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Blütsbrüder wollten sie werden. Das hatten sie sich fest vorgenommen. Doch als Ole Henrik sich mit der Glasscherbe in den Arm ritzt, hört es einfach nicht mehr auf zu bluten. Mit dem Notarztwagen kommt Ole Henrik ins Krankenhaus und Viktor, sein jüngerer Bruder, sieht die Angst in Ole Henriks Augen. Eine Angst, die mehr ist als die Furcht vor den fünf Stichen, mit denen der Arzt den Schnitt in Ole Henriks Arm näht. Von einem Moment auf den anderen ändert sich für Viktor alles: Erste große Liebe, erste Enttäuschung, Loslösung vom religösen Umfeld der Familie – plötzlich ist er kein Kind mehr. Auch Ole Henrik genießt diese Jahre. Doch während Viktor sein ganzes Leben noch vor sich sieht, beginnt für seinen Bruder der Kampf gegen eine schwere Krankheit.-
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Seitenzahl: 234
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Saga
Alles war ganz still.
Das Einzige, was wir hören konnten, war der Frost. Wir saßen im Kreis, die Köpfe gesenkt. Versuchten den Blick auf die Finger, im Schoß gefaltet, zu konzentrieren. Die Kerzenflamme flackerte in einem schwachen Luftzug und unsere Schatten tanzten gespensterhaft an den Wänden. Wir saßen auf einem Eisblock und jeder atmete die Luft der anderen ein. Keiner konnte sich rühren. Ich fühlte, wie mir der Schweiß den Rücken hinunterlief, obwohl die Luft kalt wie ein Spiegel war.
Wir waren verwirrte Magneten in einer Eisenhöhle und wussten, dass es fürchterlich wehtun würde.
Wir saßen in der Eishockeybude, der kleinen Baracke, in der wir uns aufwärmten, wenn es draußen auf dem Eis zu kalt wurde. Das Dach senkte sich jeden Tag ein wenig mehr, die Fenster waren ganz grün vom Schwitzen und die Türen klammerten sich mit rostigen Scharnieren fest. Wir saßen um eine kleine Kerze, die den vierten Sonntag im Advent überlebt hatte, und warteten darauf, dass jemand den Mut haben würde. Es hieß jetzt ... oder erst nächstes Jahr. Wir wussten, wenn einer es tat, mussten es alle tun. Der Frosthauch aus unseren Mündern vermischte sich mit dem Ruß der Flamme, die sich streckte und jedes Mal, wenn ein Luftzug die Bude durchfuhr, eine Rauchwolke losschickte.
Ich war matt und durchgefroren. Ich fummelte am Reißverschluss herum und ließ die anderen glauben, dass ich anfangen wollte. Aber ich wartete. Jede Minute war wie eine Stunde. Jede Stunde wie ein Jahr.
Und natürlich war es Roger, der anfing. Ein kleines Aufblitzen in der blauen, wattierten Weste und er saß mit einem Schlittschuh in der Hand da. Die Kerze flackerte und ich hoffte fast, sie würde ausgehen, denn wir hatten keine Streichhölzer mehr. Mitten im Kreis lag eine Colaflasche. Roger wog den Schlittschuh in seiner Hand und schaute durch uns alle hindurch. Arnor verkroch sich in seiner Head-Jacke. Sein Stirnband rutschte ihm über die Augen. Jarle starrte Roger an.
„Nun ist es also so weit“, sagte Roger.
Ich glaube, wir alle schlossen die Augen, als er mit der Schlittschuhkufe auf das Glas hieb. Ein Klirren stach in die Ohren. Die Colaflasche lag in mehrere Scherben zerbrochen vor Roger. Arnor hielt sich die Wange, die Augen weit aufgerissen. Es sah aus, als wollten ihm die Pupillen auslaufen. Jarle hob eine große Glasscherbe auf.
„Bitte schön, Blutsbrüder“, sagte er und deutete auf die zerbrochene Flasche. „Es wird langsam spät.“
Und da saßen wir. In der Eishockeybude. Direkt hinter Gressbanen. In Tønsbergs kältester Aufwärmhalle, an einem der letzten richtigen Wintertage. Jeder mit einer Glasscherbe in der Hand. Scharf, dreieckig und bleischwer. Am Rand meines Stücks sah ich ein paar Kringel von der Schrift. Wir wollten Blutsbrüder werden.
Es würde wehtun. Wir wollten uns jeder mit seiner Glasscherbe in die Hand schneiden und dabei auf ein gefrorenes Stück Schokolade beißen. Dann wollten wir alle unsere Wunden aneinander reiben, damit das Blut sich mische. Und so wären wir Blutsbrüder. Jarle hatte uns versichert, dass wir keine Narben bekommen würden.
