Eishaus - Nadine Petersen - E-Book
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Eishaus E-Book

Nadine Petersen

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Beschreibung

Ein grausamer Mord im beschaulichen München: Der eiskalte Kriminalroman „Eishaus“ von Nadine Petersen jetzt als eBook bei dotbooks. Eine bestialisch zugerichtete weibliche Leiche, weggeworfen wie Müll – ohne Fingerkuppen, ohne Identität. Während die Münchner Mordkommission unter Hochdruck ermittelt, hat Kommissarin Linda Lange mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen: Der Psychopath Wanderlow hat sie einst gefangen gehalten und gequält. Nun will er ihr – und nur ihr – die Verstecke seiner weiteren Opfer verraten. Jede Woche wieder muss Linda ihrem Peiniger gegenübersitzen. In einem perversen Spiel aus Distanz und Vertrautheit verrät er ihr aber noch viel mehr: gefährliche Geheimnisse aus der JVA Stadelheim, von einer verschwundenen Aufseherin, von den Verbrechen der Wärter … und plötzlich sieht sich Linda mit einem weiteren Täter konfrontiert, der alles daran setzt, sie auszuschalten. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Nach dem Bestseller „Eisbach“ nun der neue fesselnde Krimi „Eishaus“ von Nadine Petersen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 375

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Über dieses Buch:

Eine bestialisch zugerichtete weibliche Leiche, weggeworfen wie Müll – ohne Fingerkuppen, ohne Identität. Während die Münchner Mordkommission unter Hochdruck ermittelt, hat Kommissarin Linda Lange mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen: Der Psychopath Wanderlow hat sie einst gefangen gehalten und gequält. Nun will er ihr – und nur ihr – die Verstecke seiner weiteren Opfer verraten. Jede Woche wieder muss Linda ihrem Peiniger gegenübersitzen. In einem perversen Spiel aus Distanz und Vertrautheit verrät er ihr aber noch viel mehr: gefährliche Geheimnisse aus der JVA Stadelheim, von einer verschwundenen Aufseherin, von den Verbrechen der Wärter … und plötzlich sieht sich Linda mit einem weiteren Täter konfrontiert, der alles daran setzt, sie auszuschalten.

Über die Autorin:

Nadine Petersen kam 1963 in München zur Welt. Die Architektin ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann in München-Schwabing.

Nadine Petersen veröffentlichte bei dotbooks bereits »Eisbach«. Weitere Romane sind in Arbeit.

***

Originalausgabe Juni 2018

Copyright © der Originalausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock.com/amyrxa

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (sh)

ISBN 978-3-96148-250-4

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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***

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Nadine Petersen

Eishaus

Roman

dotbooks.

Für Didier

Prolog

Er zog die Lippen zurück und starrte auf seine entblößten Zähne, die ihm im Spiegel entgegengrinsten. Unwillkürlich musste er an sie denken, an den Ausdruck in ihren aufgerissenen Augen, als sie begriffen hatte, dass sie in eine tödliche Falle gelaufen war. Da hatte sie ebenfalls die Zähne gebleckt, und sie waren von makellosem Weiß gewesen. Hatte ihr trotzdem nichts genutzt. Wenigstens hatte sie verstanden, dass sie ihm ausgeliefert war, und sich nicht mehr gewehrt.

Sein Gebiss war nicht mehr so gut wie in der Jugend. Die Zähne waren im Lauf der Zeit fleckig und gelb geworden, am Schneidezahn fehlte ein Stück, Folge eines Faustschlags. Doch der Zustand der Zähne interessierte ihn nicht, nur das, was er damit anstellen konnte.

Er leckte mit der Zunge über die obere Reihe, auf der Suche nach ihrem Geschmack.

Welcher Zufall sie ihm zugespielt hatte, das konnte er sich bis heute nicht erklären. Es spielt auch keine Rolle. Sie waren allein gewesen, nur sie beide. Sie hatte wie ein kleines, wildes Tier in der Falle gesessen, und er hatte die Gunst der Stunde genutzt. Wie ein Stück Fleisch hatte sie vor ihm gelegen und zum Anbeißen eingeladen – saftig und roh.

Dann war er wie ein brünstiger Bock über sie hergefallen und hatte ihr zum Schluss sein Markenzeichen ins Fleisch gegraben. In das weiche Fleisch zu beißen, entspannte ihn, ihren Saft auf die Zunge spritzen zu fühlen, beruhigte ihn.

Er mochte den Geschmack von Blut, immer noch.

Mit geschlossenen Augen ließ er die Erinnerung aufleben. Er hatte die Zähne hineingeschlagen bis auf den Knochen des Schlüsselbeins, ohne jedoch etwas herauszureißen. Er hatte sie nur zwischen den Zähnen spüren und schmecken wollen. Ihr Fleisch war zart und nachgiebig gewesen, ein köstlicher Geschmack, der ihn fast um den Verstand gebracht hatte.

Dabei hatten seine Hände ihren Hals zugedrückt, bis das letzte Leben entwichen war, bis sie mausetot dagelegen hatte.

Vierzehn lange Jahre hatte er im Wartesaal des Lebens auf diesen fleischigen, blutigen Biss gewartet.

Wie viel Zeit würde bis zum nächsten Mal vergehen?

Kapitel 1

Straftäter, die nach ihrer Festnahme in Gewahrsam genommen wurden, betraten das Münchner Polizeipräsidium über den Eingang in der Löwengrube. Wie es zu diesem eigentümlichen Straßennamen kam, ist nicht eindeutig geklärt.

Früher hatte sich hier die Löwenbrauerei befunden, und vielleicht hatte das Fassadenfresko am Stammhaus der Brauerei – ein »Daniel in der Löwengrube« – zur Namensgebung beigetragen.

Wie vor hundert Jahren wurden auch heute straffällig Gewordene nach der Festnahme über die Löwengrube ins Polizeipräsidium gebracht. Eine Sache hatte sich jedoch verändert. Früher war der Blick der Delinquenten unwillkürlich auf die sechs Steinfresken über dem Eingang gefallen.

Sie hatten die Todsünden dargestellt. Ein monströs dickes Ungetüm mit hängenden Lefzen hatte die Völlerei symbolisiert, ein bis auf die Knochen zerfressenes Getier den Geiz. Den Zorn hatte ein zähnefletschendes, gehörntes Ungeheuer dargestellt, eine fette, am Boden kauernde Gestalt die Faulheit. Eine vogelähnliche Figur mit spitzem Schnabel hatte missmutig von oben herabgeblickt – der Hochmut. Und den Neid hatte eine bucklige Hyäne symbolisiert, die mit herausgestreckter Zunge durch ihr armseliges Dasein kroch.

Gäbe es diese Figuren heute noch, würden sie dem Betrachter nur ein müdes Lächeln entlocken. In einer Zeit, in der Snuff- und Enthauptungsvideos durchs Internet geisterten, erschütterten derartige Steinfresken niemanden mehr. Damals war das anders gewesen.

Die siebte Todsünde hatte gefehlt. Auf die Wolllust hatte der Bildhauer verzichten müssen, denn es galt zur damaligen Zeit als frevelhaft, sexuelle Begierden bildlich darzustellen.

