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Traurig, totkomisch und unendlich schön Manchmal kommt es knüppeldicke. Diesmal für den Studenten Alo Bergmann. Sein Vater bricht beim gemeinsamen Abendessen in einer Gaststätte zusammen. Herzstillstand. Rettungssanitäter eilen herbei, Fred kommt auf die Intensivstation. Großes Drama. Nur Alos Opa Fidus ist erstaunlich guter Dinge. Der 93-Jährige findet nämlich, der Tod würde grundsätzlich überbewertet, er selbst sei ja schon dreimal gestorben, passiere eben hin und wieder. Steht Alos Großvater unter Schock? Doch da beginnt Fidus seinem Enkel bereits die abenteuerliche Geschichte seiner drei Ableben zu erzählen. Eine Geschichte voller Hoffnung, Eigenheit und Liebe, die vom Kriegsende in der Pfalz in das Barcelona Dalís und zurück führt. Kann das alles wirklich wahr sein? Alo beginnt nachzuforschen. Was er herausfindet, verändert sein Leben und das seiner Familie für immer.
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Seitenzahl: 374
Veröffentlichungsjahr: 2024
Hannes Finkbeiner
Roman
Manchmal kommt es knüppeldicke. Diesmal für den Studenten Alo Bergmann. Sein Vater bricht beim gemeinsamen Abendessen in einer Gaststätte zusammen. Herzstillstand. Rettungssanitäter eilen herbei, Fred kommt auf die Intensivstation. Großes Drama. Nur Alos Opa Fidus ist erstaunlich guter Dinge. Der 93-Jährige findet nämlich, der Tod würde grundsätzlich überbewertet, er selbst sei ja schon dreimal gestorben, passiere eben hin und wieder. Steht Alos Großvater unter Schock? Doch da beginnt Fidus seinem Enkel bereits die abenteuerliche Geschichte seiner drei Ableben zu erzählen. Eine Geschichte voller Hoffnung, Eigenheit und Liebe, die vom Kriegsende in der Pfalz in das Barcelona Dalís und zurück führt. Kann das alles wirklich wahr sein? Alo beginnt nachzuforschen. Was er herausfindet, verändert seinen Blick auf das Leben für immer.
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Hannes Finkbeiner wurde 1977 im Schwarzwald geboren. Er studierte Journalistik an der Hochschule Hannover, wo er mittlerweile auch als Dozent tätig ist. Für die Hannoversche Allgemeine Zeitung ist Finkbeiner als Kolumnist tätig, er schreibt außerdem regelmäßig für SPIEGEL Online und das Redaktionsnetzwerk Deutschland. Er lebt mit seiner Familie in Hannover.
Eins
Zwei
Drei
Vier
Danksagung
Irgendwo hier, verborgen hinter Wänden, lag mein Vater Fred. Schicksalsergeben. Hingestreckt. Im Tunnellicht des Todes, die Augen zahlloser OP-Leuchten auf ihn gerichtet. So stellte ich ihn mir zumindest vor. Ich saß draußen, alleingelassen mit meiner Phantasie im Wartebereich der Notaufnahme des Hetzelstifts. Mit verknoteten Fingern verharrte ich im Krankenhausflur, einem mintgrünen Halogenschacht, und es war warm. Nicht diese Ich-zupf-ein-bisschen-an-meinem-Hemd-Wärme: Ich fühlte mich, als säße ich in der prallen Sonne.
Die Ellenbogen hatte ich auf meinen Beinen abgestützt, mein Kopf baumelte am Rumpf herab, ich zählte jeden meiner warmen Atemzüge. Dann spürte ich plötzlich Opa Fidus’ Arm um meine Schultern. Ich musste nicht aufblicken, um zu wissen, dass er es war, der sich neben mich auf die Bank gesetzt hatte. Seit ich ein kleines Kind war, zog er denselben Geruch mit sich. Ein Duft, als käme er gerade aus dem Wald in den Hausflur geschneit, im Schlepptau eine frische Brise – hatte meine Mutter ihn angerufen? Sie musste ihn angerufen haben.
Ich hob den Blick, sah ihn aber nicht an, weil ich wusste, dann würden mir die Tränen kommen. Ein Patient, das Gesicht so faltig wie ein Speckbrot, patrouillierte unaufhörlich in einem dunkelbraunen Bademantel den Flur auf und ab. Er wirkte grimmig wie ein Grenzbeamter und hatte den Infusionsständer wie ein Gewehr zwischen Oberkörper und Arm geklemmt. Die Gummisohlen seiner Sandalen quietschten auf dem Linoleumboden. Kurz blieb er stehen und schaute mit zusammengekniffenen Augen den Gang hinab, als blinzelte er durch eine Schießscharte. Er beobachtete einen blassen Mann mit pomadigem Haar, der mit einem zerfledderten Blumenstrauß den Gang hinaufstürmte. Er stellte sich einer Schwester in den Weg. Mit einer Stimme wie eine Sprungfeder erkundigte er sich nach der Säuglingsstation. Sie zeigte nach rechts. Er rannte nach links.
Opa brummte. Ich schloss kurz die Augen, war unendlich erleichtert, nicht mehr alleine zu sein, fühlte mich fast geborgen, hier, an diesem unwirtlichen Ort. Es kribbelte in meiner Nase, ich war kurz vorm Heulen. Da war jemand, der mit mir die Last schulterte. Ich holte Luft, schaute ihn gefasst an, und klar, keine Frage, ich erwartete, in einen bekümmerten Gesichtsausdruck zu blicken, eine von Sorgen zerfressene Miene. Mitfühlend, todtraurig, beängstigt, bestürzt, gepeinigt, zermürbt, wenigstens betroffen, all das hätte im Bereich des Fassbaren gelegen. Stattdessen schaute ich in strahlende hellblaue Augen. Opa lächelte.
Alles in allem schien er bester Dinge zu sein. Als würde er gleich seine Lippen spitzen und ein Liedchen pfeifen. Seine weißen, zottigen Augenbrauen klebten wie Topfschwämme an seiner Stirn, sogar aus seinen Ohren standen die Haare heraus, als hätte ihm jemand zwei bauschige Trichterchen in die Gehörgänge gesteckt. Sein kreideweißer Haarkranz war halbordentlich nach hinten gekämmt, die Haut unterhalb seines Kinns hatte sich verselbständigt und hing herab wie ein windgegerbtes Segel – aber seine Augen leuchteten schelmisch, wie eh und je. Zu seinen Füßen hatte er eine Tüte abgestellt. Was passiert war?
Mein Vater war tot.
Opas einziger Sohn.
Zumindest war das der letzte Stand der Dinge.
Herz schlägt nicht.
Herz schlägt.
Herz schlägt nicht.
Noch drei Stunden zuvor war ich mit ihm in den Ritter gegangen, eine alteingesessene Gaststätte nahe unserem Haus. Papa aß Schnitzel, trank Apfelschorle. Wir saßen in einer kleinen Nische, die an den Festsaal angrenzte. Alles wie immer. Er war vielleicht etwas blasser als sonst. Als wir auf das Bananensplit warteten, bemerkte ich den Schweiß in seinem blutleeren Gesicht. Er tupfte sich mit der Serviette ab, schien sich unwohl zu fühlen. Er rutschte auf der Bank hin und her. Öffnete den obersten Knopf seines Hemdes, lockerte seinen Gürtel. Er entschuldigte sich schließlich, wollte wahrscheinlich zu den Toiletten. Stattdessen klappte sein Kopf nach hinten weg, einfach so, nach hinten weg, dann kippte er von der Bank.