„Man muss nur anfangen“, sagte Roger. Seine Hand sah fast blau aus und er konnte nicht ganz verbergen, dass sein Kinn zitterte, während er sprach.
Arnors Zähne klapperten und die eine Hand schien an seinem Gesicht festgeklebt zu sein. Roger atmete schwer aus und sogar die Kerze flackerte nicht mehr, als er langsam die Glasscherbe auf seine Handfläche drückte. Er hielt einen Moment lang inne.
„Die Schokolade.“
Er nahm zwei Rippen und schob sie zwischen die Kiefer. Dann richtete er sich ein wenig auf und drückte die Scherbe in seine Hand. Sein Gesicht zog sich zusammen. Der blonde Pony fiel ihm in die Stirn. Ich hielt meine Glasscherbe krampfhaft fest und wollte sie um nichts in der Welt loslassen. Wir warteten. Ich schaute Roger an.
„Ich krieg’s nicht hin“, sagte Roger und lehnte sich zurück.
Alle sahen ihn an.
„Es ist einfach zu kalt. Ich schaff es nicht.“
„Wer soll’s dann machen?“, fragte Arnor fast erleichtert.
„Vielleicht der Älteste“, sagte Roger. Grinste dabei in die Ecke, in der Ole Henrik ganz still gesessen hatte.
Ich sah nur Schatten auf seinem Gesicht. Konnte das Eis draußen zwischen den Banden springen hören. Er war mein Bruder. Er war zwei Jahre älter als Roger, Arnor und ich.
Ole Henrik beugte sich steif vor. Er lächelte, als hätte er es die ganze Zeit gewusst. Immer war er es, der alles in Ordnung brachte. Er schob sich zwei Schokoladenstücke zwischen die Zähne, schloss den Mund und legte das Glasstück an seinen Handrücken. Es war eine viel kleinere Scherbe und es sah aus, als wollte er versuchen an seiner Hand zu schnitzen. Er kniff die Augen zusammen und murmelte etwas, die Zunge schlug gegen den Gaumen. Seine Finger krümmten sich um das Glasstück. Der Blick wurde flach und die Augen zogen sich nach oben wie bei einem Chinesen, der Kiefer arbeitete sich durch den Kopf und ich konnte es in seinem Nacken knirschen hören.
Wir hörten ein Knacken. Ein merkwürdig trockener Laut, als ob wir über gefrorene Pfützen gingen und das Eis nicht hielt. Der Ärmel von Ole Henriks Thermojacke war hochgeschoben und ein langer Schnitt lief gezackt den Unterarm hinauf. Ein kleines Stück des Arms war geöffnet wie mit einem Dosenöffner. Brennende Eishockeyhandschuhe schlossen sich um meinen Magen. Ole Henrik sah auf seinen Arm hinunter. Er sagte nichts. Schaute wieder auf. Sein Blick versuchte zu mir hinüberzugleiten, er war glänzend wie zwei Fünfer und schwer wie Gewitterwolken. Die Haare fielen ihm wie zerfetztes Dunkel ins Gesicht. Ich hatte ihn nie so gesehen, so klein, allein und sprachlos. Der Donner rollte und die Wangen brannten. Es gelang ihm nicht mehr, den Blick von seinem Arm abzuwenden. Ole Henrik kippte langsam auf die Seite. Roger mühte sich ab ihn aufrecht zu halten. Arnor saß bewegungslos da, die Augen weit aufgerissen. Ole Henriks Hand war eine weiße Klaue, die sich um die Glasscherbe schloss. Mir war kalt, ich hatte Angst und begriff gar nichts.
„Verdammter Scheiß, verdammter Scheiß, verdammter Scheiß“, flüsterte Jarle leiser als das Glaubensbekenntnis.
Da öffnete Ole Henrik den Mund und die Baracke begann zu schmelzen. Ruß fiel die Wände hinab, das Dach sank um zwanzig Zentimeter.
„Scheiße“, sagte Roger und das war das erste Mal, dass ich ihn fluchen hörte.
Der Skispringer stolperte am Absprungkopf und ich spürte, wie jeder Würstchenbiss mir ganz oben im Hals feststeckte. Ich hielt mir die Augen zu. Ole Henriks Mund war voller Blut. Es sah aus, als hätte er versucht eine Flasche Ketschup zu essen ohne den Deckel abzuschrauben. Ein winziges Stück seiner Zunge, ganz am Rand, hing schaukelnd herunter. Ole Henrik starrte uns an, Groschen begannen aus seinen Augen zu tropfen.