Der große Gebäudekomplex der Münchner Mordkommission, nur einen Katzensprung von der Fußgängerzone entfernt, hatte den Krieg einigermaßen überstanden, die steinernen Todsünden jedoch nicht. Heftige Bombenangriffe hatten die Fresken vernichtet – nicht jedoch Maßlosigkeit, Habgier, Rachsucht, Überheblichkeit, Gleichgültigkeit, Missgunst und Ausschweifung an sich. Die trieben die Menschen, die hier ein und aus gingen, immer noch um.

Linda Lange kannte wie alle Kollegen die kunstvoll gestalteten Wandfresken nur noch von den alten Schwarz-Weiß-Fotografien, die gerahmt an den Wänden im Polizeipräsidium hingen.

Wie die meisten Besucher, die freiwillig und nicht in Handschellen ins Polizeipräsidium kamen, betrat sie das Gebäude nicht über die Löwengrube, sondern durch den Haupteingang in der Ettstraße.

Sie hielt nicht inne, um die Kunstwerke zu betrachten, die diese Fassade seit einem Jahrhundert verzierten und seltsamerweise den Krieg überstanden hatten. An diesem frühlingshaften Märzmorgen hatte sie keinen Blick dafür, als sie durch das Eisentor eilte, mit schnellen Schritten den Hof überquerte und zielstrebig auf das Hauptportal zuging. Sie achtete auch nicht auf die massiven Säulen mit den zwölf astrologischen Sternzeichen, die links und rechts den Eingang säumten.

Das Gebäude war ihr im Lauf der Jahre zu einer zweiten Haut geworden, die sie wie selbstverständlich umhüllte und von der sie keine Notiz mehr nahm.

Wie so oft war Linda Lange auch heute in Eile. Schlubach hatte sie für ein Treffen um Punkt 07:30 Uhr einbestellt. Die Sekretärin des Dezernatsleiters hatte ihr diesen Termin gestern Abend mitgeteilt, ohne weitere Details zu nennen. »Er will Sie sehen. Keine Ahnung, warum.«

Auf dem Weg nach drinnen grübelte Linda, was Schlubach so dringend unter vier Augen zu besprechen haben könnte. Hatte sie etwas Wichtiges vergessen? War sie wieder einmal jemandem auf die Füße getreten? Oder hatte sie erneut gegen ein geschriebenes oder ungeschriebenes Gesetz verstoßen? So sehr sie auch im Labyrinth ihrer Erinnerungen umhermäanderte, sie konnte nichts finden.

Im Moment gab es nicht viel zu tun im Dezernat. Die Mörder hatten scheinbar eine Arbeitspause eingelegt oder ihre Opfer gut versteckt. Routinearbeiten standen auf dem Programm, Berichte schreiben, alte Akten durchforsten, ungelöste Fälle neu aufrollen.

Michael Lewandowski, ihr Partner, hatte sich für ein paar Tage in den Urlaub verabschiedet. Er hasste dieses träge Warten auf den nächsten Mord. Sie auch. Es war wie die gespannte Ruhe vor einem anrauschenden Wirbelsturm.

Ein heftiger Niesanfall riss sie aus ihren Gedanken. Das Kitzeln in der Nase wollte gar nicht mehr nachlassen. Die Phasen, in denen sie nicht von irgendwelchen Pollen gequält wurde, schrumpften. Die milden Winter hatten dafür gesorgt, dass die Quälgeister immer früher und immer heftiger umherflogen. Jetzt schon im März. Erle, Haselnuss, Birke, es spielte keine Rolle, was durch die Luft schwirrte, der Effekt war immer der gleiche.

Die dürren Äste der Bäume zeigten einen ersten Anflug von Grün, nach dem tristen Grau des Winters tauchte langsam die Farbe wieder auf. Der Frühling kam in Riesenschritten. Eigentlich ein Grund für gute Laune, wäre da nicht diese elende Allergie.

Linda machte einen kurzen Abstecher in ihr Büro, warf die Lederjacke achtlos auf den Schreibtisch und fischte ein Haargummi aus dem Schubfach, mit dem sie blitzschnell ihre langen, roten Locken zu einem strengen Dutt hochband – ein tägliches Ritual.

Dann hastete sie zum Büro des Dezernatsleiters, klopfte an und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Das Vorzimmer war verwaist, die Verbindungstür zu Schlubachs Zimmer stand weit offen. Er telefonierte.

»Kommen Sie rein.« Er winkte sie zu sich und machte eine Kopfbewegung, die ihr verriet, dass sie sich setzen sollte. »Sie ist jetzt da«, sagte er in den Hörer. »Wir reden später weiter.« Er legte auf.

Schlubach hatte in den letzten Wochen ein paar Kilo zugenommen. Sein rundes Gesicht wirkte noch praller und glänzte in einem ungesunden Rotton.

Ob er angefangen hat zu trinken?

Aber sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Schlubach an der Flasche hing. Vermutlich aß er nur zu viel und bewegte sich zu wenig. Und er war nicht mehr der Jüngste; zwei Drittel seines Lebens hatte er bereits hinter sich. Er würde sich in zwei, drei Jahren in den Ruhestand verabschieden.

Ob ich in dreißig Jahren auch so aussehen werde, erschöpft und gezeichnet von diesem Beruf?

»Guten Morgen. Gut, dass Sie da sind. Es gibt Neuigkeiten«, riss er sie aus ihren Gedanken.

Sie spürte es sofort: Irgendetwas stimmte nicht. Seine Stimme hatte einen befremdlichen Unterton.

Er musterte sie eindringlich. »Aber zuerst: Wie geht es Ihnen?«

»Bestens.« Ihr Lächeln war höflich, mehr nicht.

»Wirklich?«

»Es. Geht. Mir. Gut.«

Seit ihrem letzten großen Fall stand sie unter besonderer Beobachtung. Anfangs hatte sie diese Aufmerksamkeit verstanden, sich sogar dabei ertappt, die Fürsorge zu genießen. Inzwischen ging sie ihr gewaltig auf die Nerven.

Die Soko Eisbach war Schnee von gestern, der Mordfall abgeschlossen, der Täter überführt und verurteilt. Dirk Wanderlow würde die JVA Stadelheim nur noch mit den Füßen voran verlassen. In diesem Fall bedeutete lebenslang wirklich bis zum bitteren Ende.

Sie hatte die Gesprächsstunden mit der Psychologin, die ihr nahegelegt worden waren, regelmäßig und ohne Widerwillen wahrgenommen. Schon aus eigenem Interesse wollte sie die Schatten der Vergangenheit loswerden, denn sie hatte nicht vor, Wanderlow Macht über ihre Zukunft, ihre Gedanken, ihre Träume zu verleihen. Die Ereignisse hatten sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt, aber sie würde ihnen nicht erlauben, auf ewig als Albträume durch ihren Kopf zu geistern.

Es gab keine Büchse der Pandora, die in ihrer Seele schlummerte. Sie hatte das Erlebte verarbeitet und in eine Zeitkapsel gesteckt, wo es unangetastet bis ans Ende ihrer Tage bleiben konnte.

Die Psychologin hatte ihr bestätigt, dass sie über alles hinwegkommen würde, was ihr dieser Wahnsinnige angetan hatte. Sie litt an keinem Trauma, an keiner posttraumatischen Belastungsstörung, sie träumte schon lange nicht mehr von ihm. Sie hatte keine Panikattacken, wenn sie in den Keller ging oder durch den Englischen Garten joggte.

Die Sache war vom Tisch.

