Einer muss doch anfangen! - Werner Milstein - E-Book

Einer muss doch anfangen! E-Book

Werner Milstein

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Beschreibung

"Man muss einen harten Geist und ein weiches Herz haben." (Sophie Scholl)

Sophie Scholl ist eine der Symbolfiguren des Widerstands gegen Hitler. Werner Milstein portraitiert anlässlich des 100. Geburtstags am 9. Mai 2021 das Leben dieser faszinierenden Persönlichkeit und fragt, ob ihr Leben jungen Menschen, die nach Orientierung und Sinn suchen, heutzutage eine Hilfe sein kann.

Angereichert mit zahlreichen Quellen, Fotos und Querverweisen ist diese leicht zu lesende Biografie eine Fundgrube für Jugendliche, aber auch historisch interessierte Erwachsene.

  • Für Jugendliche und junge Erwachsene
  • Eine spannende Einstiegslektüre in das Leben Sophie Scholls
  • Zum 100. Geburtstag von Sophie Scholl am 9. Mai 2021

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Seitenzahl: 192

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»Jedenfalls glaube ich, dass der Einzelne, wie der Ausgang auch sei, zu wachen hat, und erst recht dann, wenn ihm das schwer gemacht wird.«

Sophie Scholl an Fritz Hartnagel am 14. Juni 1940

Sophie Scholl ist eine der Symbolfiguren des Widerstands gegen Hitler. Werner Milstein portraitiert das Leben dieser faszinierenden Frau mit allen Höhen und Tiefen, Offenbarungen und Geheimnissen.

Ausgestattet mit zahlreichen Quellenhinweisen, Fotos und Querverweisen ist diese leicht zu lesende Biografie eine Fundgrube für Jugendliche und junge Erwachsene und für alle, die danach fragen, wie Menschen in widrigen Zeiten Humanität und Anstand bewahren können.

Werner Milstein, geboren und aufgewachsen im Münsterland, Studium der Theologie und Philosophie in Münster und Göttingen, Gemeindepfarrer in Ostwestfalen, Tätigkeit im Verlagswesen in Hamburg, zurzeit Religionslehrer am Berufskolleg in Olsberg/Sauerland.

Werner Milstein

Einer muss doch anfangen!

Das Leben der Sophie Scholl

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2021 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagmotiv: Foto Sophie Scholl, © dpa picture alliance.com

ISBN 978-3-641-26505-2V004

www.gtvh.de

Für Alexander und Ricarda

sowie Tabea und Thea Charlotte

Sophie Scholl, Portrait mit Decke

© Stadtarchiv Crailsheim/Slg. Hartnagel

Il faut avoir l’esprit dur et le coeur tendre.

Man muss einen harten Geist

und ein weiches Herz haben.

Sophie Scholls Wahlspruch

Inhalt

1. Kapitel

Es wird noch eine Entscheidung fallen

2. Kapitel

Idyll mit Rissen. Forchtenberg

3. Kapitel

Intermezzo in Ludwigsburg

4. Kapitel

Jungmädel wollen wir sein

5. Kapitel

… als gäbe es nur diesen Augenblick

6. Kapitel

Fritz Hartnagel kann ich prima leiden

7. Kapitel

… ein Mensch kommt zu Ihnen

8. Kapitel

Zu wissen, dass da jemand ist

9. Kapitel

Sag nicht, es ist für’s Vaterland

10. Kapitel

… ein Gefühl, was Recht und Unrecht ist

11. Kapitel

Harter Geist und weiches Herz

12. Kapitel

… jetzt erst können wir uns bewähren

13. Kapitel

Gib meinen Augen Licht

14. Kapitel

… wir sind euer böses Gewissen

15. Kapitel

Schluss – jetzt werde ich etwas tun

16. Kapitel

Und nun Gott befohlen!

17. Kapitel

Freiheit, Freiheit!

18. Kapitel

Niemand hat größere Liebe …

Dank

Verwendete Literatur

Mit ihr zusammen hatte ich, wie sonst

mit keinem Menschen, das Gefühl:

Wir machen Sprünge, wir fliegen.