„Guck nicht runter“, sagte Roger. Ole Henrik fing an zu husten. Dicke, rote Tropfen klatschten auf den Boden. Er hielt sich den Bauch. Jemand versuchte aus der Baracke rauszukommen. Ole Henrik hustete wieder und Klumpen und Schleim liefen ihm aus dem Mund. Die Zungenspitze klebte an seinem Kinn. „Keine Panik, das ist nur die Schokolade!“, schrie Roger und deutete auf den Blutmatsch.
„Schokolade?“, fragte Arnor. Ich glaube, er war es, der versuchte rauszukommen.
„Er hat sich in die Zunge gebissen“, sagte Roger.
Überall war Blut. An den Wänden, an denen Ole Henrik sich abgestützt hatte. Auf seiner Jacke. Auf der Kerze.
„Wir müssen ihn rausbringen“, sagte Roger endlich. Er packte Ole Henrik an den Schultern und schob die Tür auf. Eine Blase frischer Luft drang herein und verhinderte, dass ich mich übergab. Ole Henrik schüttelte den Kopf.
„Wir müssen dir raushelfen“, sagte Roger, „du hast dir ’n bisschen auf die Zunge gebissen.“
Ole Henrik sah Roger an und ging hinaus.
Roger hielt Ole Henrik fest, während Jarle und ich Schnee auf die Flecken schaufelten, der immer wieder von neuen Blutstropfen bedeckt wurde. Ich hörte Arnor auf der anderen Seite der Baracke eklig husten.
„Wir brauchen Hilfe“, sagte Roger.
„Wirklich?“, fragte Jarle.
„Verdammt noch mal, wie kann man nur so viel bluten!“ Roger fluchte wieder.
„Was sollen wir sagen?“, fragte Jarle. Er war auf die ganze Sache mit der Blutsbrüderschaft gekommen, und dass danach nichts mehr wie vorher sein würde, dass wir dann sogar stärker miteinander verbunden wären als normale Brüder.
„Okay“, sagte Roger. „Wir müssen alle die gleiche Geschichte parat haben. Können wir nicht behaupten, er hätte leider ganz fest in die Schokolade gebissen, dabei die Zunge zwischen die Zähne bekommen und sich deshalb mit der Glasscherbe am Arm verletzt?“
„Was sollen wir nur sagen?“, jammerte Jarle. Er wohnte am nächsten und ihm war klar, dass er es war, der Hilfe holen musste.
„’n anderer Vorschlag?“, fragte Roger. Ich hörte, dass Arnor immer noch spuckte. „Okay“, fuhr Roger fort, „er ist gestolpert, als er dein Taschenmesser in der Hand hatte, Jarle. Er wollte es auf keinen Fall im Schnee verlieren und hat versucht es festzuhalten. Dabei hat er sich mit dem Messer in den Arm geschnitten.“
Totenstille.
„Hast du gehört?“, fragte Jarle Ole Henrik. Ole Henrik starrte Jarle an.
„Kein besserer Vorschlag?“, fragte Roger.
„Ob die das schlucken?“ Arnor zweifelte.
Jarle war bereits auf dem Weg zum Haus hinunter.
Sie schluckten es. Jarles Vater, Hausmeister bei der Volksbibliothek, wickelte ein Handtuch um Ole Henriks Arm und presste eins auf seinen Mund. Er setzte sich sofort ins Auto und fuhr ihn zum Notarzt. Von dort rief er Vater und Mutter an.
Mutter umklammerte den Blumenstrauß, den sie für Ole Henrik gekauft hatte. Tränen, groß wie Dornen, rannen ihr über die Wangen. Vater setzte die ganze Zeit seine große, viereckige Brille auf und ab. Er putzte immer wieder die Gläser und sprach leise mit Mutter. Lächelte mir zu. Das kann jedem passieren, meinte er. Ein Unglück ist nun mal ein Unglück.
Und es hatte schlimmer ausgesehen, als es war. Ole Henrik bekam eine Naht mit fünf Stichen in den Arm, seine Zunge wuchs von allein wieder zu. Er hatte eine ganze Menge Blut verloren und musste die Nacht über im Krankenhaus bleiben. Aber ich konnte mir den Blick einfach nicht erklären, den Ole Henrik mir in der Eishockeybude zugeworfen hatte. Ich wusste nur, dass mehr darin war als die Angst vor fünf Stichen. Dass etwas darin war, das niemand von uns verstand. In mir kroch langsam die kalte Gewissheit hoch, dass wir nie Blutsbrüder werden würden.
So fing es an. Ole Henrik ließ die Glasscherbe nie wieder los.