Für Schlubach aber offenbar nicht.

»Sind Sie erkältet?« Er reichte ihr Papiertaschentücher.

»Heuschnupfen.« Sie nahm die Taschentücher in Empfang und legte sie vor sich auf den Tisch.

»Dann will ich mal gleich zur Sache kommen. Es geht um Wanderlow.«

Verdammt. Unwillkürlich sackte sie im Stuhl zusammen. Warum wollte er ihr nicht glauben, dass der Serienkiller keine Rolle mehr in ihrem Leben spielte?

»Er hat den Kontakt zu uns gesucht. Er will uns angeblich verraten, wo er weitere Opfer vergraben hat. Was halten Sie davon?«

Linda richtete sich augenblicklich wieder auf. »Mit wem hat er darüber gesprochen?«

»Mit dem Gefängnispsychiater ...« Schlubach warf einen Blick auf eine Akte, die aufgeschlagen vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Dr. Mark Hassel. Kennen Sie ihn?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Hassel ist ein ehrgeiziger Psychiater, der von sich und seinen Qualitäten als Seelenklempner sehr überzeugt ist. Er hält sich selbst für ein Genie.«

»Ein sympathischer Zeitgenosse.«

Schlubach zog eine Grimasse. »Ich kann ihn nicht leiden. Mit seinen Gutachten hat er uns schon manches Ei gelegt. Er glaubt allerdings, dass sich Wanderlow nur wichtig machen und bessere Haftbedingungen herausschlagen will. Dabei genießt er schon jetzt als Lebenslanger gewisse Vorzüge.«

»Aber es gibt weitere Opfer.« Für sie bestand daran kein Zweifel. Wanderlow hatte seit seiner Jugend gemordet, und es war ihm gelungen, sein mörderisches Treiben mehr als zwanzig Jahre zu verbergen, ohne dass je ein Verdacht auf ihn gefallen wäre.

Schlubach trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Bei dieser ganzen Sache gibt es ein Problem: Wanderlow will nur Ihnen verraten, wo er die anderen Frauen vergraben hat.«

»Warum nur mir?« Aber sie kannte die Antwort schon.

»Dieser Hassel hat wohl tief in die Psycho-Trickkiste gegriffen, damit Wanderlow sein Wissen preisgibt. Breitenbach, der Gefängnisdirektor, hat ebenfalls alles versucht, um ihn zum Reden zu bringen. Doch Wanderlow ist stur geblieben. Hassels Ego verkraftet es offensichtlich nur schwer, dass er ihn nicht knacken kann.« Schlubach hielt kurz inne. »Wanderlow will nur Ihnen sein Wissen verraten – wenn es überhaupt etwas zu verraten gibt. Hassel glaubt nicht daran.«

»Er unterschätzt Wanderlow.«

Sie selbst hatte ihn als hinterhältigen Manipulator kennengelernt, der eiskalt mit seinen Mitmenschen spielte, als wären sie Marionetten, bei denen er nur die entsprechenden Fäden ziehen musste. Sie selbst war ihm in die Falle gegangen, es hätte sie fast das Leben gekostet.

»Wahrscheinlich hat Wanderlow Hassel die ganze Zeit an der Nase herumgeführt, ihm das Gefühl gegeben, großartig zu sein, um ihn dann gegen die Wand laufen zu lassen«, meinte sie.

»Mag sein, aber jetzt hat Direktor Breitenbach wohl genug von diesen Spielchen. Er wandte sich an mich mit der Frage, ob …« Schlubach brach mitten im Satz ab. Er musste nicht weiterreden, Linda wusste genau, worum es hier ging. »Es ist ganz allein Ihre Entscheidung. Und eines sollten Sie wissen: Niemand erwartet von Ihnen, dass Sie das auf sich nehmen. Der Staatsanwalt ist übrigens der gleichen Meinung wie Hassel. Nostiz glaubt auch, dass Wanderlow nur blufft. Ich übrigens auch.« Er legte eine kurze Pause ein. »Eigentlich sind Sie die Einzige, die noch an weitere Opfer glaubt.«

Wie so oft.

Linda wusste, dass Staatsanwalt Nostiz felsenfest der Meinung war, sie hätten Wanderlow alle Morde nachgewiesen und sämtliche Opfer gefunden, die er im Englischen Garten verscharrt hatte. Linda teilte diese Ansicht nicht. Es gab fünf weitere Opfer, die auf sein Konto gingen.

Sie hätte gerne nach ihrer Rückkehr aus der Reha die Ermittlungen wieder aufgenommen, aber der Staatsanwalt hatte nach Wanderlows Festnahme genug gehabt von diesem monströsen Fall, die Ermittlungen beendet, die Akte geschlossen und Linda verboten weiterzugraben. So waren ihr die Hände gebunden gewesen. Bis jetzt.

Ihr Peiniger hatte die Akte selbst wieder geöffnet. Eigentlich müsste sie ihm dankbar sein. Aber was für ein perfides Spiel hatte er jetzt im Sinn? Darüber wollte sie gar nicht erst nachdenken.

Für sie stand fest, dass es neben den neun bekannten Opfern fünf weitere Mädchen gab, die diesem kranken Verstand zum Opfer gefallen waren.

»Ich denke darüber nach«, sagte Linda im Gehen.

Aber sie hatte ihre Entscheidung längst gefällt.

Kapitel 2

Wie an jedem Dienstagnachmittag hatte sich auch heute wieder seine Therapiegruppe eingefunden. Er machte sich wegen der Motive für die regelmäßige Teilnahme keine Illusionen. Sie hofften auf eine günstigere Sozialprognose, auf Vergünstigungen während ihres Aufenthalts und im besten Fall auf eine Verkürzung der Haftzeit.

Was seine beiden »Zeros« betraf, sah die Sache anders aus. Dirk Wanderlow und Harry Schmitt hatten aufgrund ihrer Taten null Aussichten auf Vergünstigungen oder eine kürzere Haftzeit. Sie hatten mehrere Frauen auf dem Gewissen, Schmitt vier, Wanderlow neun. Für Serienkiller gab es in punkto Hoffnung nur ein einziges Wort: Zero.

Sie hätten den Therapiesitzungen fernbleiben können. Das hätte ein paar Strafmaßnahmen zur Folge gehabt, die nicht weiter ins Gewicht fallen würden. Aber die beiden nahmen freiwillig an den Sitzungen teil, und seit Wanderlow dazugestoßen war, freute sich Hassel regelrecht auf diese Dienstagssitzungen. Dieser Häftling ließ sein Psychiaterherz höher schlagen.

Wanderlow und Schmitt waren begehrenswerte Sonderfälle, Studienobjekte erster Güte, da Serienmörder nicht die Regel, sondern die Ausnahme bildeten. Deutschland war nicht Amerika, wo Hunderte dieser Spezies aktiv waren. Dennoch hatte er ein ganz besonderes Exemplar hier bei sich sitzen.

Er musste nicht herausfinden, wie es zu derart monströsen Gewaltexzessen hatte kommen können. Er war mit den Taten der beiden bestens vertraut, hatte ihre Lebenswege und die Gutachten der Kollegen gründlich studiert, woraus sich Erklärungen für die Perversionen ergaben. Das interessierte ihn weniger. Was ihn antrieb, war vielmehr die Frage, ob es Hoffnung auf Heilung gab. Konnten derartige Soziopathen geheilt werden, und wenn ja, wie?

