Eisbach & Eishaus: Zwei Kriminalromane in einem eBook - Nadine Petersen - E-Book
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Eisbach & Eishaus: Zwei Kriminalromane in einem eBook E-Book

Nadine Petersen

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Beschreibung

Sie hat einen einmaligen Spürsinn: der Sammelband mit den Bestsellern »Eisbach« und »Eishaus« von Nadine Petersen jetzt als eBook bei dotbooks. München, im Englischen Garten. Als die Leiche einer attraktiven jungen Frau nahe des Eisbachs geborgen wird, ist schnell ein Verdächtiger gefunden. Doch Kommissarin Linda Lange ist von seiner Unschuld überzeugt. Bei ihren Ermittlungen stößt sie auf eine schreckliche Wahrheit – und gerät selbst ins Visier des Täters … Wenige Wochen später in einer Müllverbrennungsanlage vor den Toren der Stadt. Eine bestialisch zugerichtete weibliche Leiche, weggeworfen wie Müll – ohne Fingerkuppen, ohne Identität. Während Kommissarin Linda Lange noch mit den Nachwehen ihres letzten Falls kämpft, stößt sie in der JVA Stadelheim auf eine Spur, die sie erneut in die Fänge eines eiskalten Verbrechers treibt … Jetzt als eBook kaufen und genießen: der der Sammelband mit den fesselnden Krimis »Eisbach« und »Eishaus« von Nadine Petersen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 761

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Über dieses Buch:

München, im Englischen Garten. Als die Leiche einer attraktiven jungen Frau nahe des Eisbachs geborgen wird, ist schnell ein Verdächtiger gefunden. Doch Kommissarin Linda Lange ist von seiner Unschuld überzeugt. Bei ihren Ermittlungen stößt sie auf eine schreckliche Wahrheit – und gerät selbst ins Visier des Täters … Wenige Wochen später in einer Müllverbrennungsanlage vor den Toren der Stadt. Eine bestialisch zugerichtete weibliche Leiche, weggeworfen wie Müll – ohne Fingerkuppen, ohne Identität. Während Kommissarin Linda Lange noch mit den Nachwehen ihres letzten Falls kämpft, stößt sie in der JVA Stadelheim auf eine Spur, die sie erneut in die Fänge eines eiskalten Verbrechers treibt …

Über die Autorin:

Nadine Petersen kam 1963 in München zur Welt. Die Architektin ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann in München-Schwabing.

Bei dotbooks veröffentlichte Nadine Petersen die drei Bände um Münchner Kommissarin Linda Lange, »Eisbach«, »Eishaus« und »Eisblut«.

***

Sammelband-Originalausgabe Mai 2021

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Eine Übersicht über die Copyrights der einzelnen Romane finden Sie am Ende dieses eBooks.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: *zeichenpool, München unter Verwendung mehrerer Bildmotive von shutterstock / © pisces2386 / © lilypadphotos / © Honza Krej / © Ihnatovich Maryia

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-96655-535-7

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Nadine Petersen

Eisbach/Eishaus

Zwei Kriminalromane in einem Band

dotbooks.

Eisbach

Eine eiskalte Nacht in München. Ein Mann hört Hilferufe im Englischen Garten und verständigt die Polizei. Nur wenige Stunden später geht eine Anzeige bei der Münchener Polizei ein – eine attraktive, junge Frau wird vermisst. Kurz darauf wird ihre Leiche geborgen. Die Obduktion ergibt: Die junge Frau wurde vergewaltigt und lebendig in der Nähe des Eisbachs begraben. Ein Verdächtiger ist schnell gefunden. Doch Kommissarin Linda Lange ist von seiner Unschuld überzeugt und ermittelt in eine andere Richtung. Was sie schließlich herausfindet, übertrifft ihre schlimmsten Vermutungen. Und als sie der Wahrheit immer näher kommt, gerät sie selbst ins Visier des Täters …

Ein Blick in die Abgründe der menschlichen Seele – mitten im idyllischen München.

Prolog

Seit einiger Zeit zog sie sich immer weiter von ihm zurück. Er spürte, dass sie ihn nicht mehr an sich heranlassen wollte, ihn aus unerfindlichen Gründen ablehnte. Ständig hatte sie neue Ausreden parat. Mal waren es ihre Tage, mal Kopfschmerzen, mal war ihr schlecht, mal hatte sie etwas anderes vor. Alles war nur vorgeschoben, er wusste das, aber er hatte Angst davor, sie zur Rede zu stellen.

Draußen fielen dicke Schneeflocken, doch davon bekam er hier unten im Keller wenig mit. Er kauerte auf der alten Matratze und grübelte vor sich hin. Niemals würde er sie loslassen, sie waren für immer und ewig miteinander verbunden, das musste er ihr klarmachen. Aber wie lange würde sie ihn heute noch hier unten schmoren lassen, das elende Miststück?

Er fühlte, wie sich seine Erregtheit allmählich in Wut umwandelte. Sie hatte versprochen, nach unten zu kommen, so wie immer in den vergangenen Wochen und Monaten. Vielleicht wartete sie noch, bis die Mutter sich verdrückt hatte. Der Vater war mit Freunden gestern schon in einen Skiurlaub verschwunden. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was das bedeutete, nur unter Männern. Aber die Mutter war auch kein Stück besser. Sie wolle übers Wochenende zu einer Freundin fahren, hatte sie ihnen gesagt. Was für eine billige Lüge. Weder er noch seine Schwester glaubten ihr. Sie würde sich mit einem ihrer Stecher treffen, die Nutte.

Er konnte ihre Schritte hören. Sie kam nach unten, zu ihm. Sein Herz begann wie wild zu schlagen. Endlich.

»Ist sie weg?«, fragte er Elena, als sie hereinkam.

Sie nickte und ließ sich neben ihm auf der Matratze nieder. Er wollte seinen Arm um ihre Schultern legen, doch sie schüttelte ihn ab. »Lass das!«

Gekränkt zog er seinen Arm zurück. »Was ist los?«

»Ich kann das nicht mehr.«

»Was?« Er starrte sie feindselig an.

»Das mit uns. Du bist mein Bruder, das ist Unrecht.«

»Sagt wer?«

Elena schwieg.

Er beugte sich zu ihr, um sie zu küssen.

Sie wehrte ihn ab. »Nein! Wir müssen damit aufhören.« Heftig stieß sie ihn zur Seite. »Es ist vorbei. Es ist eklig.« Sie rappelte sich auf und wollte gehen.

Blitzschnell war er auf den Füßen und packte ihren Arm. »Eklig? Ich versteh das nicht. Es war doch alles gut.«

»Lass mich los! Du tust mir weh.«

Er lockerte seinen Griff nicht. Sie sollte spüren, wie weh sie ihm mit ihrer Zurückweisung tat. »Es ist nicht vorbei. Es ist erst dann vorbei, wenn ich es sage.«

Sie sah ihn fassungslos an, Tränen schimmerten in ihren Augen. »Nicht so fest!«

Er lockerte seinen Griff und zog sie heran. Er wollte mit ihr schlafen, nicht reden. Seine Hand verschwand unter ihrem Pullover und suchte ihre Brüste. Sie ließ es geschehen. Mit der anderen Hand öffnete er ihre Jeans und versuchte, sie herunterzuziehen. Ihre Lippen waren jetzt an seinem Ohr. »Bitte nicht. Lass mich … ich … ich habe mich verliebt.«

Er hörte ihr nicht zu und suchte weiter seinen Weg zu ihrem Körper. Er presste sich gegen sie und drückte sie fest an die Wand.

Elena versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien. »Hör auf damit!«, schrie sie ihn an. »Es ist Schluss! Ich bin jetzt mit Lars zusammen.«

Lars, dröhnte es in seinem Kopf, dieser Idiot von nebenan? Alles in ihm sackte zusammen, und für einen Augenblick hatte er nicht einmal mehr die Kraft, sie festzuhalten. Sie schlängelte sich aus seinen Armen und trat hinter ihn. Er lehnte mit dem Kopf an der Wand. Konnte sie sein leises Schluchzen hören?

Sie schlang von hinten ihre Arme um seinen Körper, legte ihren Kopf auf seinen Rücken und begann, sein Haar zu streicheln. »Du musst mich gehen lassen, wenn du mich liebst.«

»Warum?«, wimmerte er.

»Weil … wir dürfen nicht länger so wie Mann und Frau zusammen sein. Du musst dir eine Freundin suchen.«

In seinem Magen klumpte sich der Groll zu einer Faust. Er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Lars, dieser Blödmann! Allein die Vorstellung, dass er sie anfasste, brachte ihn zum Rasen. »Du gehörst mir, Elena, mir allein!«

Sie hörte auf, ihn zu streicheln, und wich einen Schritt zurück. »Ob du es einsiehst oder nicht. Ich bin jetzt mit Lars zusammen.«

Er wirbelte herum und packte sie an den Schultern. Schütteln, schütteln, bis sie aufwacht! Ihr Kopf schlug heftig gegen die Kellerwand.