Am nächsten Tag ging Mutter noch vor dem Gottesdienst zu Ole Henrik ins Krankenhaus. Und wie immer an diesen Sonntagen, an denen Vater Kirchendiener war, ging ich mit ihm eine Stunde früher als sonst in die Kirche.
„So“, sagte Vater.
Der Schnee begann zu schmelzen. Der Winter war eigentlich schon lange vorbei, das Eis auf dem Hockeyfeld weich und unzuverlässig. Der Schnee wurde gröber, sah eher aus wie Zucker. Ruß und Dreck formten gesprenkelte Muster auf dem Weiß. Die Sonntagsstiefel blieben stecken und an mehreren Stellen auf der Straße konnte man schon einen Flecken Asphalt sehen.
Ein Streichholz fiel zu Boden. Das Echo legte sich schwer auf meine Ohren. Das Echo in der Kirche. Ich schaute über die Stuhlreihen. Das Streichholz war ein schlaksiger Neger, der sich seinen dünnen, rabenschwarzen Nacken auf dem Steinfußboden gebrochen hatte. Der Kopf rollte fort. Vater sammelte den knochigen, toten Körper auf.
„So“, sagte er wieder. „So kannst du alle Kerzen mit einem einzigen Streichholz anzünden.“
Sieben Arme hielten jeweils eine Kerze. Zusammengebunden an den Ellbogen. Vater schlug die Bibel in der Mitte auf und ging um den Altar herum.
„Es hat eine Weile gedauert, bis ich das gelernt hatte“, sagte er. Setzte sich in die vorderste Stuhlreihe, der lange Körper sank zu mir herab. Er lehnte sich zurück. „Dazu war ziemlich viel Übung nötig.“
Er streckte mir zwei schrumplige Finger ins Gesicht.
„Siehst du?“, fragte er. Seine Brille rutschte auf der Nase.
Ich schaute seine Finger an. Die Nägel. Die Gelenke. „Narben“, sagte er. Ich wartete darauf, dass seine Brille weiter hinunterrutschte. Sah zwei kleine Spuren an seinen Fingerspitzen.
„Narben erzählen eine ganze Menge“, sagte er ernsthaft. „Alle Narben haben eine Geschichte. Siehst du meine?“
Ich nickte. Er betrachtete seine Finger.
„Das Streichholz war immer heruntergebrannt, bevor ich alle Kerzen angezündet hatte. Aber ich gab nicht auf. Oft schaffte ich es fast. Aber nur fast – das Streichholz brannte nach der sechsten Kerze ab und ich verbrannte mir die Fingerspitzen. Alles eine Frage der Technik. Der Kontrolle. Der richtigen Bewegungen.“
Er zündete in der Luft eine Kerze an mit Gesten wie ein mittelmäßiger Zauberer.
„Ich habe es einmal mit längeren Streichhölzern versucht. Mit einer anderen Sorte. Mit blauen Köpfen. Aber das war nicht erlaubt. Vater, also dein Großvater, hat mich getadelt. Nur die gewöhnlichen Nittedals-Hjelpe-Streichhölzer zählten.“
Er legte eine Streichholzschachtel zwischen uns. Eine ganz gewöhnliche Streichholzschachtel mit einem großen, dunklen Baum vor einem Sonnenuntergang darauf.
„Erst vor kurzer Zeit habe ich die Narben entdeckt. Ich habe mich ja damals oft verbrannt, habe aber nie darüber nachgedacht – bis vor kurzem, als ich mir morgens die Nägel schnitt. Die Narben waren immer da, aber ich habe sie nicht gesehen.“
„Hast du noch mehr Narben?“, fragte ich.
Er überlegte eine Weile.
„Nicht, dass ich wüsste“, antwortete er.
„Waren Großvater und du so wie wir jetzt in der Kirche?“, fragte ich.
„Ja, weißt du, ich hatte ja nur Schwestern, die sind dann mit meiner Mutter, mit Großmutter, gekommen, wenn der Gottesdienst anfing.“
„Und was ist mit Blutsbrüdern?“, fragte ich.
„Was?“, hakte Vater nach, das Gesicht auf eine Wand gerichtet.
„Ach, nichts“, sagte ich.
Vater lächelte und hängte einige Schildchen mit Zahlen untereinander an kleine Nägel in der gemauerten Wand. Große Schildchen für die Liednummern und kleine für die Strophen. Er verteilte die Gesangbücher und zündete die übrigen Kerzen an, lächelte freundlich und ordnete alles.
„Ole Henrik hat reichlich geblutet“, sagte ich leise.
Vater stapelte ein paar Stühle.
