Jogginghosen-Henry - Hannes Finkbeiner - E-Book

Jogginghosen-Henry E-Book

Hannes Finkbeiner

4,6
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Jogginghosen-Henry und der ewige Krach des Lebens

Henry wollte natürlich schon immer seiner Traumfrau begegnen, aber ausgerechnet jetzt? Frühmorgens nach einer durchzechten Nacht, auf dem Campingplatz eines Metalfestivals? Ehe er begreift, was gerade passiert, ist die schöne Unbekannte wieder im Gewimmel verschwunden. Henrys Freunde Gabriel, Felix und Evil Enrico erkennen den Ernst der Lage und stellen umgehend eine Suchmannschaft auf die Beine. Was sie nicht ahnen: Das Wochenende hält noch einiges mehr bereit, das nicht auf dem Plan stand, und wird das Leben der Freunde mächtig durcheinanderbringen. Glück, Liebe und Tod sind im Leben eben auch nur Zeltnachbarn.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 402

Bewertungen
4,6 (22 Bewertungen)
14
8
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Henry wollte natürlich schon immer seiner Traumfrau begegnen, aber ausgerechnet jetzt? Frühmorgens nach einer durchzechten Nacht, auf dem Campingplatz eines Metalfestivals? Ehe er begreift, was gerade passiert, ist die schöne Unbekannte wieder im Gewimmel verschwunden. Henrys Freunde Gabriel, Felix und Evil Enrico erkennen den Ernst der Lage und stellen umgehend eine Suchmannschaft auf die Beine. Was sie nicht ahnen: Das Wochenende hält noch einiges mehr bereit, das nicht auf dem Plan stand. Glück, Liebe und Tod sind im Leben eben auch nur Zeltnachbarn.

Der Autor

Hannes Finkbeiner, geboren 1977 in Freudenstadt im Nordschwarzwald, absolvierte eine Ausbildung zum Restaurantfachmann und arbeitete mehrere Jahre als Bankett- und Restaurantleiter. In Hannover studierte er Journalistik, wo er mittlerweile auch als Dozent tätig ist. Neben seiner Haupttätigkeit als freier Autor und Journalist – er schrieb u.a. für die FAZ, Spiegel Online oder die Stuttgarter Zeitung – arbeitet er als Hoteltester.

www.hannes-finkbeiner.de

HANNES FINKBEINER

JOGGING

HOSEN

HENRY

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2016 by Hannes Finkbeiner

Copyright © 2016 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

In der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Printed in Germany

Redaktion: Heiko Arntz

Umschlaggestaltung: Ingo Fischer, Dortmund

Satz: Sabrina Hack

ISBN 978-3-453-41868-4V002

www.heyne.de

prolog

Ich werfe die Kellertür ins Schloss, schmettere sie regelrecht zu, in der Hoffnung, dass der jämmerliche Knall durch die Decke dringt und das künstliche Kniegelenk ­meines Vaters zum Scheppern bringt. Er steht wahrscheinlich noch am selben Platz wie eben, im Wohnz­immer, erstarrt neben dem Ohrensessel, die Stirn sorgenvoll in Falten gelegt, die Brille in der Hand, ewige Ölreste unter seinen Fingernägeln.

Sein Gesichtsausdruck ist ernst, gelächelt wird in ­diesem Haushalt nämlich nur noch auf der Mattscheibe nach zwanzig Uhr fünfzehn. Schunkeln. Klatschen. Lächeln. Für den Tatort fehlen ihm mittlerweile die Nerven, woran ich a­ngeblich nicht unbeteiligt bin. Und bei Volksmusik könne er einfach besser abschalten. Das sagt er zumindest. Mein Vater. Der liebenswerteste und gütigste Mensch auf der ganzen Welt. Das meine ich ehrlich.

Wütend lasse ich mich auf mein purpurrotes Sofa fallen, die Federn und die Holzverstrebungen knirschen, der Polsterbezug ist rissig. Die Eichen-Einbaumöbel sind speckig, die ausgeblichene Tapete ist dick wie in einer Gummizelle und hat obendrein ein Muster: orangefarbene Kringel. Der dunkelbraune Teppich ist noch viel dicker als die Tapete – ernsthaft, ein Marsch ins Badezimmer gleicht hier unten einer Wattwanderung.

Es war Ende des Jahrtausends, als ich meine Umzugskisten aus dem einen Keller in den anderen Keller trug, ­sozusagen vom alten ins neue Untergeschoss meines D­aseins schleppte. Das geschah nur wenige Wochen nach dem Matschbad, als der alte Herr von heute auf morgen entschied, alles hinter sich zu lassen: Er wollte umziehen, einfach so zurückkehren, in sein Geburtshaus, halten Sie sich fest, aufgepasst: nach Sorge bei Elend!

Kein Witz, die Orte heißen wirklich so.

Keine Ahnung, wie das alles passieren konnte.

Oder doch, eigentlich weiß ich es schon, das ist ja das Schlimme.

Seufzend drücke ich den Knopf. Der Ventilator des Notebooks rattert, es hört sich an, als ob das alte Ding beim Hochfahren nach Luft schnappt. Der Bildschirm erwacht zum Leben, wirft mir einen rechteckigen Tunnel aus ­mattem Licht in den schummrigen Keller, und ich ­möchte hineinkriechen, kopfüber, auf allen vieren, sofort hineinkriechen, drin abtauchen, wie fast jeden Abend in den ­letzten ­Wochen.

Zuerst muss ich allerdings noch meine Endstufe anschalten und Musik auflegen, um ein bisschen feierliche Stimmung zu schaffen und so. Bei dieser Gelegenheit kippe ich die Kartoffelchips in den Abfalleimer. Sie stehen schon seit Tagen auf dem Beistelltisch und fühlen sich im Mund wie feuchte Pappe an. Ich ziehe die Schallplatte achtsam aus der Schutzhülle und docke sie auf dem Plattenspieler an.

Ich weiß, ich weiß, Schallplatten sind unhandlich, sie sind überholt und empfindlich und sperrig und teuer, stimmt alles – aber vor allem sind Schallplatten auch einfach wundervoll und, mal ganz sachlich: Die Scheiben ­bieten im tieferen Frequenzbereich mehr Spielraum, was jetzt nicht nur bei meinem Musikgeschmack von Vorteil ist, sie ­haben schlicht und ergreifend ein breiteres Klangspektrum als CDs oder gar dieses seelenlose Unding namens Musikdatei, das manche gefühlskalte Frevler mittlerweile in Zusammenhang mit der Zukunft erwähnen. Pah!

Es knackt, als die Diamantnadel auf das Vinyl aufsetzt. Ich schließe die Augen. Es ist pure Energie, als das Donnergrollen über mich hereinbricht und den Raum erfüllt. Und es ist magisch, denn schon das erste knallharte Riff reißt die Tür meiner Erinnerung auf, obwohl es schon über drei Jahre her ist, einen Tag vor der Abfahrt, der großen Abfahrt.

Ich lag damals auf dem Sofa, exakt auf diesem Sofa, nur eben in einem anderen Keller. Ich hatte längst Feierabend, döste vor mich hin, der Rucksack war gepackt, das Auto vollgetankt, und ich hing noch ein wenig meinen Gedanken nach, entspannte mich, machte ein Nickerchen zu ­einem der machtvollsten Alben auf diesem Planeten, River Runs Red von Life of Agony, als plötzlich die Tür aufflog.

Es war Schalter-Felix, und anstatt die Lautstärke zu ­drosseln, versuchte er wie ein Irrer gegen Keith ­Caputos Blecheimerstimme anzubrüllen: »GESPENdeT! ? DiE – ­gAnze – verschIssene – KOhle!«, kreischte er und ­stampfte dabei wie ein Kleinkind mit den Füßen auf, seine ­Stimme kratzte an der Wand aus stahlharter Akustik, die die ­Gitarrenriffs von Joey Z. in meiner Bude hochzogen, »bist duUu vOllkommen behääÄmmErt? Wir hättEn in ­eIneM ­vergOldeten WOhnwagen zUm verfiCkten FestivAl ­fahreN köNnen!«

Immer wieder nahmen ihm Buchstaben Reißaus, ­wankten im Zickzackkurs die Oktavenpromenade seiner Stimme auf und ab. Ein eindeutiges Indiz dafür, dass er nach seinem Mittwochtraining im Sportheim mal wieder am einen oder anderen Bier genuckelt hatte.

