderte seinen Blick mit jenen träumerischen Augen, mit denen sie ihm einst ihre Liebe verraten hatte.

»Ach, es war himmlisch! Ich habe mich prachtvoll amüsiert! Schade, daß es schon vorüber ist!« seufzte die junge Frau, als sie, nach Hause zurückgekehrt, sich in sanfter Erschöpfung in einen Sessel zurücklehnte. »Aber Du, Armer, hast Dich gelangweilt! Nicht so, Carlos?«

Sie sah ihn zärtlich an. Er schüttelte schwermütig das Haupt und sagte:

»Nicht doch, Ange!« Und nach einer Weile flüsterte er leise: »Hast Du mich noch lieb, Ange?«

Da stand sie auf und flog ihm an den Hals.

Kapitel 3

Inhaltsverzeichnis

Acht Monate waren vergangen. Teut war ein täglicher Gast im Clairefortschen Hause geworden, verkehrte mit Frau Ange und der Familie, als ob er sie von Kindesbeinen an kenne, und schien überhaupt von Claireforts fortan unzertrennlich. Dieser engere Verkehr führte mit sich, daß er bald in alle Verhältnisse eingeweiht wurde, und daß man ihn, da er neben seiner Einsicht eine entschiedene Art an den Tag legte, auch häufig um Rat fragte. Aber er nahm sich in seiner ehrlichen und derben Weise auch die Erlaubnis, zu tadeln.

»Schlecht, mordschlecht erziehen Sie die kleine Gesellschaft!« rief er Ange kopfschüttelnd zu, wenn die Kinderschar – ungezogen und trotzköpfig – ihren Höllenlärm anstimmte, die Möbel mit Stöcken und Peitschen bearbeitete und gar auf dem Teppich des Wohnzimmers mit Sand wirtschaftete. Die Dienerschaft war machtlos, denn sie fand keine Unterstützung bei der Gräfin. Entweder erließ sie Verbote, deren Zurücknahme sie sich im nächsten Moment wieder abbetteln ließ, oder sie tröstete Jorinde und Erna, wenn diese von der Gouvernante eine Strafe erhalten hatten.

Nun war eben das Mobiliar – ein Gemach nach dem anderen – neu aufgeputzt, zum Teil mit kostbaren Stoffen überzogen, alles mit einem wahrhaft verschwenderischen Luxus hergestellt worden, und schon zeigten sich deutliche Spuren von übermütigen Gewaltthätigkeiten. Der Graf war mehrmals in einen heftigen Zorn ausgebrochen, hatte Ange ihren Mangel an Ordnungsliebe und ihre grenzenlose Schwäche gegen die Kinder in den härtesten Worten vorgeworfen. Hin und wieder rief er den schnell liebgewonnenen Freund und Vertrauten zum Zeugen an, wie unvernünftig, wie unverständig seine Frau sei und wie ihn ihre Eigenschaften mit den Rückwirkungen auf die Kleinen zum Tadel reizen müßten.

Einmal brach es ungestüm aus ihm heraus, als Teut seine Bewunderung über Ange ausdrückte. »Ja, Freund,« rief er, »Sie sind nicht mit ihr verheiratet! Sie erfreuen sich an dem Guten, das sie Ihnen entgegenträgt, und schütteln das Unbequeme leicht ab, um so leichter, als Sie nur indirekt davon berührt werden! Ich aber lebe täglich, stündlich mit ihr, ich kämpfe seit Jahren gegen ihre Schwächen ohne Erfolg und habe doch für alles die Verantwortung zu tragen! Ange würde jedes Jahr eine Million verschenken, wenn sie dieselbe zur Verfügung hätte, und eine ganze Weltordnung in Verwirrung bringen, wenn sie über den Wolken herrschte! Jeder ruft mir entgegen: Welch ein reizvolles Geschöpf! und jeden Tag werde auch ich entwaffnet durch den Zauber ihrer Liebenswürdigkeit. Aber sie bringt vermöge ihrer untilgbaren, durch eine grenzenlos verkehrte Erziehung hervorgerufenen Fehler den ruhigsten, besonnensten und geduldigsten Mann zur Verzweiflung. Die größten und besten Eigenschaften eines Menschen verwandeln sich in das Gegenteil, wenn ihnen das Maß fehlt. Sanftmut und Liebenswürdigkeit sinken zur Charakterlosigkeit herab, Herzensgüte wird Thorheit, Geist und Verstand streifen an Insanie und je schöner die Hülle, desto größer der Schmerz, daß sich unter so vollendeten Formen ein so ungeordneter Geist verbirgt.«

»Sie übertreiben, Clairefort!« rief Teut warm. »Ihre Frau ist ein Engel! Ihre Fehler sind nicht so schlimmer Art; ja, ich behaupte, sie sind auch Tugenden! Weint sie nicht wie ein Kind, wenn man ihr vom Unglück berichtet, möchte sie nicht stets helfen? Hilft sie nicht? Ist sie nicht rührend besorgt um ihre Kinder und sitzt sie nicht wie jüngst, als Carlitos krank war, Tag und Nacht an ihrem Bett? Ist sie nicht stets liebevoll gegen Sie, Clairefort, sieht sie nicht zu Ihnen empor wie zu einem Höhergearteten und nimmt jeden Tadel, jedes Scheltwort ohne Murren entgegen? Ist sie nicht ohne Beispiel selbstlos? Verlangt sie je etwas für sich? Ist es nicht nur immer der Gedanke an andere, der ihre Entschlüsse bestimmt? Sah man je ein so glückliches Gemisch von natürlichem Verstand und Herzensgüte? – Ja, sie ist sorglos, kannte nie eine Einschränkung, weiß nichts von materiellen Sorgen, giebt mit vollen Händen, oft vielleicht unverständig –«