Ich sprang auf, stieß an die Tischkante. Gläser fielen scheppernd um. Die Blumenvase drehte eine Pirouette. Doch noch bevor ich mich befreit hatte, war ein anderer Mann bei meinem Vater. Er legte ihm das Ohr an den Mund. Mit aller Kraft warf er sich plötzlich auf seine Brust. Er legte die Hände übereinander, drückte fest nach unten, pumpte und pumpte in kurzen Abständen. Mir schwindelte. Die Menschenmeute drehte sich gaffend um mich. Der Wirt kam mit Schürze aus der Küche gerannt. Er blickte ein paar Sekunden zu seiner Kellnerin, die verdattert versuchte, die Notrufnummer in das Funktelefon einzugeben, aber immer wieder abbrach, weil sie sich vertippte. Der Wirt riss es ihr schließlich aus der Hand, und kurz hasste ich meine Wankelmütigkeit, mein ewiges Zaudern und Hadern – wieso war ich nicht am Telefon?
Wieso hielt ich meinem Vater nicht die Hand?
Wieso blaffte ich nicht die ganze gaffende Menge an, Abstand zu halten?
Als die Sanitäter in die Gaststätte trampelten, sagte jemand »Herzstillstand«.
Das Wort stand kurz wie der Rauch einer ausgeblasenen Kerze im Raum.
Löste sich auf, langsam um sich selbst wirbelnd.
Opa umfasste meine Schulter etwas fester. Er rüttelte kurz an mir, als sei ich ein Pflaumenbäumchen, beugte sich etwas zu mir herüber und flüsterte: »Schön dich mal wieder zu sehen, Junge, ri-ch-tig schön!«
»W-was?«
»Stimmt es, dass du eine neue Flamme hast? Na, na, musst du jetzt gar nicht leugnen. Das hat mir Marie vorhin am Telefon erzählt«, sagte Opa Fidus. Marie. Meine Mutter. Er stupste mich mit dem Ellenbogen an. »Und deine Herzensdame kommt euch nächste Woche sogar besuchen. Aus Amerika. Mensch, Mensch. Du bist ein richtiger Globetrotter geworden, Alo. Lerne ich sie dann auch mal kennen?«
Ich blickte ihn entgeistert an, er wartete anscheinend ernsthaft auf eine Antwort.
»Wie heißt sie denn?«, fragte Opa weiter.
»Bintou.«
»Wie?«
»Bintou.«
Opa nickte. »Toll. Deine Mutter wird übrigens vor morgen früh nicht da sein, soll ich dir ausrichten, aber sie ist auf dem Weg«, sagte er, nahm seinen Arm von meinen Schultern und machte es sich etwas bequemer.
Da war er also. Der Altersstarrsinn. Die senile Brüchigkeit, die irgendwann jedem Geist den ersten Riss zufügte. Fidus hatte die Situation nicht im Geringsten erfasst. Oder er war übergeschnappt? Dabei war er eigentlich zeitlebens bei Verstand, aber irgendwann musste es ja so weit kommen. Wie alt war er jetzt? Dreiundneunzig? Wann hatten wir uns das letzte Mal gesehen? Vor drei Jahren? Zu seinem Neunzigsten? War das möglich?
Irgendetwas brodelte in mir. Ich wusste nicht, ob es maßlose Wut oder unendliche Trauer war. Ich blickte Opa an, wusste nicht, was ich tun sollte. Und offen und ehrlich: Genau genommen kannte ich diesen Mann nicht einmal richtig. Die ersten Jahre meines Lebens, in denen Opa Fidus mit meiner Oma Klara noch in einem Märchenhaus gelebt hatte, war er immer eigenartig distanziert gewesen, immer lustig und gut aufgelegt, voll unbändiger Lebensfreude, er war ständig spazieren, bei Wind und Wetter, aber an mir schien er kein sonderliches Interesse gehabt zu haben, außer vielleicht, dass er mich oft aufmerksam beobachtete. Den größten Teil meines Lebens hatte er in einer Seniorenresidenz verbracht. Zuletzt war er nicht einmal mehr an Feiertagen bei uns aufgetaucht.
Opa lehnte sich zurück, sah sich kurz um. Er spielte mit dem Ehering meiner Oma, den er seit ihrem Tod an der rechten Hand trug. Dicke blaue Adern zeichneten auf seinem Handrücken die Schrift der Zeit. Ich hatte das Gefühl, dass er gegen einen leichten Tatterich ankämpfte. »Du, die haben hier ja ganz schön Geld in die Hand genommen, seit ich das letzte Mal hier war«, sagte er, »Neubau, moderner Eingangsbereich, schicke Cafeteria in der Lobby, die Schnittchen sehen genießbar aus – sollen wir was essen gehen? Du musst doch hungrig sein.«
»Wieso sollte ich denn hungrig sein?«, knurrte ich.
Opa zierte sich etwas. »Deine Mutter erwähnte in unserem Telefongespräch, dass du dich auf der Fahrt hierher übergeben musstest.«
»Stimmt. Mir war speiübel. Ist es immer noch.«
»Willst du einen Kamillentee? Das haben die bestimmt im Angebot.«
Ich schüttelte den Kopf.
Fidus schwieg einen Moment. »Und wie läuft es beim Psychologiestudium?«
»Ich studiere jetzt Neue Amerikanische Geschichte«, sagte ich und verschwieg, dass ich mich zwischendurch ein zweites Mal für ein Semester Literaturwissenschaft eingeschrieben hatte, was dann der Ausgangspunkt für Psychologie war, aber hey …
»So ein Ärger, und ich habe meiner Heimleiterin schon mit dir gedroht …«, sagte Fidus, »was stimmte denn mit Psychologie nicht?«
»Zu viele Statistiken, zu wenig Menschen.«
»Und was reizt dich an Geschichte?«
Ich schwieg.
»Na ja, Geschichte ist ja auch spannend.« Opa schaute sich um, klopfte auf seine Schenkel. »Ich weiß nicht, ob du es weißt, aber genau hier, an der Stelle, an der jetzt das Krankenhaus steht, war früher mal ein …«
»Opa!« Ich bellte das Wort mehr, als dass ich es aussprach, ich war nervös, zappelig, mit den Nerven völlig am Ende. »Ich bin froh, dass du hier bist, wirklich. Aber willst du dich vor unserem Smalltalk vielleicht ganz kurz erkundigen, wie es deinem Sohn geht?«
Opa wirkte erschrocken. Er legte seine Hände in den Schoß, setzte sich aufrecht hin. Der Saum seines grauen Anoraks rutschte auf die Bank, in seiner Seitentasche erkannte ich ein zerfleddertes Buch, mit Sicherheit einer seiner Krimis, die zu ihm gehörten wie Hüte zu Miss Marple.
»Hör mal, ich bin doch nicht senil, ich habe mich längst erkundigt. Am Empfang habe ich eine der Schwestern bezirzt. Es gibt angeblich nichts Neues, habe ich dir das nicht gesagt? Muss ich vergessen haben«, erklärte er und zog die Augenbrauen hoch. »Weißt du, mit hundertdreizehn Jahren ist der Kopf nicht mehr ganz so frisch.«
»Ich bin gerade nicht zum Spaßen aufgelegt.«
»Schon gut«, sagte Opa, tätschelte mir den Oberschenkel, »bei Bewusstsein ist er aber noch nicht, oder?«
»Bei Bewusstsein? Tot! Opa! Er war tot!«, rief ich, ich war wirklich aufgebracht.