Ich wollte etwas erwidern, da verstummte er plötzlich, zeigte mit dem Finger auf mich, zitternd, völlig fertig, als ob er noch etwas Sinnbehaftetes nachschieben wollte, aber in seinen Augen lag die totale Ratlosigkeit. Irgendwie wusste ich ja schon bei der Überweisung, dass er es sehen würde, er spionierte uns immer aus – scheiße Mann, war ja nicht sein Geld!

Seine Schultern wanderten eine Etage tiefer. »BiS! ­MOrgen! Du! ALiEn!«, rief er, machte das Fenster auf, kletterte durch den Lichtschacht in den Garten und verschwand in der Nacht.

Also, bis morgen!

Obwohl.

Apropos Alien …

erster teil

You can walk a million miles and get nowhere

Soundgarden, Been Away Too Long

eins

Lehrer habe ich immer als Wesen aus einer anderen Welt empfunden, als Außerirdische – nicht unbedingt böswillig, das nicht, aber sie kommunizierten in einer Sprache, die mir fremd und unverständlich war.

Das war auch meine einzige Hoffnung, als ich mit ­meinen Eltern zu meinem Klassenlehrer Norbert Steckler zitiert wurde. Doch es kam, wie es kommen musste: keine intergalaktische Sprachbarriere. Meine Eltern ­verstanden jedes Wort, zumindest ließ der angespannte Gesichts­ausdruck meines Vaters darauf schließen. Und zugegeben, auch ich hatte das Gefühl, dass diese gehässige Kreatur plötzlich menschliche Laute verwendete.

Ich war zehn. Meine Beine baumelten vom Stuhl, ­meine Fußspitzen bohrten sich in den braun-grün gefleckten Linoleumboden. Die Hände im Schoß vergraben, saß ich vor dem Pult, kreidebleich, mit klopfendem Herz. Mutter links, Vater rechts. Das Klassenzimmer war düster und leer, was schon gespenstisch genug war, doch zu allem Überfluss stürmte es draußen heftig. Die Wolken waren schwarz, nicht grau, schwarz. Irgendwo, tief im Bauch des Schulgebäudes, fiel mit einem dumpfen Knall eine Tür ins Schloss – ich sag es Ihnen, so fangen eigentlich Horror­filme an!

»Sehen Sie«, sagte Steckler, seine Stimme hallte wie in ­einer kalten Kathedrale, »Heinrich hat Probleme, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Er ist ein Träumer.«

»Ist ein bisschen Fantasie nicht gesund?«, hakte meine Mutter ein.

Steckler nickte langsam. »Ja. Sicherlich. Ein bisschen.« Er seufzte. Seine Sätze waren gespickt mit bedeutungsschwangeren Pausen, was seinen Ausführungen eine unerträgliche Dramatik verlieh. »Sicherlich. Sicherlich. Aber Heinrichs Verhalten grenzt, wenn ich das so sagen darf, an Apathie.«

»Was bedeutet das?«, fragte mein Vater unverblümt.

Ein herablassendes Lächeln umspielte Stecklers Lippen. »Er ist oft teilnahmslos. Sie verstehen, abwesend und desinteressiert. Manchmal ist er dann im Gegenzug geradezu übertrieben euphorisch. Aber nur wenn er sich für etwas wirklich begeistern kann.«

Mutter: »Aber das ist doch etwas Gutes, oder nicht?«

Steckler schüttelte den Kopf. »Leider nein, Frau Pander, denn wenn Heinrich für etwas Feuer gefangen hat, ist er einfach nicht mehr zu bremsen.«

Dann zog er den Aufsatz aus seiner Mappe. Bis zu ­diesem Zeitpunkt hatte ich das Tribunal erstaunlich gefasst über mich ergehen lassen. Doch jetzt wollte ich nur noch aufspringen und fluchtartig den Raum verlassen. Stattdessen … Na ja, ich bin ein wenig nah am Wasser gebaut. Ich ertrage vieles, aber Ungerechtigkeit treibt mir unwillkürlich die Tränen in die Augen, auch heute noch. Ich sah erschrocken den Aufsatz, starrte flugs auf den Boden. Ich krallte meine gefalteten Hände so fest ineinander, dass sie ganz weiß wurden. Mein Kinn kräuselte sich. Ich kämpfte dagegen an. Diese Blöße wollte ich mir nicht geben: Heulen war etwas für Zeichentrickfiguren. Und Mädchen.

»Hat er Ihnen nichts davon erzählt?«

Wahrscheinlich zuckten meine Eltern mit den Schultern oder schüttelten den Kopf, ich konnte es ja nicht sehen, ich blickte weiterhin starr auf den Boden. Im Augenwinkel sah ich die Bewegung des Arms. Ich wusste, dass jetzt alles aus war.

Die Hand meiner Mutter war warm und sanft, als sie begann, mir den Rücken zu streicheln. In diesem Moment schossen mir die Tränen waagrecht hervor.

»Na, na, wer wird denn gleich weinen«, sagte Steckler und bleckte dabei die Zähne.

»Aber … sie brechen … am Ende … ein … «, schluchzte ich mit gesenktem Kopf. Ich traute mich nicht, das ­Scheusal hinter dem Pult anzusehen.

»Was meinst du?«, fragte meine Mutter und zog mich näher an sich.

»Ein … noch mal brechen sie ein … am Ende. Zweimal.«

»Es ist sein Aufsatz«, sagte Steckler nüchtern und tippte auf das Heft, »eine Gruppe Jugendlicher bricht durch den Erdboden und stürzt in eine unterirdische Höhle hinab. Wirres Zeug. Am Ende schaffen sie es zurück an die Oberfläche. Auf dem Nachhauseweg brechen sie dann erneut in eine Höhle ein. So endet die Geschichte.«

Die Aufgabe der Klassenarbeit war gewesen, in zwei Schulstunden eine zweiseitige Erzählung zu verfassen. Fünf Seiten schrieb ich. Ich leistete Übermenschliches. Beim Wechseln meiner Tintenpatrone verlor ich fast die Nerven. Und meine Finger taten weh, das kann ich Ihnen sagen! Doch schon während des Schreibens wusste ich, dass ich im Begriff war, Großes zu vollbringen.

So wunderte es mich auch nicht, als in der Woche ­darauf mein Aufsatz mit dem Tageslichtprojektor an die Wand ­geworfen wurde. Stolz saß ich auf meinem Platz, bereit für den tosenden Applaus, das Bad in der Menschenmenge, bereit, den Lorbeerkranz zu empfangen.

Ich war etwas irritiert, als Steckler die Frage in den Raum stellte, was an diesem Aufsatz nicht stimme. Zweiundzwanzig Schüler, stumpf wie Hühner, starrten an die Wand. Rumrutschen auf Holzstühlen. Ein Furz, irgendwo. Gekicher. Danach: Stille im Raum. Vielleicht verstrichen nur Sekunden, mir kam es wie eine Ewigkeit vor.

Bis diese Schnepfe Chantal die Hand hob, mit Fingerschnalzen, halb hysterisch vor Ungeduld: »Da fehlen die Punkte und Kommas!«

»Gut, Chantal, genau. Die Satzzeichen fehlen.«

Nun, was soll ich dazu sagen?

Ich war von meiner Geschichte so gefesselt gewesen, dass ich die Interpunktion komplett vergessen hatte. Kein Punkt, kein Komma, auf fünf Seiten. Und nur ein einziges Ausrufezeichen. Am Ende.

Keine Frage, ein berechtigter Kritikpunkt von Steckler, aber musste man mich deswegen vor der ganzen Klasse vorführen? Die Eltern zu einem Gespräch zitieren? Man hätte wenigstens den Handlungsverlauf der Geschichte ­positiv erwähnen können, den kreativen Schluss. Ich meine, solange die Story spannend ist, ist doch alles halb so wild!