Sie schrie auf vor Schmerz. »Ich werde es Mama erzählen. Alles!«

Er warf sie auf die Matratze und hielt ihr den Mund zu. Sie zappelte unter ihm wie ein Fisch, dann ließ ihr Widerstand nach. Jetzt holte er sich, was er wollte. Er riss ihre Jeans herunter und drang ihn sie ein. Sie gab nur ein kurzes Stöhnen von sich, als er kam. Er rollte sich zur Seite und wartete, bis die Erschöpfung vorüber war. Elena rührte sich nicht. Aber er konnte ihren Atem hören und sehen, wie sich ihr Brustkorb schnell hob und senkte. Er wollte ihr Gesicht nicht sehen, nicht mehr. In seinen Augen war sie nur noch eine Schlampe, ein wertloses Stück Fleisch, so wie die Mutter. Es kostete ihn keine Anstrengung, sie auf den Bauch zu drehen. Noch einmal drang er in sie ein, holte sich nun das, was er bisher nicht haben durfte, weil sie nicht wollte, dass er es so machte. Er war wie von Sinnen.

Elena jammerte unter ihm, denn diesmal fügte er ihr Schmerzen zu, bewusst, mit ganzem Herzen. Wie besessen hämmerte er mit seinen Hüften gegen ihr Becken, vor und zurück, rammte seine ganze Wut in sie hinein. Er ließ sich Zeit, wollte es nicht so schnell zu Ende bringen wie beim ersten Mal. Ihre Schreie beflügelten ihn.

Als er in sie hineinspritzte, fühlte er eine Explosion, die seinen Körper erfasste. Eine Druckwelle, die von seinem Unterleib ausging, breitete sich in heftigen Wellen bis in die Zehen und Fingerspitzen aus. Er sah nichts mehr, alles war schwarz um ihn herum. Es war eine Erlösung von solcher Gewalt, dass er ein lautes Grollen von sich gab. Erschlafft fiel er auf sie. Völlige Leere erfasste ihn.

Er wusste nicht, wie lange er so auf ihr gelegen hatte. Irgendwann bewegte sich der Körper unter ihm und holte ihn aus der Besinnungslosigkeit. Er rollte sich herunter. Blut klebte auf seiner Haut. Elena versuchte aufzustehen. Doch ihre Beine knickten weg wie Streichhölzer. Ein heftiges Zittern schüttelte ihren Körper. Er stand auf und versetzte ihr einen Tritt. Sie fiel erneut zu Boden. Ohne sich nach ihr umzublicken, verließ er den Kellerraum, schloss von außen die Tür ab und löschte das Licht. Sollte sie im Dunkeln liegen, die Nutte.

Beschwingt lief er nach oben, machte noch einmal auf der Treppe kehrt und ging zurück. Die Schaufel, die brauchte er noch.

Als draußen die Dunkelheit hereingebrochen war, setzte er seinen Plan, der in den letzten Stunden in ihm gereift war, in die Tat um. Der Garten hinter dem Haus war groß, und direkt bei der Kastanie konnte ihn niemand beobachten. Genau hier begann er mit der Arbeit, grub bis zur völligen Erschöpfung. Erst als seine Hände so grausam schmerzten, dass er den Griff nicht mehr halten konnte, legte er die Schaufel weg. Er war zufrieden mit dem, was er heute schon geschafft hatte. Später würde er so lange weitermachen, bis das Loch tief genug war.

Nach einer ausgiebigen Dusche bestellte er sich eine Pizza. Bis der Lieferservice eintraf, saß er in Elenas Zimmer und stöberte in ihren Sachen. Er fand Fotos von Lars und zerriss sie in kleine Fetzen. Als es klingelte, sprang er hinunter zur Tür und nahm die Pizza in Empfang. Er gab dem Mann ein gutes Trinkgeld. Dann zog er sich ins Wohnzimmer zurück, machte den Fernseher an und legte sich auf die Couch. Er zappte durchs Programm und trank zwei Bier zur Pizza.

Eine Stunde später stand er wieder bei der alten Kastanie. Diesmal trug er Handschuhe, während er grub. Es war nach Mitternacht, als er ins Bett fiel.

Am nächsten Morgen spürte er jeden Muskel seines Körpers. Ächzend richtete er sich auf. Er dehnte und streckte sich, schlüpfte in seinen Morgenmantel und lief in den Keller hinunter. In der Schublade am Werkzeugtisch wühlte er nach den Kabelbindern. Er nahm einen mit, bevor er die Tür aufschloss.

Elena lag zusammengerollt auf der Matratze. Als er sie auf den Rücken drehen wollte, begann sie, sich heftig zu wehren. Er hatte damit gerechnet und packte ihre Handgelenke. Blitzschnell hatte er sie mit dem Kabelbinder gefesselt. Er kniete sich vor sie, packte ihre Schenkel, riss sie auseinander und drang in sie ein. Sie schrie, spuckte und beschimpfte ihn. Er genoss es.

»Ich werd’ dich zunähen, wenn du nicht ruhig bist«, flüsterte er ihr ins Ohr. Er musste dabei an den Vater denken, von dem er diesen Spruch kannte. Wie oft hatte er die Mutter beschimpft, als Nutte, die man zunähen sollte, weil sie für jeden die Beine breitmachte.

Als Elena nicht aufhörte, sich gegen ihn zu wehren, schlug er ihr ins Gesicht, bis ihre Nase blutete. Erst dann wurde sie still. Doch jetzt hatte er keinen rechten Spaß mehr an ihr. Er kam lustlos und verschwand rasch aus dem Keller. Später vielleicht, dachte er sich, als er nach oben ging.

Nach einer ausgiebigen Dusche und einem reichhaltigen Frühstück fühlte er sich, als könne er Bäume ausreißen. Er verließ das Haus für einige Stunden, streifte durch die Stadt, sah sich einen Porno im Kino an, aß einen Hamburger. Es dämmerte bereits, als er zurückkam. Sein erster Weg führte ihn in den Keller.

Diesmal hatte er mehr Spaß an ihr. Er probierte einiges aus, was er in dem Porno gesehen hatte, ließ sich Zeit. Inzwischen erinnerte er sich schon gar nicht mehr an die Monate mit ihr. Elena war ausgelöscht, ruhe sie in Frieden, dachte er grimmig. Lars würde sie nicht wiedersehen. Er würde dafür sorgen, dass sie verschwand, für immer, wie vom Erdboden verschluckt.

Mit Einbruch der Dunkelheit arbeitete er wie besessen im Garten. Der Vollmond beleuchtete sein Werk. Laut Wetterbericht war eine gewaltige Schneefront im Anmarsch. Das trieb ihn zur Eile. Gerne hätte er sich noch einen Tag mehr Zeit gelassen, aber der Wetterumschwung hatte auch sein Gutes. Der Schnee würde alle Spuren verwischen. Bis zur Hüfte stand er inzwischen in der Grube, tief genug, entschied er.

Ein letztes Mal ging er in den Keller. Auf der Werkbank des Vaters lagen Nadel und Zwirn. Damit hatte der Vater versucht, das Polster des Lederstuhls zu reparieren, bei dem einige Nähte aufgegangen waren. Er schnappte sich die Nadel und schnitt ein Stück vom Zwirn ab. Dann schloss er die Tür auf. Auf dem Boden lag das Stück Fleisch.

Jetzt geschah alles wie von selbst. Später würde er sich mit wohligem Schauer daran erinnern, wie eine unbekannte Kraft ihn geleitet hatte. Erst das Vergnügen, dann die Arbeit. Seine Nähkünste ließen zu wünschen übrig, aber sie zappelte ja auch so fürchterlich. Erst ein paar Schläge sorgten für die notwendige Ruhe. Konzentriert vollendete er sein Werk. Als er fertig war, legte er sie über seine Schulter und trug sie nach oben. Wie einen Sack Kartoffeln ließ er sie in die Grube fallen, dann schaufelte er die Erde zurück in das Loch. Er sah sie noch zucken, dann verschwand sie unter der Erde.

Das Zuschaufeln ging ihm ungleich leichter von der Hand als das Graben zuvor. Ein Stunde später hatte er ihr Grab geschlossen und die Erde verdichtet, indem er darauf herumgestampft war. Die restliche Erde verteilte er im Garten. Dann sammelte er Laub und Steine und verstreute sie auf dem Grab, um alle Spuren zu verwischen. Er blickte zum Himmel. Erste Schneeflocken rieselten herab.

Tage später befragte ihn die Polizei. Aber er konnte ihnen nicht sagen, wo Elena geblieben war. Sie hatte das Elternhaus verlassen, kaum dass die Mutter weg gewesen war. Sie hatte ein paar Sachen mitgenommen.

Niemand schöpfte Verdacht. Und niemand vermisste Elena. Er hatte dafür gesorgt, dass sie nicht mehr auftauchen würde. Nie mehr. Erst Monate später ritzte er das Herz in die Kastanie, mit ihren Initialen. Das war der Anfang.

Kapitel 1

Es gab in dieser Nacht einen vierten Mann. Er stand versteckt hinter einem Baumstamm und beobachtete sie auf Schritt und Tritt. Worüber sie sprachen, konnte er nicht hören. Aber er ließ sie nicht aus den Augen.

Die anderen Männer bemerkten ihren Beobachter nicht. Sie glaubten sich allein, als sie zu dritt durch den Englischen Garten stapften. Es roch nach Schnee, aber der Wetterbericht hatte ihn erst für den nächsten Tag angekündigt. Einer der drei hielt eine Taschenlampe in der Hand und leuchtete damit den Weg ab. Die Lichtkegel tanzten durch die Dunkelheit und schoben kahle Baumstämme bedrohlich in ihren Blick. Alle drei suchten sie nach Spuren.