Opa blies kurz die Backen auf. »Ja, das ist unangenehm«, entgegnete er, »tot zu sein ist eine unangenehme Sache, aber auch nicht der Weltuntergang.«
Ich konnte nicht mehr stillhalten, sprang entgeistert auf, baute mich vor ihm auf. Fuchtelte ich mit den Händen? Stemmte ich sie in die Hüften? Keine Ahnung, ich stand, das war die Hauptsache. Denn Stehen war Aufruhr, Rebellion, Krawall gegen das Nichtstun und Warten. »Was redest du denn da, Mann!?«, rief ich.
Auf Opa wirkte ich offensichtlich bedrohlich, verteidigend hob er beide Hände. »Junge, jetzt beruhige dich und setz dich hin. Ich war schon dreimal tot. Das wird überbewertet«, sagte er und blickte den Gang hinunter.
Irgendwo schellte ein Telefon. Eine Tür ging auf. Und wieder zu. Der Patient mit Infusionsständer patrouillierte. Seine Schuhe quietschten. Er und Opa grüßten sich wortlos. Über einem Raum begann eine Lampe rot zu leuchten.
Ich war angespannt, verwirrt, tänzelte von einem Bein auf das andere. »Wie? Dreimal tot? Was meinst du damit?«, fragte ich.
»Ich bin von den Toten zurückgekehrt, war übern Styx. Drei Mal«, sagte Opa, seine Stimme kam bei mir an wie ein fernes Prasseln.
»Styx?«, fragte ich ratlos.
Opa blickte kurz ins Leere. »Jordan«, antwortete er schließlich. »Jordan, meine ich.«
Ich zuckte mit den Schultern, schüttelte den Kopf, seufzte, alles auf einmal. »Was heißt das? Wie bist du denn gestorben?« Ich wusste in diesem Augenblick wirklich nicht, ob er mich foppte.
Opa erzählt Märchen.
Opa hat eine blühende Phantasie.
Opa übertreibt gerne.
Sätze, die ich in meinem Leben schon zig Male gehört hatte.
Ich ging einen Schritt rückwärts, ließ den Mann mit seinem Infusionsständer vorbei. Er nahm keine Notiz von mir, schaute weiter finster wie ein Grenzbeamter drein.
»Nimmst du mich gerade auf den Arm?«, fragte ich. »Weil, wenn das hier ein Versuch ist, mir Hoffnung zu …«
»Wieso sollte ich? Das erste Mal bin ich 1945 gestorben, das zweite Mal 1962 …«, unterbrach mich Opa, überlegte kurz und korrigierte sich, »falsch, 1969 bin ich das zweite Mal gestorben, das dritte Mal 2001. So etwas vergisst man nicht. Sind ja so etwas wie Geburtstage«, sagte er, hielt kurz amüsiert inne: »Geburts-tag-e. Mehrzahl. Das muss ich mir merken.«
»2001? In dem Jahr, in dem Oma starb? Du bist also hypothetisch gestorben …«, stammelte ich, »also … metaphorisch oder so … so bist du gestorben: metaphorisch. Das meinst du, oder?«
»Nein, nein, ich bin schon richtig gestorben. Final de la vida.«
»Ich spreche kein Spanisch«, grummelte ich.
»Mausetot eben. Aus und Ende«, sagte Opa, »willst du die Geschichte hören?«
Drei Pfleger und eine Schwester schoben drei leere Betten an mir vorüber, die mit Plastikfolie überzogen waren. Zwei Ärzte folgten der Karawane. Ich ging aus dem Weg, drückte mich an die Wand, so dass meine Fersen an die Fußleiste stießen. Mir war flau. In meinem Mund konnte ich noch die Galle schmecken, obwohl es eine gefühlte Ewigkeit her war, seit ich mich an der Ampel aus dem Seitenfenster meines Wagens erbrochen hatte. Dass ich die Fahrt hierher überhaupt überlebt hatte, grenzte an ein Wunder. Ampeln übersehen. Blinken vergessen. Glück gehabt.
Meine Blicke huschten unverbindlich durch den Krankenhausflur, doch Opas Augen hielten mich gepackt, wartete er auf eine Antwort? Er sagte: »Neulich habe ich in der Fernsehzeitschrift etwas über eine Wissenssendung gelesen, die spät nachts lief – wusstest du, dass Leere den größten Teil des Universums ausmacht?« Gedankenverloren blickte er kurz den Gang hinab, ein fast spitzbübisches Lächeln umspielte seinen Mund. »Und ich nehme an, da wurden die ganzen Hohlköpfe der Nazis noch nicht einmal mit eingerechnet …«
Es war nicht einfach, ein Plätzchen zum Küssen zu finden. Fidus’ Herz galoppierte durch die Koppel seiner Brust, von links nach rechts, unstet wie ein junges Pferd. Jedes Mal, wenn Klara ihn ansah, bäumte es sich obendrein auf. Gerade hatte er seinen Mut beisammen, da quoll plötzlich Rauch unter dem Türspalt hervor. Klara hustete. Sie saßen auf den obersten Stufen des Treppenaufgangs zur Selchkammer, die sich unterm Dach befand. Fidus schlug ihr vor, ein paar Treppenstufen herunterzurutschen. Nur drei oder vier, dann wären sie gegebenenfalls immer noch vor den Blicken der Familie verborgen, aber wenigstens nicht mehr vollends in der Schneise des Speckrauchs, der sich im Treppenaufgang zur Dachkammer staute. Nein. Es war nicht einfach, im Winter 1945 ein Plätzchen zum Küssen zu finden.
Ihre Kammer teilte sich Klara mit ihren älteren Schwestern. Kussungeeignet. Draußen klirrte die Januarkälte. Kussungeeignet. In der Stube saß die Großmutter im Ohrensessel, mit Häkeldecke auf den Beinen, im steten Halbdämmer ihrer Betagtheit – wovon man sich nicht täuschen lassen durfte, die Alte bekam einfach alles mit, vor allem die Dinge, die sie nicht mitbekommen sollte, also: kussungeeignet. In der Küche rührte die Mutter im Topf. Küssen? Gott bewahre. Im Keller lag die Sau, die es nicht störte, was Menschen taten, aber es stank. Kussungeeignet. Im Rauchfang hing eine Sau in Einzelteilen, die es nicht mehr stören konnte, was Menschen taten, aber es stank auch. Blieb was?
Unten bereitete sich Klaras Mutter offensichtlich fürs Brotbacken vor oder feuerte den Ofen für die Zubereitung eines Staatsbanketts an. Vielleicht schlug auch ihr Mutterinstinkt Alarm, und sie ahnte, dass zwei Stockwerke über ihrem Kopf die Sünde ins Haus einzuziehen drohte. Sie legte Holzscheite nach, bis dichter Rauch aus allen Spalten der Tür quoll, samt Türschloss. Im Gleichtakt rutschten Fidus und Klara nun ein paar Stufen herab. Das zeigte Wirkung. Es war nicht mehr so stickig. Ihre Küssposition hatte sich sogar geringfügig verbessert, wie Fidus fand: Sein Abstand zur Kontaktperson war nunmehr mit einer beherzten Vorbeugung erreichbar. Doch da gab es noch ein anderes Problem.