Ach, wenn ich doch zu diesem Gespräch zurückreisen könnte, mit dem Wissen und Selbstvertrauen, das ich ­heute habe! Ich würde mit einem Ruck aufstehen und zuerst das Licht anknipsen, in meiner Erinnerung ist es in dem scheiß Klassenzimmer nämlich düster wie in einer Gruft.

»Herr Steckler, kennen Sie John Michael Osbourne ­alias Ozzy Osbourne?«, würde ich mein Plädoyer ­eröffnen und meiner Mutter die Hand auf die Schulter legen. »Sehen Sie, dieser arme Mann litt an der chronischen Aufmerksamkeits­störung ADS und zu allem Übel auch noch an ­Dyslexie. Wissen Sie was das ist? Nun, John ­konnte nicht richtig ­lesen und nicht richtig schreiben. Mit fünfzehn ­Jahren ­verließ er die Schule. Und was hat dieser Mann ­getan? Wissen Sie es? Mit seiner Band Black Sabbath hat er nicht nur den ­Heavy Metal erfunden, nein, Herr ­Steckler, mit vier weiteren Schallplatten legte er den Grundstein zu Gothic, Doom und Black Metal, bevor er mit seiner Solokarriere durchstartete. Dieser Mann wurde zu einer ­lebenden ­Legende.«

Damals passierte natürlich nichts dergleichen. Ich saß auf meinem Stuhl. Mucksmäuschenstill, gelegentlich schniefend. Ich hörte nicht mehr zu, was im weiteren Verlauf gesprochen wurde. Plötzlich donnerte es draußen so laut, dass die Fenster wackelten und die ganze Runde kurz in kollektives Schreckensgelächter verfiel. Außer mir ­natürlich. Mir war das Lachen längst vergangen. Ich ­konzentrierte mich auf die Hand meiner Mutter, die mittlerweile meinen Oberarm umfasste. Spürte ihren Daumen, der sich hoch und runter bewegte. Hoch und runter …

Wöchentliche Nachhilfestunden in Deutsch waren die Folge. Jeden Mittwoch musste ich mit dem Bus nach ­Goslar in die Einzimmerwohnung eines jungen Lehramtsanwärters fahren. Ein schauriger Typ. Pummelig, Knubbelnase, Lockenkopf. Seine Ohren waren zu groß, seine Finger schlank und lang. Das Schlimmste war jedoch sein heftiger Silberblick, wenn er beim Erklären ungeduldig wurde: Eine Iris verfing sich dann links unten in seinem Auge, starr und steif, während die andere rechts oben nervös zuckte – er war ein Mensch, gefangen zwischen Stofftier und Monster. Warum ich Ihnen das alles erzähle?

Na ja, das Leben ist eigenartig, und ich frage mich oft, wie wäre wohl alles verlaufen, wenn ich den Aufsatz nicht geschrieben hätte, wenn damals nicht die Weiche in eine andere Richtung gestellt worden wäre? Denn es ist nun einmal so: Wäre ich damals nicht zur Nachhilfe gegangen, wäre einerseits niemals die Geschichte an der Bus­halte­stelle beziehungsweise in der Autowerkstatt passiert. ­Andererseits hätte ich nie das Magazin bekommen und diese innere Stimme gehört – den Ruf des Hardbeat-Festivals­. Und vielleicht hätte ich auch niemals die schönste Sache auf der Welt entdeckt: Heavy Metal.

zwei

Als ich an dem Augustmorgen in der Garage nach Gaskartuschen kramte, schlitterte Grabriel in die Auffahrt, nur eine Hand am Lenker. Sein Fahrrad war über und über behangen mit seiner Ausrüstung fürs Wochenende. Das Zelt hatte er zu einem Knäuel gewickelt und unter ­seinen rechten Arm geklemmt. Bis zum Bremsvorgang hatte ­dieses System offensichtlich funktioniert, dann verlor er die Kontrolle. Kreischend warf er das Zelt in den Hof, manö­vrierte noch haarscharf an meinem Auto vorbei, das mit aufgeklapptem Kofferraum in der Auffahrt parkte, und krachte in unsere Mülltonnen. Sechs Kilometer war er unfall­frei geradelt, um kurz vor dem Ziel zu stürzen. Dabei hätte ich ihn auch abgeholt, er hätte nur was sagen müssen. Mein bester Freund. Grabriel.

Der Name ist übrigens kein Schreibfehler. Vielleicht für alle Stadtbewohner ein kurzes Wort zu Spitznamens­gebung auf dem Land. Menschen in provinziellen ­Gegenden haben es sich zur Gewohnheit gemacht, charakteristische Merkmale ihrer Mitbürger kunstvoll in deren Namen zu integrieren, manchmal mit einer erheblichen Kreativ­leistung. Die jeweilige Person wird dann ihren Spitznamen den Rest ihres Lebens nicht mehr los. Das Ding haftet an und wird manchmal sogar an die Kinder weitergegeben – nicht zwangsläufig ein würdevolles Erbe.

Wenn Sie sich beispielsweise in jungen Jahren erdreisten, in ein exotisches Land zu reisen, dann kann es durchaus sein, dass Sie braun gebrannt, satt von neuen Eindrücken, also glücklich und erholt, zurückkommen, dafür aber den Rest Ihres Lebens Bangkok-Müller oder Karibik-Kalle heißen. Oder sind Sie Fachverkäuferin in einer ­Bäckerei? Dann werden Sie schnell zu Mehlanie. Sie studieren Psycho­logie? Herzlichen Glückwunsch, Sie heißen von nun an Thera-Pia! Eine Planierraupe reißt Ihnen das linke Bein ab? Schwupps heißen Sie Humpel-Schorsch, Raubein oder Stinkstiefel. So ist das auf dem Land. Ein herzallerliebstes Völkchen.

Bei Grabriel war es nun so, dass er den Tod in die ­Wiege gelegt bekam, er war nämlich der hochwohlgeborene Sohn der Hanser-Bestattungs GmbH Memoria. Meine Mutter, eine Floristin, unterhielt eine kameradschaftliche Geschäftsbeziehung zu Grabriels Eltern, die gerne und oft Blumenarrangements bei ihr bestellten. Wenn sie den Ausstellungs­raum im Institut für eine Abschiednahme herrichtete, nahm sie mich oft mit. So wurden Grabriel und ich miteinander verbandelt, noch bevor wir in den­selben Kindergarten kamen.

Später machte er eine Ausbildung zur Bestattungs­fachkraft und stellte auch in seiner Freizeit eine gewisse Vorliebe zum Thema Tod freimütig zur Schau: Er trug ausschließlich schwarze Kleidung, hatte pechschwarze Haare und war stets blass, auch schon bevor er anfing, sich zu schminken. Er war von zarter Statur, fast anmutig, aber hatte eine Kraft in den Armen und Händen, die man bei einem Bauarbeiter vermutet hätte. Sein Musikgeschmack: Gothic und Doom. Eine Vorliebe, die ich nie wirklich ­geteilt habe, allerdings hatten wir bei Paradise Lost, Sisters of Mercy oder Type O Negative erhebliche Schnittmengen, und darauf konzentrierten wir uns.

Es war also August. Hochsommer. Der Himmel war streifenfrei poliert, kein Wölkchen verschmierte das ebenmäßige Blau. Die Sonne wirkte wie aufgestempelt. Ich erinnere mich noch an den glitzernden Tau, der von den akkurat gestutzten Ginsterbüschen im Garten perlte und den Lärm von hysterischem Vogelgezwitscher zwischen den Ästen des Kirschbaums. Nachbarin Buchinger wischte die Fenster, ihr werter Gatte stand auf einer Leiter, besserte die geschindelte Hauswand mit Farbe aus. Der Briefträger benutzte für einen kurzen Anschlag seine Hupe, als er mit dem Postauto vorüberfuhr und seinen Skatpartner mit ­erhobenem Arm aus dem Seitenfenster grüßte. Die Kinder der Brüns streckten mit Gänsehaut an den Schenkeln ihre Zehen in das aufblasbare Planschbecken in ihrem Garten. Der alte Giesbert besprühte seine Rosenbüsche und äugte skeptisch zu uns herüber.