Die Freundin Susanne Hirzel

1. Kapitel

Es wird noch eine Entscheidung fallen

Hans und Sophie Scholl mit Christoph Probst

© George (Jürgen) Wittenstein / akg-images

Sophie Scholl stellte das Fahrrad an der Straße ab. Es war früh am Morgen, einige Frauen waren mit Einkaufstaschen unterwegs, ein Pferdefuhrwerk rumpelte über das Pflaster. Sie begab sich an den Zaun, um sich von ihrem Bruder und den anderen Freunden der Studentenkompanie zu verabschieden. Seit Mitte Juli gab es das Gerücht, dass die Medizinstudenten während der Semesterferien zur »Front-Famulatur« nach Russland geschickt werden sollten. Zunächst war es nur ein Gerücht, aber dann von einem Tag auf den anderen ging die Order aus. Am 23. Juli 1942 hatten sie sich um 7 Uhr am Ostbahnhof einzufinden. Und nun standen sie zusammen, Hans Scholl und Alexander Schmorell. Die Freunde wollten versuchen, in Russland zusammenzubleiben, und danach fortsetzen, was sie gemeinsam begonnen hatten: Flugblätter gegen das Hitlerregime zu verfassen und zu verteilen.

Einer von den Kameraden, Jürgen Wittenstein, nutzte die lange Wartezeit von vier Stunden, um Fotos zu machen. Man sieht die Studenten in Uniform gestikulieren und lachen und auf der anderen Seite des Zaunes Sophie Scholl – sie wirkt fröhlich, wirft die Arme in die Höhe, und dann im nächsten Moment erscheint sie wieder nachdenklich. Wittenstein wird später über sie sagen: »Sie war ein großartiges Mädchen, einerseits sehr ernst, sehr überzeugt, sehr geradlinig, auf der anderen Seite konnte sie unglaublich fröhlich und heiter sein und übermütig. Sie war etwas Besonderes, eine ungewöhnliche, bemerkenswerte Mischung. Eine Persönlichkeit.«

Den Studenten war nicht viel Zeit geblieben, sie mussten alle Spuren verwischen, den Vervielfältigungsapparat verstecken, Papiere, Materialien und was sie sonst noch alles verraten könnte. Dann mussten sie packen, sich von der Familie und den Freunden verabschieden.

Hans hatte die Freunde in das Atelier des Architekten Manfred Eickemeyer in Schwabing eingeladen, wo sie oft zusammenkamen, um miteinander zu reden und zu diskutieren und auch zu feiern. Dieser Abschiedsabend wird ihnen im Gedächtnis bleiben. Keiner konnte sagen, ob sie alle von der Ostfront zurückkehren würden. An diesem Abend wollten sie darum zusammen feiern. Die Stühle und Sitzkissen hatten sie großzügig im Raum verteilt, Tee und Kuchen zuvor in reichlichem Maße besorgt, aber auch Wein und härtere Sachen. Es war der Kern der Weißen Rose, der sich hier versammelte. Neben Hans und Sophie Scholl waren es Alexander Schmorell und Christoph Probst. Dazu die Freundinnen Traute Lafrenz, Gisela Schertling und Katharina Schüddekopf, daneben war diesmal auch Manfred Eickemeyer dabei, der sich meistens beruflich in Polen aufhielt und deshalb sein Atelier den Studenten zur Verfügung gestellt hatte. Und einen besonderen Gast hatten sie eingeladen, der sich freute, an diesem Abend dabei sein zu dürfen: Professor Kurt Ivo Huber. Hans Scholl und Alexander Schmorell hatten ihn extra aus Gräfelfing abgeholt. Seine Philosophievorlesungen wurden von Studenten und Studentinnen aus allen Fakultäten besucht, sie waren geistreich und unterhaltsam, aber verrieten auch seine kritische Einstellung zum Nationalsozialismus.

Zunächst ging es um Literatur und Kunst, dann aber kam man in der Runde auf Politik zu sprechen. Wie sollte man sich im Krieg verhalten? Sollte man auf Menschen schießen? Alexander Schmorell wollte sich unbedingt passiv verhalten, er konnte sich nicht vorstellen, Russen zu töten. Seine früh verstorbene Mutter war Russin und er hatte die ersten Jahre seiner Kindheit in Russland verlebt. Sophie Scholl erinnerte an das Gebot »Du sollst nicht töten«. Darf man als Christ überhaupt töten? Professor Huber gab zu bedenken, dass der Soldat im Krieg nicht als Einzelperson verantwortlich sei, sondern als Glied einer übergeordneten Macht handle. Und dann brach Zorn und Wut aus ihm heraus: »Diese Generäle, die gehören alle an die Wand gestellt!«