Fidus hatte entschieden, dass es an der Zeit wäre, Klara zu küssen – und wenn nicht hier und heute, wann denn dann? Nur hatte er eben Klara in diesen verwegenen Plan kaum, nun, beziehungsweise – wenn man es jetzt an dieser Stelle wirklich ganz genau nahm – fast gar nicht einbezogen. Aber sie hatten bereits sechs Monate Händchen gehalten, heimlich natürlich, sie hatten sich sogar mehrmals zusammen davongestohlen, wenn sie mal wieder ohne Vorankündigung vor den geschlossenen Schultüren gestanden hatten – was kam nun, wenn nicht ein erster Kuss? Und dennoch bockte Fidus’ Puls weiter. Er wischte seine schweißnassen Hände an seiner Hose ab – was, wenn sie ihn nicht küssen wollte und er sich eine saftige Maulschelle abholte?
Gut, irgendwann stand man im Leben auf, machte erste Schritte, auch mit der Gefahr hinzufallen. Wer schluckte bei den ersten Schwimmzügen nicht einen Schwall Wasser? Und wer beim Radfahren nie gestürzt war, sollte sich hier und jetzt bitte schön melden! Das Leben hatte Hürden, das wusste Fidus, und er war bereit, sie zu nehmen. Was aber wieder ganz praktische Fragen aufwarf: Wie küsste man sich? Denn die Details waren verzwickt. Waren die Köpfe gerade, stießen doch die Nasen aneinander, oder nicht? Legte man die Köpfe schräg, musste der jeweils andere den Kopf in die entgegengesetzte Richtung schräglegen. Aber woher wusste man, in welche Richtung in diesem speziellen Fall die zu Küssende den Kopf neigte? Gab es dafür eine Regel? Und trafen sich die Lippen, was mit ihnen tun?
»Wann geht’s los?«, fragte Klara, obwohl sie es schon einmal gefragt hatte, aber es ging auch nicht mehr so sehr um den Austausch von Neuigkeiten, es ging um das Zusammensein, was man in diesem Alter noch nicht wortlos ertrug. Klara war fast vierzehn, Fidus gerade fünfzehn geworden, vor nicht einmal zwei Wochen – sogar der Führer hatte ihm in Vertretung gratuliert: Fidus bekam zu seinem Ehrentag eine Einladung, sich am Volkssturm zu beteiligen, um den »Heimatboden« zu verteidigen.
»Wir treffen uns um halb acht am Bahnhof«, sagte Fidus.
»Ah«, sagte Klara.
»Müssen bis Mittag in der Orff sein.«
Klara überlegte. »Ist das die Kaserne? Wisst ihr, wo die ist?«
Fidus nickte und richtete sich auf. »Im Norden der Stadt, das ist die alte Pionier-Kaserne, die finden wir schon«, sagte er im Brustton.
Unten im Haus ging eine Tür. Klara zuckte zusammen. War ihr Vater zu Hause? Sie klatschte jedenfalls mit einem Mal auf ihre Schenkel, rutschte etwas nach vorne auf der Treppenstufe und Fidus wusste, dass er zu lange gezögert hatte. Bei aller Mannhaftigkeit, die er vor Klara zur Schau zu stellen versuchte, konnte er nichts mehr dagegen tun: Klara war im Begriff aufzustehen, und mit dem Ende ihres Stelldicheins fiel der Vorhang. Nichts mehr trennte seine Gedanken vor dem Folgetag. Ein Schauer von Verzweiflung erfasste ihn. Seinen glasigen Blick versuchte er mit einem windschiefen Lächeln auszubalancieren.
Klara bemerkte seine Wandlung. Ihre Hand schnellte nach vorne, sie streichelte seine Wange. »Kopf hoch, das wird schon«, sagte sie.
Fidus schlug die Augen nieder. »Ich halte mich besser geduckt«, entgegnete er gefühlsbesoffen, verkniff sich das Wort Kugelhagel und spürte das Aufbäumen, jetzt oder nie: Nur ein Schritt, nur eine Kopfbewegung – der Moment war gekommen.
Klara lächelte: »Also dann, Kopf runter, das wird schon«, entgegnete sie, presste betrübt die Lippen aufeinander und huschte mit hochgezogenen Schultern in die Dachkammer. Zurück kam sie mit einem kapitalen Stück Bauchspeck, schwarz wie Kohle. Mit rußverschmierten, fettigen Fingern drückte sie es in Fidus’ Hände, der feststellen musste, dass sich zwischen ihm und dem großen Kuss nun eine Speckhälfte befand. »Versteck es gut, damit es meine Mutter nicht sieht – und vergiss nicht zu schreiben, du hast es mir versprochen.«
»Versprochen.«
Meine gute, liebe Klara,
an der Front bin ich noch nicht, aber ich wollte Dir dennoch einen ersten, kurzen Gruß verfassen und mein Versprechen einlösen. Offen gestanden bin ich noch nicht einmal in der Kaserne. Ich liege sitze in meinem Bett. Es hat zu schneien begonnen, hast Du das auch bemerkt? Als der Tag noch jünger war, saßen wir in trauter Zweisamkeit vor der Selchkammer auf Eurem idyllischen Buckelhof. Wenige Stunden trennen also unser letztes Treffen und bereits jetzt habe ich Heimweh nach Dir. Heimweh? Ja, denn ein Heim muss kein Ort, es kann auch ein Mensch sein! Kein Wo, ein Wer! Was schreibe ich da nur für einen Unsinn!? Wenige Stunden trennen unser letztes Treffen, und bereits jetzt habe ich Sehnsucht nach Dir.
Von meinen Eltern soll ich Dir meinen Dank für den Speck aussprechen, denn ich habe Dein Geschenk mit meiner Familie geteilt. Die stille Freude über das unerwartete Festmahl war ihnen anzumerken. Es verschaffte uns eine Stunde schweigsamen Schwelgens mit vollem Magen – ein kleines Stückchen habe ich als Wegverzehr für mich behalten, der Herrgott wird es mir hoffentlich verzeihen. Hast Du eigentlich gespürt, dass ich Dich küssen wollte? Wahrscheinlich nicht. Ich habe mich nicht getraut. Es ist wahrscheinlich meine Bestimmung, ungeküsst in den Krieg zu ziehen – verliebt über beide Ohren, aber ungeküsst. Erinnerst Du Dich, als wir uns an Neujahr an der Hand gehalten haben? Hinter der Kirche? In meiner Manteltasche, weil es für unsere nackten Hände an der Luft zu kalt war? Daran denke ich jetzt!
Küsse Dich in meinen Träumen,
wünsche nicht aufzuwachen,
Dein nach Speckrauch riechender,
Dich verehrender
Fidus
Die kristallklare Luft schnitt in Fidus’ Lungen, als er vor die Tür seines Elternhauses trat, ein kleiner Tagelöhnerbau mit mehr Türen als Zimmern, der am Rand von Brunnweiler lag – ein Zweitausendseelen-Dorf zwischen Wachenheim und Neustadt. Zu klein, um es zu beachten. Zu groß, um es zu ignorieren. Es war ein eiskalter, grabesstiller Januarmorgen. Die Uhr drinnen schlug zwar sieben. Das Ding wusste besser als alle anderen, dass es bald dämmern sollte. Es war stockfinster, der Morgen zeigte nicht einmal eine Ahnung von Licht. Schnee glitzerte im Schein der Stubenlampe. Seine Mutter, sein Vater und seine jüngere Schwester harrten in Gemäldepose im Türrahmen aus. Schweigend hatten sie ihr Frühstück eingenommen, schweigend standen sie voreinander. Ihr Atem schwebte vor ihnen wie Seelen.