»Wo woin’s denn die Schrei’ g’hert ham?«, fragte der kleinere der beiden Polizisten den Mann, der neben ihnen herging und sein Fahrrad schob. Er zielte ihm dabei mit seiner Taschenlampe direkt ins Gesicht.

»Hey, das blendet.« Schützend hielt sich Tim Jonas eine Hand vor die Augen. Sein Atem ging stoßweise, und wenn er ausatmete, sah es aus, als würde er rauchen. »Keine Ahnung, hier könnte es gewesen sein. Oder dort vielleicht.« Er deutete in den dunklen Park. »Es war auf jeden Fall voll gruselig.«

Die beiden Polizisten taxierten ihn. Er konnte ihre Gedanken förmlich lesen. So a Zug’roaster, der sich bestimmt nur wichtigmacht, las er in ihren Gesichtern. Wieder traf ihn der Lichtkegel der Taschenlampe. Genervt drehte er sich weg. Er ärgerte sich inzwischen, dass er die Polizei gerufen hatte. Nun musste er sich dumme Fragen anhören. Ob er getrunken oder was geraucht hätte, was er denn hier so spät nachts zu suchen hätte, ob er sich das nicht alles nur eingebildet hätte. Nein, hatte er nicht. »Das war ein Hilferuf!«, wiederholte er wütend. »Scheiße, der ging mir durch und durch.« Er stampfte mit dem Fuß auf.

»Von oanerer Frau?«, fragte der andere Polizist, der den kleineren um zwei Köpfe überragte. »Da san Sie sich ganz sicha?«

»Ja!«, bellte er sie an. Jetzt vergeudete er seit über einer Stunde seine Zeit hier in dieser klirrenden Kälte, statt längst in seinem warmen Bett zu liegen. So eine verdammte Scheiße.

»Mia soit’n moagn bei Dog noamoi herkomma«, schlug der Kleine vor.

Tim verstand kaum noch etwas von dem, was die beiden Uniformierten miteinander besprachen. Als Zugereister war er bisher nicht bis in die Untiefen des bayerischen Dialekts vorgedrungen.

»Ach was, soin se de Kolleg’n doch drum kümmern«, widersprach der andere Polizist. »Mia geh’n. Jetzt find’n mia hia eh nix mehr.« Er wandte sich wieder Tim zu. »Und Sie können auch heimgehen. Wir haben ja Ihre Personalien. Sollten wir noch Fragen haben, melden wir uns bei Ihnen.«

Nichts lieber als das. Tim Jonas schwang sich aufs Rad und fuhr schnell los, bevor sie es sich anders überlegten.

»Schau amoi, Felix«, sagte der eine Polizist zu seinem Partner. Er hielt einen Fetzen Stoff in die Höhe. »Was ’n des? Siagt aus wia a … Hemd.« Er hielt es an den schmalen Trägern in die Luft.

»Na ja, dann pack’s hoit ei, Stefan.«

Kapitel 2

Vier Stunden später stand Linda in der Küche und machte sich einen doppelten Espresso. Lukas trottete herein.

»Na, ausgeschlafen?«, fragte sie ihn und grinste verschmitzt. Eine warme Ruhe breitete sich in ihr aus, als sie ihn noch so verschlafen vor sich sah. Ich liebe dich, Lukas, dachte sie.

Lukas zog den Bademantel enger um den Körper und ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen. Linda schob ihm ihre Tasse rüber.

»Du hast heute Nacht im Schlaf geredet«, sagte er und sah sie forschend an. »Und gelacht.«

»Echt?« Linda schob die Unterlippe vor. »Ich kann mich nicht erinnern.«

Lukas seufzte. »Ich schon. Ich bin davon aufgewacht. Und dann habe ich ewig gebraucht, um wieder einzuschlafen.«

Sie legte ihren Kopf zur Seite. »Das tut mir leid.«

Lukas atmete hörbar. »Deinen Schlaf möchte ich haben. Dich könnte man nachts wegtragen, du würdest es nicht merken.«

»Schmarrn.« Linda machte sich einen neuen Espresso, trank die kleine Tasse in einem Schluck leer und stellte sie in die Spülmaschine. »So, und jetzt muss ich los.« Sie küsste ihn auf die Nase und wollte gehen.

Lukas hielt sie zurück. »Ich habe übrigens gestern unseren Keller ausgemistet.«

Linda verzog das Gesicht. »Aber das wollte ich doch machen.«

Lukas gähnte. »Ja, das versprichst du mir seit dem letzten Frühjahr.«

»Dann kann ich ja wenigstens den Sperrmüll wegbringen«, bot Linda an.

Lukas grinste schief. »Versprich nichts, was du nicht halten kannst.«

Linda ignorierte die Spitze. »Hilfst du mir beim Einladen?«

»Ich zieh mir nur schnell was über.«

***

Wenig später hatten sie das Gerümpel im Kofferraum von Lindas Wagen verstaut. Lukas fischte einen kleinen gelben Zettel aus seiner Jackentasche hervor. »Du könntest mir einen Gefallen tun. Würdest du meine Hemden aus der Reinigung mitbringen? Die will ich auf die Reise mitnehmen.«

Linda schnappte den Reinigungszettel und stopfte ihn in die Tasche ihrer Jeans. »Für dich tu ich doch alles.«

»Bring den Müll am besten gleich weg, bevor du ins Präsidium fährst, sonst kutschierst du nächstes Jahr noch damit herum.«

»Kennst mich doch.«

»Ebendrum.«

Linda streckte ihm die Zunge raus.

»Wollen wir zusammen Mittag essen?« Er öffnete ihr die Autotür. »Um eins im Franziskaner?«

»Bayerisch zum Abschied? Okay. Treffen wir uns dort.« Linda stieg ins Auto. Lukas warf die Autotür zu und ging zum Haus zurück.

Sie kam nicht weit, weil ein Müllwagen die Straße versperrte. Während sie wartete, sah sie in den Rückspiegel und entdeckte Lukas, der vor dem Haus stand und angeregt mit einer jungen Frau plauderte. Offensichtlich amüsierten sich die beiden prächtig. Linda konnte ihn lachen sehen. Doch wer war diese Frau? War das nicht die Zicke von gegenüber, die nie grüßte, sondern immer nur wegsah, wenn sie vorbeikam?

Eigentlich interessierte sie diese Blondine überhaupt nicht, aber woher kannte Lukas diese Kuh? Sie ignorierte das Hupkonzert, das inzwischen eingesetzt hatte. Stattdessen starrte sie gebannt in den Rückspiegel, bis jemand an die Scheibe klopfte. Erschrocken sah Linda hinaus und entdeckte einen Mann, der neben ihrem Auto stand und sie wütend ansah. »Fahr endli weida, bleade Kuh.«

Der Müllwagen war längst verschwunden, die Straße frei. »Bin ja schon weg«, murmelte Linda und brauste los.

***

Auf ihrem Schreibtisch im Kommissariat entdeckte sie den Bericht. Noch im Stehen überflog sie, was die beiden Streifenpolizisten Felix Egner und Stefan Hoffmann in ihrem Protokoll festgehalten hatten. Ein Anrufer namens Tim Jonas hatte nachts gegen 01:50 Uhr Hilfeschreie aus dem Englischen Garten gemeldet. Die Suche war ergebnislos verlaufen, lediglich ein verschmutztes Seidenhemdchen hatten die Polizisten gefunden. Ein Zusammenhang zwischen der Fundsache und dem Schrei bestünde vermutlich nicht, hatten die Beamten dazugeschrieben. Das waren bestimmt nur ein paar betrunkene Kids, Junkies oder Obdachlose gewesen, vermutete Linda und legte den Bericht beiseite.

Sie verließ ihr Büro und ging nach nebenan. Sie klopfte einmal, öffnete die Tür und steckte den Kopf hinein. Michael Lewandowski, ihr Chef, stand am Fenster in einer Wolke aus Zigarettenqualm. Er drehte sich um, als er sie eintreten hörte.

So, wie er heute wieder aussieht, könnte er mein Großvater sein, dachte Linda. Dabei war er nur 14 Jahre älter als sie.

»Du?«, fragte er erstaunt. »Ich dachte, du hast Urlaub.«

»Nächste Woche.« Linda schob sich an ihm vorbei und riss das Fenster auf.

»Bist deppert? Es is’ koid«, schimpfte Lewandowski. Er verfiel nur ins Bayerische, wenn er sich aufregte oder getrunken hatte. Ansonsten sprach er Hochdeutsch mit einer leichten Münchner Färbung. Genau wie Linda.

»Frische Luft hat noch niemandem geschadet.« Linda warf den Kopf zurück und ihre Locken suchten nach einer neuen Ordnung. Sie bemerkte Lewandowskis Blick. Ja, sie hatte es wieder mal nicht geschafft, ihre Haare zu bändigen. Sie vermied diesen Kampf, da sie sonst morgens im Bad einfach zu lange brauchte. Ihre Mähne bekam sie einfach nicht in den Griff. Davon trennen wollte sie sich aber auch nicht, schon weil Lukas sie mit aller Macht davon abgehalten hätte. Die rote Mähne verdankte sie ihrer Großmutter mütterlicherseits, wie auch die olivfarbene Hautfarbe. Mit ihren roten Locken, der gesunden Gesichtsfarbe und den Sommersprossen, die frech auf ihrer Nase leuchteten, wirkte sie wie ein frischer irischer Frühlingsmorgen, selbst an so einem tristen Wintermorgen wie heute.