„Die sind unglaublich tüchtig in solchen Krankenhäusern“, sagte Vater. Er war zu spät gekommen, hatte all das Blut nicht gesehen. „Dein Bruder ist ein zäher Bursche. Er schafft es immer.“
Vater blieb stehen und schaute mich durch die dicken Brillengläser an.
„Das muss ziemlich wehgetan haben“, sagte ich und dachte an den glänzenden Blick, den Ole Henrik mir zugeworfen hatte. Ich sah den hölzernen Jesus an ein Kreuz genagelt über dem Altar hängen. Die Arme zur Seite ausgestreckt. Blut an den Händen. Die Dornenkrone wie ein gezacktes Stirnband um den Kopf. Schwarze Haare im Gesicht.
„Ein Unglück kann jedem zustoßen“, sagte Vater.
Ich hielt mich an den geflochtenen Kirchenstühlen fest. Die Stühle knarrten, wenn man sich bewegte. Langsam kamen die Leute herein. Mutter schlich sich zu mir heran und erzählte, dass Ole Henrik noch erschöpft, aber in guter Verfassung sei. Sie trug diesen riesigen Schal mit großen, grünen Blumen. Setzte sich weit hinten hin. Alles knarrte. Das Altersheim war geleert worden und die Kirche raffte das Leben an sich. Wir, die zur christlichen Sonntagsschule gehen sollten, wippten die Minuten, die wir beim Gottesdienst dabei waren, auf den Stühlen der ersten Reihe. Bereit in den Keller hinunterzustiefeln, wenn die Pfarrersfrau das Signal gab. Ich fühlte einen Ast auf der Schulter. Die spröde Hand des Alten in der Stuhlreihe hinter mir hatte sich aus dem Mantel geschoben und schlug auf meiner Schulter Wurzeln. Ein Hörapparat baumelte an seinem Ohr. Wie ein riesiger, batteriebetriebener Ohrring.
„Du wirst mal so groß wie dein Vater, mein Junge“, platzte es aus seinem Mund. Zwei andere Alte in der zweiten Reihe schliefen. „Ich habe erst nach der Konfirmation angefangen zu wachsen.“
Pfarrer Arne hieß uns willkommen. Der Kirchengesang wälzte sich mit zwei Tonnen Echo unter den Stühlen entlang. Ein Echo, das einen brechenden dünnen Negerhals, das herunterfallende Notenheft des Organisten und die leisen Worte ins Ohr des Nebenmannes auffing. Bevor die Predigt anfing, liefen wir an Frau Arnes Rockzipfel unter dem Schild „Wir gehen in die Sonntagsschule“ hinaus.
Im Keller zeichneten wir Brot und Fisch, Kain und Abel. Kain schlug Abel tot, Esau band sich Fell um die Arme, Jesus beruhigte den Sturm und ich ging in die Fünfte und sang wohl die letzte Strophe. Wir blätterten in den Heften, schielten ein bisschen zum Nachbarn und schaukelten eine halbe Stunde lang mit den Beinen. Die Sonntagsschulkarten wurden ausgeteilt. In diesem Jahr zeigten sie einen Baum, der mit Äpfeln gefüllt werden sollte, im letzten Jahr war es ein Netz gewesen, das mit Fischen gefüllt werden musste. Frau Arne klebte kleine Äpfel in unsere Bäume. Ein Apfel für jedes Erscheinen. Bei jedem fünften Apfel durften wir uns ein Kärtchen aussuchen. Ein Kärtchen mit einem Bild von Jesus mit Ring über dem Kopf, Sternen in den Augen und Lämmern im Arm, von Jesus beim Mittagessen mit den Jüngern oder von brennenden Johannisbeersträuchern. Es gab schöne Jesusse in bunten Farben. Sie sahen fast ein bisschen weibisch aus. Ich suchte mir an diesem Sonntag einen Jesus aus, der mit seinem Stab an eine Tür klopfte. Im Hintergrund schneite es dort in Israel – dachte ich, aber Frau Arne war ganz sicher, dass es keine Schneeflocken, sondern Sterne waren.
Wir warteten auf den absoluten Höhepunkt der Sonntagsschule. Wir warteten auf den Abschluss und „Wag zu widerstehn wie Daniel“. Wir sangen uns heiser über Daniel, den mutigen Daniel in der Löwengrube. Daniel war der Mutigste. Zusammen mit seinen Männern. Seinen Brüdern.
Stehe ein für ein heiliges Ziel,
zu Christus dich bekenne!
Steh in der Reihe fest wie Stahl
Und kämpfe wie Daniels Männer.
Wag zu widerstehn wie Daniel,
Hilfe dir vom Himmel kommt,
Setz dich ein für ein heilig Werk,
Sprich drüber, wie sich’s frommt.