»Sollen wir nicht doch mitkommen?«, fragte seine Mutter fast flehend.
»Viel zu kalt, viel zu früh«, antwortete Fidus, der sich aber nichts sehnlicher wünschte, als dass sich seine Eltern über ihn hinwegsetzten. Im Grunde wusste er gar nicht, wie ihm geschah, denn gestern war der Tagesanbruch noch so weit weg gewesen – oooh, dieses elende, lauernde Jetzt!
»Lass dem Jungen seinen Willen«, sagte sein Vater, er trat vor die Tür. Seine Wangen waren hohl und eingefallen vom Alter und der Arbeit an den Stanzmaschinen der Metallfabrik. »Sie dürfen euch nicht an der Front einsetzen, vergiss das nicht, Wach- und Sicherungsaufgaben«, sagte er mit eisernem Händedruck und erstaunlich fester Stimme, als wollte er nicht nur seinen Sohn, seine Frau und Tochter von seinen Worten überzeugen, sondern sich selbst gleich mit: »Ihr macht Wach- und Sicherungsaufgaben«, wiederholte er und hielt Fidus’ Hand gepackt – es sollte das letzte Mal sein.
Fidus nickte, schulterte seinen Rucksack und fand sich nach einer stockenden, eineinhalbstündigen Bahnfahrt in Speyer wieder, auf Gleis eins. Im Schlepptau hatte er zwei Kameraden. In seiner Brusttasche steckte neben einem Stellungsbefehl des Reichsarbeitsdienstes auch ein Brief an Klara, den er am Abend zuvor begonnen hatte. Auf der Zugfahrt hatte er daran weitergeschrieben, dann fein säuberlich Klaras Namen und Adresse auf den Umschlag geschrieben. Dabei war er gerade einmal auf halbem Weg zur Westfront, aber er hatte ihr schließlich drei Briefe pro Woche versprochen, da galt es unermüdlich den Bleistift über das Papier zu bewegen. Außerdem vermisste er sie schon jetzt, berührte immer wieder sanft seine Wange, die Klara gestreichelt hatte.
Fidus marschierte im Tross von allerhand Jungvolk in die kleine Bahnhofshalle, in der reger Betrieb herrschte. Um eine Suppenstation drängten sich Soldaten. Frauen schleiften schwere Koffer oder alte Männer durchs Gebäude, meist beides auf einmal. Zwei Burschen in ihrer Gruppe scherten aus, gingen schnurstracks auf zwei bewaffnete Soldaten zu, die sich eine Zigarette teilten. Sie erkundigten sich offensichtlich nach dem Weg. Mit Kopfzeig wiesen die Männer in Richtung Bahnhofsvorplatz. Fidus sah sich seine Leidensgenossen an, die hier kurzzeitig aus dem Tritt gekommen waren. Zwei Dutzend Burschen mussten es sein. Sie waren sechzehn, fünfzehn, vierzehn Jahre jung. Viele steckten noch in ihrem Kindeskörper. Sie setzten ihre Rucksäcke ab, schauten nach dem Ausgang, bissen die Zähne aufeinander, so dass ihre Kieferknochen hervortraten. Sie sprachen laut, lachten kraftvoll, und schafften es doch nur mit Müh und Not, die mutigen Männer darzustellen, die sie nicht waren. Egal, wohin Fidus blickte, er schaute in den Spiegel seiner eigenen Furcht.
»Ich bin hungrig«, sagte Blau-Max wehleidig und mit hochgezogenen Schultern. So nannten sie ihren Freund scherzhaft. Zumindest im Winter. Im Sommer wurde er zum Rot-Max. Er war ein schmächtiger Kerl, konnte keine Mistgabel heben, ohne zu keuchen. Er hatte blasse Haut, bleich wie ein Laken, die auf jegliche Temperatur anschlug, die über lau hinausging. Bei Hitze lief er rot an, in der Kälte wurde er blau, gelegentlich mit Nuancen ins Lilafarbene, so wie an diesem Morgen. Er zitterte auch unter den zwei Mänteln, die ihm seine Großmutter angezogen hatte – seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben. Max’ kalter Atem hing wie Wölkchen in der kalten Halle, er zog den Kopf ein, als würde er sich am liebsten in seinem Mantel verstecken.
Sah Fidus Max an, kam ihm oft sein eigener Großvater in den Sinn, der im Ersten Weltkrieg beide Beine verloren hatte und zu Lebzeiten zu sagen pflegte, dass der Herrgott dem Menschen nur so viel Unglück auf die Schultern packe, wie derjenige auch imstande sei zu tragen. Was zugegebenermaßen bei einem Mann ohne Beine ein eigentümliches Sprachbild war, aber sein Opa hatte ohne Wehklagen oder Gejammer seine letzten Jahre genossen und war glücklich über jedes Glas Federweißer gewesen, an dem er noch nippen durfte. Ob der Spruch auch bei Max zutraf, da war sich Fidus allerdings unsicher.
»Was ist mit der Suppenstation dort drüben, kriegen wir dort was?«, fragte Fidus und dachte kurz an die Speckhälfte, mit der er seiner Familie gestern Abend eine Freude bereitet hatte. Er selbst hatte keinen Appetit gehabt. Das hatte er immer noch nicht, heute weniger als gestern. Max redete von nichts anderem als Essen. So verschieden waren die Menschen. Fidus dachte kurz daran, ihm das Stück Speck zu geben, das er für sich abgeknapst hatte, verwarf allerdings den Gedanken. Er zog stattdessen sein letztes Pfefferminz aus der Tasche und reichte es ihm. Max stopfte es sich gierig in den Mund. Fidus sah zu, wie er es knirschend zerkaute.
Arnulf, der Dritte im Bunde, fuchtelte wirsch in Richtung der Suppenstation. »Kapierst du es nicht, Fidus, schau hin, du brauchst eine Essensmarke«, entgegnete Arnulf, an dem alles irgendwie unproportional geraten war: Nase zu Ohren, Hände zu Armen, Kopf zu Oberkörper. Viele stellten deswegen seine Schönheit in Frage, aber niemand seine Kraft und Energie. Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen war es, im Haardt kleine Bäume auszureißen und daraus zeltartige Behausungen zu bauen. Das einzige Mal, das Fidus ihn weinerlich erlebt hatte, war heute Morgen gewesen. Er hatte sich an die Hand seiner Mutter geklammert, die ihn zum Bahnsteig von Brunnweiler begleitet hatte. Fidus hatte so getan, als hätte er die Augen seines Kameraden nicht bemerkt, die wie zwei Teiche schillerten.