Ganz anders bei Lewandowski. Die Mengen von Nikotin und Teer, die er in den vergangenen Jahren in seine Lungen gepumpt hatte, hatten ihre Spuren auf seinem Gesicht hinterlassen. Von Alkohol und Schlafmangel gar nicht zu sprechen. Tiefe Falten zeichneten scharfe Konturen in sein Gesicht. Es sah aus wie aus grobem Holz geschnitzt.

Lewandowski schob Linda beiseite und schloss das Fenster. »Ich muss nicht auch noch krank werden. Die halbe Abteilung liegt schon flach.«

»Erstickst lieber, was?«, hüstelte sie.

»Wir sind nicht verheiratet, oder?«, maulte er schlecht gelaunt. »Wann ist es eigentlich so weit?«

»In knapp drei Wochen.«

»Und, schon alles organisiert für den großen Tag?«

Linda ignorierte seinen ironischen Unterton. »Lukas kümmert sich um alles. Außerdem ist es nicht kompliziert, in den USA zu heiraten. Das ist weniger Papierkram als hier. Wir heiraten auf Maui am Strand, und außer einem Standesbeamten wird niemand sonst da sein. Das ist also keine große Sache. Die Feier für Familie und Freunde holen wir dann nach, wenn wir wieder zurück sind. Du bist auch herzlich eingeladen.« Sie grinste ihn schief an.

Lewandowski nickte nachdenklich. »Danke, aber willst du’s dir nicht noch mal überlegen? Unser Job taugt nicht für die Ehe. Ich weiß, wovon ich spreche. Hab’s zweimal versucht und bin jämmerlich gescheitert.«

»Schmarrn.«

»Und Männer können nicht treu sein.«

»Ach was.« Linda wusste, dass er das nur sagte, um sie zu ärgern. Trotzdem verfehlte es seine Wirkung nicht. Aber sie schwieg dazu, das konnte sie gut.

Lewandowski deutete auf eine Mappe, die auf seinem Schreibtisch lag. »Es gibt eine Vermisstenanzeige. Ein Teenager ist seit Freitag abgängig.«

»Ach, der taucht bestimmt wieder auf.«

»Trotzdem. Kümmer dich drum«, sagte Lewandowski. »Es ist ein Mädchen.«

»Was geht’s uns an? Noch ist sie ja wohl am Leben.«

»Wir sind unterbesetzt. Die Hälfte unserer Leute liegt mit Grippe im Bett. Schlubach will, dass wir einspringen, soweit wir Zeit haben. Und momentan gibt’s ja keinen Mord in der Stadt. Also geh der Sache nach.«

Linda schnappte sich die Mappe, warf einen kurzen Blick hinein und registrierte die Adresse. Das lag in der Nähe des Parks. »Mach ich. Und ich fahr auch mal zum Englischen Garten. Da hat es heute Nacht irgendwelche Hilferufe gegeben.«

Lewandowski zündete sich eine neue Zigarette an, während er die andere im Aschenbecher ausdrückte. »Von mir aus, aber geh zuerst zu den Eltern. Das hat Vorrang.«

»Ernährst du dich eigentlich davon?«, fragte Linda mit Blick auf die Kippe.

»Schau, dass du Land gewinnst, Nervensäge!« Er griff nach dem Aschenbecher. »Sonst gibt’s doch noch einen Mord.«

Schnell suchte sie das Weite.

Kapitel 3

Linda fuhr zuerst zum Englischen Garten. Erstens lag der auf dem Weg zu den Eltern, die ihr Kind als vermisst gemeldet hatten, und zweitens machte sie nie, was andere von ihr verlangten. Sie entschied selbst, was Priorität hatte, auch wenn das nicht immer von Vorteil für ihr berufliches Fortkommen war. Immer wieder geriet sie deswegen mit Lewandowski aneinander. Um Streit zu vermeiden, versuchte sie, ihre Eigenmächtigkeiten zu verheimlichen, soweit es ging.

Die Polizisten hatten ihrem Bericht eine Skizze beigefügt. Darin war die Stelle markiert, an der sie das Hemdchen gefunden hatten und von wo die Schreie gekommen waren. Linda stand fröstelnd im Englischen Garten und hörte den Eisbach neben sich rauschen. Sie spürte, wie beim Atmen die Härchen in ihrer Nase gefroren.

Langsam ging sie am Ufer des kleinen Seitenarms der Isar entlang. Eigentlich durchzogen viele Bachläufe den Park, der Eisbach war nur einer davon. Er trat in Höhe der Prinzregentenstraße aus seinem unterirdischen Bett an die Oberfläche. In diesem Bereich war sein Ufer befestigt, bis er sich ab dem Hirschanger wieder durch ein natürlich anmutendes Bett wälzte und schließlich am Herzogpark in die Isar mündete. Die Bäche waren Reste des einst ausgedehnten Seitenarmsystems der Isar. Im Gegensatz zu den Stadtbächen flossen die Bäche im Englischen Garten größtenteils überirdisch.

Der Eisbach war kein stilles Gewässer, sondern ein reißender Bach, der selbst an brütend heißen Augusttagen seinem Namen alle Ehre machte. Er wurde nie wärmer als 16 Grad, und er galt als die Touristenattraktion, sommers wie winters. Ein Stück weiter flussabwärts gab es eine spezielle Wiese für die Sonnenanbeter. Dort lagen im Sommer die »Nackerten« am Ufer des Eisbachs. Das stand in jedem Reiseführer und viele Touristen flanierten extra an der Wiese vorbei, um die FKKler mitten in der Stadt zu sehen.

Von dieser Wiese war es nicht weit zu den Stromschnellen beim Haus der Kunst. Dort tanzten jeden Tag Wellenreiter auf ihren Surfbrettern, auch an kalten Wintertagen wie heute. Bekleidet mit Neoprenanzügen schien ihnen die Kälte nichts auszumachen. Selbst in amerikanischen Surfmagazinen wurde über diesen Surfspot berichtet und Wellenreiter aus der ganzen Welt kamen extra dorthin.

Manchmal blieb Linda auf der Brücke am Haus der Kunst stehen, um den Surfern zuzusehen, wie sie die Welle im Eisbach abritten. Aber heute hatte sie dafür keine Zeit. Sie verließ den Weg und schlug sich querfeldein durch den Park. Nicht ohne System. Ihr Weg glich einer Spirale. Nach und nach vergrößerte sie den Radius ihrer Runden, um dabei das Areal systematisch abzusuchen. Linda wusste um die Schwierigkeit, den genauen Ursprungsort der Schreie korrekt zu bestimmen. Schall breitete sich im Freien gleichmäßig nach allen Richtungen aus. Wo auch immer diese Frau gewesen war, aus der Ferne und in der Dunkelheit ließ sich das kaum eindeutig bestimmen.

Unvermittelt blieb sie stehen und starrte auf ein paar Fußabdrücke im Boden, der über Nacht gefroren war. Nach den milden Temperaturen der letzten Wochen war es gestern Nacht deutlich kälter geworden. Jetzt kommt der Winter doch noch, dachte sie und ging in die Knie, um sich die Abdrücke genauer anzusehen. Es waren Spuren von nackten Füßen, deutlich sichtbar wie bei einem Gipsabdruck. Sie verglich die Größe mit ihren Schuhen. Identisch, stellte sie fest, Größe 38. Dann musste es wohl eine Frau gewesen sein, die hier barfuß durch den Matsch gelaufen war. Oder ein kleiner Mann. Vielleicht aber auch ein großes Kind.

Zieh keine voreiligen Schlüsse, ermahnte sie sich. Das verengt nur den Blick. Und die Fußabdrücke mussten nichts mit den Schreien zu tun haben. Aber sie waren frisch, daran bestand kein Zweifel.

Linda stand wieder auf und ließ ihren Blick schweifen. Wer zum Teufel lief in dieser Jahreszeit ohne Schuhe durch den Englischen Garten?, fragte sie sich. Sie machte mit ihrem Mobiltelefon ein paar Fotos von den Abdrücken, dann ging sie weiter. Wenige Schritte von der Stelle mit den Fußabdrücken entfernt entdeckte sie ein Büschel langer, blonder Haare. Sie hatten sich in einem Ast verheddert.

Linda stellte sich vor, wie eine Frau barfuß durch den Englischen Garten rannte und ihre Haare sich in einem Ast verfingen, während sie vor einem Verfolger davonlief. Möglich, dachte Linda, es könnte sich auch etwas ganz anderes abgespielt haben, etwas völlig Harmloses.

Wie hatte ihr Vater, ein Chirurg, immer gesagt? Das Häufige ist häufig, das Seltene selten. Und Verbrechen waren in dieser Stadt zum Glück selten. München hatte gerade mal 1,3 Millionen Einwohner, dazu kamen noch rund dreihunderttausend aus dem Landkreis. Und diese Menschen hielten sich im Großen und Ganzen an die Gesetze, Kapitalverbrechen standen nicht auf der Tagesordnung. München war alles in allem eine friedliche Stadt im Vergleich zu anderen deutschen Metropolen. Und darauf bildeten sich die Münchner etwas ein.

Trotzdem, dachte Linda, zupfte die Haare von dem Ast und packte sie in eine kleine Plastiktüte für die Kriminaltechnik. Ihr Blick blieb an dem Baum hängen, in dessen Stamm ein Herz und darin die Initialen V und D eingeritzt waren. Sieht neu aus, das Herz, dachte sie und zeichnete es versonnen mit dem Finger nach. Die Rinde war noch ganz hell, als wäre das Herz erst kürzlich eingeritzt worden. Aber so genau kannte sie sich mit Bäumen nicht aus.