Wie immer begrüßte er jeden Teilnehmer mit Namen, nachdem er Platz genommen hatte. Dann ließ er sie der Reihe nach zu Wort kommen. Es waren Totschläger, Einfachmörder, Gewalttäter, die erzählten, was sich in der zurückliegenden Woche ereignet hatte, was ihnen widerfahren war oder auch nicht und welche tiefsinnigen Gedanken ihnen in den Sinn gekommen waren. Er war ihrer ziemlich überdrüssig.

Das Leben im Knast bot keine Abwechslung, die Häftlinge hatten nichts außer Banalitäten zu berichten, und die wahren Vorfälle behielten sie für sich. Ihre Auseinandersetzungen untereinander interessierten ihn nicht, er musste nur mögliche gefährliche Entwicklungen zwischen den Häftlingen oder den Gangs wahrnehmen und gegebenenfalls intervenieren. Wer Kriminelle zusammenpferchte, bekam keine Musterknaben, da wurde mit harten Bandagen gekämpft.

Während er mit einem Ohr den Schilderungen lauschte, dachte er über das nach, was ihm Breitenbach eröffnet hatte. Der Gefängnisdirektor wollte dieser Kommissarin gestatten, seinen Patienten zu befragen. Sie sollte herausfinden, was Wanderlow ihm nicht verraten wollte. Dieser Gedanke piesackte ihn, als wäre er, Hassel, eine Voodoo-Puppe, die mit Nadeln durchbohrt wurde.

Während die anderen redeten, beobachtete er Wanderlow. Der Häftling wirkte wie ein konzentrierter Zuhörer, doch Hassel wusste es besser. Wanderlow interessierte es einen Dreck, was die anderen von sich gaben. Er hörte ihnen nur aus einem einzigen Grund zu: Er wollte nützliche Dinge in Erfahrung bringen.

Wanderlow war ein Sonderfall, dieser Soziopath faszinierte ihn wie keiner seiner Patienten zuvor.

Hassel hatte bereits einige Facetten kennengelernt, aber noch durchschaute er ihn nicht. Jedes Mal wenn er glaubte, ihn geknackt zu haben, vollführte der Häftling eine unerwartete Pirouette. So viel hatte er begriffen: Wanderlow tat nichts ohne Hintergedanken.

Hassel spürte das Heimtückische, das unter der scheinbar unbeteiligten Oberfläche lauerte, dieses Unsichtbare, dessen Existenz beinahe mit Händen zu greifen war. Er träumte davon, Wanderlows Schutzhülle endlich abzuziehen wie das Häutchen auf der warmen Milch und in seiner dunklen Seele herumzurühren, bis der Abgrund offen lag.

Was den anderen Serienmörder betraf, war die Sache glasklar. Er kannte Schmitt besser als der sich selbst.

Harry Schmitt hatte sich im Lauf der langjährigen Haftzeit und unter seiner therapeutischen Führung völlig verändert. Aus einem verstockten Kerl, der bis zum Hals aus blanker Wut bestanden hatte, die sich beim geringsten Anlass wie ein Vulkan entladen konnte – was ihn neben seinen Morden zu einem höchstgefährlichen Intensivtäter gemacht hatte –, war ein ruhiger Mann geworden, der im Gefängnis sein künstlerisches Talent entdeckt und entwickelt hatte, wovon Hassel profitierte. Er geriet ins Staunen, wenn er beobachtete, wie der massige Häftling mit seinen Gorillaarmen und Wurstfingern filigrane Kunstwerke erschuf, die dann im Internet verkauft wurden.

Seit Hassel mit Schmitt arbeitete, war der nie mehr auffällig geworden. Er hielt sich aus allen Knaststreitereien heraus, wirkte schlichtend auf die Mithäftlinge ein und warnte die Wärter rechtzeitig, wenn er von einem geplanten Übergriff Wind bekommen hatte.

Für Schmitt würde er die Hand ins Feuer legen – was er aber gar nicht musste, da der Häftling diese Einrichtung nie mehr verlassen würde.

Aus diesem Grund hatte er zugestimmt, dass Schmitt gelegentlich unter Aufsicht das Gefängnis verlassen durfte, um seinen Arbeitgeber, Hassels Schwager, zu treffen. Er selbst war ebenfalls immer zugegen. Bislang hatte es nie einen Zwischenfall gegeben, Schmitt hatte die ihm kurzzeitig gewährte Freiheit nie missbraucht.

Diese Vorzugsbehandlung hatte er sich verdient, schließlich waren die Modellautos, die er für die Firma des Schwagers zusammenbaute, wahre Kunstwerke. Die Miniaturen brachten viel Geld ein, nicht für Schmitt, nur für Hassels Schwester, deren Mann und ihn. Da konnten sie sich schon einmal mit einem privaten Abendessen revanchieren, um über neue Strategien und Modelle nachzudenken.

Während Hassel seinen Gedanken nachhing und Wanderlow wie ein Insekt unter dem Mikroskop studierte, kam Schmitt an die Reihe. Er wirkte aufgekratzt, fast euphorisch, wie Hassel überrascht feststellte. Er schwärmte von seinem neuesten Modellauto, das in der Internetauktion sehr viel Geld eingebracht hatte. Schmitt kannte die Summe nicht. Im Gegensatz zu ihm: Er hatte von den 80.000 Euro Verkaufserlös einen satten Anteil bekommen.

Schmitts Tonfall irritierte ihn. »Gibt es etwas, was Sie uns erzählen möchten?« Hassel siezte die Häftlinge, das schaffte Respekt und Distanz.

»Meine Mutter, die Hexe, ist tot.« Schmitt rutschte auf seinem Stuhl hin und her und starrte hoch an die grelle Deckenlampe.

Daher wehte der Wind. Hassel wusste, dass sie Auslöser für die Mordfantasien gewesen war. Sie hatte ihn jahrelang mit Hunden in einem Zwinger gehalten. Zahlreiche Narben von Hundebissen auf seinem Körper erinnerten daran. Ein Wunder, dass er nicht an einer Infektion gestorben war. Der Menschheit wäre ein schrecklicher Mörder erspart geblieben. Schmitts Mutter hatte die letzten Jahre dement in einem Pflegeheim vor sich hingedämmert, wo sie vor einigen Tagen verstorben war.

»Und was empfinden Sie dabei?«

»Ich mach ein paar Freudentänzchen, und wenn ich könnte, würde ich auf ihr Grab scheißen.«

»Ich dachte, wir hätten diese Gefühle hinter uns gelassen, Herr Schmitt.«

Er grinste schelmisch. »Das habe ich nur gesagt, um Sie ein bisschen zu ärgern. Ich denke schon lange nicht mehr an die Vergangenheit, und ich will auch nicht mehr darüber reden. Was vorbei ist, ist vorbei.«

Hassel beobachtete Schmitts Reaktionen genau. Der Häftling wirkte aufgewühlt, nicht nervös, eher vergnügt. Dann fiel sein Blick auf Wanderlow, der Schmitt aufmunternd zuzwinkerte.

Was geht denn zwischen euch beiden ab?, fragte er sich verblüfft. Bislang hatte es keinerlei emotionale Verbindung zwischen Wanderlow und Schmitt gegeben. Sie behandelten sich mit gleichgültigem Desinteresse.