Dann war es vorbei und wir taumelten in den Schnee hinaus. Sonntagvormittag. Ein bleischwerer Himmel platzte hinter den Hochhäusern auf. Wir waren durch den Behindertenausgang hinten aus der Kirche gekommen. Und das Unglaubliche geschah. Eine kleine Schneebö war vorbeigeweht, während wir unten in der Sonntagsschule saßen, und die allerletzte Schneeflocke landete nun sanft auf meinem Fausthandschuh, den ich ihr entgegenstreckte.
Der Himmel platzte in der Enggate. Der Schnee war so weiß und frisch, dass er fast ins Bläuliche überging. Wie die Seiten in dem kleinen Einführungsbuch der Sonntagsschule. Glänzend mit hellblauen Linien. Der Schnee bedeckte alles. Ich betrachtete meine Schneeflocke genau. Sah die gespreizten Äste. Genau wie die eines kleinen Baums. Alle Menschen sind verschieden, sagte die Pfarrersfrau immer, genau wie Schneeflocken. Keine Schneeflocke ist wie die andere. Kein Baum ist wie der andere. Die Luft war schwer. Ich hielt die absolut letzte Schneeflocke dieses Winters in der Hand. Es hatte auf das Kruzifix geschneit. Ich dachte an den Jesus auf dem Altar. Mit Blut an den Händen. Ich sah Ole Henrik in der Eishockeybude vor mir. Das Blut auf den Armen. Der Blick.
Wir liefen um die Kirche herum zum Haupteingang um auf unsere Eltern zu warten, die aus dem Gottesdienst kamen. Roger schleppte sich mit Arnors Sonntagsschulbeutel und einem dicken Tuschkasten ab. Ich blieb an der Kirchentreppe stehen.
Die Kirchentür ging auf und die Erwachsenen schoben sich wie eine träge Dachlawine heraus. Die Alten tasteten sich mit ihren Stöcken vor. Kinderwagen holperten die Treppenstufen herunter. Eltern grüßten und nickten sich zu. Pfarrer Arne stand wie ein schlechtes Beispiel im Türrahmen. Er gab allen die Hand. Schüttelte die alten Hände und tätschelte die jungen. Vater schlich sich mit einer Schaufel in der Hand vorbei. Er schob den Schnee fort, der die vereisten Steinplatten bedeckte. Träger alter Hüte und schlechter Hörapparate musterten Vater misstrauisch, bevor sie sich auf die frisch geräumten Wege wagten. Er streute nun Sand aus einem roten Eimer. Vater räumte pflichtbewusst auch die letzten Schritte zu einem wartenden Taxi. Ich blieb bei Arnor, seiner Großmutter und seinen Eltern stehen.
„Was habt ihr denn heute gemacht?“, fragte Arnors Mutter.
Arnor war etwas kleiner als ich und hatte immer blasse Haut. Sein Mund stand offen und seine Lippen glänzten. Die Ohren waren groß, abstehend und durchsichtig. Arnor blinzelte nie. Seine Arme waren hinter seinem Rücken verschwunden.
„Lass mal sehen“, sagte Arnors Mutter. Lächelte und zupfte ihn an der Schulter.
„Es ist nichts“, murmelte Arnor und zog die Hand aus dem Leim an seinem Rücken. Die Mutter drehte die weiße Tüte um. Sie erwartete ein Bild von Kindern zu sehen, die unter dem Stichwort „Wir gehen in die Sonntagsschule“ hintereinander herliefen. Arnors Mutter stieß Reifwolken aus der Nase. Sein Vater verbarg ein Lächeln in seinem Schal.
„Was ist das denn?“, fragte Arnors Mutter. Sie zog die andere Hand aus ihrer karierten Tracht hervor und deutete auf die Tüte.
„Das war Roger, der hat das gemacht“, flüsterte Arnor. Mit ein paar Tuschestrichen hatten die beiden Kinder vorn im Bild einen hässlichen Mittelscheitel bekommen, lange Haare an den Armen, Blasen im Schritt und teuflische Masken. „Kiss“ stand mit blitzenden S darunter. Großmutter Kongo starrte Arnor an, fünfzig abtrünnige Zulus im Blick. Unzählige Male hatte sie von dem halben Hundert afrikanischer Eingeborener erzählt, die am selben Tag vom rechten Glauben abgefallen waren. Großvater Kongo hatte früher als Missionar gearbeitet und acht Jahre gebraucht um eine kleine christliche Gemeinde im Missionsgebiet in Zululand zu gründen. An einem Nachmittag war ein alter Medizinmann aufgetaucht. Er hatte fünfzig getaufte Zulumänner überredet ihn auf eine Expedition zu begleiten, um den Geist irgendeines Vorfahren zu suchen. Das muss der Teufel in Menschengestalt gewesen sein, sagte Großmutter Kongo immer.