Grabriel warf den ersten Schuh quer über die Auffahrt, er schlug nur knapp neben der Endstufe in meinem Koffer­raum ein. Ich blickte ihn böse an und sammelte das ­Gestänge und die Heringe ein, die er mit Heidenlärm auf die Pflastersteine geworfen hatte. Eine Wasserflasche ­kullerte über den Hof in Richtung Straße. Grabriel strich sich mit der Zunge über die Lippen – das machte er immer, wenn er nach den richtigen Worten suchte –, und in diesem Moment fackelte der klägliche Rest des Vorabends wie eine Schmierenkomödie vor meinen Augen ab: Felix, der nichts als eine frische Brise in meiner Kellerwohnung hinter­lassen hatte; Felix, der eine flexible Definition von Diskre­tion besaß; Felix, der an Grabriels Tür hämmerte und ihm ­alles brühwarm erzählte, weil ihm sonst wahrscheinlich das Hirn explodiert wäre: Gespendet! Ja, gespendet! Die – ­ganze – verschissene – Kohle!

»Ich verstehe nicht so richtig warum, Henry«, begann Grabriel mit weicher Stimme, vorsichtig, wie es seine Art war, »eigentlich … ich meine, du hättest es doch sparen können.« Dabei versuchte er erfolglos, den zweiten Schuh vom Lenker zu knoten, warf dann stattdessen die Zahnbürste und Socken aus der Trinkhalterung in den Kofferraum.

Warum. Als ob ich mir diese Frage nicht hundert­achtzig schlaflose Nächte selbst gestellt hätte. Doch noch bevor ich antworten konnte, stand Schalter-Felix neben uns in der Auffahrt. »Weil Henry ein beknackter Hohlraumdübel ist!«, fauchte er.

Felix stammte aus einer Bankerfamilie, die Beutstedts – also, jetzt nicht falsch verstehen, ihnen gehörte keine Bank. Felix’ Mutter hatte einst eine Banklehre in der Filiale gemacht, in der Felix’ Vater, der im Umkreis den Ruf eines Bonvivants und Schürzenjägers genoss, der Leiter war. So lernten sich seine Eltern kennen. Kaum war die junge Frau volljährig, begann er sie zu umwerben. Es folgten eine Schwangerschaft und ein Heiratsantrag, die genaue Reihen­folge ist nicht eindeutig geklärt. Felix wurde geboren und trat nach dem Schulabschluss in die Fußstapfen seiner Eltern: Bankkaufmann. So wurde er zum Schalter-Felix, obwohl sich sein Spitzname im Alltag nie wirklich durchsetzte.

Ich holte meine Tasse Kaffee aus der Garage, trank ­einen Schluck und stellte sie auf das Autodach. Obwohl ich ­Konflikte sonst meide wie der Teufel das Weihwasser, konnte ich mich nicht zurückhalten: »Fällt das eigentlich nicht unter das Bankgeheimnis? Ich meine, du kannst doch nicht einfach anderen erzählen, was ich mit meinem Geld mache!«

»Joa, das ist schon in Ordnung. Wir sind schließlich beste Kumpels. Grabriel hat übrigens vorgestern für neunundneunzig Mark Klamotten bei Dark Fashion bestellt und ist schon wieder pleite«, erwiderte Felix amüsiert. Er warf seinen Rucksack in meinen Kofferraum und nahm einen genüsslichen Schluck Kaffee aus meiner Tasse.

Grabriel wurde bleich, nestelte an seinem Schuh. »Alter, hör auf, uns auszuspionieren, du sagst uns doch auch nicht, wie viel Geld du auf deinem Konto hast.«

»Zwölfhundert Mark. Auf dem Girokonto. Außerdem habe ich heute Morgen noch einmal Geld abge­hoben, weil ich seit einem Blick auf deinen Kontostand mit Sicher­heit weiß, dass du mich spätestens morgen Abend wieder ­anpumpst. Noch Fragen?«, rief Felix. »Hast du ­eigentlich ­keine Tasche dabei? Dein Fahrrad sieht aus wie ein verkackter­ Christbaum!«

Ich bemerkte seine weiße Jeans. Manchmal war mir ­dieser Mensch ein Rätsel. »Du bist so ein Schnösel, Felix – du ziehst doch wohl nicht eine weiße Hose zum Hardbeat an!«

»Sind wir schon auf dem Festival?«, raunzte er und ­schaute sich demonstrativ nach allen Seiten um. »Nein, sind wir nicht, also: Schnauze. Ich ziehe mich um, sobald wir dort sind. Und für einen Typen, der nur Jogginghosen trägt, hast du eine ganz schön große Klappe. Besitzst du auch noch andere Hosen, ’ne Jeans vielleicht?«

Ich überlegte. »Nein. Schon lange nicht mehr.«

»Sagt da im Supermarkt niemand was zu?«

»Bislang nicht.«

Wir begannen Wasser, Grill, Kohle und das Zelt in ­meinem silberfarbenen 1er-Golf zu verstauen, den mein Vater – Kfz-Mechaniker und Besitzer einer Autowerkstatt – künstlich am Leben hielt. Ich liebte diesen Wagen einfach. Braune Kordbezüge, Kurbelfenster. Boxen, so groß wie Ersatzreifen, und das Schönste: Ich hatte ein Kassettenteil – kein Scheiß, auch wenn die meisten Aufnahmen eierten. Reinigungskassetten nützten da nichts mehr, ich hatte alles probiert, weswegen ich meistens auf den CD-Wechsler im Kofferraum zurückgriff.

Zum Schluss luden wir das Dosenbier in den Wagen. Dabei fiel mein Blick auf die Außentasche von Felix’ Rucksack. »Alter, du hast ja einen Flachmann dabei!«

»Ich erwähne es an dieser Stelle nur einmal: Wer meinen Flachmann anfasst, dem hacke ich eigenhändig die Finger ab. Das meine ich ernst, da ist richtig gutes Zeug drin, hab ich dem Alten aus dem Schnapsregal geklaut«, ­entgegnete Felix und blickte entnervt auf Grabriel, der immer noch an seinem Schuh zupfte. »Kacke, Mann! Ein hammer­mäßiges Metal-Festival ist am Start, und wir kommen nicht weg, weil duuuuuu deinen beschissenen Schuh nicht vom ­Lenker kriegst. Ich will um sechzehn Uhr auf dem ­Gelände sein, Zelt aufbauen, Mädels beschnuppern und so, bevor die ersten Bands spielen. Kapiert?«

Seit drei Wochen saßen wir jeden Abend zusammen, in Vorfreude vereint. Wir studierten Fachmagazine, ­diskutierten und stritten über das Line-up. Motörhead, ­Dismember, Destruction, Kreator, In Flames. Grabriel freute sich vor allem auf Theatre of Tragedy und ­Cathedral. Doch allen Differenzen im Musikgeschmack zum Trotz: Wir wollten ein Wochenende lang das Leben ­feiern, gemein­sam grölen, trinken, grillen, moshen, ­bangen, ­hüpfen, lachen. Und wir wollten bereits vor zwanzig ­Minuten auf der Autobahn sein, rechtzeitig ankommen, was essen, ein oder zwei Bier trinken, bevor die große Feier losging.

Grabriel wurde hektisch, zog an dem Schuh, doch der Knoten zurrte sich dadurch nur noch fester. »Hast du ­vielleicht ’ne Schere?«

Zehn Minuten später fuhren wir Richtung Norden. Aus den Boxen hämmerte Sepultura. Die Band hatte Anfang letzten Jahres mit ihrem Album Roots einen Meilenstein in puncto Metal gesetzt. I’ll take you to a place where we shall find our rooots blooooddy roooots, grölte der Sänger, und wir ­grölten mit, der Motor tat es uns gleich. Im Rückspiegel wurde das Ortsschild von Bad Harzburg kleiner. Die Provinz war nur noch ein trüber Fleck, der sich in unseren Abgasen auflöste. Wir waren mutig, wir waren wild, wir waren unsterblich, wir waren Metal-Fans, zu allen Schandtaten bereit, und nichts konnte uns aufhalten. Dann kam der Stau.