Längst war der Krieg nach Deutschland gekommen, über Köln und Hamburg hatten die Alliierten Bomben abgeworfen. In ganz Deutschland versanken Jahrhunderte alte Kulturgüter in Schutt und Asche: Burgen und Schlösser, Kirchen und Kathedralen. Einig war man sich, dass der Krieg verloren gehen würde. Sollte man so lange warten? Hans Scholl widersprach: Die Isolation sei keine Basis für den Sturz des Regimes. Alle Personen in der Runde kannten die Flugblätter der Weißen Rose. War das eine Möglichkeit? Man war sich in dem Kreis nicht einig. Katharina Schüddekopf beobachtete den Professor, wie er errötete, sich in seinem Stuhl wand und dann laut rief: Es gebe nur einen Weg, »heimliche Propaganda, Sabotage und … Attentat!« Alle erschraken in diesem Moment und starrten ihn an.

Mittlerweile war auch Hans Hirzel aus Ulm dazugekommen, der Bruder einer Freundin von Sophie Scholl. Der Oberschüler hatte Ferien und war neugierig nach München gereist. In seiner Post hatte er ebenfalls ein Flugblatt der Weißen Rose gefunden und hegte die Vermutung, dass Hans Scholl damit etwas zu tun haben könnte. Als er mit den Geschwistern Scholl alleine war, sprach er sie darauf an. Hans Hirzel konnte für die Weiße Rose gewonnen werden. Sophie Scholl, die für die Finanzen zuständig war, gab ihm später 80 Reichsmark, um einen Vervielfältigungsapparat für die Flugblätter zu kaufen. Längst war der Plan gereift, ein Netz aufzubauen, damit an möglichst vielen Orten der Widerstand gegen den Nationalsozialismus organisiert werden könne. Wenn Hans Scholl und die anderen Mitglieder der Weißen Rose von der Ostfront zurückgekehrt seien, würde die Arbeit fortgesetzt werden. Und Sophie Scholl wird dabei sein, wenn dann die Flugblätter hergestellt und verteilt werden.

Einige Tage zuvor schrieb sie auf eine Kunstpostkarte mit einem Stillleben von Paul Cézanne: »Wie wird unser nächstes Zusammentreffen sein? In diesem Jahr wird noch eine Entscheidung fallen. Mit jeder Fiber seines Wesen wartet man auf sie.« Als nach weit über 50 Jahren ihre Schwester Inge das Buch von Augustinus in die Hand nahm, das Sophie Scholl in dieser Zeit gelesen hat, fiel ihr diese Kunstpostkarte in die Hände.

Es ist immer wieder erwähnt worden, dass Sophie Scholl an diesem Abend wie auch wohl bei den übrigen Treffen meist geschwiegen und sich selten an den Diskussionen beteiligt habe. So ausgelassen, wie sie sein konnte, so ernst und nachdenklich war sie zugleich, um Klarheit und Wahrheit bemüht, um Wahrhaftigkeit und Konsequenz.

Traute Lafrenz und sie haben nach dem Abschiedsabend noch aufgeräumt – das war selbst in dieser studentischen Widerstandsgruppe »Frauensache«. Die Freundin überließ Sophie Scholl das gemeinsame Fahrrad, damit sie noch rechtzeitig zum Ostbahnhof kam. Und während sie sich von ihrem Bruder und den anderen verabschiedete, wurde ihr das Fahrrad gestohlen.

Neben den Abschiedsbildern am Bahnhofszaun gibt es noch ein weiteres, das Hans und Sophie Scholl zusammen mit Christoph Probst zeigt, der zum Sanitätsdienst nach Innsbruck beordert worden war. Er macht einige Notizen, Hans Scholl beobachtet ihn dabei. Sophie Scholls Gesicht ist ernst und nachdenklich. Die Blume, die sie zuvor noch in der Hand hielt, hat sie sich an die Bluse gesteckt. Dieses Bild ist berühmt geworden, es wurde zur Ikone der Weißen Rose.

Sieben Monate, nachdem dieses Bild entstanden ist, werden alle drei vor dem Volksgerichtshof stehen und dann noch am selben Tag gemeinsam hingerichtet werden.