„Hast du das etwa gelernt?“, fragte Arnors Mutter. Ihre Tracht entfaltete sich in großen Karos.
„Wir haben gelernt, dass Gott alle Schneeflocken geschaffen hat“, antwortete Arnor. Seine Augen waren steingrau. Arnors Vater war damit beschäftigt, eins seiner Kinder zu hindern sich selbst ins Ohr zu beißen.
„Schneeflocken!“, schnaufte die Mutter. „Setz dich nicht wieder zu diesem Jungen.“
Die Familie Kongo, wie Arnor mit Nachnamen hieß, schlug den Heimweg ein. Auch Mutter und ich begannen unseren Aufstieg zum Sonntagsessen. Die Kongos bogen in die Saxildsgate ein.
„Wartet mal!“, rief jemand. Reidar kam in einer weißen Eisscholle neben Mutter und mir angeflogen. Sein Kopf stach aus seinem neuen Citroën hervor. Mutter bekam ein paar Schneeflocken auf die Wimpern. Die Scheibenwischer des Autos schoben die leichte Schneeschicht von der Windschutzscheibe fort.
„Ihr seid so schnell weggegangen“, sagte Reidar zu Mutter. Reidar war im Gemeinderat und wohnte allein in einem riesigen Haus unten in der Bøtgersgate.
„Ja“, sagte Mutter. Bürstete sich eine Schneeflocke vom Rock.
„Ole Henrik?“, quiekte er. „Geht’s ihm gut?“
Die Augen waren groß und weiß wie die Felgen seines Autos. Reidar rieb sich das Kinn und blies beim Ausatmen die Luft in die Wangen.
„Ja“, sagte Mutter. „Wir holen ihn heute Abend ab.“
Reidar schloss die Augen. Atmete auf. Er murmelte etwas vor sich hin. Fuhr sich mit der Hand über die starren Locken.
„Gott sei Dank, Gott sei Dank.“
Er sah Mutter an und ich hätte schwören können, dass in seinem Augenwinkel eine Träne hing.
„Ich wollte dich in vierzehn Tagen übers Wochenende in die Hütte einladen, sozusagen für die letzte Skifahrt in diesem Winter“, sagte Reidar.
Mutter erstarrte.
„Na, ich meine, euch alle zusammen“, fuhr er locker fort.
Mutter überlegte.
„Ich weiß nicht, ob das geht ...“
„Ach, natürlich geht das. Das ist auch gut für Ole Henrik, weißt du.“
Reidar schob den Arm aus dem Autofenster und kratzte Schnee vom Seitenspiegel ab. Vater holte uns ein und stellte sich neben das Auto.
„Ein schöner Gottesdienst war das. Ingrid hat gerade zugesagt, dass ihr in vierzehn Tagen mit in die Hütte kommt“, erklärte Reidar lachend, „die ganze Familie. Für Ole Henrik.“
Vater nickte.
„Ein schöner Gottesdienst“, erwiderte Vater und zog sich zurück.
„Dann ist das also abgemacht“, sagte Reidar. Mutter schien erleichtert. „Wir haben eine Verabredung!“, rief Reidar. Das Fenster glitt hoch und er bog in seine Straße ab.
„Zum Gottesdienst mit dem Auto“, murmelte Vater.
„Warum können wir uns nicht auch ’nen Citroën kaufen?“, warf ich ein.
„Französische Autos rosten“, sagte Vater.
Wir latschten in den Resten von einem Millimeter Neuschnee den Wergelandsvei hinauf. Ich lief etwas voraus. Mutter und Vater gingen eingehakt Arm in Arm. Sonst nie, nur von der Kirche. Vater ging eigentlich mit der Hand in der Tasche, aber so, dass Mutter ihren Arm um seinen legen konnte. So gingen die beiden die Straße hinauf, sie ein wenig zu ihm geneigt, mit nichts anderem in Händen als Vater. Als würde ein Besuch in der Kirche sie an etwas erinnern, was sie einst einander versprochen hatten.
Der Schnee knirschte und ich summte den Schluss von Daniels Männern. Alle Schneeflocken waren verschieden. Sie fielen vom Himmel herab und legten sich weiß auf die ganze Welt. Es schneite unter dem Himmel, als Jesus an die Tür pochte. Da war ich mir ganz sicher.