Es begann zu schneien. Innerhalb weniger Minuten fielen dicke Flocken herab. Linda schlug ihren Mantelkragen hoch. Sie hasste den Schnee in der Stadt, der selten liegen blieb, sich meist in grauen Matsch verwandelte. Linda wollte schleunigst zu ihrem Wagen zurück. Sie musste zu den Eltern des vermissten Mädchens fahren. Schnell stapfte sie durch den Park. Das Schneetreiben wurde immer dichter. Der Wind peitschte ihr die Flocken direkt ins Gesicht.

***

Nach einer kurzen Autofahrt erreichte Linda das Haus der Familie Schön. Die Frau, die ihr die Tür öffnete, hatte dunkle Ränder unter den Augen, in ihren Augen spiegelte sich pure Angst. Linda stellte sich vor und zückte ihren Dienstausweis. Dorothea Schön nickte unmerklich, trat zur Seite und ließ sie herein.

Linda öffnete ihren Schal, den sie dreimal um den Hals geschlungen hatte, und kam sofort zur Sache. »Sie vermissen also Ihre Tochter? Vanessa, richtig? Seit Freitagabend?« Linda registrierte das wieder fast unmerkliche Nicken der Frau. »Wo könnte sie an dem Wochenende denn gewesen sein, wenn sie nicht bei ihrer Freundin war, wie sie Ihnen gesagt hatte?«

»Ich habe alle Freundinnen und Schulfreunde angerufen. Freitagabend war sie noch mit ein paar von ihnen aus gewesen. Aber gegen neun Uhr hat sie sich verabschiedet, und seitdem hat niemand mehr Vanessa gesehen«, sagte sie mit leiser Stimme.

»Hat Ihre Tochter ein Handy?«, fragte Linda. Nun knöpfte sie ihren Mantel auf, behielt ihn aber an. Sie wollte nicht lange bleiben.

»Ja, aber das ist ausgeschaltet. Da läuft nur die Mailbox.« Jetzt kämpfte Frau Schön mit den Tränen.

Bloß nicht heulen, flehte Linda innerlich. »Ich brauche die Nummer. Und ein aktuelles Foto, bitte.« Linda suchte nach etwas zum Schreiben. In ihrer Jeans fand sie einen kleinen gelben Zettel. Lukas’ Hemden! Die durfte sie auf keinen Fall vergessen, genauso wenig wie den Sperrmüll im Kofferraum. Das mach ich alles heute Abend auf dem Heimweg.

Frau Schön reichte ihr einen Kugelschreiber und ein gerahmtes Foto, das in der Diele auf der Kommode gestanden hatte. Linda warf einen flüchtigen Blick darauf. Hübsch bist du, Vanessa. Und du hast langes blondes Haar, dachte sie, dann notierte sie auf der Rückseite des Reinigungszettels die Telefonnummer. Sie würde das Telefon orten und feststellen lassen, wann es das letzte Mal eingeschaltet worden war und mit wem das Mädchen die letzten Tage telefoniert hatte. Aber das hatte noch Zeit. Die meisten Ausreißer tauchten wieder auf. »Ist das schon öfter vorgekommen?«, fragte Linda und steckte den Zettel wieder in ihre Jeans.

Die Mutter schaute Linda ratlos an.

»Ich meine, hat Ihre Tochter schon einmal etwas anderes gemacht, als sie Ihnen erzählt hat? Ist sie früher schon einmal von zu Hause weggelaufen?«

Die Frau schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nie. Sie ist keine, die uns anlügt. Sie hat alle Freiheiten, sie muss nichts heimlich tun.«

»Das heißt, Sie erziehen Ihre Tochter nicht sehr streng?«

Die Frau antwortete nicht auf ihre Frage.

»Wie steht es mit Jungs? Hat Vanessa einen Freund?«

»Nein, da ist nichts Ernstes.«

Linda musterte die Frau genau. Sie log oder sagte zumindest nicht die ganze Wahrheit. Das verrieten ihr Kleinigkeiten im Gesicht der Frau. Linda hatte sich intensiv mit dem Thema beschäftigt. Dieses leichte Zucken um die Augen, das war ein verräterisches Indiz. Lügner konnten ihre Mimik nicht komplett kontrollieren. Selbst ein Pokerface zeigte verräterische Reaktionen. Sie traten kaum sichtbar und abrupt auf und verschwanden genauso schnell wieder. Dem geschulten Blick eines aufmerksamen Beobachters entgingen sie jedoch nicht. »Ein so hübsches Mädchen?«, hakte Linda nach und betrachtete das Foto. »Das kann ich gar nicht glauben. Oder hat sie es Ihnen vielleicht nur nicht erzählt?«

»Mein Mann … wissen Sie …«, begann die Frau stockend, »der will nicht, dass Vanessa jetzt schon mit Jungs zu eng ist.«

»Sie hat nie einen Freund mit nach Hause gebracht?«

»Doch, schon.«

»Aber nur wenn Ihr Mann nicht zu Hause war?«

»Ja.«

»Darf ich ihr Zimmer sehen?«, fragte Linda und verwarf damit ihren Plan, hier nur eine kurze Befragung vorzunehmen. Irgendetwas drängte sie dazu, einen zweiten Blick hinter die Fassade zu werfen.

Frau Schön nickte und ging durch die große Diele zu einer Treppe. Linda folgte ihr nach oben. Die Schlafzimmer befanden sich im oberen Stockwerk. Hier standen alle Türen offen und Linda warf neugierig einen Blick in die Räume. »Hat Vanessa Geschwister?«

»Ja, Tom und Tatjana. Die Zwillinge sind zehn Jahre alt. Ich bin das zweite Mal verheiratet. Vanessa stammt aus meiner ersten Ehe. Hier ist Vanessas Zimmer.« Frau Schön blieb an der Tür stehen und ließ Linda eintreten.

»Darf ich?«, fragte Linda und deutete auf den Kleiderschrank. Vanessas Mutter nickte, und Linda öffnete den Schrank. Darin befanden sich die für ein junges Mädchen typischen Klamotten. Jeans, Miniröcke, ein paar Kleider, T-Shirts. Die Unordnung hielt sich in Grenzen. Selbst bei einem Teenager sieht es noch aufgeräumter aus als bei mir, dachte Linda peinlich berührt. Sie machte den Schrank zu und widmete sich dem Schreibtisch. Hier stand ein Laptop, daneben lagen ein paar Mappen, zwei Bücher, ein Notizbuch, CDs, Krimskrams. »Was hat Vanessa denn für ihren Wochenendtrip mitgenommen?«

»Ich glaube, zwei Jeans, Pullis und T-Shirts«, sagte die Mutter.

»Können Sie mir eine Liste machen?«, fragte Linda. »Und den Laptop würde ich gerne mitnehmen, wenn Sie einverstanden sind. Vielleicht finden wir ja ein paar Mails, die uns mehr verraten.«

Frau Schön nickte.

»Was ist hinter dieser Tür?«

»Vanessa hat ein eigenes Bad.«

»Darf ich?«

Frau Schön nickte erneut, und Linda betrat das Bad. Als sie die Haarbürste sah, die auf dem Waschbecken lag, lief ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Mechanisch zog sie die blonden Haare aus der Bürste und packte sie in ein Plastiktütchen. Ein Handgriff, der ganz automatisch geschah. Spuren entdecken, Spuren eintüten, Spuren auswerten. Die Zahnbürste, die in einem Glas auf dem Waschbecken stand, nahm sie ebenfalls mit.

»Ich werde mich um die Ermittlungen kümmern«, sagte sie zu Frau Schön, als sie wieder aus dem Badezimmer kam. Sie erwähnte weder die Haare noch die Zahnbürste. Warum sollte sie die Mutter unnötig in Aufregung versetzen? Dann packte sie den Laptop unter den Arm und ging hinaus. Frau Schön begleitete Linda schweigend nach unten zur Haustür. Linda wollte gerade gehen, als die Tür aufging und ein Mann hereinkam.

»Das ist Frau Lange, sie ist von der Polizei, wegen Vanessa«, sagte Dorothea Schön zu dem Mann und wandte sich Linda zu. »Mein Mann.«

Linda musterte ihn von Kopf bis Fuß. Das tat sie immer, und sie prägte sich alle Details gut ein. Anders als bei ihren privaten Sachen vergaß sie solche Dinge nie. Vanessas Stiefvater war untersetzt, sehr muskulös, mit einem markanten Gesicht. Die Nase wirkte platt und breit. Vermutlich mehrfach gebrochen, mutmaßte Linda. Auch die dicken Oberlider erinnerten sie an einen Boxer. Aus der Akte wusste sie bereits, dass er ein erfolgreicher Münchner Gastronom war, dem einige bayerische Lokale, ein Biergarten und ein Zelt auf dem Münchner Oktoberfest gehörten.

»Wissen Sie, wo Vanessa ist?«, fragte er ohne Umschweife.

Linda schüttelte den Kopf und brachte ihre Locken in Bewegung.

Der Mann starrte sie unverhohlen an.