»Möchten Sie uns etwas dazu sagen, Herr Wanderlow?«

»Mein Beileid, Schmitti«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Wie steht’s mit dem Leichenschmaus?«

Schmitt grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Ja. Leichenschmaus.«

»Leichenschmaus?«, wiederholte Hassel irritiert.

»Ist das nicht üblich nach einem Begräbnis?« Wanderlow hatte eine Unschuldsmiene aufgesetzt, die Hassel völlig aus dem Konzept brachte.

»Möchten Sie das Grab Ihrer Mutter besuchen, Herr Schmitt?«, fragte Hassel. »Ich könnte ein gutes Wort für Sie einlegen.«

»Pfff.« Schmitt winkte ab. »Wirklich nicht. Die alte Fotze ruhe in Frieden.«

Ein leises Piepsen ertönte, es war das Zeichen, dass die Stunde zu Ende war. Wie früher in der Schule, wenn die Glocke die Pause ankündigte, sprangen die Häftlinge auf und verschwanden mit einem kurzen »Servus« oder »I’ll be back«.

Nur Wanderlow und Schmitt hatten es nicht eilig. Hassel bemerkte erneut den Blickkontakt zwischen den beiden.

»Ich würde gerne noch einmal mit Ihnen über den Tod Ihrer Mutter reden. Unter vier Augen. Morgen Vormittag hätte ich noch einen Termin frei.«

»Keine Zeit.«

»Eine Privataudienz?« Wanderlow hob die Augenbrauen. »Das würde ich mir noch mal überlegen, Schmitti.«

Schmitt schüttelte den Kopf.

»Möchten Sie vielleicht etwas mit mir bereden, Herr Wanderlow?«, fragte Hassel.

»Keine Zeit.« Wanderlow ließ ein maliziöses Lächeln aufblitzen.

Die Ablehnung verletzte Hassel zutiefst. Nur zu gerne hätte er mit Wanderlow über die geplante Vernehmung durch die Kommissarin gesprochen, aber Breitenbach hatte ihm das untersagt. Wanderlow sollte erst in letzter Minute darüber informiert werden.

»Ich bin auf Ihrer Seite, Herr Wanderlow, das wissen Sie!«

»Sie kennen meine Präferenzen.«

Hassel wusste, worauf der Häftling anspielte. Er wollte sein angebliches Wissen ausschließlich dieser Kommissarin verraten.

Er startete einen letzten Versuch. »Wenn Sie jetzt das Gespräch mit mir suchen, kann ich Ihnen ein paar wesentliche Hafterleichterungen versprechen, Herr Wanderlow.«

»Ich werde über Ihr freundliches Angebot nachdenken, Herr Doktor.« Er grinste wie der Teufel persönlich.

»Sie werden dieses Gebäude nie mehr verlassen, das wissen Sie. Aber ich kann Ihnen helfen, Ihren Aufenthalt etwas bequemer zu gestalten. Warum nehmen Sie diese Chance nicht wahr?«

Sekundenlang starrten sich die beiden Männer an, wobei Wanderlow völlig teilnahmslos wirkte.

Hassel spürte in diesem Augenblick, dass dieser Blick von einem Menschen kam, der ihm Böses wollte. Ihn beschlich ein Gefühl nahenden Unheils.

Kapitel 3

Sie hörte seine mit Eisen beschlagenen Schuhsohlen, die bei jedem Schritt Funken auf den Asphalt schlugen. Er war ihr auf den Fersen. Sie spürte die Präsenz seines Körpers, den eisigen Atem, der im Gegensatz zu ihrem Keuchen völlig gleichmäßig ging.

Sie wagte kaum, sich umzudrehen. Jeder Blick nach hinten kostete wertvolle Sekunden, und sie hatte Angst vor seinem Anblick. Sie versuchte schneller zu rennen, aber ihre Füße klebten auf dem Asphalt. Der Fluchtversuch verlief wie in Zeitlupe – während ihr Verfolger mit unmenschlicher Geschwindigkeit immer näher kam.

Das Blut rauschte ihr in den Ohren, ihre Lungen schrien nach Luft, die Muskeln brannten wie Feuer. Nur nicht stolpern, bloß nicht fallen. Die blanke Angst saß ihr im Nacken und trieb sie weiter. Es war die Furcht vor dem, was passieren würde, wenn er sie zu fassen bekam, die sie weitertaumeln ließ.

Verzweifelt setzte sie einen Fuß vor den anderen, doch statt schneller zu werden, wurde sie langsamer. Sie kam nicht vom Fleck. Als seine Hand nach ihrer Schulter griff, schrie sie vor Entsetzen laut auf.

»Linda, wach auf.«

Sie wehrte sich mit ganzer Kraft. Er schüttelte sie.

»Linda, du hattest einen Albtraum.« Lukas sah sie verschlafen an.

»Was?« Sie richtete sich im Bett auf.

»Du hast nur geträumt«, flüsterte Lukas und strich ihr eine Locke aus dem Gesicht. »War er es wieder?«

Sie stöhnte leise und ließ sich zurück ins Kissen fallen. Seit Monaten hatte sie dieser Traum, der sie nach Wanderlows Verhaftung Nacht für Nacht aus dem Schlaf gerissen hatte, nicht mehr heimgesucht. Jetzt waren die Gespenster der Vergangenheit wieder da.

Sie fröstelte unter der Daunendecke und kuschelte sich zitternd an Lukas. »Schlaf weiter.«

»Und du?«

Ein Blick auf den Wecker verriet ihr, dass es kurz vor fünf war. Sie hatte noch eine gute Stunde Zeit, bevor sie aufstehen musste, aber an Weiterschlafen war nicht mehr zu denken. Die Angst hatte sie hellwach gemacht.

»Ich liebe dich«, murmelte Lukas im Halbschlaf.

»Ich dich auch. Und jetzt schlaf weiter.«

Lukas schlief sofort wieder ein, während sie mit offenen Augen neben ihm lag, seinem Atem lauschte und in die Dunkelheit starrte. Sie zog die Bettdecke hoch bis zum Kinn.

Hatte Wanderlow sie etwa erneut in seiner Gewalt? Sie spürte bei diesem Gedanken eine Faust im Magen. Bis gestern war sie felsenfest davon überzeugt gewesen, dass er keine Macht mehr über sie hatte, aber nach diesem Traum bekam ihre Sicherheit Risse. Was, wenn die alten Wunden wieder aufbrechen würden, wenn all das Grauen zurückkommen würde, wenn ihre Heilung nur eine Illusion gewesen war?

Der Traum war exakt derselbe gewesen, wie sie ihn jede Nacht nach seiner Festnahme geträumt hatte. Wochenlang hatte er sie gequält. Sie konnte sich an jede Einzelheit erinnern, nicht ein Detail hatte sich verändert. Der gleiche Verfolger. Die lauten Schritte. Der eisige Atem. Die bösartige Präsenz. Ihre Unfähigkeit davonzukommen.

Die Psychologin hatte ihr damals den Rat gegeben, das Drehbuch des Traums bewusst umzuschreiben. »Laufen Sie nicht mehr vor ihm davon, versuchen Sie stehenzubleiben, und dann drehen Sie sich um.«

Linda hatte nicht glauben können, dass sie im Traum zu bewussten Handlungen fähig sein würde, aber nach einigen Wochen war es ihr wider Erwarten gelungen. Nach und nach hatte sie einzelne Traumfragmente umgewandelt. Am Ende war sie wirklich fähig gewesen, stehenzubleiben und sich zu ihrem Verfolger umzudrehen. Wie die Psychologin vorhergesagt hatte, war dieser im gleichen Augenblick verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben.