»Was ist denn mit deiner Verwandtschaft«, fragte Arnulf großspurig und wandte sich an Max. »Du hast eine Cousine hier, richtig? Ist das weit weg?«
»Großcousine«, piepste Max. »Müssen wir nicht sofort zur Kaserne?«
»Da kannst du deinen letzten Reichspfennig drauf verwetten«, entgegnete Arnulf und pfiff durch die Vorderzähne, »aber wie sollen die rausfinden, wann wir in der Stadt angekommen sind? Kommen wir halt eine Stunde später, werden schon keine Tragödie draus machen.«
»Es gibt aber angeblich nicht genug Feldbetten in der Kaserne, ich will nicht auf dem Boden schlafen müssen …«
»Ach, wir kriegen schon ein Bett, wenn nicht, dann teilen wir uns eins. Ich könnte wirklich was zum Futtern gebrauchen. Außerdem sind die anderen hier ja wohl auch keine Rennpferde, nicht?« Er zeigte auf die zwei Dutzend Volksstürmer, die angestrengt in ihren Rucksäcken kramten oder sich geschäftig im Kreis drehten, als suchten sie die Richtung, in die sie zu marschieren hatten. Dabei wollten sie nichts anderes, als sich an Ort und Stelle im Kreis drehen. Und niemals weitergehen.
Max haderte. »Ich weiß nicht einmal, ob meine Verwandten was zu essen haben.«
»Du hast doch erzählt, ihr hättet denen über Jahre viel Wein geschickt, da wird deine Cousine …«
»Großcousine«, fiepte Max. »Ich habe sie nur einmal in meinem Leben gesehen, das ist Jahre her.«
Arnulf schnaubte. »Deswegen kann sie doch trotzdem einen Kanten Brot für uns übrighaben.«
»Einen Versuch ist es wert«, warf Fidus ein und pustete sich dabei in die Hände.
Essen bekamen sie nicht, es gab keines.
Aber ihnen wurde ein Glas Pfefferminztee mit einem Stück Zucker zuteil.
Und ein Ratschlag.
Das Heim von Max’ Großcousine war nur wenige Gehminuten vom Bahnhof entfernt. Sie lebte mit ihrer Familie in einer kleinen Mansardenwohnung. Stickig, dunkel, aber immerhin: warm. Vier spindeldürre Kinder saßen um den Küchentisch und beäugten die drei unangemeldeten Gäste. Ob es die Kinder, gar schon die Enkelkinder, der Großcousine waren? Fidus wusste es nicht, die Frau war einsilbig, rang sich kraftlos ein paar höfliche Erkundigungen nach dem Befinden der Verwandtschaft ab, und versank dann in sich selbst.
Fidus trank so schnell seinen Tee, dass seine Zunge schon pelzig wurde. Gerade überlegte er, sich demonstrativ auf die Schenkel zu klopfen, um den unausweichlichen Aufbruch anzukündigen – in der Kaserne konnte es nicht schlimmer sein als hier –, da hörten sie das Türschloss knacken, und ein Mann mit ordentlichem Zwirbelbart humpelte zur Tür herein – der Hausherr, Ehemann und Vater? Er warf wortlos einen Blick in die Küche, nahm seine Melone ab und hängte sie säuberlich an die Garderobe. Max’ Großcousine sprang auf. Bevor sie ihm aus dem Mantel half, zog er ein dickes Bündel Zeitungspapier aus einer Seitentasche. Die Kinder wurden plötzlich nervös, reckten die Hälse. Die Großcousine wickelte das Paket auf. Fidus glaubte grüne Äpfel zu erspähen.
Max’ Großcousine legte das Paket auf der Diele ab, deckte einen Schal darüber und flüsterte dem Mann etwas zu, er warf dabei einen schnellen Seitenblick auf die Burschen. Er schlurfte in die Küche, setzte sich schwerfällig auf einen Stuhl, streckte sein Bein aus, es schien steif und unbeweglich zu sein. Aus der Nähe entpuppte sich seine gepflegte Erscheinung als Fassade. Seine wachen Augen lagen tief in den Höhlen, unter seinen Fingernägeln klaffte der Schmutz, sein Hemd war löchrig. Dennoch hatte er eine Ausstrahlung und Autorität, die auch die vielen Lagen Dreck nicht überdecken konnten. Und noch etwas fiel Fidus auf: Die Ähnlichkeit mit Max’ Großcousine. War es vielleicht gar nicht ihr Mann, sondern ihr Bruder?
Er goss sich ein Glas Wasser aus einem Krug ein und trank. Kurz war sein Schlucken das einzige Geräusch im Raum. »Was wollt ihr an der Westfront?«, fragte er schließlich, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
Arnulf war es, der von seinem Stuhl aufsprang. »Willst du für unser Heimatland, ein Opfer von uns haben, stehn wir zu dir mit Herz und Hand, wir Mädchen und wir Knaben«, posaunte er pflichtbeflissen, wie er es in Deutsch auswendig gelernt hatte. Heute wurde er obendrein kreativ und stellte noch ein einsames »Endsieg« bedeutungsschwanger in den Raum. Seine rechte Schulter zuckte. Er überlegte offensichtlich den Arm zum Hitlergruß zu heben, ließ es aber wahrscheinlich aufgrund der Lampe sein, die er dann zertrümmert hätte.
Für einen Außenstehenden klang er äußerst überzeugt. Fidus wusste es besser. Arnulf leierte im Grunde nur Parolen herunter, die er, wie alle anderen deutschen Kinder dieser Zeit, über viele Jahre gelernt hatte. In der Schule wurde ihnen unermüdlich eingehämmert, dass Deutschland der Nabel der Welt war, der reinrassige Deutsche das überlegenste der ganzen Menschentiere. Arnulf hatte mit Großreichen und Rassen aber nichts am Hut. Er mochte es, im Kunstunterricht Kriegsschiffe zu basteln. Und im Wald Bäume auszureißen. Am liebsten spielte er Fußball.
»Endsieg.« Der Mann sprach das Wort fast spöttisch aus und verfiel wieder in Schweigen. Ein Holzscheit knackte im Ofen. »Buben, habt ihr es noch nicht begriffen? Der Krieg ist verloren. Ihr seid Kanonenfutter.« Max’ Großcousine wandte sich erschrocken ab, doch der Mann sprach nur noch lauter: »Musst dich nicht wegdrehen, Rike! Könntest das Artilleriefeuer riechen, würdest du dich mal in den Wind stellen. Wirkt nicht, als würde das Deutsche Reich größer werden.«
Fidus stockte der Atem, er suchte den Blick von Arnulf, der wieder saß und derweil den Blick von Max suchte, der aber wiederum nur auf seinem Stuhl hin und her rutschte, und dabei den Blick von Fidus suchte. Und als sich schließlich ihre Blicke trafen, waren sie alle flüchtig, schüchtern, verwirrt. Auch der größte Patriot musste längst bemerkt haben, dass sich die Schlinge um den Hals des Landes zuzog. An Wunderwaffen glaubten nur noch die Verblendeten. Knisternde Volksempfänger sendeten schließlich in abgedunkelte Wohnstuben allerhand Informationen. Ungarn war weg, Polen besetzt, die letzten Hoffnungen auf eine Wendung im Kriegsverlauf in der Normandie und in Paris zerschlagen worden. Dennoch hatte es bislang niemand laut ausgesprochen, nicht einmal sie selbst: Die Tatsache nämlich, dass Deutschland den Krieg verlieren würde, den es angezettelt hatte. Nein, die Welt würde den Krieg verlieren. Was gab es zu gewinnen?
Fidus senkte den Kopf.
Der Tod, er hatte gut zu tun in diesen Tagen.
Mord. Gemetzel. Leid.
Überall.
Viel schlimmer als es sich jedes weiche Herz ausmalen konnte.
Um was ging es in diesem Krieg überhaupt?
So ganz genau?
Was ging Fidus dieser Krieg an?