Dieser Blick gefiel ihr gar nicht. Der sieht aus, als würde er kurz vor einer Explosion stehen, dachte sie. Zeit zu gehen. »Machen Sie mir bitte schnell eine Liste von den Dingen, die Vanessa mitgenommen hat, und eine Liste mit den Namen all ihrer Freunde«, sagte sie zu Frau Schön. »Ich fahre jetzt in Vanessas Schule und höre mich dort mal um.« Sie gab ihr eine Visitenkarte. »Und sollte sich Vanessa melden, rufen Sie mich bitte sofort an.«

Kapitel 4

Auf der Fahrt zur Schule rief Lewandowski auf ihrem Handy an.

»Ich war bei den Eltern und jetzt fahr ich zu der Schule des Mädchens«, berichtete Linda wahrheitsgemäß. »Ist sonst noch was?« Es war nichts und Linda beendete das Gespräch. »Blöder Kontrollfreak«, schimpfte sie leise.

Vanessa Schön, das vermisste Mädchen, besuchte das Gisela-Gymnasium am Elisabethmarkt. Während die Schule nach Erzherzogin Gisela von Österreich, der Tochter des österreichischen Kaisers Franz Joseph I., benannt war, trug der kleine Markt neben der Schule den Namen ihrer berühmten Mutter Elisabeth, der bayerischen Sissi. Linda kannte diese Ecke Münchens wie ihre Westentasche. Sie wohnte nicht nur in der Nähe, sie war sogar hier aufgewachsen.

Wider Erwarten fand sie direkt bei der Schule einen Parkplatz. Manchmal wirkte ein Stoßgebet eben doch. Schnell ging sie zu dem historischen Gebäude und sprang die Steintreppe hinauf. Die Stufen hatten in den Jahrzehnten unter Tausenden von Tritten nachgegeben und hingen regelrecht durch. Selbst Granit gab irgendwann nach.

Als sie die Schule betrat, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie war neun Jahre Schülerin am Gisela-Gymnasium gewesen. Kaum etwas hatte sich verändert. Linda fühlte sich augenblicklich in ihre Schulzeit zurückversetzt. Obwohl sie seit dem Abitur die Schule nicht mehr betreten hatte, kam es ihr vor, als wäre das alles erst gestern gewesen.

Sie stand in dem langen, breiten Flur, von dem viele Türen abgingen. Er mündete in einen großen Innenhof. Am Ende eines Ganges entdeckte sie einen Mann, der auf einem Tisch Gebäck, belegte Brote, Brezen, Süßigkeiten und Getränke anrichtete. Vermutlich für die bevorstehende Pause, dachte Linda. Sie grüßte den Mann mit einem Kopfnicken und ging wortlos an ihm vorbei. Sie musste ihn nicht nach dem Weg fragen, ihr innerer Kompass funktionierte noch, auch nach vielen Jahren.

Linda lauschte. Außer einem leisen Gemurmel, das von den Klassenzimmern nach außen drang, herrschte auf dem Flur wohltuende Ruhe. Das würde in wenigen Minuten anders sein. Eine große Wanduhr zeigte ihr, dass die Pause gleich beginnen musste, wenn sich am Stundenablauf nichts geändert hatte. Im selben Augenblick zerriss das Läuten der Schulglocke die mönchische Stille. Türen brachen auf wie Schleusen und innerhalb von Sekunden strömten die Kinder und Jugendlichen aus den Schulzimmern und füllten die Gänge mit hellem Stimmengewirr und lautem Lachen. Der Geräuschpegel schnellte schlagartig nach oben. Wie ausgehungert stürmten Schüler den kleinen Verkaufsstand, andere drängten hinaus auf den Schulhof ins Freie oder in Richtung Haupteingang. Linda wusste aus früheren Tagen, dass es gerade die älteren Schüler zum Elisabethmarkt zog, der gleich über die Straße lag.

Sie flüchtete vor der lärmenden Meute in Richtung Direktorat und fand das Vorzimmer von Doktor Thomas Pfaff, der die Schule leitete. »Ich möchte bitte den Direktor sprechen. Lange. Kripo München.« Sie zeigte der überraschten Sekretärin ihren Ausweis. Doktor Pfaff saß gerade mit einem anderen Mann an einem Besprechungstisch, als Linda eintrat.

Doktor Pfaff stand auf und begrüßte sie. »Kripo München? Was kann ich für Sie tun, Frau Lange?«

Der andere Mann drehte sich zu ihr um und starrte sie neugierig an. »Lange? Linda Lange?« Er sprang von seinem Stuhl auf und ging zu ihr. »Ich bin’s, Alex. Alexander Paulsen aus der 10b. Erinnerst du dich nicht?«

Linda erinnerte sich sofort. Sie spürte, wie sie errötete. Alexander umarmte sie spontan. Der Direktor räusperte sich. Linda löste sich aus der Umarmung und stand etwas verlegen da.

Alexander ergriff das Wort. »Wissen Sie, Herr Doktor Pfaff, wir beide waren auch mal Schüler hier, nicht in der gleichen Klasse. Ja, und nun treffe ich dich hier wieder, nach mehr als zehn Jahren.«

»Was für eine Überraschung«, murmelte Linda.

»Das ist allerdings eine Überraschung«, stimmte der Direktor zu, ohne eine Miene zu verziehen.

»Wir sind ja fertig«, sagte Alexander und packte seine Unterlagen zusammen. Dann reichte er dem Direktor die Hand. »Sie hören von mir. Spätestens übermorgen haben Sie ein Angebot auf Ihrem Tisch.« Er wandte sich Linda zu. »Soll ich auf dich warten, Belinda? Drüben am Markt? Du weißt schon, wo.«

»Ja«, stimmte sie schnell zu, noch ganz überrascht von dem zufälligen Zusammentreffen. Sie spürte, dass ihr Herz schneller schlug. Belinda hatte er sie genannt. So wie damals. »Ich brauche aber ein paar Minuten hier.«

»Kein Problem, ich warte auf dich.« Alexander verabschiedete sich und verließ das Büro.

Linda fischte das Foto aus ihrer Jacke und zeigte es dem Direktor. »Das ist Vanessa Schön. Sie geht in die 11a. Kennen Sie das Mädchen?«

»Wir haben hier über zweitausend Schüler. Sie werden verstehen, dass ich nicht jeden Namen kenne, aber das Gesicht sagt mir etwas. Hübsches Mädchen. Was ist denn mit ihr? Aber setzen wir uns doch.« Er setzte sich.

Linda nahm ebenfalls Platz. »Das wissen wir nicht. Sie ist seit Freitagabend verschwunden.«

Der Direktor runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht, dass ich Ihnen da weiterhelfen kann. Aber sprechen Sie mit ihren Mitschülern. Und zuvor könnten wir die Pause nutzen und die Kollegen fragen. Die meisten sitzen jetzt nebenan im Lehrerzimmer.« Er erhob sich.

Linda nickte und folgte Doktor Pfaff ins Lehrerzimmer, das sie während ihrer Schulzeit nie betreten hatte. Neugierig sah sie sich um. Um einen sehr langen Tisch mit Platz für mindestens 40 Menschen saßen Frauen und Männer verschiedenen Alters. Die meisten Stühle waren besetzt. Linda sah sich neugierig um, ob sie noch einen Lehrer aus ihrer Schulzeit entdecken konnte. Aber nur bei einem Gesicht kam eine vage Erinnerung an ihren Lateinlehrer zurück. Ob er das sein könnte?, überlegte sie, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Nein, dieser Mann war zu jung. So, wie es aussah, war keiner ihrer Lehrer mehr an der Schule. Jedenfalls schien heute keiner anwesend zu sein.

Niemand nahm Notiz von ihnen. Einige der Lehrer unterhielten sich miteinander, andere lasen oder korrigierten Klassenarbeiten.

»Kolleginnen und Kollegen, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«, sagte der Direktor mit fester Stimme. Alle Blicke richteten sich auf ihn. »Ich möchte Ihnen Frau Lange vorstellen. Sie ist von der Kriminalpolizei und ermittelt wegen des Verschwindens einer Schülerin. Frau Lange hat ein paar Fragen an Sie.« Er nickte Linda zu.

»Grüß Gott. Es geht um Vanessa Schön. Seit Freitagabend fehlt jede Spur von ihr. Die Schülerin besucht die 11a. Kann vielleicht jemand von Ihnen etwas dazu sagen?« Linda blickte sich um. Niemand reagierte, alle starrten sie nur an.

Schließlich meldete sich ein Mann. »Ich unterrichte Sport und Mathematik in der 11a. Vanessa ist in meiner Klasse.«

»Das ist Tobias Stein«, flüsterte der Direktor ihr zu.

»Hatte sie Schwierigkeiten in der Schule?«, fragte Linda. »Wie sind ihre Noten? Gibt es einen Grund, warum sie vielleicht weggelaufen sein könnte?«

Stein schüttelte nachdenklich den Kopf. »Vanessa hat nur gute Noten. Sie zählt zu den Besten.« Er schien kurz nachzudenken. »Nein, von Problemen weiß ich nichts, vielleicht ihre Freunde … Warum begleiten Sie mich nicht nach der Pause ins Klassenzimmer? Ich habe da jetzt eine Stunde.«

Linda nickte. Der Lehrer packte seine Sachen und verließ zusammen mit Linda das Lehrerzimmer. Gemeinsam gingen sie durch die endlosen Gänge der Schule. Linda sah ihn von der Seite an. Sie schätzte ihn auf Mitte 30. Er sah gut aus, viel attraktiver als die Lehrer ihrer Schulzeit. Außerdem war er sehr gut gekleidet. Er trug eine moderne Hüftjeans und einen mintgrünen Kaschmirpullover. Seine Schuhe wirkten gepflegt und teuer. Alles war sehr leger, aber wahrscheinlich kostspielig. Er führte sie in den Anbau, den es vor zehn Jahren noch nicht gegeben hatte. Vor ihnen verschwanden die Schüler in den Klassenzimmern, gerade so, als würde eine unsichtbare Energie sie ansaugen.