Nun war der Wiedergänger aus seinem dunklen Loch hervorgekrochen.

Gleich nach dem gestrigen Gespräch mit Schlubach hatte sie sich die alten Ermittlungsakten aus der Asservatenkammer bringen lassen. Als sie die Berichte und Protokolle überflogen hatte, waren die Erinnerungen mit voller Wucht zurückgekommen.

Dirk Wanderlow, ein ehemaliger Kollege, hatte willkürlich Frauen entführt, die zwei gemeinsame Merkmale hatten: jung und mit langen blonden Haaren. Er hatte das Opfer in seinen Keller gesperrt, es tagelang gequält, ehe er es getötet und im Englischen Garten verscharrt hatte. Um ein Haar wäre sie, Linda, selbst Opfer geworden. Sie hatte schon in seinem Verlies gelegen.

Mit einem Gefühl der Abscheu hatte sie die Akte zugeklappt. Dieser Fall war abgeschlossen, sie musste sich nicht wieder damit beschäftigen. Stattdessen hatte sie eine andere Akte aus ihrem Schrank genommen und sich stundenlang darin vertieft. Es handelte sich um Vermisstenfälle, die zum Teil über fünfzehn Jahre zurücklagen. Alle vermissten Personen wiesen Ähnlichkeiten auf. Es waren Mädchen zwischen 18 und 26 Jahren, mit blonden Haaren, und sie waren von einem Tag auf den anderen verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt und nie mehr aufgetaucht.

Neun Fälle hatte sie Wanderlow nachweisen können, fünf weitere Vermisstenfälle ihm zugeordnet. Bei drei Frauen war sie sich absolut sicher, dass sie auf sein Konto gingen, bei zweien bestand die Möglichkeit. Diese beiden Frauen stammten nicht aus München oder Umgebung, wie all die anderen Opfer, aber aus einem Bewegungsprofil, das Linda erstellt hatte, ging hervor, dass Wanderlow sich zum Zeitpunkt des Verschwindens dieser beiden Mädchen in der Nähe aufgehalten hatte.

Sie brauchte Gewissheit, um den Fall endgültig abschließen zu können.

Linda drehte sich auf die Seite und betrachtete Lukas’ Profil, das sich wie ein Scherenschnitt vom weißen Kissen abhob.

Sie hatte gestern Abend mit ihm über das gesprochen, was Schlubach ihr am Morgen eröffnet hatte. Anfangs hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihm erst nach dem Treffen mit Wanderlow davon zu erzählen – nach dem Motto: Es hat ja gar nicht wehgetan –, hatte diese absurde Idee aber wieder verworfen. Lukas hatte ein Recht auf die Wahrheit, auch wenn sie ihn schmerzte und ihm Angst machte.

Er hatte alles mit ihr durchgestanden und selbst lange mit den Folgen zu kämpfen gehabt. Ihm hatte sie zu verdanken, dass sie überhaupt noch am Leben war, denn er hatte die Suche nach ihr eingeleitet und war mit Lewandowskis und Stendals Hilfe und Browsers Scharfsinn schließlich auf Wanderlows Versteck gestoßen, in dem er sie gefangen gehalten hatte.

Trotzdem war sie gestern Abend nicht gleich mit der Nachricht herausgeplatzt, sondern hatte auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, um es ihm so schonend wie möglich beizubringen.

Aber dieser Moment war lange nicht gekommen.

Wie immer empfing Lukas sie mit einem wunderbaren Abendessen. Schon als sie die Wohnungstür aufschloss, wurde sie von dem köstlichen Duft begrüßt, der sich aus der Küche bis in den Flur ausgebreitet hatte.

In Momenten wie diesen fragte sie sich, womit sie so viel Glück verdient hatte. Sie hatte nicht nur einen liebevollen und aufmerksamen Mann an ihrer Seite, er sorgte auch dafür, dass sie regelmäßig und gesund aß, indem er Tag für Tag die feinsten Gerichte kochte.

Zuerst befragte sie ihn zu dem Krimi, an dem er gerade schrieb, und Lukas erzählte ihr gutgelaunt von den Fortschritten. In seinem Roman ging es um eine Kommissarin, die einem Serienkiller dicht auf den Fersen war, der seine weiblichen Opfer im Englischen Garten am Eisbach vergrub. Linda kannte die Geschichte hautnah – es war ihr letzter Fall gewesen.

Noch etwa dreißig Seiten, so schätzte Lukas, dann wäre das Buch fertig und er könnte dem Verlag das Manuskript zukommen lassen. Nachdem sein letztes Buch in Rekordzeit die Bestsellerliste erklommen hatte, wartete der Verleger bereits ungeduldig auf eine Fortsetzung.

Linda wusste, dass Lukas sie im Kopf hatte, wenn er an dem Buch schrieb, schließlich floss ihre Arbeit direkt in die Geschichten mit ein. Er verarbeitete dabei vermutlich den Schock, den ihre letzten Ermittlungen ihm versetzt hatten.

Um das köstliche Essen nicht zu verderben, wartete sie, bis die Teller abgeräumt und die Küche aufgeräumt war. Als sie das Handtuch weglegte, erzählte sie ihm schließlich, was sie am Morgen erfahren hatte.

»Wanderlow hat im Gefängnis dem Psychiater angedeutet, dass es weitere Opfer gibt.«

Lukas erbleichte augenblicklich. »Nein, nicht wieder dieser Fall …«

»Wanderlow will nur mir verraten, wo er sie vergraben hat. Ich werde ihn treffen.«

Ein düsterer Schatten verdunkelte seinen Blick. »Er will sein grausames Spiel weiterspielen. Er will dich in seine Hölle hineinziehen, sein krankes Gehirn wird einfach nicht damit fertig, dass du ihn zur Strecke gebracht hast.«

»Ich weiß«, flüsterte sie sanft wie eine Mutter, die ihrem Kind die Angst vor dem furchteinflößenden Schwarzen Mann nehmen wollte. »Aber Wanderlow ist kein freier Mann mehr, der weiter sein Unwesen treiben kann. Er sitzt im Gefängnis, hinter dicken Mauern, die er nie mehr lebend verlassen wird.«

»Warum musst ausgerechnet du zu ihm?«

»Wenn es uns gelingt, seine weiteren Opfer zu finden, wenn wir so den Eltern, die ihr Kind seit Jahren vermissen und sich Nacht für Nacht mit der einzigen Frage quälen, die es in ihrem Leben noch gibt, wenn wir diesen Müttern und Vätern endlich sagen können, was geschehen ist, dann müssen wir das tun. Die Mädchen, die er umgebracht hat, sind irgendwo im Englischen Garten vergraben. Nur ich kann sie finden. Nur ich kann die Eltern aus ihrer Qual erlösen. Deshalb muss ich das tun.«

»Ich habe Angst um dich.« Er schlang die Arme um sie und drückte sie fest an sich.

Linda schmiegte den Kopf an seine Brust und lauschte seinem Herzschlag.