Fidus wusste nicht, als er in der Dachwohnung saß, dass Hitler mittlerweile mit seiner Lichtgestalt vornehmlich den Führerbunker erhellte. Er wusste nicht einmal, dass die Russen die Ostfront niederwalzten und über die Weichsel setzten, also längst auf altdeutschem Boden waren und gen Berlin marschierten. Er wusste nicht, dass Kollaborateure, Kriegsverbrecher, Generäle, Scharfmacher und sogar Fahnenflüchtige ihren Kopf in einem Strick wiederfanden. Er wusste auch nicht, dass mit der Asche der Toten die Kohlfelder gedüngt wurden. Fidus wusste von Mord. Gemetzel. Leid. Zerstörung. Überall. Woher kam dieser Hass? Wie Fidus so dasaß, wusste er nämlich vor allem von seiner Liebe. Zu Vater, Mutter, Schwester. Klara. Es gab sie also. Liebe. Musste sie geben, sonst wäre die Welt am Ende.
»Geht heim, Buben«, sagte der Mann, stand auf und humpelte aus dem Raum. »Geht wieder heim.«
Als eine Ärztin auf uns zukam, unterbrach Fidus seine Erzählung. Er erhob sich schwerfällig. Die Frau war klein und zierlich und außerordentlich hübsch, mit dunklem Teint und langen dunklen Haaren. Sie trug eine Brille mit dünnem rotem Gestell und hätte auch Kunsthistorikerin sein können. Oder Fernsehmoderatorin.
»Herr Bergmann?«, fragte sie.
»Ja«, sagten Opa und ich aus einem Mund.
»Mein Name ist Judith Otto-Coşkun, ich habe Ihren Vater in den letzten Stunden behandelt – beziehungsweise Ihren Sohn?«, sie nickte kurz Opa Fidus zu, ich glaubte in ihren Augen ein zartes Funkeln von Hoffnung zu erkennen, einen Ausdruck von Gelassenheit, der nichts anderes als Entwarnung signalisierte. Sie sagte: »Er ist wieder bei Bewusstsein. Er hat einen Herzstillstand erlitten. Wir mussten ihn mehrmals reanimieren, aber er ist jetzt seit einer Stunde stabil. Seit einer Viertelstunde ist er wach und ansprechbar. Es ist alles soweit in Ordnung.«
Da war er, der Satz, den ich hören wollte. Der Satz, den mein Unterbewusstsein in den letzten Stunden in ritueller Dauerschleife heraufbeschworen hatte. Mir kamen die Tränen, Opa umfasste mich am Handgelenk und drückte zweimal fest zu. »Können wir zu ihm?«, fragte ich und legte Opa im Freudentaumel meinen Arm um die Schultern.
»Unbedingt«, sagte die Ärztin lächelnd.
»Darf ich mich nach der Laune meines Sohnes erkundigen?«, fragte Opa mit eigentümlicher Tonlage.
Ich legte die Stirn in Falten, verstand die Frage nullkommagarnicht, wie sollte es meinem Vater schon gehen? Er war natürlich müde, erschöpft, geplättet, aber froh, am Leben zu sein, was sonst? Erstaunlicherweise schien die Ärztin über die Frage – amüsiert? Kurz blitzte es in ihren Augen, ihre Mundwinkel zuckten. »Bedingt gut«, antwortete sie, »aber darüber sprechen wir vielleicht auf dem Weg zur Intensivstation.«
Opa nickte. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm«, sagte er, schmatzte einmal laut mit den Lippen und blickte mich an. »Wann, hast du noch einmal gesagt, kommt deine Freundin zu Besuch?«
»Nächste Woche, warum?«, fragte ich und wurde ungeduldig. »Auf, Opa, die Ärztin wartet.«
Doch Opa verharrte an Ort und Stelle. »Kommt sie denn Ende oder Anfang nächster Woche?«, fragte er.
»Anfang? Ist das jetzt wirklich wichtig?«
»Das wird knapp«, sagte Opa und zwinkerte.
Ich verstand kein Wort. »Knapp? Was meinst du mit knapp?«
Opa klopfte mir auf die Schulter. »Geh du mal, die Ärztin wartet schon«, sagte er und hob seine Tüte vom Boden auf.
»Kommst du nicht mit?«
Opa schüttelte mit weit aufgerissenen Augen den Kopf, als sei schon die Frage absurd. »Ich besuche Alfred besser morgen oder vielleicht übermorgen. Ich will nicht riskieren, dass er gleich noch einen Herzstillstand erleidet«, entgegnete er.
»Wie kommst du heim?«, fragte ich.
»Lass das mal ruhig meine Sorge sein«, antwortete Opa bemüht fröhlich und voll gespieltem Elan, dass jeder merken musste, dass hier Kampf und eiserner Wille, keine Schwäche zu zeigen, im Spiel waren. Opa zwinkerte schon wieder. Er zuckte die Schultern und machte eine abtuende Handbewegung.
»Nimmst du den Bus? Oder ein Taxi?«, fragte ich.
»Bus … Ein Taxi ist eine gute Idee.«
»Sie können aber gerne beide mitkommen«, platzte die Ärztin hervor. »Ist kein Problem. Sie sind Familie.«
»Nein, nein«, seufzte Opa, »mein Sohn und ich haben … So ist es besser.«
Er wandte sich zum Gehen, machte dann aber noch einmal halt und drehte sich zu mir um. Aus der Tüte, die er mitgebracht hatte, zog er ein hellbraunes Päckchen, es schien ein Buch zu sein, dick mit Kordel verschnürt. »Wärst du so lieb und würdest deinem Vater das von mir geben?«, fragte Opa. Ich nickte und nahm das Päckchen an mich. »Und nimm es ihm gleich nicht übel, Alo«, fügte Opa hinzu.
Doch noch bevor ich nachhaken konnte, was er meinte, hatte Opa sich schon umgedreht und ging steifbeinig den Gang hinunter, als wäre seine Hüfte vom vielen Sitzen steif geworden. Jeder Schritt kostete ihn Kraft. Das sah man. Seltsamerweise hielt er neben einer Mülltonne an und stopfte die Tüte hinein, dabei schienen darin eine Menge Gegenstände zu sein. Auch das sah man. Dann bog er ums Eck und war verschwunden.
»Geben Sie mir bitte noch eine Minute«, sagte ich zur Ärztin, und weil ich wusste, dass das genau die Bitte war, die man einer Ärztin nur schwer abverlangen konnte, fügte ich an: »Mein Opa ist über neunzig.«
Die Frau nickte duldsam. Ich durchmaß mit fünf großen Schritten den Flur, schlenkerte dabei übertrieben mit den Armen, als sei ich der Leiter eines Aerobic-Kurses. Opa war bereits im Windfang. Zielstrebig ging er auf ein Taxi zu. Er beugte sich zum geöffneten Fahrerfenster und stieg danach ein. Ich stand neben der Mülltonne, ich weiß nicht warum, ich zog die Tüte hervor. Darin waren Malutensilien. Mehrere Pinsel, ein Farbkasten. Einige Plastikbecher mit Farbresten. Ich runzelte die Stirn, stopfte alles zurück. Man musste ja nicht alles verstehen.
»Haben Sie schon einmal von Koprolalie gehört?«, fragte die Ärztin, als ich zurückkam, drehte sich im Wort um und ging voraus.