„Hier kommt der Champion!“, schrie Reidar. Er trug einen eng anliegenden Skianzug und hatte Skier mit einer modernen Bindung wie die Skisportler im Fernsehen. Er schoss davon, stieß die Beine wie ein Profi zur Seite aus. Die Sonne brannte und wir stakten in zwei Reihen vorwärts.
„Was für ein Wetter“, sagte Mutter matt.
Vater lief in Kniebundhosen und altmodischer Winterschirmmütze mit langen, langsamen Schritten. Er war fast so schnell wie Reidar, aber es sah aus, als stünde er auf den Skiern still. Mutter lief ruhig. Machte ab und zu eine Pause. Dann drehte Reidar sich um und lief zu ihr zurück. Lief mit ihr zusammen, bis sie Ole Henrik und mich erreicht hatten, die auf sie warteten. So ging es die ganze Zeit. Immer ruckartig in Schüben vorwärts. Nur Vater lief gleichmäßig ohne anzuhalten. Machte ab und zu mal einen Schlenker.
„Es ist gut, dass die Jungs mal ein bisschen Ski laufen können“, sagte Reidar.
„Ja.“ Mutter nickte und schälte eine Apfelsine. Der Saft rann über ihre Finger.
„Ole Henrik kann eine ganze Menge ertragen. Erinnerst du dich noch daran, als er sein Bein in die Speichen kriegte? Er hat überhaupt nicht geweint. Hat ganz still dagesessen, bis wir im Krankenhaus waren“, erinnerte sich Reidar.
Mutter blinzelte in das scharfe Licht. Ihr Mund war ganz schmal, als wünschte sie, dass er gar nicht da wäre.
„Hast du keine Sonnenbrille?“, fragte Reidar mich.
„Nein“, antwortete ich und überlegte, ob er jetzt total übergeschnappt war.
„Wie schade“, sagte er. Mutter sah mich bittend an.
„Los, lasst uns einen Sprunghügel bauen!“, brüllte Reidar.
Wir fanden einen kleinen Abhang. Ole Henrik und ich schnallten unsere Skier ab und bauten zusammen mit Reidar einen guten Absprung. Wir schoben Schnee zusammen und schwitzten in der Wärme. Die Sonne brannte vom Himmel und stach in unseren Augen. Wir aßen einige Schokoladenriegel, tranken Kakao mit Haut und machten mit der Schanze weiter.
Als wir anfangen wollten zu springen, schnallte Vater seine Skier an und verschwand mit elegantem Doppelschub in der Sonne. Er wollte nach Schneehühnern Ausschau halten. Reidar meinte, dass der Lodenstoff von Vaters Hosen sicher wahnsinnig kratze. Schließlich kletterten wir den Hügel hinauf. Fuhren los und landeten. Sprangen und fielen hin. Mutter hatte sich hingesetzt und schaute zu. Klatschte und verteilte Noten. Bat Ole Henrik vorsichtig zu sein. Reidar war in seinem Element. Er stellte alle möglichen Sportler von Jesse Owens bis Karl Schnabel dar. Mutter lachte. Wir fielen auf die Nase. Tauchten mit dem Kopf in den Schnee. Bogen Skistöcke und Beine. Reidar wollte, dass Mutter auch mal sprang. Sie wollte nicht. Reidar kündigte die beste Skispringerin der Welt an, schnallte sich die Skier ab und ging los um sie von der Tribüne zu holen.
„Ich weiß, dass du das kannst, Ingrid“, sagte Reidar und näherte sich ihr mit ausgestreckten Armen.
„Nun hör auf mit dem Quatsch“, erwiderte sie.
„Ich weiß, dass du das kannst“, wiederholte Reidar. Zog Mutter am Arm.
Zuerst wehrte sie sich. Ole Henrik und ich saßen auf dem Absprunghügel und schauten zu. Reidar begann mit Schnee nach ihr zu werfen. Sie warf mit Schnee zurück. Die beiden liefen in der Landegrube herum. Lachten und kämpften miteinander.
„Nun komm schon!“, rief Reidar. Er hatte ein Bein von Mutter zu fassen bekommen, sodass sie nach hinten fiel. Es war ganz still. Reidar beugte sich herab, wir reckten unsere Hälse. Dann hörten wir Mutter ein Kriegsgeheul ausstoßen und Reidar fiel auf die Seite. Es war ein wilder Kampf.
Sie hörten auf. Das Licht ritzte sich in meine Augenlider, sodass ich die Sonne sehen konnte, selbst wenn ich die Augen schloss. Vater stand neben der Landegrube und schaute auf Mutter und Reidar. Sie bürsteten sich den Schnee ab und suchten nach Wolken.