Es war mittlerweile unbarmherzig heiß, die Sonne briet uns auf der Herdplatte des Asphalts. Der Radio­moderator ­faselte etwas von einem querliegenden Lkw, von Voll­sperrung, von Stillstand. Stau ist die schlimmste ­Vergeudung von Lebenszeit, keine Frage, zudem ­klebten unsere Shirts an unseren Oberkörpern wie Dusch­vorhänge. Und trotzdem hatte ich so etwas bis dahin noch nie erlebt, der Tag war eine einzige Aneinanderreihung von euphorischen Augenblicken. Alles war möglich, und es würde immer so weitergehen.

Natürlich gab es Gesprächsstoff: In den USA war Headbangers Ball auf MTV abgesetzt worden, was uns schon längere Zeit um die europäische Ausgabe ­bangen ließ. Ein ­obskures Gerichtsverfahren gegen Slayer ­wurde neu ­auf­gerollt, bei dem scheinheilige Moralapostel mal ­wieder ­versuchten, die Texte und das Artwork der Band als »gemein­gefährlich« einstufen zu lassen. Und ­unsere Säulen­heiligen von ­Metallica durchlebten seltsame Anwand­lungen: Sie ­nahmen spießige Preise entgegen oder spielten in der ­Arktis ein Konzert unter dem Dach einer Bier­marke. Ernsthaft, was zum Teufel hatte ihr Album Load zu ­bedeuten? Wieso hielt sich die Scheibe so hart­näckig in den Charts? Stimmte am Ende mit uns etwas nicht? Überhaupt, über nichts lässt sich ja bekanntlich herrlicher ­streiten als über Geschmack: War die brandneue Platte Album Of The Year von Faith No More wirklich besser einzustufen als der phänomenale Vorgänger King For A Day … Fool For A Lifetime? War Cryptic Writings besser als Youthanasia? Darüber musste doch gesprochen werden!

Kein Witz, der Stau war uns irgendwie völlig egal. Wir fühlten uns frei, und selbst das Fluchen über den Stau trieb Blüten und machte Spaß. Erst zehn Stunden ­später ­holperten wir mit dem Wagen vorsichtig über den Camping­bereich, der damals noch nicht vom Parkplatz getrennt war. Langhaarige Menschenmassen strömten aufs Konzert­gelände. Wir suchten uns einen Stellplatz und parkten schließlich direkt bei den Toilettenhäuschen, attrak­tivere Rastplätze waren längst vergeben. Wir ­ließen das Zelt im Kofferraum und spazierten sofort auf das ­Gelände.

Sie müssen sich das einfach vorstellen. Ich war vorher nie wirklich weggekommen aus Bad Harzburg, war nie im Ausland gewesen. Als Kind hatte ich einige Sommer­urlaube an der Nordsee verbracht, einmal musste ich mit Grabriel in ein christliches Zeltlager in der Asse. Eine Zwangseinweisung, auf elterlichen Befehl, mit Schlafsack und Brustbeutel. Absoluter Horrortrip. Dort mussten wir morgens um sieben Uhr an einem Holzkreuz beten, Morgenandacht, mit Händefalten und solchem Unsinn. Und wäre die Sache mit dem Früchtetee nicht passiert, ich schätze, wir wären noch bis zu unserer Volljährigkeit jedes Jahr aufs Neue dorthin abgeschoben worden …

Staunend stolperten wir an diesem Abend über das ­staubige Festivalgelände. Eine leichte Brise blies mir durch die Jogginghose, ließ mein Shirt flattern.

Irgendein Typ hatte einen Schubkarren mit Eis­würfeln und Bierdosen gefüllt. Wir kauften bei ihm ein und schmuggelten die Getränke aufs Gelände. Ich war zwar a­usgedürstet, meine Kehle war trocken, meine Augen brannten, ich wollte trinken, nur trinken, zögerte den ­Moment aber noch hinaus und rollte mir meine Dose Bier über den Nacken.

Wir waren keine Sekunde zu früh gekommen, in diesem Augenblick betraten Blind Guardian die Bühne – ­verdammt, wie ich mich darauf gefreut hatte! Raunen in der Menge. Kein Drängen, kein Schubsen. Klatschen. Rufen. Jubelgeschrei. Drumsticks krachten aneinander: eins … zwei … eins, zwei, drei, vier. Das Riff von »Welcome to Dying« durchbrach das Stimmengewirr. Schlagzeugfeuer brannte durch die Nacht.

Und da war die Hitze, der Wind, die vielen Menschen, zwei hübsche Mädchen in Possessed-Shirts in unserer Nähe, dann die Musik, die ich so liebe, und plötzlich eine Gestalt in weißen Gewändern, die an mir vorbeilief, in den Händen eine weiße Sense, die Augen rot wie Feuer, das ­Zischen des ersten Biers, das eiskalt durch meine Kehle rann, die hämmernde Doublebase schäumte in meinem Bauch. Ich fühlte mich wie ein Eremit, der das erste Mal den Berg hinter seiner Höhle bestiegen hatte. Und dort entdeckte ich ein Land, unendlich groß und weit, bereit ­erobert zu werden.

drei

Der Mief in meinem Auto hätte sogar die ­Toten aus ihren Gräbern getrieben. Nein, der Gestank, der mich am frühen Morgen hochschnellen ließ, konnte nicht ­irdischen Ursprungs sein. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren. Das Klima im Wageninneren war tropisch, die Scheiben waren beschlagen. Schweiß rann meinen Hals hinab und versickerte in meinem feuchten Shirtkragen.

Schnaufend blickte ich auf das Armaturenbrett. Fünf Stunden hatten wir in diesem Brutkasten gelegen, zu bescheuert, im Hochsommer die Fenster runterzu­kurbeln – oder zu ängstlich? Ich erinnere mich verschwommen an Felix, der übertrieben misstrauisch war und etwas von Diebstählen aus offenen Autofenstern faselte. Der Meister hatte gesprochen. Die Fenster blieben zu.

Ich stieg aus dem Wagen, schnappte nach Luft und ­schaute mich um. Das Hardbeat Open Air lag inmitten länd­licher Gegend, flankiert von einigen Dörfern, die ­tapfer die Außenposten der Metal-Hölle bildeten. Der große Rausch hing wie eine Dunstwolke über dem Zeltgelände, das sich ringsum über zahllose Felder erstreckte und für kurze Zeit die Bevölkerung einer Kleinstadt beher­bergte. Noch war ­allerdings kaum eine Menschenseele zu sehen. Weit entfernt reckte sich ein Typ im strahlenden Sonnenschein, vor ihm stiegen kleine weiße Rauch­kringel auf. Irgend­wo hörte ich das dumpfe Wummern einer Stereo­anlage, nur übertönt von einem Stromaggregat, das röhrte und spuckte.

Felix lag leblos auf der Rückbank, Grabriel kauerte auf ­dem Vordersitz. Ich versuchte verzweifelt, den Grill in Gang zu bringen, denn natürlich hatte ich die ­verdammten Gaskartuschen vergessen und hoffte, ich könnte das Kaffee­wasser vielleicht auf diese Weise zum Kochen ­bringen. Ich schüttete Holzkohle in den Grill und übergoss alles mit Spiritus.

In diesem Moment krabbelte unser Neuzuwachs, Evil Enrico, in voller Montur aus seiner selbst gezimmerten Behausung aus Dachlatten, Nägeln und schwarzer Folie. Er hob wortlos die rechte Hand zum Teufelsgruß, vergrub seine Hände in den Taschen und starrte eine Weile verwirrt in die Gegend, als ob er noch nicht so richtig akzeptieren konnte, dass er auf der Welt war.

Bis heute weiß ich nicht, wo dieser Mensch so plötzlich herkam. Er war irgendwo irgendwann in der letzten Nacht zu uns gestoßen, wahrscheinlich als wir nach dem Konzert zu unserem Auto geirrt waren. Von da an blieb er bei uns.

Evil Enrico war blass, hatte wasserstoffblonde Haare, eng beieinander liegende braune Augen und einen Schmollmund. Am Kinn sprossen ihm ein paar Haare. Außerdem war er dürr, ein Klappergestell, und nicht sonderlich groß. Er hatte uns erzählt, dass er in einer Berliner Kommune lebte und schon seit dem ersten Festival dabei war, vor ­sieben Jahren, als gerade einmal viertausend Besucher ins Metal-Mekka pilgerten. Für uns war er deshalb ein Veteran, er besaß die Chronik, die wir selbst besitzen wollten, und wir saugten gierig seine Geschichten auf, die wir selbst ­gerne erzählt hätten.