Auch wenn mich die Ärztin darauf vorbereitet hatte, stand ich neben mir, wenn das überhaupt noch ging. Wir betraten das Krankenzimmer. Überall standen Monitore und Ständer mit Zeug dran. Ein Bild, das ich bislang nur vom kurzzeitigen Zappen in Arztserien oder aus Filmen kannte. Nichts piepte, aber in allen Winkeln blinkten Geräte. Kleine und große Leuchten, Bildschirme mit Zacken und Zahlen. War ich jemals in einem Krankenzimmer gewesen? Eine Schwester machte sich an einem Schubfach zu schaffen. Papa saß in seinem Bett, aufrecht, blass – und mit Zornesfalten zwischen den Augen. Er blickte mich kurz an, schien mich aber nicht zu erkennen. Er zupfte an den Kabeln, die von einer Maschine – ein Gerät zur Messung der Herzfrequenz? – zu seiner Brust führten.
»Machen Sie die beschissenen Kabel ab«, zeterte er. »Los, auf der Stelle, Herrschaftszeiten!«
»Die lassen wir besser dran, Herr Bergmann«, antwortete die Schwester in ruhigem Ton.
»Ich hatte es Ihnen schon erklärt, Herr Bergmann«, schaltete sich die Ärztin ein und ging auf das Bett zu, »Ihr Herz hatte mehrfach einen Aussetzer. Wir sollten die Pads noch eine Weile dran lassen, wir wollen ja wissen wie es Ihnen geht, ist das für Sie in Ordnung?«
»Nein, ist es nicht!«
»Wir sollten es trotzdem dran lassen.«
Mein Vater starrte die Frau kurz an. »Miststück!«, sagte er grimmig.
»Papa«, sagte ich fassungslos, immer noch an der Tür.
»Ihr Sohn ist hier«, antwortete die Ärztin seelenruhig.
»Glauben Sie, ich erkenne meinen Sohn nicht. Blöde Kuh!«
»Papa!«, rief ich entgeistert, sah zur Schwester, dann zur Ärztin, versuchte mich an einem weltmännischen Großstadtlachen, das man sonst nur brauchte, wenn man zum dritten Mal hintereinander einem Mitmenschen in der U-Bahn auf den Fuß latscht und keine Entschuldigung die Peinlichkeit noch überspielen könnte.
Da saß er. Mein Vater. Der stillste, höflichste und ausgeglichenste Mensch der Welt, von dessen Lippen ich niemals auch nur den Hauch eines Fluchs gehört hatte. Kein Scheiße, kein Kacke, nicht einmal an ein harmloses Mist konnte ich mich erinnern. Wenn er sich den Kopf stieß oder mit dem Zeh gegen die Kommode rannte – Situationen also, in denen jeder Shaolin-Mönch alle irdischen und kosmischen Mächte im Universum verfluchte – dann bellte er bestenfalls ein Menschenskind! Oder So was aber auch! Stress kompensierte mein Vater mit Gartenarbeit und Spazierengehen. Oder er las ein Magazin. Und jetzt war er von den Toten zurückgekehrt und fluchte wie ein Rohrspatz, ach was, Rohrspatz, er fluchte wie ein Aasgeier. Wie nannte das die Ärztin? Koprolalie? Ich hatte eher den Eindruck, ein Dämon hatte auf der anderen Seite von ihm Besitz ergriffen. Ich wollte mich gerade erkundigen, ob die Krankenhausseelsorge zufällig in Exorzismen bewandert war, da sah ich ihn Luft holen.
»Du – dumme – Fo…«, brüllte er los.
»Reiß dich zusammen!«, kläffte ich dazwischen.
Papa blickte mich entgeistert an, als verstünde er kein Wort von dem, was ich sagte, als redete ich fiesestes Kauderwelsch oder gab hier im Krankenzimmer die komplett überarbeitete Neuauflage von Babel in einer Uraufführung zum Besten. Er hob seine Hand, schaute sie dann aber verwirrt an, als wüsste er nicht, ob er sie zu einer Faust ballen sollte, um mir zu drohen, oder ob er den Zeigefinger ausfahren sollte, um sich an die Stirn zu tippen. Er zögerte, fuhr den Finger dann sogar wirklich aus, richtete ihn aber spitz drohend auf mich. Seine Miene verdüsterte sich, und dabei stand eine panische Hilflosigkeit in seinen Augen. Er versuchte etwas niederzukämpfen, das aber plötzlich wieder die Oberhand bekam. »Du sagst mir nicht, was ich zu tun habe, Bürschchen! Wollen mich umbringen! Verdammte Kurpfuscher!«, brach es aus ihm heraus, presste sich plötzlich die Faust auf den Mund. Er stieß auf, schmatzte einmal angewidert und sagte: »Sch-Schnitzel ge-ge-gessen.«
Die Ärztin wandte sich mir wieder zu und sagte etwas leiser. »Stimmt es, dass er heute Abend Schnitzel gegessen hat?«
Ich nickte. »Ja.«
»Prima«, die Ärztin lächelte mich aufmunternd an, »er kann sich gut an die Geschehnisse vor seinem Herztod erinnern. Das ist ein gutes Zeichen.«
Ich entschloss, keine Diskussion über den Zusammenhang von Rülpsen nach und Erinnerungen vor Wiederbelebung zu beginnen. »Klasse«, murmelte ich – überfordert von allem.
Die Ärztin bemerkte meinen Tonfall, sie suchte meinen Blick. »Ich habe viele solcher Fälle, Herr Bergmann, Ihr Vater hat ein Herz wie ein Ochse, machen Sie sich nicht zu viele Sorgen. Da passiert erst einmal nichts mehr.«
»Wann gibt es in dem Scheißladen was zu essen?«
Ich schluckte. »Es tut mir wirklich leid«, sagte ich, »ich kann mich für meinen Vater nur entschuldigen. Und Sie sagen, dass das – normal ist?«
»Normal ist nach so einem Vorfall nichts«, antwortete die Ärztin und schob ihre Brille zurecht. »Bei so einer langen und mehrmaligen Reanimation kann man nie sagen, welche Areale im Hirn ausreichend mit Sauerstoff versorgt wurden und welche nicht. Da gibt es die eigentümlichsten Erscheinungen. Manche Menschen schlafen tagelang nach einer Nahtoderfahrung, andere zählen unaufhörlich oder sind tagelang in einer bestimmten Episode ihres Lebens regelrecht gefangen. Sie erzählen dann ausschließlich von ihrer Grundschulzeit oder sogar von Erlebnissen im Kleinkindalter. Wie Sie das selbst merken, scheint ihr Vater einen Hang zum Fluchen zu haben. Auch dieses Symptom wurde schon dokumentiert.«
»Mein Vater hat noch nie geflucht«, entgegnete ich.
Die Ärztin lächelte. »Vielleicht wurde es Zeit.«
»Komm wir gehen, Alo«, sagte mein Vater. Ich sah ihn hoffnungsfroh an. Es war der erste normale Satz, den ich von ihm hörte, seit ich das Zimmer betreten hatte. Außerdem sagte er meinen Namen. Dann verdüsterte sich seine Miene, hatte Anflüge von Jähzorn, von Wahnsinn, von – ich wusste auch nicht was, von »Nicht-mein-Vater« jedenfalls. »Nichts zum Anziehen!«, knirschte er, »die Quacksalber haben mein Hemd zerrissen!«
Ich seufzte, rieb mir die Augen, die ganz trocken waren und brannten. Es pochte hinter meiner Stirn. Opa Fidus’ Stimme hallte plötzlich in mir nach: Das wird knapp –