»Seit Freitag, sagen Sie?«, meinte Stein unvermittelt. »Die armen Eltern. Sie müssen umkommen vor Sorge.«

Ja, dachte Linda. Heute war bereits Montag, Vanessa war seit fast vier Tagen verschwunden. »Hat Vanessa einen Freund?«, fragte sie.

»Weiß ich nicht«, antwortete Stein. »Sie war mal mit Sebastian Klimt zusammen, aber ob das noch so ist … keine Ahnung. Ich versuche zwar, einen engen Kontakt zu meinen Schülern zu pflegen, aber auch da gibt es natürlich Grenzen.«

»Hat Vanessa eine beste Freundin?«

»Sie verbringt viel Zeit mit Meret Falsung. So, da sind wir.« Tobias Stein öffnete die Tür. Das Eintreten des Lehrers schien für die Schüler kein Signal zu sein, an ihren Tischen Platz zu nehmen und Ruhe zu geben. Im Gegenteil, die Jugendlichen ignorierten sie. Linda sah ihn erstaunt an, doch Stein zuckte nur resigniert mit den Achseln. Für ihn schien das völlig normal zu sein. Er steckte zwei Finger in den Mund und ließ einen scharfen Pfiff ertönen. »Herrschaften. Die Pause ist vorbei. Hinsetzen.« Das Kommando wirkte, wenn auch nur in Zeitlupe. Stein wartete gelassen, bis alle Schüler an ihren Tischen saßen. Einige Plätze blieben leer. Vielleicht kursierte auch hier die Grippe wie auf dem Kommissariat.

»Ich möchte Ihnen Linda Lange von der Kripo München vorstellen«, sagte Stein zu seinen Schülern. »Es geht um Vanessa. Sie ist seit …«, er sah Linda fragend an.

»… Freitagabend verschwunden«, vollendete sie den Satz. »Weiß jemand von Ihnen, wo Vanessa sein könnte oder was sie vorhatte?« Wie zuvor im Lehrerzimmer bekam Linda auch hier keine Reaktion. Stattdessen wurde sie wie ein Alien angestarrt. »Wo sitzt Vanessa denn?«, fragte sie weiter.

»Bei mir«, meldete sich ein Mädchen.

»Das ist Meret Falsung«, sagte Stein.

Linda fixierte das Mädchen. »Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten. Draußen, wenn möglich.«

***

Meret lehnte am Fenstersims und sah nach draußen. Schneeflocken wirbelten durch die Luft.

»Sie sind mit Vanessa befreundet?«, fragte Linda.

Meret nickte stumm, ohne Linda dabei anzusehen.

»Können Sie mir sagen, was Vanessa am Freitag gemacht hat?«

»Nach der Schule waren wir beim Reiten.«

»Reiten? Wo denn?«

»Im Englischen Garten, in der Reitschule.« Meret sah weiter aus dem Fenster.

»Und danach?«, fragte Linda geduldig weiter.

»Sind wir nach Hause. Wir haben uns später dann hier vor der Schule getroffen. So gegen acht. Dann sind wir losgezogen.«

»Wer war noch dabei?«

»Ein paar aus der Klasse.«

»Was haben Sie genau gemacht?«

»Wir waren erst hier in Schwabing unterwegs. Im Legame und im Pomp. Danach wollten wir mit der U-Bahn in die Stadt fahren. In einen neuen Klub am Gärtnerplatz. Aber da war Vanessa nicht mehr dabei.«

Linda hob die Augenbrauen. Jetzt wurde es interessant. »Wieso?«

»Sie hatte etwas anderes vor. Ich weiß nicht, was. Sie hat ein Geheimnis darum gemacht.«

»Könnten Sie mich bitte ansehen?«, sagte Linda und wartete, bis Meret sich langsam umgedreht hatte und ihr ein verschlossenes Gesicht präsentierte. »Dann haben Sie Vanessa am Freitagabend das letzte Mal gesehen?«

»Ja, sie ist gegen neun Uhr gegangen.«

»Irgendeine Idee, wo Vanessa hinwollte oder wo sie jetzt sein könnte?«

Meret schüttelte den Kopf.

Linda hatte das vage Gefühl, dass das Mädchen ihr nicht alles erzählte. »Vanessa hat ihren Eltern gesagt, dass sie das Wochenende bei Ihnen verbringen würde.«

»Davon weiß ich nichts. Vanessa ist nicht bei mir gewesen.«

»Hat Vanessa einen Freund?«

Meret zuckte nur mit den Schultern

»Was heißt das? Was ist mit Sebastian Klimt?«, bohrte Linda nach.

»Der ist in unserer Klasse.«

»Und?«

»Das mit Sebastian ist schon lange vorbei. Vanessa hat vor … zwei Monaten Schluss gemacht.«

»Und wie ist er damit umgegangen? Ist ja nicht ganz einfach, sich aus dem Weg zu gehen, wenn man in derselben Klasse ist, oder?«

Meret zog erneut die Schultern hoch. »Sebastian ist cool.«

»Interessiert es dich denn gar nicht, wo Vanessa stecken könnte?«, fragte Linda ungeduldig und ärgerte sich, dass sie das Mädchen geduzt hatte. »Vielleicht ist ihr etwas passiert.«

»Was soll ihr schon passiert sein?«, widersprach Meret genervt. »Sie taucht schon wieder auf.«

Linda musterte Meret eindringlich. Entweder wusste sie wirklich nichts oder sie log.

»War’s das?«, fragte Meret und blickte unruhig zur Seite. »Ich muss zurück in die Klasse.«

Linda gab ihr eine Visitenkarte. »Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas von Vanessa hören oder wenn Ihnen noch etwas einfällt. Ist Sebastian heute da?«

Meret nickte.

»Schicken Sie ihn mir bitte heraus.«

Meret verschwand schnell. Kurz darauf tauchte der Schüler auf. Linda redete erst gar nicht um den heißen Brei herum, sondern kam sofort zur Sache. »Vanessa hat mit Ihnen Schluss gemacht? Wie haben Sie sich dabei gefühlt?«

Sebastian sah gleichmütig drein. »Kein Problem. Da war eh die Luft raus.«

»Sie nehmen das sehr locker?«

»Alles easy, außerdem ist das eine Ewigkeit her.«

Linda schüttelte ihre Locken. Eine Ewigkeit? Die Trennung lag gerade mal acht Wochen zurück, wie sie wusste. Aber das Thema Zeitqualität wollte sie hier nicht diskutieren. »Kann es sein, dass Vanessa einen anderen Freund hat?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Aber sie hatten nach der Trennung noch Kontakt?«

»Klaro. Wir gehen in die gleiche Klasse.«

»Und wo könnte sie jetzt sein?«

»Bin ich Jesus?«

Linda hatte genug. Keiner wusste etwas oder wollte etwas wissen. Und es schien auch niemanden hier sonderlich zu beschäftigen, dass Vanessa verschwunden war. Sie gab Sebastian ebenfalls ihre Visitenkarte, dann schickte sie ihn in seine Klasse zurück und verließ die Schule. Sie überquerte die Straße und ging zum Elisabethmarkt, wo Alexander Paulsen auf sie warten wollte.

Den Markt gab es seit über hundert Jahren. Damals hatten hier noch eine Markthalle, ein Milchhäusl und Ställe gestanden. Die waren irgendwann verschwunden und hatten kleinen Marktständen Platz gemacht. Tagsüber herrschte hier quirliges Treiben. Vor allem die Schüler aus dem Gisela-Gymnasium und der benachbarten Berufsschule bevölkerten am Vormittag den Platz. Es gab einige Kioske, die Kaffee, Getränke und Snacks anboten. In der Mitte des Marktes befand sich ein großer, runder Sandkasten, wo sich Schwabinger Mütter mit ihrem Nachwuchs einfanden, wenn es das Wetter zuließ. Heute war er jedoch verwaist. Nur Alexander Paulsen lehnte an der Holzbalustrade, die den Sandkasten vor Hunden und ihren Hinterlassenschaften schützen sollte. Es mutete ihr seltsam an, ihn nach so langer Zeit genau hier wiederzusehen.

Er grinste sie verschmitzt an. »Schon irgendwie komisch, dass wir uns genau hier wiedertreffen, was?«

Linda lächelte. »Ja, ziemlich seltsam.«

»Hast du Zeit für einen Kaffee?« Er nahm sie an der Hand. »Hier draußen ist es zu ungemütlich.«

»Okay.«

»Dann lass uns schnell zu Susa gehen.«

Linda stimmte zu. Sie kannte den kleinen Kiosk, den es seit einigen Monaten hier auf dem Markt gab.

»Du bist also bei der Mordkommission?«, fragte Alexander, als sie sich gesetzt hatten, und sah sie ungläubig an.

»Ja.«

»Und welchen Mörder jagst du gerade?«

»Keinen.« Linda lachte. »Ich hatte nur ein paar Fragen zu einer Schülerin, die weggelaufen ist. Und du? Was hast du im Gisi zu suchen?« Gisi, so hatten sie ihre Schule immer genannt.