»Alter«, sagte er nach einer Weile, »White Death ist ­wieder da.«

Ich verstand kein Wort.

»Wer?«, fragte ich und nuckelte an einer Wasserflasche.

»Der Sensenmann. Immer weiß gekleidet, rote Augen, White Death. Ist schon beim zweiten und dritten ­Festival kurz aufgetaucht. Dann wieder verschwunden. Und ­gestern, zack, kniet er plötzlich vor mir. Ihr habt schon im Auto gelegen, da habe ich noch die Dose Bier ausgesoffen«, sagte er und zeigte aufs Autodach.

»Du hast doch nicht mein halb leeres Bier getrunken? ­Alter, da hat Schalter-Felix reingeascht!«

Evil Enrico zuckte mit den Schultern. »Hab ich gemerkt, aber nach diesem Schreck hätte ich alles ausgesoffen. Weißt du, der Typ kann den Tod vorhersagen.«

Ich begann zu lachen. »So ein Schwachsinn!«

»Ohne Scheiß, funktioniert anscheinend wie bei Katzen, die sich bei Sterbenden aufs Bett legen und so. Hat bei ­einem Festival einem Typen gesagt, dass er bald stirbt, und zack, ist der an so einem Hirndings abgekratzt.«

»Einem Tumor.«

»Nein, nein, so was Geplatztes.«

»Krass«, sagte ich.

»Das ist kein Witz, einer Freundin ist es genauso ergangen. White Death sagt zu ihr, sie soll bloß vorsichtig sein. Dann reist sie im September in irgend so ein asiatisches Land, und plötzlich geht der Kahn unter, mit dem sie auf eine Insel rübersetzt. Sie weiß bis heute nicht, ob sie eine Rettungsweste angezogen hätte, wenn White Death sie nicht gewarnt hätte.«

»Muss man nicht immer eine Rettungsweste anziehen?«

»Ey, in Asien doch nicht!«

»Krass«, sagte ich.

»Voll krass. Und gestern, ich sitz vorm Zelt und will mir noch ’ne Zigarette drehen, da hockt er mit einem Mal vor mir. Schnüffelt so komisch rum und berührt plötzlich mit seinem kleinen Finger meine Stirn. Dann zieht er die Hand zurück, als ob er sich dabei verbrannt hätte. Hab mir ­beinahe in die Hosen geschissen.«

»Und weiter?«

»Nichts, ist einfach wieder verschwunden.«

»Er hat nichts gesagt?«

»Nichts.«

»Krass.«

»Voll krass.« Evil Enrico schüttelte sich und torkelte in Richtung der Toilettenhäuschen davon. Ich schaute ihm nach, seine Jeanshose schlabberte am Hintern. Die abge­schnittene Jeansjacke, mit Nieten und Dutzenden ­Aufnähern von Metal-Bands übersät, zog er aus und warf sie sich über die Schulter. Darunter trug er nichts. Doch ­anstatt sich in eine der Toilettenkabinen zu verkriechen – die, wie ich gemerkt hatte, am frühen Morgen des ersten Tages noch durchaus annehmbar waren –, schwankte er einfach weiter, drückte sich zwischen zwei Gitter­absperrungen hindurch und verschwand zwischen den Bäumen eines Wäldchens.

Es gibt ja Leute, die sich am liebsten auf den Wald­boden hocken und sich den Hintern mit Blättern und Moos ­abwischen. Ich weiß, wovon ich rede. Im christlichen Zeltlager in der Asse mussten wir unser Zelt selbst aufbauen. Wir schliefen darin zu acht, auf Feldbetten, sieben ­Kinder und der Pfadfinder. Jedes Zelt trug den Namen einer ­religiösen Stätte. Die links und rechts neben uns hießen ­Jerusalem und Kana. Wir waren Jericho. Und es gab Früchte­tee, den ganzen Tag nichts als Früchtetee. Aus einem Kanister, groß wie ein Komet, der neben dem monumentalen Holzkreuz zur Selbstbedienung stand. Furchtbar. Ekelhaft. Widerlich. Das Zeltlager war nacktes Überlebenstraining. Das einzige Highlight war, selbst Feuer zu machen – wie die Affen­menschen, mit Hölzchen und Stroh und so. Und als es nach Jahrmillionen endlich brannte, wurde es unter viel Gelächter wieder ausgepinkelt.

Damals, auf dem Festival, hielt ich Evil Enrico für so ­einen Naturmenschen und blinzelte ihm mit verklebten Augen hinterher. Tja, und dann passierte es.

»Hi, habt ihr vielleicht Kaffeeweißer?«

Sie war barfuß, hatte einen kleinen Ring am Zeh. Ihre perfekten Beine zeichneten sich in einer hautengen rostbraunen Lederhose ab. Sie trug ein weißes Unterhemd mit Snaggletooth drauf. Sie war schlank, hatte tolle ­große ­Brüste, grüne Katzenaugen, und ihre Haare hatten die ­Farbe von Ebenholz. Unter ihrem linken Auge, auf dem Wangen­knochen, hatte sie ein Muttermal, wie Marilyn Monroe oder Cindy Crawford. Und sie roch so frisch und rein, nach einer Mischung aus getrockneten Orangen­schalen und Räucherstäbchen. Ein Duft, der mir in den nächsten ­Jahren immer wieder in den Kehren und Wendungen meiner Traumwelten begegnete. Kurzum: Vor mir stand eine Diva, eine Göttin, direkt aus dem Himmel herabgestiegen, weil dort anscheinend die Milch ausgegangen war.

Und ich? Nun, ich trug eine schmuddelige Jogging­hose, war unrasiert und schwitzte wie Sau, ein ­organischer Müllhaufen. Unter meinem verwaschenen Master of Puppets-Shirt zeichnete sich ein Bäuchlein ab. Meine langen köter­braunen Haare waren zottelig und völlig verfilzt. Ich dachte unwillkürlich an den Döner, den ich mir vor dem Schlafengehen einverleibt hatte. Scharf, Knoblauchsoße, rohe Zwiebeln. Ich hatte auch so einen komischen ­pelzigen Belag auf den Zähnen – hatte ich sie geputzt?

All das schoss mir im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf, ich spürte plötzlich das ganze Universum über mir, unter mir, hinter mir, um mich herum, saugend, wabernd, erwartungsvoll, schicksalsträchtig. So stand ich also vor ihr, müde, verkatert, stinkend, mit wirbelndem Gehirn und pochendem Herzen, das Feuerzeug in der einen, die Wasser­flasche in der anderen Hand.

Also was?

Was tun?

Was sagen?

Ich zog diese komischen Portionsdinger mit Kondensmilch aus der Tüte.

Ich brach vier Stück ab.

Ich reichte sie ihr.

»Du bist süß«, sagte sie lächelnd, mit einer Stimme, über die ich Saiten spannen wollte.

Und ich konnte nichts tun, als einfach nur dazustehen und ihr nachzusehen. Ihre Silhouette verlor sich ­langsam zwischen den Zelten, Autos und Campingwagen, die sich wie eine unendliche Hügellandschaft über die Äcker ­ergossen.

Dann war sie weg.

Und jetzt kommen Sie mal damit klar.

vier

Sich beim Sex mit einer bunten Vielzahl ­wechselnder Partnerinnen gegen Vaterschaftsklagen ­versichert wissen, mit Billardqueues Kneipen zerlegen und Bierflaschen ins Spirituosenregal hinter der Bar pfeffern, saufen, rauchen, hemmungslos Drogen konsumieren, ­öffentliches Ärgernis erregen, dem Okkultismus frönen, Fernsehgeräte aus Hotelsuiten schmeißen, Instrumente zertrümmern, verhaftet werden – so sehen bekanntlich einige der spannenden Privilegien von Rockstars aus. Verrückter­weise glauben deshalb viele Leute, dass sich ­dieses Verhalten zwangsläufig auch auf die Jugend überträgt, die ihre Musik hört.