2. Kapitel

Idyll mit Rissen. Forchtenberg

Der Kocher bei Forchtenberg

Foto: Werner Milstein

Der kleine Ort Forchtenberg, in dem Sophie Scholl zur Welt kam, liegt am Kocher. An seinem Ufer lässt sich herrlich die Sonne genießen und schon bald geht es ins Wasser. Die ältere Schwester Inge brachte ihr das Schwimmen bei, und als sie sechs Jahre alt war, durchquerten beide den Fluss. Sophie wurde zu einer leidenschaftlichen Schwimmerin. Sie konnte später an keinem Gewässer vorbeigehen, ohne wenigstens die Füße einzutauchen, überhaupt liebte sie die Natur. Deshalb konnte sie ebenso wenig im Mai so einfach an einer Wiese vorbeigehen. »Es gibt nichts Verlockenderes«, schrieb sie später, »als solchen duftenden Grund, über dem die Blüten der Wiesenkerbel wie ein lichter Schaum schweben, daraus Obstbäume ihre blütenbesteckten Zweige recken, als wollten sie sich erretten aus diesem Meer der Seligkeit.«

Am Kocher hatte die Mutter einen Garten angelegt, er war ihre ganze Leidenschaft. So konnte sich die Familie mit Obst und Gemüse selbst versorgen. Ein Stück des Gartens war eigens für die Kinder abgetrennt, da konnten sie ganz nach eigenen Vorstellungen wirken, pflanzen, säen und ernten. Die Mutter war eine sparsame Frau, eine schwäbische Hausfrau eben. Aus Obst wurde Marmelade gemacht, Gemüse wurde eingekocht, Verschwendung gab es nicht. Der Tisch war immer gedeckt und stets gab es ihren köstlichen Hefekuchen, gleich, wie schwer die Zeiten waren. Davon schwärmten auch die Freunde der Kinder. Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft waren in der Familie wichtige Werte.

Das Rathaus, in dem Sophie Scholl zur Welt kam, stammte aus dem 18. Jahrhundert. Ein stattliches Gebäude, eines der größten im Ort. Eine dunkle Treppe führte nach oben, wo zur Straße hin das Büro des Vaters, das zugleich der Rathaussaal war, lag und zum Garten hin die Wohnräume. Sie waren zwar groß, aber nicht besonders komfortabel. Durch die Fenster zog es, die Öfen waren recht altmodisch. Das Leben spielte sich in der Diele ab, dort wurde gegessen, Hausaufgaben gemacht und diskutiert, eben gelebt. Dort hing, zur Freude aller Kinder, auch eine Schaukel! Die gute Stube dagegen wurde selten genutzt. Dort stand das Klavier, alle Kinder bekamen Klavierunterricht. Für eine bürgerliche Familie gehörte das – im wahrsten Sinne des Wortes – zum guten Ton.

Rathaus in Forchtenberg

Foto: Werner Milstein

Die Eltern stammten aus eher bescheidenen Verhältnissen. Die Mutter Magdalene Scholl, geborene Müller, mit Rufnamen Lina, kam als viertes Kind eines Schuhmachers am 5. Mai 1881 in Künzelsau zur Welt. Gerne wäre sie Lehrerin geworden, aber dazu fehlten der Familie die finanziellen Möglichkeiten. Also machte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester im Diakonissenhaus von Schwäbisch Hall. Dort gab es eine genaue Erwartung an die zukünftigen Diakonissen: Sie »fordert entschieden christliche Gesinnung, den Drang zu helfen, die Willigkeit, mit anderen sich zu verbinden«. Das entsprach dem württembergischen Pietismus, der eine tiefe Frömmigkeit mit praktischer Nächstenliebe verband. 1909 wurde Magdalena Scholl, für ihren Dienst eingesegnet. In verschiedenen Gemeinden war sie im Einsatz, bevor sie in Söflingen, einem Ulmer Vorort, eine Kinderkrippe mit aufbaute. Als der 1. Weltkrieg ausbrach, wurde sie im Reservelazarett in Ludwigsburg eingesetzt, und als dort eine schwere Typhusepidemie ausbrach, meldete sie sich zur Pflege der Erkrankten.

Liest man die Charakterisierung der Mutter als Kind, fühlt man sich unweigerlich an Sophie Scholl erinnert. Lina wird als ein ruhiges, aber fröhliches Kind beschrieben und als eine sehr gute Schülerin. Halt hat ihr der Glaube gegeben: Sie vertraute dem menschenfreundlichen Gott, der sie führt und hält. Es war ein bewusst evangelischer Glaube, aber ohne jegliche konfessionelle Enge. Beim Angelusläuten der katholischen Kirche sprach sie ein Gebet; zu der jüdischen Familie in Künzelsau hielt sie einen herzlichen Kontakt. Diese offene Art prägte später auch ihre Kinder; in der Familie war sie der Mittelpunkt und schuf sie damit auch einen Ausgleich zu der manchmal schroffen Art des Vaters.