»Mir wird nichts passieren. Ich weiß, mit wem ich es zu tun habe. Ich möchte nur die Informationen, dann sieht er mich nie mehr wieder. Ein einziger Besuch.«

Seit sie von Wanderlows Angebot erfahren hatte, war sie von einer Art Lampenfieber erfasst. Sie hatte immer gewusst, dass die Ermittlungen abgebrochen worden waren und nicht abgeschlossen. Der Fall war noch nicht zu Ende. Es war nicht damit getan, den Täter dingfest zu machen, sie wollte alles aufklären, jeden seiner Morde, erst dann konnte sie loslassen. Sie hatte keine Angst davor, ihm erneut zu begegnen, sie würde das schaffen.

Das war gestern gewesen.

Jetzt, an diesem Morgen und nach dem Albtraum, war ihre Gewissheit wie weggeblasen. Warum bloß hatte sie wieder dieser Traum heimgesucht? Sollte es eine Warnung sein, ihr Vorhaben schleunigst abzublasen und die Toten ruhen zu lassen?

Linda seufzte. Sie wusste, dass es kein Zurück mehr gab. Sie hatte sich längst entschieden.

Sie würde ihn einmal treffen, sich die Orte nennen lassen, an denen er die Mädchen vergraben hatte, und gehen.

Danach wäre Wanderlow endgültig Geschichte. Danach konnte er in seiner Zelle verrotten.

Kapitel 4

Von seinem Standpunkt in der Glaskanzel, die wie ein Raumschiff über dem großen Müllbunker schwebte, konnte Lars Schreiber das Geschehen entspannt beobachten. Hier oben roch er nichts von dem Gestank, den der verwesende Abfall unten in der Grube ausdünstete, er hörte nichts von dem ohrenbetäubenden Getöse, das der riesige Greifer mit seinen sechs Metallarmen erzeugte, wenn er sich ohne Unterlass durch den Müllberg arbeitete.

Hier gab es nur ihn und die leise Musik, die aus dem Radio drang. Helene Fischer zwitscherte gerade ihr »Atemlos«, und er musste unwillkürlich mitsummen.

Er brauchte die Stimmen aus dem Radio gegen die Einsamkeit hier oben. Das war der Nachteil des Jobs: Er saß den ganzen Tag allein in der Glaskanzel, dazu verdammt, das hässliche Treiben unter sich im Auge zu behalten. Eine Sisyphusarbeit, die keinen Anfang und kein Ende kannte. Der Müll kam hier an und wurde verarbeitet, Tag für Tag.

Nach vielen Jahren auf Tour genoss er es, nicht mehr an die Front zu müssen. Die Arbeit draußen war zu anstrengend für ihn geworden, sein Rücken hatte diese Schufterei nicht mehr mitgemacht. Das Hochwuchten der gefüllten Mülltonnen aus den Kellern, das ununterbrochene Hin- und Herlaufen, das Entleeren, das Zurückbringen – wer das einige Stunden mitgemacht hatte, wusste, was er geleistet hatte.

Die kurzen Verschnaufpausen auf dem Trittbrett, wenn der Müllwagen ein Stück weiterfuhr, reichten nicht aus, um Kraft zu schöpfen. Für die jungen Kerle war das kein Problem, aber wer wie er jahrzehntelang da draußen unterwegs gewesen war, bei Wind und Wetter, hatte genug von diesem Knochenjob.

Seine Aufgabe im Heizkraftwerk Nord in Unterföhring war denkbar einfach. Er überwachte den vollautomatischen Betrieb, um im Notfall auf Störungen zu reagieren – die es aber nie gab. Irgendwann würde er durch einen Roboter ersetzt werden, dachte er, aber das würde er hoffentlich nicht mehr erleben. Er hatte nur noch sechs Jahre.

Der große Metallkopf schwenkte über dem Bunker, stieß blitzschnell hinab, grub die sechs Stahlkrallen in den Müll und packte wie eine Krake alles, was die Münchner in den Tagen zuvor in ihre Mülltonnen geworfen hatten, hob es in die Höhe, öffnete die Arme und ließ es in die Tiefe fallen. Der Greifer mischte den Müll; das war wichtig für einen einheitlichen Brennwert später im Aufgabekessel.

Dieser Müll wurde nicht mehr sortiert, sondern komplett verbrannt. Aber bevor er in der Verbrennungsanlage landete, musste alles gründlich gemischt und zum Trocknen entlang der hohen Wände gestapelt werden.

Aus der daraus gewonnenen Energie wurden rund 150.000 Haushalte in München mit Fernwärme und Elektrizität versorgt. Dieser Gedanke befriedigte ihn. Müllverbrennung war ökonomisch und ökologisch, es gab keinen Grund, sich für irgendetwas hier zu schämen.

Kürzlich hatte er im Fernsehen eine Reportage über Indien gesehen und erfahren, dass dort Müllarbeiten ausschließlich von den Unberührbaren verrichtet wurden, die aus der untersten Kaste stammten. Diese Menschen zählten nichts, ihre Arbeit auch nicht. Die Inder hatten offensichtlich nicht verstanden, wie wichtig und wertvoll diese Arbeit war. Gäbe es nicht Menschen wie ihn und seine Kollegen da draußen an der Front, sie würden alle im Müll ersticken.

Da war so ein Streik wie in den letzten Tagen sehr heilsam, um den Leuten die Bedeutung der Müllabfuhr wieder einmal vor Augen zu führen.

Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor acht. Gleich würden die ersten Müllwagen eintreffen, um ihre Tour zu leeren. Die Kollegen waren seit sechs Uhr auf Achse. Nach dem jüngsten Streik hatte sich der Müll in der Stadt extrem angehäuft, der Lohn für den Ausstand waren Überstunden und Zusatzschichten.

Und da kamen sie auch schon.

Die Müllwagen fuhren rückwärts an die Rolltüren, die auf Knopfdruck hochfuhren. Die Hydraulik kippte die Container auf den Wagen langsam nach oben, und eine Schiebevorrichtung im Innern drückte den stinkenden Inhalt heraus, der dann ein paar Meter tief in den Müllbunker fiel.

Er verfolgte diesen Vorgang von oben und verließ seinen Arbeitsplatz erst, als alle Müllwagen abgeladen hatten.

Die Männer saßen in der Kantine und waren damit beschäftigt, ihr zweites Frühstück hinunterzuschlingen, als er dazustieß.

»Na, Lars«, begrüßte ihn einer der Fahrer, »erzähl mal, was du heute Aufregendes gemacht hast.«

Alle lachten, und er verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. Es störte ihn nicht, wenn sie ihn aufzogen und sich über ihn lustig machten. Er hatte definitiv den besseren Job hier, er konnte auf jede Form von Aufregung verzichten, vor allem auf die Aufregung da draußen. Dazu zählten hupende Autofahrer, die ihrer Wut lautstark Luft machten, wenn sie hinter einem Müllwagen warten mussten. Dazu zählten keifende Anwohner, die sich darüber beschwerten, dass Müll liegen geblieben war oder ein Müllmann die Tonne nicht ordnungsgemäß zurückgestellt hatte. Das alles brauchte er nicht mehr. Ihm genügten seine fromme Helene und all die anderen Schlagerfuzzys, die für ihn sangen, statt sich zu beschweren.

Zehn Minuten später saß er wieder oben in seiner Kanzel und nippte an dem Kaffee, den er sich aus der Kantine mitgenommen hatte. Der Greifer war in vollem Einsatz, und für ihn gab es nichts anderes zu tun, als alles im Auge zu behalten.