Einen gewissen Hang von Rockstars zu Exzentrik und ­Exzessen will ich gar nicht abstreiten. Wussten Sie beispiels­weise, dass Ludwig van Beethoven an Alkohol­ismus litt? Oder dass für J. Edgar Hoover, den Begründer des FBI, der gute alte Elvis Presley eine Bedrohung der ­nationalen ­Sicherheit darstellte? Oder dass Jerry Lew ­Lewis glaubte, er sei vom Teufel besessen, weil er sich anders ­einfach nicht erklären konnte, wie ihm ein so lasziver Song wie »Great Balls Of Fire« gelungen sein sollte? Und das alles passierte bereits lange bevor das erste Mitglied dem Club 27 überhaupt beitrat.

Es gibt da diese Legende, ich glaube es war Tommy Lee, der Drummer von Mötley Crüe, der Mitte der Achtziger das neue Album seiner Band in Händen hielt und sich nicht erinnern konnte, auch nur einen einzigen Song eingespielt zu haben … Ich will gar nicht wissen, was sie alle getrieben haben, die ganzen Dohertys, Kilmisters und Hetfields des Rockbusiness, außer gelegentlich einen Zwischenstopp in einer Entzugsklinik einzulegen.

Obwohl ich dem Rüpel-Image nicht ganz über den Weg traue. Guter Metal will gekonnt sein. Die puls­getriebenen Gitarrenriffs, die brutalen Tempiwechsel, die ­bestialische Schnelligkeit, das alles schrappt an der Grenze des menschlich Machbaren entlang, verlangt technische ­Präzision und höchste Konzentration. Die Musiker ­brauchen ­genauso viel Fingerfertigkeit wie ein Konzertpianist, auch wenn ­ihnen vielleicht ein falscher Ton bei einem Gig eher v­erziehen wird. Das Publikum nimmt es eben nicht gleich krumm, wenn einer ihrer Helden besoffen von der Bühne fällt. ­Passiert. Hält ja zudem den Mythos am Leben.

Aber auch wenn es der gemeine Metalhead nicht gerne zugibt, eigentlich, tief in seinem Herzen, will er gar nicht ständig den Stinkefinger hochheben und rumpöbeln, ­sondern er will nur eine einzige Nummer komponieren, die sein Dasein auf diesem Planeten überdauert und ihn unsterblich macht. Elende Romantiker.

Mist, ich habe mich verzettelt, aber wenn wir jetzt schon einmal dabei sind, mit Klischees aufzuräumen: ­Heavy ­Metal wird auch gerne als Nährboden für Frust und Hass gesehen, als akustischer Sündenpfuhl, dämonisches Teufels­zeug und schlimmster Aggressionsherd. Vergessen Sie den ganzen Quatsch! Das ist eine Mär, die vorwiegend von Kirchenvertretern oder hilflosen Eltern genährt wird, die meinen, ihr Kind habe die Fenster des Nachbarn eingeschmissen, weil es einen Black-Sabbath-Song gehört hat. Das Kind ist in so einem Fall nicht zwingend mit ­Satan im Bunde. Meistens liegt es an der Pubertät. Oder am ­Nachbarn.

Zugegeben, Metalheads können auch ein bisschen furchterregend und gefährlich aussehen. Die ganzen Toten­schädel, Gräber und Friedhöfe, das Blut, die Leichen, Körper­teile, Gedärme und Innereien, auf Stickern, Pullovern und Postern. Die spitzen Nieten, schweren Ketten, umgedrehten Kreuze. Die langen Haare, blassen ­Gesichter und düsteren Blicke. Das ist schon etwas befremdlich. Einer­seits. Andererseits: Kann man es irgendwem verübeln, wenn er es vorzieht, in unserer seltsamen Welt ein bisschen gefährlich auszusehen? Ist ein gütig dreinbli­ckender Pfarrer, von dem man weiß, dass sein Lieblingsbuch ein ­einziges entsetzliches blutrünstiges Massaker schildert, nicht wesentlich unheimlicher?

Was ich damit eigentlich nur sagen will, ist, dass diese ganzen Vorurteile gegenüber Heavy Metal unter Umständen dazu führen, dass man als Jugendlicher die Möglichkeit einfach bei den Hörnern packt. Mit der Musik kann man nämlich prima sein Umfeld schockieren, falsche ­Assoziationen wecken, sich innerlich und äußerlich von den Eltern emanzipieren und von der Gesellschaft ­isolieren. Was man zu dieser Zeit im Leben noch nicht weiß, ist, dass man auch dann zu einer Gesellschaft gehört, wenn man sie ablehnt. Und wenn man nach ein paar Jahren aus dem ­fiebrigen Albtraum der Pubertät erwacht, stellt man fest, dass sich jetzt die Gesellschaft von einem abwendet – vor allem alle tollen Mädchen. Da wären wir beim Punkt.

Ist man dann nämlich nicht bereit, dem Teufelszeug endgültig abzuschwören – denn Heavy Metal kann ja nun mal wirklich nichts für die Pubertät –, dann hat man es ­fortan nicht leicht im Leben. Die Auswahl an sub­kulturellen Gegenentwürfen ist erheblich eingeschränkt, zumindest in der Provinz. Und in den Köpfen bleibt man eben der ­maximal unbekehrbare drogensüchtige, blut­trinkende Aussätzige mit nonkonformen Ansichten. Man ist der fleischgewordene Antichrist, den kein Mädchen seinen Eltern vorstellt – außer natürlich, sie will ihr Umfeld ­schockieren, falsche ­Assoziationen wecken und sich innerlich und äußerlich von den Eltern emanzipieren …

Ich erinnere mich an einen lauen Samstagabend, es muss kurz vor meiner Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann im Supermarkt gewesen sein, ich war vielleicht sechzehn oder so, meine Mutter war schon lange fort. Mit offenen Haaren, Jogginghose und Cannibal-Corpse-Shirt schob ich mich durch die touristische Innenstadt von Bad Harzburg, gepflastert mit Cafés und Souvenirshops. Ich ­watete durch ein Meer von rabiaten Senioren mit Rollatoren, die sich immer die Vorfahrt nahmen, wurde gepfählt von ­ihren trüben Blicken. Aber was sollte ich machen, es war der schnellste Weg zur Hauptstraße.

Ich wollte ins Mephisto trampen, eine Rockerkneipe, knapp zwanzig Kilometer entfernt. Ich stellte mich an die Haltestelle Berliner Platz – wobei diese Bezeichnung nun wirklich so was von dermaßen an der Realität vorbeigeht: Links führt der Weg zum Märchenwald, rechts zu Minigolf und Gartenschach im Kurpark. »Endstation Pampa« wäre ein treffenderer Name für die Haltestellte. Da stand ich jeden­falls, den Daumen hoch erhoben, als Babsi mit ihrem Vater vorbeifuhr. Sie war in meiner Klasse gewesen, und fast hatte ich sie … also wir hatten fast mal …

So – eine – Scheiße. Ich eiere hier rum. Das ist ja nicht auszuhalten. Aber ich krieg’s einfach nicht über die Lippen. Die Knöpfe sitzen quer in der Tastatur. Vielleicht noch mal zum Anfang: Nur weil Rockstars gerne ihr Image pflegen, rumhuren und, egal wie hübsch oder hässlich sie sind, alles flachlegen können, was sich halb nackt an den Absperrungen tummelt, lässt das noch lange keine Rückschlüsse auf das Erotikleben der Zuschauerränge zu …

Jetzt kapiert?

Auch wenn ich bei meinem ersten Festival fast zwanzig war, kannte ich keine größeren Exzesse als Whisky-Cola und Bier. Und die einzige Frau, mit der ich bis dahin das Bett geteilt hatte, war meine Mutter bei meiner Geburt ­gewesen.

So. Jetzt ist es raus.

Es war mir nur wichtig, dass Sie im Bilde sind.

fünf

Es war nur ein Würfelzucker, das muss man sich mal vorstellen: ein Würfelzucker! Meine Finger klebten schon, zwei Ecken waren bereits abgebrochen, aber ich hütete das Ding wie meinen Augapfel, einen kostbaren Schatz, ein zerbrechliches Artefakt.