Robert und Lina Scholl lernten sich im Reservelazarett in Ludwigsburg kennen. Der Vater kam am 13. April 1891 in Steinbrück zur Welt, in einer Kleinbauernfamilie mit elf Kindern. Sein Lehrer schlug vor, dass er das Gymnasium besuchen solle, aber das war unmöglich. Auch hier reichten die Mittel nicht. So gab ihm der Pfarrer unentgeltlichen Privatunterricht. 1909 konnte der Junge in Stuttgart die Prüfung der mittleren Reife ablegen. Er schlug die Laufbahn eines mittleren Verwaltungsbeamten ein und lernte seinen Beruf von Grund auf. Er arbeitete in einem Rathaus und im Amtsgericht. 1913 machte er die Verwaltungsdienstprüfung.

Im Prinzip war er nun für seinen Beruf vorbereitet, aber im Jahr darauf brach der 1. Weltkrieg aus und Robert Scholl erhielt den Stellungsbefehl. Als überzeugter Pazifist lehnte er den Einsatz mit der Waffe ab; als »garnisonsverwendungsfähig« wurde er zum Sanitätsdienst im Reservelazarett in Ludwigsburg abgeordnet. Dort lernte er die zehn Jahre ältere Lina Müller kennen und verliebte sich in die hübsche Frau. Sie versprachen sich gegenseitig. Lina legte die schwarze Diakonissentracht ab und und im November 1916 heirateten die beiden. »Wir wollen nun glücklich miteinander leben, dies jedoch nicht ins Weite tun, sondern nur für uns und für die, die unserer Liebe bedürfen«, schrieb sie ihrem Mann. Diese Liebe wird sie durch ihr gemeinsames Leben tragen. Für Lina Scholl war dabei ihr großes Gottvertrauen eine Stütze, während ihr Ehemann ein Suchender war und blieb.

Tag für Tag forderte der 1. Weltkrieg Opfer, die kriegsführenden Länder hatten sich in einen grausamen Stellungskrieg verbissen. Für das junge Ehepaar war klar, dass Deutschland den Krieg verlieren werde und musste. Als der amerikanische Präsident den Plan eines weltweiten »Völkerbundes« unterbreitete, war dies für Robert Scholl ein »Markstein in der Geschichte«. Aber die Zeit war für diese Idee noch nicht reif. Am 6. April 1917 erklären die USA dem Deutschen Reich den Krieg.

Nur wenige Monate später trat der junge Verwaltungsbeamte Scholl seine erste Stelle an. Am 2. Juni 1917 erhielt er die Urkunde als »Schultheißenamtsverweser« in der kleinen Gemeinde Ingersheim / Altenmünster, das heißt, er verwaltete die Stelle des Ortsvorstehers, in die er ein Vierteljahr später gewählt wurde.

Am 11. August 1917 kam in der gemeinsamen Wohnung das erste Kind zur Welt, Inge. Dass es nicht das einzige Kind bleiben sollte, darin waren sich die Eltern einig. Ein gutes Jahr später, am 22. September1918, wurde Hans geboren. Die Taufe empfingen die Kinder in der evangelischen Matthäuskirche. Sie waren das Glück der jungen Familie, ein Geschenk in diesen schweren Zeiten.

Nüchtern sah Robert Scholl seine gegenwärtige Aufgabe in der Sicherung des schlichten Überlebens. Seine Tüchtigkeit sprach sich herum.

Das Ende des Krieges war nicht mehr aufzuhalten, im Norden und Süden des Deutschen Reiches erhoben sich Arbeiter und Soldaten zum Aufstand. Am 9. November 1918 rief Philipp Scheidemann in Berlin die Deutsche Republik aus. Die Zeit der Monarchie war zu Ende, es war der Anfang der Demokratie. Überall bildeten sich Arbeiter- und Bauernräte. So auch in Forchtenberg. Der unbeliebte Ortsvorsteher konnte abgesetzt werden, und der Vorsitzende des Rates hatte auch schon einen Nachfolger im Blick: Robert Scholl. Am 19. Oktober 1919 wurde er mit knapper Mehrheit gewählt. In Ingersheim wurden die Koffer gepackt und es ging mit der Postkutsche nach Forchtenberg! Eine richtige Straße gab es nicht, überhaupt machte der gesamte Ort einen recht rückständigen Eindruck. Zwar sahen die Fachwerkhäuser idyllisch aus, aber der Putz fiel von den Wänden. Die Wasserversorgung versagte im heißen Sommer, eine Kanalisation gab es überhaupt nicht. Wenn es stark regnete, überschwemmte das Wasser die Straße. Die Kinder hatten daran ihre Freude: Sie konnten dann auf Stelzen gehen.