»Die Schule feiert im Frühling ein Jubiläum. Meine Agentur wird die Feier ausrichten. Normalerweise kümmern sich meine Mitarbeiter darum, aber bei diesem Auftrag habe ich nostalgische Gefühle bekommen. So wie jetzt, wenn ich dich sehe.« Er sah sie zärtlich an. »Belinda.«

Linda erwiderte sein Lächeln. »Alex … es ist verrückt … ich kann’s noch gar nicht glauben.« Sie suchte in seinem Gesicht nach Vertrautem, längst Vergessenem. Das Jungenhafte hatte Alexander inzwischen verloren, aber das schadete ihm nicht. Er wirkte männlicher, markanter, und ihr gefiel, was sie sah. Alexander war ihre erste große Liebe gewesen und sie hatte nur gute Erinnerungen an die Zeit mit ihm. Sie hatte sich oft gefragt, was wohl aus ihnen geworden wäre, wenn er nicht nach Hamburg gezogen wäre, wo sein Vater damals einen neuen Job angenommen hatte. Dadurch war ihre junge Liebe jäh auseinandergerissen worden. Linda hatte ihren ersten Liebeskummer erlebt, eine tief sitzende Erfahrung.

»Du hast dich kein bisschen verändert. Immer noch eine Amazone.« Er strich ihr eine Locke aus dem Gesicht.

Sie spürte, wie sie errötete. »Wo hast du die vielen Jahre gesteckt? In Hamburg?«

Er nickte. »Aber seit Kurzem bin ich wieder viel in München. Ich habe hier eine neue Eventagentur gegründet.«

»Eventagentur?«

»Wir organisieren und catern Veranstaltungen«, erklärte Alexander, »je größer, desto besser. Sei es ein Konzert auf dem Königsplatz, die Eröffnung der Münchner Medientage oder eine Verlagsparty. Was auch immer.«

»Mit Erfolg offensichtlich.«

»Ja, anfangs habe ich das nur in Hamburg gemacht. Aber inzwischen arbeiten wir deutschlandweit. Hamburg und Berlin laufen fast von selbst, jetzt will ich den Süden erobern. Noch gibt es hier einige Veranstaltungen, an die wir einfach nicht herankommen. Unser größter Konkurrent hat beste Beziehungen ins Rathaus und in die Politik. Du weißt vermutlich, wen ich meine?«

Linda wusste, worauf er anspielte. Klüngel gab es nicht nur in Köln. In München hießen sie Amigos.

»Das Stadtfest letztes Jahr hätten wir gerne übernommen, aber wir waren aufgrund dieser Beziehungen chancenlos. Aber genug von mir. Was hat dich zur Polizei verschlagen? Wolltest du nicht Pilotin werden?«

»Stimmt«, gab Linda zu. »Aber wegen einer Allergie habe ich die Eignungsprüfung nicht bestanden.« Das war glatt gelogen, aber warum sollte sie Alexander erzählen, dass sie zweimal zu einem Vorstellungsgespräch zu spät gekommen war und einen dritten Termin ganz verpasst hatte? Der Bruder ihres Vaters, der damals beim Landeskriminalamt gearbeitet hatte, hatte ihr daraufhin den Berufsweg bei der Polizei schmackhaft gemacht. Eine Entscheidung, die sie bisher nicht bereute. »Schau mich nicht so an«, sagte sie leise.

»Ich kann nicht anders.« Alexander sah sie zärtlich an. »Du hast immer noch deinen Mädchennamen?«

»Nur noch für kurze Zeit.«

»Du willst heiraten?« Er versuchte gar nicht, seine Enttäuschung zu überspielen. »Das freut mich. Wer ist denn der Glückliche?«

»Kennst du nicht.« Linda sah auf die Uhr. »Ich muss zurück ins Präsidium.«

»Sehen wir uns wieder?«, fragte er. »Hier ist meine Karte. Ich bin noch einige Zeit in München.«

Linda steckte sie ein und erhob sich. »Es war schön, dich zu sehen.« Sie küsste ihn sanft auf die Wange und eilte davon.

Kapitel 5

Linda fuhr auf direktem Weg zurück ins Kommissariat. Sie steuerte den Wagen durch das große Tor und parkte vor dem markanten Gebäude, das vor über hundert Jahren zwischen der Michaelskirche und dem Dom auf dem Areal des ehemaligen Augustinerklosters erbaut worden war. Den Eingang ins Gebäude an der Löwengrube zierte ein Goethe-Zitat: »Nach seinem Sinne leben ist gemein. Der Edle strebt nach Ordnung und Gesetz.« Linda nahm schon lange keine Notiz mehr von der Ermahnung. Stattdessen musste sie an die bevorstehende Sanierung denken, die im nächsten Jahr starten sollte. Ausnahmsweise hoffte Linda auf leere Kassen, die doch noch zu einer Verzögerung führen könnten. Denn mit den Baumaßnahmen würde für die 350 Beamten, die hier arbeiteten, das Stühlerücken beginnen. Das erleichterte ihre Arbeit nicht gerade. Einige von ihnen müssten innerhalb des Gebäudes hin und her ziehen, andere ganz in provisorische Büros ausgelagert werden. So oder so, das Chaos wäre vorprogrammiert. Doch die Sanierung war längst überfällig. Überall bröckelte der Putz, Lüftung und Sanitärtechnik waren veraltet, die Fenster undicht. Auch die Elektroanlagen und die EDV im Hause mussten dringend überholt und modernisiert werden, und die Büros waren in einem erbärmlichen Zustand.

Aber das kümmerte Linda nicht. Sie machte einen Abstecher in die KTU und gab den Kollegen den Zettel mit Vanessas Telefonnummer für eine Handyortung.

Als sie wieder an ihrem Schreibtisch saß, dachte sie über Vanessa Schön nach. Wie sollte sie nach ihr suchen? Die Informationen, die sie heute bekommen hatte, waren mehr als dürftig. Eigentlich konnte sie nur abwarten und darauf hoffen, dass das Mädchen von selbst wieder auftauchte. Aber Warten und Hoffen zählten nicht zu ihren Tugenden. Sie wusste schon, warum sie nicht bei den Vermissten arbeiten wollte. Dieses Stochern im Nebel war nichts für sie. Mord war eine klare Sache, da lagen die Fakten auf dem Tisch, und sie musste nur die losen Fäden, die zum Täter führten, irgendwie zusammenbringen. Aber das hier?

Ihr Handy klingelte, aber Linda reagierte nicht. Sie war mit ihren Gedanken bei ihren Ermittlungen und blendete das Klingeln einfach aus. Doch der Anrufer blieb hartnäckig. Als sie ihr Telefon endlich aus ihrer Jackentasche gefischt hatte, war es zu spät. Auf dem Display konnte sie sehen, dass es Lukas gewesen war. Dich ruf ich später an, beschied sie und wollte das Telefon beiseitelegen, als es erneut klingelte.

»Wo bleibst du denn?«, schnauzte Lukas sie durch den Hörer an.

»Bin im Büro. Wieso?«

»Du hast es schon wieder vergessen.«

»Was?« Sie hatte augenblicklich ein schlechtes Gewissen, ohne zu wissen, warum.

»Wir wollten doch zusammen essen. Und nun sitze ich seit 20 Minuten blöd im Franziskaner herum«, schimpfte er ärgerlich.

»Äh, ich …« Linda suchte nach einer Ausrede.

»Lass es!«, sagte er. »Kommst du nun oder muss ich mich nach anderer Begleitung umsehen?«

»Ich bin in zehn Minuten da«, versprach sie und legte auf. Schnell schlüpfte sie in ihren Mantel.

»Bayerisch zum Abschied?« Sie erinnerte sich. Lukas wollte noch einmal richtig gute heimische Küche genießen, bevor er in die USA reiste. Das erleichterte ihr Gewissen nicht gerade. Glücklicherweise war das Lokal nicht allzu weit vom Kommissariat entfernt. Sie joggte im Dauerlauf durch die Fußgängerzone zu dem Lokal und überlegte, was sie ihm als Ausrede präsentieren könnte.

Der Kellner brachte Lukas gerade drei Weißwürste, als sie an seinen Tisch kam. »Tut mir leid, aber ich …«

»Ich will’s nicht hören«, unterbrach er sie. »Das nächste Mal warte ich einfach darauf, dass mich eine andere Frau anspricht. Diese Stadt ist voll von hübschen Frauen.«

Linda setzte sich zu ihm. Sie wusste, dass er nur einen Scherz gemacht hatte, um sie aufzuziehen, trotzdem versetzte es ihr einen Stich.

»Hast du an meine Hemden gedacht?«

Touché, das war der zweite Stich. »Äh … ich wollte …«

»Und den Sperrmüll kutschierst du vermutlich immer noch im Kofferraum umher.« Er sah sie fragend an. Ohne auf eine Antwort zu warten. »Egal, dann gib mir den Zettel. Ich hole die Hemden selbst aus der Reinigung.«

»Den Zettel?« Linda starrte ihn verwirrt an. Wollte er ihr heute noch den Todesstoß versetzen?

»Ja, den für die Reinigung.«

Jetzt fiel Linda siedend heiß ein, dass sie den Zettel mitsamt Vanessas Telefonnummer den Kollegen zur Ortung des Mobiltelefons gegeben hatte. »Der Zettel … den habe ich im Präsidium vergessen. Ich kümmere mich später darum. Versprochen.« Sie versuchte möglichst überzeugend zu klingen. »Hoch und heilig!«