Vor ihm lag ein Krapfen, der nur darauf wartete, angebissen zu werden. Hoffentlich mit Hagebuttenmarmelade, dachte er und grub die Zähne tief in den Hefeteig. Der Zucker klebte ihm an den Fingern, als er mit der Zunge die zähe rote Flüssigkeit ableckte, die aus dem Krapfen übers Kinn auf die Hand getropft war. Volltreffer, dachte er zufrieden – er hatte den richtigen Krapfen erwischt –, dann warf er einen kurzen Blick hinunter in den Müllbunker.

Bevor er erkennen konnte, was dort seine Aufmerksamkeit erregt hatte, war der Greifer schon wieder hinabgestoßen, hatte zugepackt und den Inhalt nach oben gezogen. Er kniff die Augen zusammen und starrte auf den Greifer, der gerade die Spinnenarme öffnete und den Müll nach unten fallen ließ.

Was in aller Welt war das?

Der Greifer stieß erneut zu, füllte sein Maul und flog mit der Beute nach oben. Er griff nach dem kleinen Fernglas, das er für solche Fälle immer parat stehen hatte.

»Verdammte Scheiße«, rief Lars Schreiber entsetzt, warf das Fernglas weit von sich und drückte auf den Stoppknopf.

Augenblicklich kam der Greifer zum Stillstand und pendelte mit geschlossenen Armen auf halber Höhe über dem Müll.

Lars spürte, wie der Krapfen sich einen Weg nach oben suchen wollte.

Vor ihm baumelte etwas, was es hier nicht geben durfte. Es erinnerte ihn gewaltig an ein Bein, auch wenn es gar nicht aussah, als sei es menschlichen Ursprungs.

Kapitel 5

Die Münchner kannten die JVA Stadelheim im besten Fall nur von außen. Das Gefängnis lag im Münchner Süden im Stadtteil Giesing. Das einstige Arbeiterviertel war überwiegend von tristen Wohnblocks geprägt – noch. Die Gentrifizierung machte auch vor diesem Ort nicht halt.

Noch gab es dort kleine Spielhallen und Pilskneipen, deren Tage aber gezählt waren. Hippe Bars, schicke Szenelokale und kleine Boutiquen hatten begonnen, die Spelunken zu vertreiben, genauso verschwanden günstige Mietwohnungen, um teuren Eigentumswohnungen Platz zu machen. Der Wandel war in vollem Gange.

Nur die Heilig-Kreuz-Kirche thronte unverrückbar als Wahrzeichen des Viertels hoch oben auf dem Giesinger Berg. Dahinter zog sich die Tegernseer Landstraße in die Länge, eine vierspurige, laute Straße, die nicht unbedingt zum Bummeln einlud. Wer hier stadtauswärts fuhr, kam über die Ständlerstraße unwillkürlich an der Stadelheimer Straße 12 vorbei, dem Areal der Justizvollzugsanstalt. Die Adresse erklärte den Kosenamen der Münchner JVA: Stadelheim.

Abgesehen von den hohen Mauern und den Wachtürmen, die darüber hinausragten, war von der Straße aus kaum etwas von dem Gefängnis zu sehen.

Hinter den abweisenden Mauern saßen im Haupttrakt die männlichen Verurteilten ihre Strafe ab. Die Untersuchungshäftlinge, Jugendlichen, Frauen und die Krankenstation waren in separaten Gebäuden untergebracht. Momentan beherbergte das größte Gefängnis Bayerns 1.253 Häftlinge, und einen davon würde Linda heute besuchen.

Ihre Ermittlungen führten sie häufiger hierher. Vernehmungen mit Straftätern und Untersuchungshäftlingen in Stadelheim waren Routine. Aber an diesem Morgen begleitete sie ein bohrendes Unbehagen.

Bevor sie Wanderlow treffen würde, sollte sie den Gefängnisdirektor aufsuchen. Arnd Breitenbach wollte sie briefen, wie er am Telefon gesagt hatte. Was willst du mir noch über diesen Häftling erzählen, was ich nicht schon weiß? Sie kannte Wanderlow besser als irgendwer sonst hier.

Nachdem sie an der Pforte Waffe und Ausweis abgegeben hatte, begleitete ein Vollzugsbeamter sie zum Büro des Direktors. Abgesehen davon, dass sie hier nicht allein unterwegs sein durfte, hätte sie sich ohne Begleiter in diesem Irrgarten garantiert verlaufen. Flure, Stahltüren, Flure, Gittertüren, dazwischen weiße, fensterlose Wände ohne jeglichen Schmuck. Farblos, traurig, düster. Es gab keinerlei Anhaltspunkte, an denen man sich orientieren konnte.

Außerdem fehlte ihr die Schlüsselgewalt, um die vielen Türen und Gitter, die jeden Flur in einzelne Schleusen unterteilten, aufzuschließen. Jedes Mal wenn eine Stahltür hinter ihr schwer in Schloss fiel, zuckte sie unmerklich zusammen. Sie ignorierte die Gänsehaut.

Was war nur los mit ihr?

Außer ihren eigenen Schritten und dem scheppernden Schlüssel des Justizbeamten, der auf Gummisohlen fast lautlos vor ihr herlief, war kein Geräusch zu hören. Um diese Zeit gingen die Häftlinge ihrer Arbeit nach und hielten sich in den Werkstätten auf. Kreischende Gefangene, die Obszönitäten grollten und ihre Arme nach den Besuchern ausstrecken, wie man es aus amerikanischen Filmen kannte, gab es hier nicht.

Ein Gefängnis funktionierte wie eine Kleinstadt hinter hohen Mauern. Die Strafgefangenen gingen einem geregelten Arbeitstag nach. Es gab Werkstätten für Schuhmacher, Polsterer, Schreiner, Schlosser, Buchbinder, Drucker, Maler und Schneider sowie eine Lohnküche und Wäscherei. Hinzu kamen Elektro-, Bau-, KFZ-, Gas- und Wasserinstallations- sowie Instandhaltungsbetriebe. Für die tägliche Versorgung der Insassen gab es auf dem Gelände eine Großküche, Bäckerei, Gärtnerei, Wäscherei, einen Friseur sowie eine Klinik und Zahnarztpraxis.

Täglich fuhren bis zu einhundert Lieferwagen mit Waren, Lebensmitteln und Müll rein und raus. Ansonsten verlief das Leben innerhalb dieser Mauern völlig autark.

Ein intensiver Geruch, ein Gemisch aus Desinfektionsmittel, Linoleum und Körpergeruch, hing in der Luft. Ähnlich wie Hundebesitzer, die den Tiergeruch in ihrer Wohnung nicht mehr wahrnahmen, rochen diejenigen, die hier einsaßen oder arbeiteten, dieses eigentümliche Aroma vermutlich auch nicht mehr. Linda schon.

Breitenbach erwartete sie in seinem Büro. »Ich habe ja schon viel von Ihnen gehört. Kaffee?« Er musterte sie von oben bis unten. Dunkle Tränensäcke hingen wie Kissen unter seinen Augen.

»Nein, danke«, erwiderte Linda und schüttelte die Hand, die er ihr entgegenstreckte.

Sie nahm auf der anderen Seite seines Schreibtisches Platz und wartete darauf, was er zu sagen hatte.