Robert Scholl war ehrgeizig und seine Bilanz konnte sich am Ende sehen lassen. Er sorgte für eine Kanalisation, die Straßen wurden ausgebaut, ein Lagerhaus für die Bauern wurde errichtet sowie eine Turnhalle. Und was ihm besonders wichtig war: Der Ort wurde an das Eisenbahnnetz angeschlossen und damit auch mit dem Umfeld verbunden. Die moderne Zeit hielt nun auch in Forchtenberg Einzug. Und als wollte Robert Scholl das noch unterstreichen, stiftete er aus eigenen Mitteln eine Bahnuhr und bemerkte etwas spitz dazu, dass »sie gerne jedem genaue mitteleuropäische Zeit angibt«. Allerdings gelang es ihm ebenso wenig wie seinem Vorgänger, einen Industriebetrieb dauerhaft anzusiedeln.

Robert Scholl war anerkannt und respektiert, aber nicht beliebt. Er blieb distanziert, dabei hätten sich die Bürgerinnen und Bürger wohl eher einen Ortsvorsteher gewünscht, der mit ihnen zusammen in der Gaststätte zusammensaß und einen Schoppen Wein trank. Manchen galt er als »Liberaler« und das machte ihn für viele verdächtig.

Und wie man vieles der jungen Weimarer Republik anlastete, so war in Forchtenberg der Ortsvorsteher an allem Schuld. Inflation und Arbeitslosigkeit drückten schwer auf die Menschen, das bekamen auch die Bauern zu spüren. Kinder haben ein gutes Gespür für die Stimmung, sie erleben es auf ihre Weise, den Applaus, der ihrem Vater gilt, aber auch den Neid und die Häme. Dennoch, für sie war Forchtenberg ein Idyll.

Die Familie war mittlerweile herangewachsen. Am 27. Februar 1920 kam Elisabeth zur Welt, im Jahr darauf, am 9. Mai1921, die dritte Tochter: Lina Sofie, so steht es in der Geburtsurkunde. Sofie war der Rufname, in den Poesiealben ihrer Freundinnen schrieb sie ihren Namen mit ph, später bevorzugte sie diese Schreibweise konsequent. So wird ihr Name heute allgemein wiedergegeben; in diesem Buch ist es deshalb auch nicht anders.

Wieder ein Jahre später, am 13. November1922, wurde Werner geboren. Während die Älteren viel zusammen waren, hingen die beiden Jüngsten sehr aneinander. Manchmal sah man die beiden Hand in Hand über die Wiese gehen. In der Familie lebte auch Ernst Gruele, der seltsamerweise bei den Geschwistern keine Erwähnung findet, allenfalls als Pflegesohn genannt wird. In Wirklichkeit aber war er ein unehelicher Sohn Robert Scholls.

Statue des Drachenkämpfers Michael vor der ev. Kirche in Forchtenberg

Foto: Werner Milstein

Das Haus war immer voller Leben, und die Mutter hatte alle Hände voll zu tun. Dabei gingen ihr zwei Mädchen zur Hand, die aus den umliegenden Bauernhöfen stammten und bei ihr den Haushalt erlernten. Daneben besuchte die Mutter auch Bedürftige und Kranke in der Gemeinde und unterstützte sie. Am Sonntag hielt sie in der Michaelskirche den Kindergottesdienst, der im schwäbischen »Kinderkirchle« genannt wurde.

Mit der Pfarrerfamilie waren die Scholls gut befreundet und im verwilderten Pfarrgarten spielten die Kinder oft miteinander. Gemeinsam führten sie ausgedachte Märchenstücke auf. Die Leitung hatte dabei die älteste Schwester, Inge, die sogar einmal eine richtige Kinderoper schrieb. Sophie stattete die Aufführungen künstlerisch aus, dabei fiel ihr zeichnerisches Talent auf.