Hier unterbrach Clairefort den Sprechenden, und indem er ihn mit einem Blick anschaute, durch den man eine vertrauensvolle Äußerung einzuleiten und sich Verschwiegenheit zu sichern pflegt, sagte er:

»Nein, nein! Immer, immer unverständig! Maßlos, Freund! Ihre Verschwendung ist grenzenlos. Wie soll das überhaupt werden? Unter uns: Wenn das meine Frau noch einige Jahre so forttreibt, bin ich ruiniert. Schon lange war ich gezwungen, mein Kapital anzugreifen.«

Teut schwieg. Was er hörte, überraschte und beunruhigte ihn aufs höchste. Unwillkürlich drängte sich ihm der Gedanke auf, weshalb der Mann, wenn die Dinge so lagen, sein Hauswesen, seine Geselligkeit nicht einschränke, die zahllose, meist überflüssige Dienerschaft nicht entlasse und Ange, die ihrer Eigenart nach auch in einfacheren Verhältnissen zufrieden leben würde, die Gelegenheit nähme, so thöricht zu wirtschaften. Aber er fand sich doch nicht berechtigt, dergleichen auszusprechen, und während seines Schwankens kam ihm Clairefort zuvor:

»Ich weiß, was Sie mir erwidern werden, Teut,« hob er, unter der Bestätigung seiner Gedanken wiederholt das Haupt bewegend, an. »Sie meinen, ich sei nicht minder schuld als Ange. Wir könnten uns anders einrichten und dadurch Einnahmen und Ausgaben in das richtige Gleichgewicht bringen. Auch Tibet drängt mich seit Jahr und Tag, aber dann – dann –«

Er hielt inne. Ein ängstlich unschlüssiger Ausdruck trat in seine Mienen, und nur mit Überwindung lösten sich die Worte aus seinem Munde:

»Sehen Sie! Es wird Ihnen rätselhaft erscheinen,« fuhr er endlich abgerissen und in Pausen sprechend, fort. »Ich liebe meine Frau grenzenlos. Ich fürchte dann – ich fürchte – daß sie sich mir entfremden könnte. Eine unbeschreibliche Angst überfällt mich, ich könnte ihre Liebe einmal verlieren – durch einen Wandel der Verhältnisse. Ich sinne selbst ratlos darüber nach, was in meiner Seele vorgeht. Tausend Gedanken bestürmen mich. Oft habe ich schon gedacht: Wenn sie doch einmal das Leben so liebt – ich möchte es ihr erhalten – ihre Fröhlichkeit ist doch lauter Sonnenschein; – und dann – dann – möchte ich, daß sie der Himmel früh zu sich nähme, damit sie Sorge und Kummer nie kennen lernt. Aber kann man eines geliebten Menschen Tod wünschen? Das ist doch unfaßbar. Ich weiß nicht, was in mir vorgeht. Ich möchte ändern und vermag es nicht – vermag es durchaus nicht. Die Schwächen, die meiner Liebe entspringen, sind größer als meine bessere Einsicht.«

Teut saß stumm und schaute vor sich nieder, denn neben ihm seufzte der Mann in tiefer Bewegung auf. – Welch ein Einblick in das Seelenleben eines Menschen. Voll Klarheit, ja voll Ungeduld und Tadel über unhaltbare Zustände, und doch aus eifersüchtiger angstvoller Liebe zu schwach, um beizeiten ein zweifellos hereinbrechendes Unglück von sich, seinem Weibe und seinen Kindern abzuwenden?!

Einmal zuckte Teut unbehaglich zusammen, denn plötzlich stieg die Zukunft vor ihm auf. Die unabweisbaren Folgen solcher Verhältnisse traten unheimlich vor seine Seele. Vielleicht war ihm in dem Clairefortschen Hause eine große, undankbare Aufgabe beschieden, und jene Selbstliebe, die Unbequemes von sich stößt und nur unbehelligt genießen will, behielt die Oberhand. Was scherten ihn am Ende die fremden Menschen, dieser Mann mit seiner Unschlüssigkeit, seiner Melancholie und seinem ehelichen Unbehagen, diese in den Tag lebende Frau mit ihrer Unerfahrenheit und ihrem sorglosen Lebenswandel?

Aber das war nur eine schnell vorübergehende Regung. Er sprang auf, faßte Claireforts Hand und sagte:

»Und trotz alledem muß geschehen, was Sie für Recht erkennen, lieber Clairefort! Ich bin bereit, Ihnen zu helfen, soweit es in meinen Kräften steht. Soll ich einmal mit Frau Ange reden?«

Bei diesem Anerbieten bohrte sich ein eigentümlicher Blick aus den Augen des Grafen auf den Sprechenden. Aber zum Glück bemerkte Teut ihn nicht, und als die Männer nach längerer Auseinandersetzung schieden, ging jener unter dem Eindruck, daß Clairefort, selbst machtlos zum Handeln, die dargebotene Hand aufs dankbarste ergriffen habe.

Wohlan denn! Teut war beiden näher getreten als kaum anderen Menschen je zuvor; er liebte Ange und die Kinder, die deshalb ein Recht auf ihn gewonnen hatten. Er wollte handeln – handeln wie ein Mann, aber auch wie ein kluger, besonnener Mann!

Kapitel 4

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