»WiE hEißt sIe dEnn?«, lallte Evil Enrico.

Ich überlegte kurz, nahm den Würfelzucker von der ­einen in die andere Hand, wie fünfhundertmal in den ­letzten Stunden.

»Helga«, behauptete ich, weil mir auf die Schnelle einfach nichts Besseres einfiel. »Helga«, sagte ich noch mal ­etwas lauter – so hieß das Hoch über Europa, das uns ­gerade ­schönes Wetter bescherte. Ich wollte einfach nicht ­zugeben, dass ich nicht einmal nach ihrem Namen gefragt hatte.

»Aber dAs ist doch etwAs«, anwortete Evil Enrico, sichtlich betroffen von meiner Geschichte. Er stand mit einer Fleischgabel am Grill und wälzte halb verkohlte Würstchen umher.

»HelgA? Was ist dEnn das für ein beschissener Name? So heißt meine OmA!«, rief Schalter-Felix, der in seinem klapprigen Liegestuhl neben dem Auto lag. Seine weiße Hose war mittlerweile grau. Graubraun.

»Meine Fresse, wie viel habt ihr denn schon gesoffen?«, knurrte ich.

»Nur zwEi bIer, aber die HitzE«, entgegnete Enrico, kniff die Augen zusammen und blinzelte in die Sonne.

Ich schaute ihm zu, wie er ganz selbstverständlich in ­meine Tasche griff und eine Tube Senf hervorzog. Kommunen­verhalten, schlussfolgerte ich.

»Ich kAufe nachher im ORt ein, versprOchEn«, sagte er beschwichtigend, als er meinen irritierten Blick bemerkte.

Ich ging zum Kofferraum, riss mir eine Dose Bier auf. Das Zeug war warm wie Kamillentee, aber ich war völlig ausgedürstet und trank mehr um des Überlebens willen. Mit meinem Handrücken wischte ich mir den Schweißfilm von der Stirn, der sich mit der staubigen Luft zu einem raukörnigen Kleister verbunden hatte. In diesem Augenblick wünschte ich mir, ich hätte nichts von dem Mädchen ­erzählt, und ich wünschte mir, einen Fluxkompensator zu besitzen, einen Zeitsprung machen zu können, ab in die Vergangenheit, um diesen unsäglichen Morgen noch einmal ganz neu zu beginnen:

»Du solltest nicht barfuß rumlaufen, das ist gefährlich bei den ganzen Scherben. Warte, ich gebe dir meine Latschen – nein, nein, keine Widerrede! – du kannst sie mir ja später zurückbringen.«

»Du, ich habe leider nur diese ekelige Kondensmilch, aber darf ich dich auf dem Konzertgelände zu einem richtigen Kaffee einladen?«

»Zugegeben, der Topf im Grill sieht ein bisschen provisorisch aus – aber wenn du ein bisschen Zeit und Lust hast, ich versuche gerade Kaffeewasser heiß zu machen … hast du bitte, bitte Zeit und Lust?«

»Ich habe exklusives Kaffee-Instantgranulat, die Bohnen ­stammen aus dem Hochland Brasiliens und wurden von Ur­einwohnern handpulverisiert und dann zu diesen neckischen Kügelchen ­geformt – möchtest du auch eine Tasse?«

Das waren nur einige mögliche Lautäußerungen, die ein einigermaßen intakter Menschverstand in so ­einer ­Situation zustande bringt. Doch mein Hirn springt bei übermäßiger Belastung in den Reservemodus – bis auf ­Weiteres außer Betrieb, kontaktieren sie bitte den ­Hersteller … Hatte ich Angst, etwas Falsches zu sagen und mich zu blamieren? Oder wollte ich nur verkrampft das Richtige sagen und kam deswegen ins Stocken?

Ich muss außerdem zugeben, dass ich mir wenig ­Gedanken über mein Äußeres mache. Das war schon ­immer so. Ich kann mich zum Beispiel nicht mehr an die Entscheidung erinnern, mir lange Haare wachsen zu ­lassen. Sie sind einfach passiert. Überhaupt bin ich nicht das attraktivste Wesen auf der Erdoberfläche, da ich ­leider von meiner Mutter nichts abbekommen habe – außer ihren hellbraunen Augen, von denen ich mit gewissem Stolz ­behaupten darf, dass sie die Farbe von schillerndem Herbstlaub besitzen.

Das war es dann aber auch schon in puncto Schönheit, denn meine Augen liegen zu weit auseinander, ­meine ­untere Zahnreihe erinnert an eine lockere Folge von zerklüfteten Wackersteinen – ein dentales Stonehenge, wenn Sie so wollen. Ich habe einen dichten Bartwuchs, bin ­meistens unrasiert, habe haarige Beine, schlaksige Arme, und daran baumeln Pranken, die auch einem Orang-Utan gut stehen würden. Wobei das alles schlimmer klingt, als es eigentlich ist: Wenn man nicht in jeden Spiegel blickt, dann ist das alles erträglich.

Was mir an diesem Morgen auch wesentlich mehr ­zusetzte, das war meine maximal mangelhafte Körper­hygiene, die auf den Festivals eben so eine Sache ist. Also hatte ich beschlossen, den gemütlichen Start in den Tag zu verwerfen und die übermenschlichen Anstrengungen ­einer Dusche auf mich zu nehmen. Ich wollte schleunigst repräsentabel aussehen: Es galt, die Kaffee kochende Göttin an ihrer Campingausrüstung aufzuspüren, bevor die Zeltstadt zum Leben erwachen und sich innerhalb kürzester Zeit in einen Ameisenhaufen verwandeln würde.

Auf dem Rückweg von den Duschen – Tipp am Rande: Putzen Sie sich nur in einer äußersten Notlage die ­Zähne mit Shampoo. Und stellen Sie sich immer nur mit den ­Hacken in die Duschwanne. Furchtbar unkomfortabel ich weiß, aber die Dinger sind monströse Petrischalen. Weiß Gott, was ansonsten nach dem Festival auf ihren Füßen wächst –, auf dem Weg zu den Duschen also, überlegte ich mir eine Route, um nach ihr zu suchen, dann sah ich, dass etwas auf meinem Autodach funkelte.

Ich ging näher und betrachtete den Würfelzucker wie einen Asteroiden, einen extraterrestrischen Niederschlag, ein kosmisches Zeichen. Hatte ich mir etwa hundert ­Meter entfernt die Zähne geschrubbt, dass es nur so Blasen schlug, während sie zurückgekehrt war? Ich meine, von wem ­sollte er sonst sein? War es ein Dankeschön für die Milch? Eine Sympathiebekundung?

Verzweifelt schaute ich in die Zeltschluchten. Links, rechts, weiter links, noch weiter rechts. Nichts. Nada. Sie war nirgends zu sehen.

Ich kann Ihnen nicht sagen, in welchem Kurs ich in den nächsten Stunden durch die Narbenwege der Zel­tstadt ­flanierte, über wie viele Spannseile ich stolperte. Trotz ­meiner Nervosität ging ich relativ strukturiert vor, schraubte mich Stück für Stück, Reihe um Reihe nach ­vorne. Ich war wie besessen. Kennen Sie dieses Gefühl, wenn Sie als Kind durch den Garten stöbern und Ihr Osternest suchen? Und jedes Mal kurz bevor man hinter die nächste Hecke schaut, steigt die Spannung ins Unerträgliche, nur um beim Anblick der Leere in sich zusammenzufallen wie ein Zelt, dem man das Gestänge entreißt.

Ich wurde immer unruhiger, der Morgen neigte sich dem Ende. Metalheads krochen allmählich aus Zelten, stiegen aus Autos, bogen um die Camper, sammelten sich in ­Trauben. Sie saßen rum, spazierten durch die Gegend, kochten, grillten, lachten, rauften oder lagen sich in den Armen. Menschen. Überall Menschen. Wie sollte man in diesem Chaos jemals jemanden finden? Auf einmal glaubte ich sie von Weitem entdeckt zu haben, die Farbe ihres Shirts passte, und die Haare auch, ich lief schnurstracks auf sie zu.

Ich war sogar vorbereitet: Hi, ich bin Henry, möchtest du heute Abend mit mir Kreator sehen?