Dann stürmten die Kinder zur Burgruine hoch – bis der Vater eines Tages das Gelände absperren ließ, weil es zu gefährlich war –, oder sie plätscherten übermütig am Kocher. Im Wald richteten sie mit Steinplatten Wohnungen ein, überhaupt spielte Sophie gerne mit Puppen. Ein Puppenbett mit Rollen wünschte sie sich, dort wolle sie eines Tages ihr eigenes Kind hineinlegen.

Von ihr ist ein Aufsatz über »Kleine und große Feste im Jahreslauf« erhalten. Darin schrieb sie auch über den Badetag, bei dem es manchmal hoch herging und die Kinder sich um den Schwamm oder auch ein Papierschiffchen stritten. Dazu mietete die Mutter übrigens die Badestube des Bäckers an, wobei sie großen Wert darauf legte, dass die Kinder sich selbst wuschen. Erst wenn es zu heftig zuging, beendete sie das Vergnügen. Der Weg nach Hause war nicht lang und so saßen die Kinder dann am Abend auf ihren Betten, tranken heiße Zuckermilch, aßen leckeres Honigbrot und hörten der Mutter zu, die den Kindern ein Märchen erzählte.

Bücher spielten von Anfang an eine große Rolle im Elternhaus. Neben den Märchenbüchern von Wilhelm Hauff und den Gebrüdern Grimm standen der Struwwelpeter und das Ludwig-Richter-Hausbuch im Regal und dazu auch die illustrierte Bibel von Schnorr von Carolsfeld. Beliebt war das von Sibylle von Olfers verfasste Buch von den Wurzelkindern, das von Kindern erzählt, die die Geborgenheit der Erde verlassen, sich auf ihren eigenen Weg aufmachen und zuletzt wieder zur Erde zurückkehren. Es war kunstvoll mit Jugendstilbildern ausgeschmückt und versuchte, den Kindern in einer symbolischen Sprache die Natur verständlich zu machen. Natürlich fehlten auch Bücher mit Gedichten und Liedern nicht.

Am 22. März 1925 kam das jüngste Kind zur Welt, Thilde. Schnell bildete es den Mittelpunkt der Geschwister, stundenlang konnte Sophie mit ihm spielen. Die Kleine konnte gerade laufen, da wurde sie auf den Schlitten gepackt und es ging raus. Ein fröhliches Weihnachten feierten sie gemeinsam, aber kaum hatte das neue Jahr begonnen, erkrankte Thilde an Masern. Der erste Todeszettel für das Jahr 1926 wurde auf ihren Namen ausgestellt. Sie starb in der Nacht auf den 5. Januar.

Ein Vers aus dem Jeremiabuch wurde zu ihrem Grabspruch. »Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir genommen aus lauter Gnade.« (Jeremia 31,3) Das unerschütterliche Vertrauen in Gott hat die Mutter diesen schmerzlichen Verlust tragen lassen, Vertrauen in einen Gott, dessen Wege wir nicht immer verstehen. Nun war Sophie die jüngste Tochter. Sie, der Mutter in manchem so ähnlich, galt als ihr »Sonnenschein«.

Sophie Scholl auf einem Zaun sitzend

© Stadtarchiv Crailsheim/Slg. Hartnagel

Inge und Hans gingen in die evangelische Volksschule, während die Jüngsten zur Kleinkinderschule gingen. Es war der erste Kindergarten in der Region und der zweite in ganz Württemberg. 1832 wurde er von einem evangelischen Pfarrer als »Spielschule« gegründet zur »Erleichterung für Eltern mit Berufsgeschäften«.

Am 1. Mai 1928 wurde Sophie in der Volksschule von Forchtenberg eingeschult. Sie wird als still und zurückhaltend beschrieben, aber sie konnte auch sehr selbstbewusst sein. Aus der Zeit, als sie in der ersten Klasse war, wird die Anekdote erzählt, wie sie für ihre Schwester Liesl (Elisabeth) eintrat, die sie ungerecht behandelt sah. In der Volksschule waren immer zwei Klassen in einem Raum zusammengefasst, und es war üblich, dass die besseren Schülerinnen und Schüler vorne saßen. Das hing aber von der Tagesform ab, so dass es immer wieder dazu kam, dass sie sich umsetzen mussten. Einmal kleckste Liesl mit dem Füller in ihr Heft, als Strafe musste sie nach hinten rücken.